Vorwort

Fritz Edlinger

Im Dezember 2009 habe ich in das Vorwort in dem von mir gemeinsam mit Erwin Ruprechtsberger herausgebrachten Buch über Libyen1 geschrieben: „Die Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija ist zweifellos auf dem Weg der Öffnung und dies ist ein – trotz mancher äußerer und innerer Widerstände – irreversibler Prozess. Wohin diese Öffnung letztlich führen wird, ist derzeit noch nicht mit Sicherheit zu sagen, aber die Dinge sind in Bewegung geraten.“ Zu diesem Zeitpunkt existierten weder organisierte Rebellengruppen in der Kyrenaika noch Hinweise darauf, dass der Westen solche unterstützen würde. Die erste Prognose meiner damaligen Einschätzung ist – und das kann man heute (dieses Vorwort wurde am Tage des Eindringens der Rebellentruppen in Tripolis am 22. August 2011 verfasst) mit Sicherheit sagen – tatsächlich eingetreten, wenngleich auch in einer für viele überraschenden Art und Weise. Die zweite Aussage erwies sich als noch zutreffender. Ohne Zweifel wird die libysche Rebellion in absehbarer Zeit den endgültigen Sieg davontragen. Was aber danach kommen wird, ist ungewiss. Dieses Buch, dessen Beiträge ohne Ausnahme zu einem Zeitpunkt verfasst wurden, da die militärischen Auseinandersetzungen gerade ein, zwei oder drei Monate im Gange waren, will also nicht in erster Linie die Ausgestaltung des politischen Systems im neuen Libyen behandeln. Sondern die aus meiner Sicht zumindest ebenso spannenden Fragen, wie es zu den jüngsten Entwicklungen kommen konnte und wie die strukturellen Grundprobleme der libyschen Gesellschaft lauten. Dies ist – vor dem endgültigen Niedergang des 42 Jahre andauernden Systems der Volksherrschaft – eine riskante Angelegenheit und ich möchte mich auch an dieser Stelle bei den Autorinnen und Autoren dieses Buches herzlich für ihren Mut, mich bei diesem heiklen politik- und sozialwissenschaftlichen Experiment zu unterstützen, bedanken. Wir haben versucht, die komplexe und in vielen Aspekten dem durchschnittlichen Publikum kaum bekannte innere Beschaffenheit dieses nordafrikanischen Staates näher zu analysieren. „Wie kam es dazu?“ lautete unsere Fragestellung, aber auch: „Wie wird/kann es weitergehen?“.

Bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren für dieses Buch haben wir in keiner Weise auf die politische Zuordnung geachtet, wichtig war uns die fachliche Kompetenz, das Wissen um bestimmte Zusammenhänge, die persönliche Erfahrung und auch da und dort die Originalität der zu erwartenden Beiträge. Insofern ist uns – ich hoffe sehr, dass sich unsere eigene Einschätzung mit jener der Leserinnen und Leser decken wird – ein Buch gelungen, das interessante und bislang kaum bekannte Details öffentlich macht. Wer sich eine Kampfschrift für oder gegen eine der beiden Konfliktparteien des jüngsten Bürgerkriegs2 erwartet, wird enttäuscht sein. Dies war kein ausschlaggebendes Kriterium bei der Auswahl der Beiträge. Man wird massive Kritiker des alten Systems ebenso finden wie Skeptiker und offene Kritiker der NATO-gestützten Rebellion.

Somit möchte ich mir noch einige persönliche Einschätzungen erlauben, wobei ich bewusst auf eine vordergründige Stellungnahme zu den jüngsten Ereignissen verzichte. Dies wird zum Teil ohnedies in einigen der folgenden Beiträge getan, zum anderen möchte ich an dieser Stelle einzelne Aspekte beleuchten, die zweifellos die zukünftigen politischen Verantwortlichen in Libyen aber auch in der gesamten Region beschäftigen werden.

