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Hanna Berghoff

DU BIST DIE WELT FÜR MICH

Roman

Originalausgabe:
© 2008
ePub-Edition:
© 2013
Erweiterte ePub-Ausgabe:
© 2016

édition el!es

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info@elles.de

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-941598-79-9

»Um vier Uhr«, sagte Annamirl Graitlinger zu Dr. Jutta Adler, in deren Tierarztpraxis sie erst kürzlich ihren Dienst als Sprechstundenhilfe angetreten hatte, »wollte noch eines der Perner-Mädels vorbeikommen.«

Jutta Adler, die schon zum Gehen bereit an der Tür stand, schüttelte den Kopf. Ihre dunklen Haare flogen um ihr Gesicht. »Ich kann nicht warten. Oder ist es ein Notfall?«

»Ich glaube, nicht«, erwiderte Annamirl, »aber wir sind zusammen zur Schule gegangen, und ich habe ihr versprochen –«

»Halten Sie sich mit solchen Versprechungen in Zukunft zurück«, versetzte Jutta Adler etwas ungehalten. »Sie werden sie doch kaum je einlösen können.«

»Ist gut, Frau Doktor.« Annamirl nickte. »Werd’s mir merken.«

»Besser so«, erwiderte Jutta Adler und verließ die Praxis.

Als sie die äußere Tür öffnete, wurde sie von einer Person aufgehalten, die es ziemlich eilig zu haben schien. Jutta stolperte fast über sie.

»Entschuldigung«, stieß die junge Frau atemlos hervor – anscheinend war sie gelaufen – und schaute die großgewachsene Ärztin, die sie um einiges überragte, verlegen an.

Jutta Adler nickte nur kurz und ging wortlos – schon in Gedanken an den auf sie wartenden Fall – weiter.

»Frau Doktor ist gerade fort«, begrüßte Annamirl Veronika Perner, als sie die Praxis betrat. »Höchstens eine Minute. Notfall.«

»War sie das, mit der ich an der Tür zusammengestoßen bin?« fragte Veronika und drehte sich zum Ausgang um. Eine überflüssige Frage. Sie musste es gewesen sein. Alle anderen im Dorf kannte sie. Die Tierärztin war neu, gerade erst zugezogen. »Dann krieg’ ich sie noch!« rief sie Annamirl zu und hastete genauso eilig, wie sie gekommen war, wieder hinaus.

Jutta Adler wollte gerade in ihren Jeep steigen, als eine Stimme sie mit jugendlichem Eifer aufhielt. »Frau Dr. Adler!«

Jutta drehte sich um.

»Frau Dr. Adler«, wiederholte Veronika abgehackt, die laufend bei ihr ankam. »Ich wollte zu Ihnen.«

»Das geht jetzt nicht.« Jutta stieg ein und stellte ihre Tasche auf den Beifahrersitz. »Ich muss zu einem Notfall.« Sie ließ den Wagen an.

Veronika lief schnell um den Jeep herum und riss die Beifahrertür auf. »Nehmen Sie mich mit? Ich verarzte die Tiere auf unserem Hof manchmal selbst. Vielleicht kann ich etwas lernen.«

»Wozu wollten Sie dann zu mir, wenn Sie Ihre Tiere selbst versorgen?« fragte Dr. Adler mit zusammengezogenen Augenbrauen.

Diese Brauen erschreckten Veronika etwas. Sie hatte noch nie jemand gesehen, der so vernichtend blicken konnte. »Nur bei Kleinigkeiten«, erwiderte sie dennoch tapfer. »Alles andere überlasse ich dem Tierarzt.«

»Wie reizend«, sagte Jutta spöttisch. »Nun steigen Sie schon ein. Ich habe keine Zeit, mich mit Ihnen hier herumzuärgern.«

Sie fuhr einfach los, und Veronika musste auf den anrollenden Wagen springen, wenn sie mitfahren wollte. Sie zog sich in den Jeep hinein und schloss die Tür hinter sich. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wusste nicht, dass Sie es so eilig haben. Und noch weniger wollte ich Sie ärgern.« Sie nahm die Arzttasche, die auf dem Sitz gestanden hatte, auf den Schoß.

»Ist schon gut«, sagte die Tierärztin, während sie mit quietschenden Reifen um die Ecke fuhr, so dass der Wagen sich in die Kurve neigte. »Ich war ein wenig grob. Aber heute geht es in der Praxis zu wie in einem Taubenschlag. Und immer steht ein Leben auf dem Spiel. Auch wenn es nur das Leben eines Tieres ist, ich verliere nicht gern einen Patienten, wenn ich es vermeiden kann.«

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Veronika. »Das schlimmste, was mir je passiert ist, war, als mein Hund überfahren wurde. Ich konnte nichts mehr für ihn tun.« Sie spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Immer noch nahm sie die Erinnerung mit, auch wenn sie damals noch ein Kind gewesen war. Sie wandte sich ab, wischte sich schnell eine Träne aus dem Augenwinkel und hoffte, dass Frau Dr. Adler es nicht gesehen hatte. Sie schien nicht gerade der sentimentale Typ zu sein. Veronika wollte nicht, dass sie sie für ein Weichei hielt. »Ich heiße Veronika Perner«, sagte sie. »Nur damit Sie wissen, mit wem Sie es zu tun haben.«

»Den Nachnamen habe ich schon vermutet«, sagte Dr. Adler. »Frau Graitlinger erwähnte so etwas.«

Veronika brach in ein laut prustendes Lachen aus, das den ganzen Wagen zum Vibrieren brachte.