Da ist zu einem die Rolle der Jugend in der libyschen Rebellion, die im Gegensatz zu Tunesien und Ägypten in den Berichten der letzten Wochen und Monate kaum erwähnt wurde. Dies hängt meiner Meinung nach weniger damit zusammen, dass die gesellschaftliche Position der jungen Menschen in Libyen sich von jener in den meisten anderen arabischen Staaten grundsätzlich unterscheidet, sondern in erster Linie doch mit der, etwa im Vergleich zu Tunesien und Ägypten, deutlich zurückhinkenden gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Dies gilt vor allem für die Bereiche Bildung und Beschäftigung, wie dies auch im Beitrag von Konrad Schliephake gut dargestellt wird. Ein weiterer Unterschied zwischen Libyen und den beiden Nachbarstaaten betrifft den in den letzten Jahren wieder deutlich zunehmenden tribalen Einfluss auf das öffentliche Leben, der die Entwicklungschancen der Jugend in der libyschen Gesellschaft deutlich einschränkt und hemmt. Der Ethnologe Thomas Hüsken geht in seinem Beitrag über die Situation in der ostlibyschen Region Kyrenaika auch ausführlich darauf ein und schildert, dass sich die Jugend dort kaum gegenüber den Repräsentanten der althergebrachten Stammesstrukturen behaupten kann und auch in den Entscheidungs- und Beratungsgremien des Aufstandes fast nicht vertreten ist. Die jungen Libyer haben sich daher in den Monaten der Rebellion weitgehend auf den militärischen Kampf konzentriert. Thomas Hüsken sieht für die Periode des Aufbaus neuer politischer Strukturen einen Generationenkonflikt voraus. Die Situation in Tripolitanien dürfte sich – im Gegensatz zu der jugendfreundlichen Selbstdarstellung des Gaddafi-Regimes – von jener im Osten nicht wesentlich unterscheiden. Denn auch Gaddafi griff in den letzten Jahren immer stärker auf die Traditionen und Vorstellungen der Stämme zurück. Es ist daher durchaus zu erwarten, dass die libysche Jugend, dem Beispiel ihrer tunesischen und ägyptischen Alterskollegen folgend, diese Marginalisierung nicht länger hinnehmen wird. Somit wird sich auch das neue Libyen, wie immer dieses im Detail aussehen mag, mit den politischen, ökonomischen und sozialen Wünschen und Forderungen der Jugend auseinandersetzen müssen.

Damit komme ich zu einem zweiten Aspekt, der aufgrund vergleichbarer Erscheinungen in anderen unruhigen Staaten des Nahen Ostens wichtig erscheint: die starke Rückbesinnung auf familiäre Stammesbeziehungen. So stellt diese Entwicklung beispielweise im Jemen einen ganz wichtigen Faktor des Bürgerkriegs dar. Im Unterschied zu anderen Staaten in der engeren Region3 nahm auch Muammar Gaddafi, der trotz seiner beduinischen Abstammung zunächst eine Politik im Sinne des arabischen Sozialismus von Nasser verfolgte, relativ bald wieder auf die traditionellen Stammesstrukturen Rücksicht. Zwei Faktoren dürften für diese Rückwendung ausschlaggebend gewesen sein: eine gewisse Mystifizierung des naturnahen und freien Lebens der herkömmlichen Wüstenbewohner4, aber zweifellos auch ganz konkrete und brutale Interessen der Machterhaltung und die dazu nötige Schaffung von Loyalitäten, die der Revolutionsführer in erster Linie bei den ihm nahestehenden Clans Tripolitaniens suchte und fand. Gaddafi verstärkte damit eine traditionell bestehende Kluft zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Libyens und einen der Beweggründe des Bürgerkriegs. Eines der im Nachkriegslibyen auf jeden Fall zu bewältigenden Probleme wird daher die Wiederannäherung der unterschiedlichen Stämme der Kyrenaika und Tripolitaniens sein.5 Ob dies der im Übergangsrat vereinigten Anti-Gaddafi-Koalition tatsächlich gelingen wird, ist schwer zu beantworten. Denn der Einfluss der Repräsentanten des traditionellen Stammeswesens dürfte in der Kyrenaika beträchtlich sein und es bleibt abzuwarten, ob sich die gegenwärtige Führung des Übergangsrats, in dem abtrünnige Gaddafi-Gefolgsleute und im Westen ausgebildete Technokraten dominieren, weiterhin behaupten kann. Eine interne Machtverschiebung vom Westen in den Osten wird es nach Beendigung des Bürgerkriegs meines Erachtens nach auf jeden Fall geben und es ist daher nicht auszuschließen, dass die Stammesvertreter aus der Kyrenaika alte Rechnungen mit den bisherigen Herrschern aus Tripolitanien begleichen werden.

Diese Akzentverschiebung zugunsten traditioneller ethnischer und religiöser Strukturen in vielen Staaten Arabiens stellt sowohl einen Auslöser wie auch ein Ergebnis der verschiedenen revolutionären und rebellierenden Bewegungen dar. In einem gewissen Maße vertritt die „Revolution der Jugend“ in Tunesien und Ägypten ein Gegenkonzept zu diesen Strömungen. Wir werden mit Spannung beobachten, wohin der Trend in den nächsten Jahren geht.

Damit komme ich zum letzten Aspekt meiner Einleitung: die zu erwartenden regionalen Auswirkungen der libyschen Rebellion. Diese wurden in der Berichterstattung der letzten Wochen und Monate viel zu wenig behandelt, könnten sich aber sehr bald als ein höchst unangenehmer und gefährlicher Kollateralschaden des libyschen Bürgerkriegs erweisen. Bei den meisten westlichen Interventionen in den letzten Jahrzehnten (etwa in Afghanistan oder dem Irak) wurden kaum die Folgewirkungen derartiger Eingriffe bedacht und zogen jahrzehntelange militärische Auseinandersetzungen nach sich, die Hundertausende, wenn nicht Millionen unschuldiger Opfer forderten und zudem Unsummen an finanziellen Mitteln verschlangen. Libyen könnte sich zu einem ähnlich unbedachten westlichen Abenteuer entwickeln. Es scheint den Planern des NATO-Feldzugs entgangen zu sein, dass dieses Land inmitten einer höchst instabilen Region liegt und zudem Gaddafi eine von vielen afrikanischen Politikern durchaus geschätzte Politik der afrikanischen Einheit betrieben hat. Manche kritische Beobachter unterstellen den Regisseuren des NATO-Feldzugs, in erster Linie Frankreich (das in Westafrika nach wie vor massive, aus der Kolonialzeit stammende Interessen pflegt), weit über Libyen hinausreichende Absichten. Ganz zu schweigen von den Interessen jener westlichen Staaten, deren Ölkonzerne wieder stärker auf den libyschen Markt drängen und das zu wesentlich günstigeren Bedingungen als dies unter Gaddafi der Fall war. Es würde den Rahmen eines Vorworts bei weitem sprengen, auf diese möglichen Auswirkungen des Umsturzes in Libyen einzugehen. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass derartige Aspekte in der allgemeinen Kriegshysterie in den Medien kaum eine Rolle gespielt haben.6