Dr. Adler schaute sie irritiert an. »Was ist so lustig?«

»Frau Graitlinger . . .«, prustete Veronika. »Ich habe noch nie gehört, dass jemand Annamirl so nennt. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.«

»Ja, das sagte sie«, bestätigte Dr. Adler. »Und sie sagte auch, dass es mehrere weibliche Personen mit dem Namen Perner gibt.«

»So gepflegt hat sie das bestimmt nicht ausgedrückt«, erwiderte Veronika. Sie hatte sich wieder beruhigt. »In Deutsch war sie nie eine Leuchte. Aber es stimmt. Es gibt mehrere weibliche Personen mit dem Namen. Meine Mutter, meine Schwester und mich. Ach, und meine Großmutter. Aber sie lebt nicht bei uns.«

»Hat Ihre Mutter Sie zu mir geschickt?« fragte Dr. Adler.

»Mein Vater«, sagte Veronika. »Wir haben eine Kuh, die demnächst kalben wird. Er macht sich Sorgen um sie. Er wollte, dass Sie sich die Lies einmal ansehen.«

»Wenn ich’s dazwischenschieben kann, gern«, nickte Dr. Adler, während sie ein Auge auf die Straße gerichtet hielt, die im Affenzahn vorbeirauschte. »Im Moment wird das etwas schwierig, wenn es kein Notfall ist.«

»Noch ist es das nicht.« Veronika schüttelte den Kopf. »Mein Vater will nur vermeiden, dass es einer wird.«

»Leider sind nicht alle Bauern so vorausschauend wie Ihr Vater«, erwiderte Jutta Adler seufzend. »Meistens holen sie mich erst, wenn es eigentlich schon zu spät ist.«

»Ja, das ist typisch.« Veronika seufzte auch. »Sie wollen das Geld für den Tierarzt sparen, und hinterher ist die Kuh tot, und sie haben gar nichts davon.«

Jutta Adler schaute sie schnell von der Seite an. »Ich sollte Sie zu einigen der Bauern mitnehmen. Sie haben eine sehr überzeugende Art. Vielleicht lernt es dann der eine oder andere.«

Veronika winkte ab. »Mein Vater versucht das schon seit Jahren. Es hat nichts genützt. Die Bauern sind halt stur. Mein Vater hat sich ständig dafür eingesetzt, dass endlich wieder ein Tierarzt ins Dorf kommt, nachdem unser alter gestorben war. Viele von den Bauern meinten, das brauche es nicht, das koste nur Geld.«

»Na, da habe ich ja Glück gehabt, dass ich die Praxis bekommen habe!« lachte Jutta Adler ungläubig.

»Ich glaube, wir haben eher Glück gehabt«, erwiderte Veronika schüchtern. »Es gibt doch schon fast keine Landtierärzte mehr. Wenn Sie eine Praxis in der Stadt hätten, könnten Sie mehr Geld verdienen.«

»Da haben Sie recht«, nickte Jutta Adler. »Aber Geld ist nicht alles.«

Sie bogen in den Hofweg eines Bauern ein, der genau zu denen gehörte, die sich bis zur letzten Sekunde gegen einen neuen Tierarzt gewehrt hatten. Und nun konnte er es kaum erwarten, dass seinem Tier geholfen wurde. Er stand schon im Hof, als Jutta Adler mit ihrem Jeep hineinfuhr.

»Bald hätten Sie nicht mehr zu kommen brauchen, Frau Doktor«, begrüßte er sie grimmig. »Die Kuh liegt schon in den letzten Zügen.«

Jutta Adler kümmerte sich nicht um seine Stimmung. »Wo ist sie?« fragte sie, während sie in ihre Gummistiefel schlüpfte.

Der Bauer zeigte hinter sich. Jutta Adler lief los und betrat eilig den Stall. Es war klar, um welche Kuh es sich handelte. Das arme Tier lag im Stroh und keuchte nur noch schwach.

Die Tierärztin untersuchte die Kuh mit geübten Griffen. »Wie lange liegt sie schon so?« herrschte sie den Bauern an, der hinzugetreten war. Hinter ihm stand Veronika.

»Zwei Tage«, antwortete er grummelnd.

»Zwei Tage?« Dr. Adlers Stimme hob sich wütend. »Und dann holen Sie mich erst heute?«

»Ich dachte, sie schafft es allein«, erwiderte der Bauer trotzig.

»Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt. Und sie hat sich die beiden Tage furchtbar gequält. Wiederkäuer dürfen nicht auf der Seite liegen, das wissen Sie doch. Oder sind Sie so ein schlechter Bauer, dass Sie davon keine Ahnung haben?« Juttas Wut nahm ihr jede Zurückhaltung.

»Ja, schon . . .« Der Bauer zog den Kopf ein.

»Frau Perner, helfen Sie mir?« fragte Jutta. »Ich will nicht, dass dieser Esel mir hier hineinpfuscht und auch noch die letzte Chance für das arme Tier zerstört.«

Veronika zögerte nicht eine Sekunde. Sie trat zu Jutta und wartete auf ihre Anweisungen.

»Zuerst einmal müssen wir das Kalb herausholen. Auch wenn ich glaube, dass es schon tot ist.« Jutta desinfizierte ihre Hände mit einem Spray und reichte das Spray an Veronika weiter, die es genauso einsetzte. »Da hilft nur noch ein Kaiserschnitt. Die Kuh hat keine Kraft mehr.« Jutta nahm einen kleinen Kasten aus ihrer Tasche und öffnete ihn. Eine Reihe silberner Skalpelle glitzerte im schummrigen Licht des Stalles. Sie nahm eines heraus und desinfizierte es ebenfalls mit dem Spray, reichte das glänzende Teil an Veronika weiter. »Ich werde eine lokale Betäubung setzen«, sagte sie. Sie nahm eine Spritze heraus, füllte sie mit einer Flüssigkeit aus einem kleinen Fläschchen und drückte die Spritze durch das Fell der Kuh. »Gleich geht es dir besser, meine Kleine«, sagte sie in einem fast zärtlichen Tonfall. »Die Kuh ist schon zu schwach«, wandte sie sich an Veronika. »Sie würde keine Vollnarkose mehr verkraften, aber ich hoffe, das hier reicht. Sie hat schon weit mehr ausgehalten in den letzten zwei Tagen.« Sie warf noch einmal einen wütenden Blick auf den Bauern hinter sich. Ihre Augen schossen Blitze, die ihn hätten töten müssen, wären sie echt gewesen.

Jutta zog Gummihandschuhe über und forderte mit einem Blick auch Veronika dazu auf, sich welche anzuziehen. Sie nahm das Skalpell, das Veronika ihr reichte, führte einen sauberen Schnitt am Bauch der Kuh aus, griff in die Öffnung hinein, tastete, nickte, dann zog sie. »Helfen Sie mir, bitte?« Sie schaute Veronika an.

Veronika kniete sich neben Jutta und griff ohne zu zögern ebenfalls in die Höhlung hinein. Sie fühlte ein Bein des Kalbes.

»Merken Sie, wie verdreht es daliegt?« fragte Jutta mühsam. Sie hielt das andere Bein fest. »Deshalb konnte es nicht auf natürlichem Wege herauskommen.«

Veronika nickte. Es war nicht die erste Geburt eines Kälbchens, der sie beiwohnte, und nicht alle waren problemlos verlaufen.

Jutta brachte mit Veronikas Hilfe das Kälbchen in die richtige Lage, dann zogen sie es beide zusammen heraus. Es war tot. Nachdem Jutta überprüft hatte, dass sie nichts mehr für das Kalb tun konnte, kümmerte sie sich erneut um die Mutterkuh. Sie desinfizierte alles noch einmal und nähte die Wunde zu.

»Jetzt kommt der schwierigste Teil«, sagte sie dann. »Sie muss aufstehen. Ich weiß nicht, ob sie es überlebt, aber wenn sie liegenbleibt, stirbt sie auf jeden Fall.«

Veronika warf einen zweifelnden Blick auf die Kuh.

»Ja, ich weiß«, sagte Jutta. »Es scheint aussichtslos. Aber wir müssen es versuchen. Sie ist jung. Vielleicht schafft sie es.« Sie stemmte sich von der Seite gegen das liegende Tier. »Komm, Kleine, komm hoch . . .«, stöhnte sie angestrengt.

Veronika stemmte sich neben Jutta ebenfalls gegen den Rücken der Kuh.

»Kommst du wohl her, du verdammter Idiot?« schrie Jutta den Bauern an. »Hilf uns gefälligst!«

Der Bauer trat zu ihnen und verstärkte den Druck, den die beiden bereits auf die Kuh ausübten. Langsam rollte die Kuh etwas.

Jutta sprang auf, lief auf die andere Seite und legte die Beine der Kuh so hin, dass sie unter ihrem Bauch zu liegen kommen mussten, wenn die Kuh sich noch weiter drehte. »Jetzt!« rief sie. »Dreht sie!«

Der Bauer und Veronika drückten gewaltig, Jutta zog mit aller Macht von der anderen Seite, und die Kuh kam, schwach, wie sie war, in eine Art kniende Position.

»Sie hebt den Kopf nicht. Sie ist fast tot«, sagte Jutta. »Ich hole Stricke aus dem Wagen.«

Sie lief los und kam gleich darauf mit etlichen Stricken und Gurten wieder. »Wir müssen sie in dieser Position festbinden«, sagte sie und reichte die Stricke an Veronika und den Bauern weiter.

Alle drei zurrten sie die Kuh fest, so dass sie nicht mehr in eine liegende Stellung zurückkippen konnte.

»So«, sagte Jutta und befestigte noch einen Gurt am Kopf der Kuh, damit sie ihn in etwas gehobener Position halten konnte. »Wenn sie morgen früh noch so liegt, sehen Sie zu, dass sie aufsteht.« Sie sprach den Bauern jetzt wieder mit Sie an. »Sie muss stehen. Wenn sie morgen nicht steht, war alles umsonst.«

Sie ging noch einmal zu ihrer Tasche und zog eine riesenhafte Spritze auf. Gleichzeitig nahm sie eine große Flasche mit trübem Inhalt heraus. Sie setzte der Kuh die Spritze, dann hängte sie die Infusion an. »Sie haben ja nichts Besseres zu tun«, sagte sie ironisch zu ihrem Besitzer. »Also werden Sie ihr alle zwei Stunden eine neue Infusion geben, die ganze Nacht hindurch. Kommen Sie in meiner Praxis vorbei und holen Sie die restlichen Infusionsbehälter. Hoffen wir, dass es reicht. Die ganze Magenreihe ist durch das Liegen durcheinander. Sie kann nichts mehr verdauen. Nur die Infusion hält sie am Leben. Bis sie wieder stehen kann. Dann werden wir sehen, ob die Mägen sich in die natürliche Position zurückbegeben. Mehr kann ich jetzt nicht tun.« Sie schaute auf das tote Kalb hinunter, das bewegungslos im Stroh lag, als ob es nur schliefe. »Wäre ein strammer Stier geworden«, sagte sie. »Hätten Sie mich früher geholt, hätten Sie jetzt zwei gesunde Rinder im Stall statt ein totes und ein halbtotes.«

Der Bauer schaute ebenfalls auf das Kalb hinunter. Es schien ihm die Sprache verschlagen zu haben.

»Wirst du jetzt vielleicht Vernunft annehmen, Krausleitner?« fragte Veronika wütend. »Da haben wir endlich wieder eine Tierärztin im Dorf, und du holst sie erst, wenn es zu spät ist. Liegt dir denn gar nichts an deinen Viechern?«

»Der Stier hätte schon einiges gebracht«, sagte der Bauer. »Und wenn die Kuh auch noch stirbt –«

»Nur Geld, Geld, Geld!« Veronika konnte sich gar nicht mehr beruhigen. »Etwas anderes hast du wohl nicht im Sinn. Die Kuh quält sich für dich zu Tode, und du denkst nur an Geld!«

»Lassen Sie. Er versteht es doch nicht.« Jutta legte besänftigend eine Hand auf Veronikas Arm. »Aber meine Rechnung, die wird er verstehen, denn da geht es auch um Geld. Und nicht zu wenig.« Sie lächelte grimmig.