Die Lektüre der Beiträge von Ines Kohl und Rami Salem in diesem Buch möchte ich empfehlen, weil sie sich mit der Situation von zwei teilweise in Libyen ansässigen nicht-arabischen Stämmen, den Berbern und den Tuareg, befassen. Diese Stämme befinden sich – nicht zuletzt aufgrund der Minderheitenpolitik Muammar al-Gaddafis – derzeit in den beiden feindlichen Lagern. Viele Experten befürchten, der Krieg könne auch Auswirkungen auf jene Länder in der unmittelbaren Nachbarschaft Libyens haben, in denen Angehörige der beiden Stämme leben. Ein Szenario bestünde darin, dass die geschlagenen und frustrierten Tuareg, welche auf der Seite Gaddafis gekämpft haben, in die südlichen Anrainerstaaten flüchten und dort weitere Unruhen auslösen. Dass die Berber, die von Gaddafi unterdrückt waren und daher auf Seiten der Rebellen standen und stehen, ebenfalls jene Anrainerstaaten, in denen ihre Verwandten leben, in den Konflikt hineinziehen, ist bereits Realität. Hierbei handelt es sich um die Staaten Algerien, Mali, Niger, Tschad, Tunesien und letztlich auch den Sudan, die unmittelbar betroffen sind. Im Zuge des Bürgerkriegs kam es bereits zu Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der Rebellentruppen und schwarzafrikanischen Gastarbeitern, die man pauschal als Söldner diffamierte. Es bleibt zu hoffen, dass in der allgemeinen Siegeseuphorie die Stimmen der Vernunft und Mäßigung und nicht jene der Rache und des Rassismus die Oberhand behalten mögen.

Der libysche Bürgerkrieg wirft viele Probleme auf. Wie oft beim Versuch, komplizierte nationale und internationale Konflikte unter Einsatz von militärischer Gewalt zu lösen, bleiben diese selbst ungelöst und werden noch durch neugeschaffene verschärft. Dieses Buch stellt den Versuch dar, den Problemen Libyens auf den Grund zu gehen. Ich hoffe sehr, dass uns dies gelungen ist.

Somit möchte ich mich abschließend bei meinem langjährigen Verleger Hannes Hofbauer bedanken, dass er mein hochriskantes Projekt, ein Buch über einen Konflikt zu veröffentlichen, der zum Abschluss der redaktionellen Arbeiten noch im Gange war, von Anbeginn an vehement unterstützt hat. Auch den Autorinnen und Autoren, welche bei diesem Projekt unter einem ganz besonderen Zeitdruck gestanden sind, möchte ich danken und meine Anerkennung aussprechen. Besonderer Dank gilt auch Stefan Kraft, der die Mühe auf sich genommen hat, teilweise recht unterschiedliche und komplizierte Texte zu bearbeiten und zu vereinheitlichen. Dies ist ihm aus meiner Sicht hervorragend gelungen. Dem letztlich entscheidenden Urteil des Publikums über dieses Risikoprojekt sehe ich mit Demut entgegen.


Fritz Edlinger
Wien, am 22. August 2011

1 Fritz Edlinger/Erwin Ruprechtsberger (Hg.): Libyen. Geschichte – Landschaft – Gesellschaft – Politik. Wien 2009.

2 Ich bin mir bewusst, dass manche Leserinnen und Leser die Wahl dieses Terminus kritisieren werden. Nach einer ausführlichen Analyse der jüngsten Ereignisse habe ich mich aber dafür entschieden, vor allem auch, um eine klare Unterscheidung zu Ereignissen wie jenen in Tunesien und – mit einigen Abstrichen – auch jenen in Ägypten zu treffen.

3 So verfolgte beispielsweise der tunesische Präsident Habib Bourguiba, der 1957 zum Präsidenten der unabhängigen Republik Tunesien gewählt wurde, eine deutlich säkulare Gesellschaftspolitik, bei deren Implementierung er mit vielen herkömmlichen islamischen Sitten aber auch mit den bis dahin dominanten Stammesstrukturen brach. Heute spielen in Tunesien die traditionellen Familienbande keine Rolle mehr.

4 Vgl. dazu meinen weiteren Beitrag in diesem Buch und den darin besprochenen Sammelband Gaddafis: „Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten“ München 2004.