»Das will ich hoffen!« sagte Veronika und stapfte zu Juttas Jeep davon.

Veronikas Mutter runzelte skeptisch die Stirn. »Eine Frau als Landtierärztin? Ob sie das schafft? Es ist doch ein hartes Brot, selbst für einen Mann. Und dann stammt sie auch nicht aus dem Dorf.«

Veronikas Vater hingegen hatte schon mehr für die neue Tierärztin übrig. »Wir haben schon lange nach einem Tierarzt geschrien, und jetzt ist einer da, und du bist auch nicht zufrieden«, sagte er. »Was macht es schon, dass sie nicht aus dem Dorf stammt? Das bringt wenigstens frischen Wind hinein.«

Das war eine lange Rede für Veronikas Vater, der sonst eher wortkarg war. Veronika schaute ebenso erstaunt wie ihre Mutter.

»Du hast sie noch gar nicht gesehen, und schon hast du eine schlechte Meinung«, brummelte ihr Vater noch. »Immer dasselbe. Weiber können andere Weiber einfach nicht ausstehen, weiß der Himmel, warum.«

»Pass du nur auf, dass du die neue Frau Doktor nicht zu gut ausstehen kannst«, sagte Veronikas Mutter warnend mit einem Unterton, den Veronika noch nie von ihr gehört hatte.

Der Vater lachte. »Ach, Burglchen! Sie könnte doch meine Tochter sein. Und was soll ich mit noch einer? Ich habe doch schon zwei hübsche kleine Mädchen, die mir das Leben schwermachen.« Ein lustiges Zwinkern lag in seinen Augenwinkeln, als er dies sagte.

»Mache ich dir das Leben schwer, Paps?« fragte Veronika betroffen, die das Zwinkern nicht bemerkt hatte.

»Aber du doch nicht.« Ihr Vater klopfte auf seinen Schenkel. »Komm her. Du bist doch mein Augenstern.«

Veronika setzte sich bei ihrem Vater auf den Schoß und sah ihn an. »Ich möchte nämlich niemandem das Leben schwermachen, weißt du?« sagte sie ernst. »Ich möchte immer nur gut sein.«

»Uh, das wird schwierig werden, Kind«, entgegnete ihr Vater mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. »Man kann der beste Mensch auf der Welt sein, und trotzdem wird man es nie allen recht machen können. Schau deine Mutter und mich an. Deine Mutter ist immer nur gut gewesen, und was hat sie dafür als Belohnung bekommen? Mich.« Nun war das Zwinkern nicht mehr zu übersehen.

»Tja, wofür ich damit wohl bestraft worden bin . . .«, fügte Walburga Perner hinzu, »das weiß ich auch nicht.« Sie schloss sich dem Zwinkern ihres Mannes an, und aus beider Augen sprach echte Zuneigung füreinander und Liebe.

»Ihr seid wirklich das beste Vorbild«, sagte Veronika und sprang vom Schoß ihres Vaters auf ihre Mutter zu. »Wie soll ich euch jemals erreichen?«

»Eifere nicht uns nach, eifere dir selbst nach«, sagte Veronikas Mutter. »Sieh dir Franzi an. Sie kann es besser als du. Sie setzt immer ihren Kopf durch und weiß genau, was sie will.«

»Franzi ist genauso wie ich«, erwiderte Veronika überzeugt. »Sie will auch immer nur gut sein. Darin sind wir uns ganz gleich. Das haben wir uns geschworen.«

»Ihr mögt euch äußerlich gleichen wie ein Ei dem anderen«, sagte ihre Mutter, »aber innerlich seid ihr doch sehr verschieden. Das sieht man schon an euren Schulnoten.«

»Ach, Franzi hätte sich nur mehr anstrengen müssen, dazu hatte sie keine Lust«, sagte Veronika. »Ich war eben immer viel zu brav. Hab’ erst meine Hausaufgaben gemacht und bin dann rausgegangen. Franzi konnte es kaum ertragen, in einem geschlossenen Raum zu sein. Sie wollte immer nur raus.«

»Sie ist halt ein echtes Kind vom Lande«, sagte ihr Vater versöhnlich. »Ich habe auch nie viel auf die Schule gegeben. Das Stillsitzen, stundenlang, das war schrecklich. Ich verstehe sie. Da kommt sie ganz nach mir. Der Lehrer hat einen Rohrstock nach dem anderen auf meinem Allerwertesten zerschlagen, weil ich immer nur aus dem Fenster geschaut habe.«

»Armer Paps«, sagte Veronika voller Mitleid.

»Ach was!« Ihr Vater winkte lachend ab. »Hat mir nicht geschadet. Ich war ein arger Taugenichts. Die Strafe kam immer recht. Irgend etwas hatte ich schon angestellt.«

»Daran erinnere ich mich«, sagte ihre Mutter schmunzelnd. »Sobald irgend etwas fehlte oder jemandem ein Streich gespielt wurde, hieß es immer, das war der Perner Josef, der Schlawiner.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen«, sagte Veronika erstaunt, die ihren Vater nur ernst und arbeitsam kannte.

»Aus Kindern werden Leute«, erwiderte ihr Vater seufzend. »Leider. Man kann sich nicht sein Leben lang wie ein kleiner Lausebengel betragen.«

»Ich sehe da heute noch keinen großen Unterschied«, fügte Veronikas Mutter mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.

»Bereust du, mich geheiratet zu haben?« fragte Josef Perner seine Frau. Er ging zu ihr hin und legte liebevoll einen Arm um ihre Taille.

»Jeden Tag«, sagte Veronikas Mutter. »Von morgens bis abends.« Sie schaute ihren Mann von der Seite mit einem dermaßen zärtlichen Blick an, dass Veronika verschämt in die andere Richtung sah.