5 Weitere Details der Stammespolitik Gaddafis werden durch Beiträge in diesem Band erläutert. So hat er bewusst in Libyen lebende nationale Minderheiten gegeneinander ausgespielt (z.B. die von ihm unterdrückten Berber gegen die privilegierten Tuareg) und auch durch An- und Umsiedlungsaktionen vor allem im Westen Libyens Konflikte zwischen loyalen und illoyalen Stämmen ausgelöst. Diese haben auch im Rahmen des Bürgerkriegs in den westlibyschen Nafusa-Bergen eine Rolle gespielt.

6 Ich möchte in diesem Zusammenhang die Lektüre von zwei fachlich absolut unbestrittenen und zudem politisch nicht dem Lager der „üblichen Verdächtigen“ zuzurechnenden Webseiten empfehlen: jene der International Crisis Group (www.crisisgroup.org/home) sowie die Webseite des renommierten unabhängigen US-amerikanischen Sicherheitsexperten George Friedman (www.stratfor.com). Beide befassen sich äußerst kritisch mit der NATO-Politik in Libyen.

42 Jahre Volks-Dschamahirija

Eine Analyse aus sozioökonomischer Sicht

Gerd Bedszent

Vorgeschichte

Der heutige Staat Libyen ist ein Produkt der italienischen Kolonialmacht. Zum Anfang des 20. Jahrhunderts annektierte Italien die bis dahin eigenständigen Landesteile - die Kyrenaika im Osten, Tripolitanien im Westen und den Fessan im Süden – und fasste sie zur Kolonie Libia italiana zusammen. Zwischen den Zentren dieser drei Landesteile erstreckt sich lebensfeindliche Wüste, die nur gelegentlich von kleinen Oasen unterbrochen wird. Seit dem 7. Jahrhundert ist das heutige Libyen islamisiert und weitgehend arabisiert, Reste vorarabischer Bevölkerungsgruppen leben hauptsächlich in den westlichen und südöstlichen Randgebieten. Libyen galt bis in die 1960er Jahre hinein als rückständig und ist derzeit noch immer jenes nordafrikanische Land, das am meisten von vormodernen Stammesstrukturen dominiert wird. Etwa 140 verschiedene Stämme und Clans nehmen Einfluss auf das gesellschaftliche und politische Leben.

Unter der osmanischen Herrschaft (ab dem 16. Jahrhundert bis 1911) lebte die Oberschicht der Küstenregionen hauptsächlich von Seeraub, während die Stämme im Landesinneren sich selbst überlassen blieben. Piraterie, Angriffe europäischer Flotten, Stammesfehden sowie die extensive Nomadenwirtschaft schädigten nachhaltig die aus der Antike erhaltenen Wirtschaftsstrukturen. Von Machtvakuum und Niedergang profitierte der Senussi-Orden, der sich seit 1837 über weite Teile Nordafrikas ausgebreitet hatte. Kern der Senussi-Herrschaft waren Zawiyas, islamische Klöster, die sich zu landwirtschaftlichen, kulturellen und kommerziellen Zentren entwickelten.

Ab 1902 nahm Italien zunehmenden wirtschaftlichen Einfluss auf die libyschen Küstenregionen. Als Folge des italienisch-osmanischen Krieges von 1911/12 wurden Tripolitanien und die Kyrenaika vom Königreich Italien annektiert. 1914 besetzten italienische Truppen auch den Fessan.

Das Osmanische Reich hatte in Libyen kaum Truppen stationiert. Träger des Widerstandes gegen die italienische Landnahme waren daher hauptsächlich einheimische Stammeskrieger. Die Senussi, die der osmanischen Herrschaft kritisch, aber nicht ablehnend gegenübergestanden waren, setzten sich gegen das italienische Militär ebenfalls zur Wehr und konnten im Bündnis mit mehreren Stammesverbänden zeitweise den größten Teil des Landes zurückerobern.