Das wünsche ich mir auch, dachte sie. Einen Menschen, der mich so lieb hat, dass wir noch in zwanzig Jahren wie verliebte Kinder miteinander herumschäkern.

Sie seufzte. Liebe – sie wusste nicht einmal, was das war. Vaterliebe, Mutterliebe, die kannte sie. Auch die Liebe zu ihrer Schwester. Aber das, was man landläufig unter Liebe verstand, die Zuneigung zu dem einen, einzigen Menschen, der einen das ganze Leben begleiten sollte, die war ihr noch fremd.

Noch. Das hörte sie immer. Noch ist es nicht soweit. Das verstehst du noch nicht. Das wirst du auch noch erfahren. Noch, noch, noch. Aber niemand sagte ihr, wann.

»Was gibt’s zum Abendbrot?« fragte Franzi, die plötzlich wie der Blitz hereingeschossen kam.

»Wirst du wohl die dreckigen Schuhe ausziehen!« schimpfte ihre Mutter. »Langsam solltest du es doch gelernt haben. Du bist kein kleines Kind mehr.«

Franzi lachte und sprang aus der Tür, zog die Schuhe aus und kam wieder herein. »Aber Mutti, das hier ist ein Bauernhof. Da gibt’s nun einmal überall Dreck.«

»Nicht in meiner Küche«, entgegnete ihre Mutter streng. »Selbst dein Vater hat das gelernt, und das war ein hartes Stück Arbeit.«

»Ich sagte doch, sie kommt nach mir«, grinste Josef Perner. »Veronika kommt nach dir, sie ist die Gescheite, und Franzi ist eben die Bäuerin. Sie liebt das Land.« Er wandte sich an seine zweite Tochter. »Deine Schwester war heute bei der neuen Tierärztin, wegen der Lies. Die Frau Doktor will demnächst vorbeikommen.«

»Sie hat nicht gesagt, wann?« fragte Franzi und setzte sich an den Tisch. Nun war die Familie vollzählig, und Walburga Perner begann die Schüsseln aufzutragen.

»Sie hat sehr viel zu tun. Lauter Notfälle«, sagte Veronika, die ihrer Mutter half. »Heute, als ich bei ihr war, musste ich sogar mit ihr mitfahren, nur um mit ihr sprechen zu können.«

»Bist ja selbst eine halbe Tierärztin«, sagte Franzi. »Was du schon alles mit unseren Tieren veranstaltet hast . . .«

»Es hat immer geholfen«, verteidigte sich Veronika.

»Weiß man’s?« erwiderte Franzi. »Vielleicht wären die Viecher auch so gesund geworden.«

»Sei nicht so gehässig, Franzi«, schalt ihre Mutter sie. »Veronika gibt sich solche Mühe.«

»In der Schule«, sagte Franzi. Sie schien das nicht besonders zu schätzen.

»Nun ist sie ja fertig«, mischte sich ihr Vater ein, der die Streitigkeiten zwischen seinen Töchtern kannte und es nicht soweit kommen lassen wollte. »Da müssen wir überlegen, was nun weiter geschehen soll.«

Alle Blicke richteten sich auf Veronika. Ihr schoss ein verlegenes Rot ins Gesicht. »Ich weiß noch nicht genau, was ich machen will«, sagte sie und stellte die letzte Schüssel auf den Tisch. Sie setzte sich.

»Nur herumsitzen und nichts tun, wie alle, die so lange zur Schule gegangen sind«, stichelte Franzi bissig.

»Hör auf, Franzi«, erwiderte ihr Vater scharf. »Du weißt, dass deine Schwester das noch nie getan hat. Sie musste für die Schule lernen. Aber danach hat sie immer geholfen, wo sie konnte.«

»Die paar Minuten«, grummelte Franzi in sich hinein und ließ sich von ihrer Mutter eine große Kelle Kartoffelbrei auf den Teller tun.

»Du wolltest nicht mehr zur Schule gehen«, sagte ihre Mutter dabei. »Das hast du dir selbst ausgesucht. Du hättest genauso weiter zur Schule gehen und Abitur machen können wie Veronika. Wir hätten dir da keine Steine in den Weg gelegt.«

»Schule ist ätzend«, sagte Franzi verächtlich.

»Weil du dich nie dafür interessiert hast«, stellte Veronika fest. »Ich fand es meistens ganz spannend.«

»Ja, ja, du bist die Schlaue, du bist die Beste, du kannst alles«, giftete Franzi.

»Das habe ich nie behauptet, und das stimmt auch nicht«, sagte Veronika. »Heute, als ich mit Frau Dr. Adler unterwegs war, habe ich gesehen, was ich alles nicht kann.«

»Wieso?« Ihre Mutter schaute sie fragend an, während sie sich endlich auch an den Tisch setzte.

»Sie ist eine großartige Ärztin«, sagte Veronika. »Und sie hat den Krausleitner ausgeschimpft, dass es eine Art hatte. Ganz zu Recht.«

»Der Krausleitner hat den Tierarzt geholt?« fragte ihr Vater erstaunt. »Ich dachte, der würde lieber dem Teufel seine Seele verkaufen.«

»Wenn du mich fragst, hat er sie schon verkauft«, erwiderte Veronika grimmig. Sie fühlte die Wut wieder in sich aufsteigen, die sie beim Anblick der gequälten Kuh verspürt hatte. »Lässt seine Kuh da liegen, zwei Tage, mit einem toten Kalb im Bauch. Die Frau Doktor hat es herausgeschnitten, ich habe ihr dabei geholfen, aber ob die Kuh es überlebt, konnte sie auch nicht sagen. Das wird sich morgen entscheiden.«

»Der alte Geizkragen.« Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Das Kalb war ausgewachsen?« fragte er seine Tochter.

Veronika nickte. »Ein schönes Stierkalb. Wäre es zur Welt gekommen, hätte er es in ein paar Monaten gut verkaufen können.«

Der Vater schüttelte den Kopf noch einmal. »So ein Dummkopf.«

»Ja. Und die Qual der Kuh hat ihn nicht im mindesten gerührt. Das war ihm vollkommen egal.« Veronika kniff die Lippen zusammen.

»Es ist nur ein Tier«, sagte Franzi. »Es wird doch sowieso irgendwann einmal geschlachtet.«

»Das heißt noch lange nicht, dass man es zu Lebzeiten quälen muss!« Veronika hob erbost die Stimme. »Oder würdest du unserer Lies so etwas antun?«

»Ist ja gut.« Franzi schaute erstaunt auf ihre Schwester. So zornig hatte sie sie selten gesehen.

»Du hättest unsere neue Ärztin mal erleben sollen«, sagte Veronika und musste trotz ihres Ärgers schmunzeln. »Sie hat ihn fast ermordet mit ihren Blicken. Und bei der Rechnung wird er bestimmt mit den Ohren schlackern, das hat sie schon angekündigt.«

»Das geschieht ihm recht«, sagte Josef Perner, und er schmunzelte auch. »War Zeit, dass ihm mal jemand den Kopf zurechtsetzt. Wenn ich an all die Diskussionen im Wirtshaus denke . . .«

»Wie oft habe ich dir gesagt, geh doch nicht ins Wirtshaus, wenn du das nicht hören willst.« Walburga Perner zog die Augenbrauen hoch und schaute ihren Mann an.

»Ach, Weib, das verstehst du nicht«, erwiderte Josef Perner. »Wir Männer müssen ins Wirtshaus gehen. Wenn ich da nicht hingehen würde, würde ich nie etwas erfahren.«

»Und nicht so viel Bier trinken«, sagte Walburga Perner.

»Das, was ich in einem Monat trinke, schüttet der Krausleitner in einer Stunde in sich hinein«, verteidigte sich Josef Perner. »Ich kann immer noch auf meinen eigenen Beinen nach Hause laufen.«

»Na ja«, erwiderte seine Frau. »Mehr oder weniger.« Sie verzog wohlwollend die Mundwinkel. »Aber ist schon gut. Ich gönne dir ja den einen Abend in der Woche. Du arbeitest schwer genug.«

»Das will ich meinen.« Josef Perner sah sehr zufrieden aus. »Und das gilt für jeden hier am Tisch. Ich glaube, in der Beziehung haben wir uns alle nichts vorzuwerfen. Das ist gute Pernersche Tradition.«

Franzi warf ihrer Schwester einen zweifelnden Blick zu, aber sie sagte nichts.

Die nächsten Tage erholte Veronika sich schnell und fühlte sich danach wie neugeboren. Als ob eine Last von ihr abgefallen wäre.

»Was ist eigentlich mit der Lies?« fragte sie, als sie endlich wieder soweit hergestellt war, dass sie bis zum Stall laufen konnte.

»Schau selbst.« Ihr Vater grinste und wies in den Stall.

Veronika ging hinein und stieß einen überraschten Schrei aus.

»Ein hübsches kleines Mädchen, nicht?« Ihr Vater legte ihr die Hand auf die Schulter, während er hinter sie trat.

»Sie hat es geschafft«, sagte Veronika begeistert. »Es ist nichts passiert. Das Kleine ist wohlauf.«

»Und erst die Lies!« Ihr Vater lachte. »Siehst du, wie stolz sie ist? Grinst von einem Ohr zum anderen, die glückliche Mutter.«

Veronika trat vor und kraulte Lies zwischen den Ohren, die keck ein Auge verdrehte. »Na, da kannst du aber auch stolz sein auf deine kleine Tochter«, sagte sie liebevoll. »Die wird bestimmt genauso eine schöne Kuh wie du.«

»Das will ich hoffen«, sagte ihr Vater. »Die Frau Doktor sagt auch, es wäre wirklich schade um das Kalb gewesen.«

»Die Frau Doktor?« Veronika wurde sich plötzlich bewusst, dass sie all das, was zu der glücklichen Geburt geführt hatte, verpasst hatte.

»Ein bisschen eine Wunderdoktorin ist sie schon«, lachte ihr Vater. »Kam hier an mit Räucherkram und irgendwelchen Utensilien, hat den Stall verdunkelt und Musik angemacht. Die Kühe haben ganz komisch geguckt. Aber die Lies fand es gut. Ich hätte es ja nicht geglaubt, aber das Kalb fand es anscheinend auch gut. Hat sich doch tatsächlich von selbst aus der Schlinge gedreht. Und dann kam es raus, als wäre nie was gewesen. War ein Kinderspiel.«

»Schade, dass ich nicht dabei war«, sagte Veronika enttäuscht.

»Das kommt sicher noch öfter vor«, tröstete ihr Vater sie. »Dann kannst du die Frau Doktor ja mal fragen, ob sie dich mitnimmt.«

»Kommt sie . . .« Veronika räusperte sich. »Kommt sie die Lies noch mal untersuchen und das Kalb?«

»Wenn die beiden gesund bleiben, erst mal nicht«, sagte ihr Vater und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. »Bis zur ersten Impfung für die Kleine dauert es ja noch eine Weile.«

Veronika blieb allein zurück, während ihr Vater aus dem Stall ging, um draußen weiterzuarbeiten. Frau Dr. Adler war hiergewesen, während sie, Veronika, oben im Bett gelegen und nichts mitbekommen hatte. Wie gern hätte sie gesehen, was die Tierärztin gemacht hatte. Sie hockte sich vor die Box und betrachtete das Kälbchen, das sie neugierig, aber auch misstrauisch anschaute.

»Brauchst keine Angst zu haben, ich gehöre auch hierher«, sagte Veronika lächelnd. »War nur eine Weile nicht da. Du wirst dich schon noch an mich gewöhnen.«

Das Kälbchen versteckte sich hinter seiner Mutter, lugte aber zwischen ihren Beinen hervor und hob den Kopf mit der nassglänzenden Nase.

»Na, wie rieche ich?« lachte Veronika leise. »Wie eine Perner? Ist das in Ordnung?«

Das Kälbchen senkte den Kopf, und es sah aus, als ob es damit zustimmend nicken wollte.

Veronika erhob sich. »Bin ich froh, dass alles gutgegangen ist, Lies«, sagte sie und klopfte der Kuh den Hals. »Wie schön, dass wir so eine tolle Tierärztin haben, findest du nicht?«

Lies verdrehte ein Ohr zur Bestätigung, als ob sie sagen wollte: Ja, ich auch.

Veronika betrachtete das Mutter-Tochter-Idyll noch eine Weile nachdenklich, dann verließ sie den Stall und ging in ihr Zimmer hinauf. Nicht viel später kam sie wieder herunter.

»Ich fahre ins Dorf!« rief sie ihrer Mutter zu, die gerade über den Hof ging.

»Fühlst du dich denn schon stark genug?« fragte Walburga Perner besorgt zurück, während sie näherkam.

»Ich fahre vorsichtig«, sagte Veronika. »Keine Straßenrennen, versprochen.« Sie grinste.

»Als ob man auf unseren Feldwegen Rennen veranstalten könnte«, erwiderte ihre Mutter kopfschüttelnd. »Ich sehe, du bist schon wieder ganz wohlauf. Dann will ich dich mal nicht abhalten.«

»Ich bin spätestens zum Mittagessen zurück«, sagte Veronika. »Dauert nicht lange.«

»Ist gut.« Ihre Mutter nickte. »Heute gibt es nur Aufgewärmtes. Da macht es auch nichts, wenn du nicht pünktlich kommst.«

Veronika strich ihrer Mutter kurz über den Arm. »Bis später.«

Als sie dann im Auto saß, kam es ihr vor, als wäre es Jahre her, dass sie eine Kupplung bedient hatte und eine Gangschaltung. Das Getriebe krachte protestierend.

»Du meine Güte. Kann man in ein paar Tagen das Autofahren verlernen?« Veronika schüttelte den Kopf.

Endlich legte sie den Gang ein und fuhr los.

»Na, hast du deine Zauberdoktorin verabschiedet?« begrüßte Franzi Veronika unfreundlich, als letztere in die Küche trat.

»Sie ist Ärztin. Mit Zauberei hat das nichts zu tun«, erwiderte Veronika ärgerlich. »Sie hat jahrelang dafür studiert.«

»So wie du, nicht, Fräulein Studentin in spe?« Franzis Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.

Veronika schaute sie an und schluckte eine wütende Erwiderung herunter. Sie setzte sich zu Franzi an den Tisch. »Was ist denn nur los, Franzi?« fragte sie verwirrt. »Wir sind doch Schwestern. Warum hackst du andauernd auf mir herum? Und auch auf jedem, der nur in meine Nähe kommt? Frau Dr. Adler hat doch überhaupt nichts mit uns zu tun.«

»Hat sie nicht?« Franzi grinste unverschämt.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Veronika kopfschüttelnd. »Sie ist unsere Tierärztin. Ich habe sie gestern zum ersten Mal getroffen.«

»Ach ja? Dafür seid ihr beide aber sehr vertraut«, versetzte Franzi schnippisch.

»Vertraut?« Veronika runzelte die Stirn. »Ich weiß wirklich nicht –«

»Ich weiß wirklich nicht . . .«, äffte Franzi sie nach. »Na, all diese Blicke, dieses Einverständnis . . .«

»Wir interessieren uns eben beide für Tiere«, entgegnete Veronika harmlos. »Daran ist doch nichts Schlimmes.«

»Kommt immer darauf an, was für Tiere«, sagte Franzi mit einem gehässigen Augenaufschlag.

»Was soll das heißen?« Die Runzeln auf Veronikas Stirn gruben sich noch tiefer ein. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wovon Franzi sprach.

»Du weißt ganz genau, was ich meine«, zischte Franzi, stand auf und stapfte hinaus.

»Was habt ihr denn schon wieder, ihr beiden?« Veronikas Mutter kam mit einem Korb voll Wäsche herein und stellte ihn auf einem Stuhl ab. »Könnt ihr euch nicht einmal fünf Minuten vertragen? Man sollte nicht meinen, dass ihr Zwillinge seid. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Früher wart ihr immer ein Herz und eine Seele.«

»Ja, früher . . .« Veronika schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich wollte eben mit Franzi darüber reden, aber sie will anscheinend nicht. Sie ist stur wie ein Esel.«

»Na ja, das könnt ihr beide sein.« Ihre Mutter lachte und begann die Wäsche zu sortieren. »Daran erkennt man die Verwandtschaft dann doch.«

»Ich glaube, sie mag Frau Dr. Adler nicht«, sagte Veronika stirnrunzelnd. »Aus irgendeinem Grund vertraut sie ihr nicht.«

»Bauern sind Tierärzten gegenüber grundsätzlich misstrauisch, das weißt du doch«, sagte ihre Mutter. »Die Tierärzte müssen erst einmal beweisen, dass sie etwas können. Frau Dr. Adler ist halt neu.«

»Paps hat sie sofort gemocht«, sagte Veronika und knabberte nachdenklich auf ihrer Lippe herum.

»Ach ja?« Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch.

»Und eigentlich ist er doch der Bauer«, beendete Veronika ihren Gedanken, bevor sie die Reaktion ihrer Mutter bemerkte. »Aber Mutti!« Sie lachte. »Hast du etwa Angst, Paps würde sich in eine andere vergucken als in dich?«

»Na ja . . .« Ihre Mutter zögerte, während sie ein T-Shirt faltete. »Bei Männern weiß man nie. Er kommt jetzt in das Alter . . .«

Veronika schüttelte lächelnd den Kopf. »Weißt du was, Mutti? Morgen, wenn Frau Dr. Adler wiederkommt, musst du sie unbedingt kennenlernen. Du hast sie ja noch überhaupt nicht gesehen. Wenn du sie siehst, wirst du –«

»Werde ich was?« Walburga Perner schaute ihre Tochter erstaunt an, weil die mitten im Satz einfach aufgehört hatte zu sprechen.

»Wirst du –« Veronika räusperte sich. »Wirst du sehen, dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst«, beendete sie dann schnell ihren Satz.

»So hässlich ist sie?« Veronikas Mutter lachte und nahm das nächste Wäschestück in Angriff.

»Hässlich?« Veronika starrte ihre Mutter an. »Nein. Hässlich ist sie ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Sie ist einfach nur . . .« Sie runzelte erneut die Stirn. ». . . anders.«

»Anders?« Nun runzelte ihre Mutter die Stirn. »Wie – anders?«

»Ich weiß auch nicht.« Veronika schüttelte ratlos den Kopf. »Sie ist irgendwie . . . ich habe noch nie so jemand getroffen wie sie.«

»Du bist kaum aus unserem Dorf herausgekommen«, erwiderte ihre Mutter. »Gerade nur zum Gymnasium in die Kreisstadt. Deine Lebenserfahrung ist . . . na, sagen wir mal, noch etwas beschränkt. Soviel ich weiß, kommt Frau Dr. Adler aus der Großstadt. Wahrscheinlich erscheint sie dir deshalb so anders. Sie ist ein Stadtmensch.«

»Ja.« Veronika schwieg. »Ja, das wird es sein, sie ist ein Stadtmensch«, fuhr sie dann fort. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«

»Sie ist auf jeden Fall ein paar Jahre älter als du und hat mehr erlebt. Das macht in deinem Alter auch viel aus«, sagte Walburga Perner. »Da ist jedes Jahr wie später ein ganzes Jahrzehnt.«

»Meinst du wirklich?« Veronika sah auf einmal unglücklich aus. »Meinst du, sie denkt . . . ich meine, denkst du, sie könnte meinen . . .«

»Kind! Was ist denn mit dir los?« Walburga Perner schaute leicht besorgt. »Du stammelst doch sonst nicht so herum.«

»Wahrscheinlich bin ich einfach nur müde.« Veronika strich sich über die Augen. »Oder ich brüte irgend etwas aus. Ich fühle mich schon seit ein paar Tagen so komisch.«

»Dann geh doch ins Bett«, schlug ihre Mutter vor. »Ich mache dir eine Wärmflasche oder ein paar Wadenwickel.«

Veronika verzog die Mundwinkel. »Wärmflasche ist okay, aber Wadenwickel, das lass mal. So krank bin ich denn doch nicht.«

»Wadenwickel wirken Wunder«, sagte ihre Mutter. »Das hilft dir auch, gar nicht erst krank zu werden.«

»Ich weiß.« Veronika seufzte. »Das ist lieb von dir, aber ich glaube, ich lege mich einfach nur schlafen.« Sie stand vom Tisch auf. »Auch wenn es noch reichlich früh dafür ist. Da wird Franzi wieder etwas zu schimpfen haben, wie faul ich bin und dass ich nichts auf dem Hof helfe.«

»Das lass mal meine Sorge sein«, sagte ihre Mutter. »Ich werde ihr schon den Kopf zurechtsetzen. Was sie alles in der Schule nicht getan hat . . .«

»Ach nein, Mutti, bitte nicht. Beim Thema Schule rastet sie ohnehin schon aus, auch wenn sie jahrelang keine mehr von innen gesehen hat. Das möchte ich nicht. Lass sie meinetwegen auf mir herumhacken. Wenn es ihr guttut . . .« Veronika seufzte.

»Du bist einfach zu gutmütig, Kind.« Walburga Perner schüttelte den Kopf. »Das ist manchmal nicht das richtige.«

»Vielleicht lerne ich noch, mich mit Zähnen und Klauen in der Welt durchzusetzen«, sagte Veronika mit einem schiefen Grinsen, »aber nicht heute.« Sie gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und verließ die Küche.

Nachdem sie die Treppe hinaufgestiegen war, betrat sie ihr bescheidenes Zimmer unter dem Dach und zog die Tür hinter sich zu. Sie lehnte sich dagegen und atmete tief durch. Sie fühlte sich wirklich krank, obwohl sie das bislang nicht ernstgenommen hatte.

Sie stieß sich etwas mühsam von der Tür ab und ging hinüber zu ihrem kleinen Schulschreibtisch, der sie seit der fünften Klasse begleitete, seit sie aufs Gymnasium gekommen war. Er war immer mitgewachsen und sah nun etwas unproportioniert aus, mit einer viel zu kleinen Tischplatte auf viel zu langen Beinen. Sie setzte sich und ließ den Kopf in die Hände sinken.

Was ist nur mit mir los? dachte sie. Irgend etwas ist tatsächlich mit mir los, aber nicht einmal ich selbst weiß, was es ist.

Nicht nur, dass sie sich körperlich krank fühlte, sie fühlte sich auch innerlich ausgelaugt. Eine Schwäche ergriff von ihr Besitz, die sie so nicht kannte.

Sie richtete sich auf und griff nach einem rot eingebundenen schwarzen Büchlein, das auf ihrem Schreibtisch lag. Sie schlug es auf, suchte die letzte Seite und schaute auf das Datum. Es war schon ein paar Tage her, seit sie die letzte Eintragung gemacht hatte. Sie las den Text noch einmal durch und nahm einen Stift zur Hand. Energisch strich sie ein Wort durch und ersetzte es durch ein anderes. Ist das nun besser? fragte sie sich. Sie legte den Stift zur Seite.

Das, was ich mir wünsche, erreiche ich doch nie.