Unter Muhammad Idris al-Mahdi al-Senussi, einem Enkel des Ordensgründers, vollzog ein Teil der Senussi-Führung 1917 einen Frontwechsel. Idris konnte sich mit italienischer Unterstützung als Emir der Kyrenaika etablieren, in Tripolitanien wurde eine unabhängige Republik ausgerufen.

Nach der faschistischen Machtübernahme in Italien 1922 leitete Mussolini umgehend eine Wiedereroberung und Ausweitung des Kolonialbesitzes ein. Idris verschwand im britischen Exil, der Widerstand organisierte sich unter dem Senussi-Scheich Umar al-Muchtar. Die Besatzer reagierten mit Razzien und Massenhinrichtungen. Italienische Piloten bombardierten zudem die wehrlose Oasenbevölkerung – aus den Jahren 1927-28 ist auch der Einsatz von Giftgas nachgewiesen. Etwa 100.000 Bewohner der Kyrenaika wurden im Jahre 1930 in Lagern interniert. Nur die Hälfte von ihnen überlebte. Umar al-Muchtar wurde im Jahre 1931 hingerichtet. Die genaue Anzahl der libyschen Opfer des Eroberungskrieges ist bis heute nicht bekannt. Etwa ein Drittel der Bevölkerung fiel dem Hunger und den italienischen Militärs zum Opfer, bis in die jüngere Vergangenheit wurden die kolonialen Verbrechen Italiens geleugnet.

Italiens Besatzung führte auch dazu, dass die traditionelle Infrastruktur Libyens zerstört und das Land zu einer Agrarkolonie wurde. Die Kolonialverwaltung enteignete sämtliche wertvolle Ländereien und übertrug sie Italienern. Über 100.000 Bauern siedelte die faschistische Führung aus dem unterentwickelten Süditalien auf zuvor enteigneten Ländereien Tripolitaniens und der Kyrenaika an. Die Politik der faschistischen Landnahme erwies sich jedoch als wenig nachhaltig: viele italienische Siedler verließen das Land nach 1945 wieder. Andere wurden von den Briten zwangsdeportiert, die letzten 1969 vom Revolutionären Militärrat ausgewiesen.

Der Zweite Weltkrieg brachte Libyen heftige Zerstörungen – Mussolinis Truppen und ihre deutschen Verbündeten nutzten das Land als Ausgangspunkt für Angriffe auf das damals britische Ägypten. Bis zur endgültigen Niederlage Italiens wechselte allein die Stadt Bengasi fünfmal den Besitzer; die Stadt Tobruk erhielt die Bezeichnung Verdun von Afrika. Die geschlagenen Reste der italienischen und deutschen Armeen flüchteten schließlich nach Tunesien und streckten dort am 10. Mai 1943 die Waffen.

Auf den Zweiten Weltkrieg folgte in Libyen eine Periode britisch-französischer Militärverwaltung. Die Briten wollten die Kyrenaika annektieren, der Fessan sollte französisch werden, Tripolitanien als UN-Mandatsgebiet italienisch bleiben. In Tripolitanien ließen die Briten daher die faschistischen Kolonialstrukturen weitgehend unangetastet. Die geplante Aufteilung Libyens wurde jedoch nicht vollzogen, das Land entsprechend einem Mehrheitsbeschluss der UNO im Jahre 1951 als Vereinigtes Königreich Libyen eine unabhängige Föderation der drei Landesteile.

Unabhängigkeit und Königreich

Das Erbe der Kolonialära war grauenhaft, so betrug die Analphabetenrate im Jahre 1951 95 Prozent der Bevölkerung. Nur 5.000 Libyer hatten mehr als fünf Jahre Schulbildung, gerade 16 waren Hochschulabsolventen. Libyen zählte zu den ärmsten Ländern der Welt, das jährliche Pro-Kopf-Einkommen betrug durchschnittlich 15 Dollar. Die fruchtbarsten Ländereien befanden sich nach wie vor im Besitz italienischer Grundbesitzer, die einheimische Landarbeiter für einen Hungerlohn für sich arbeiten ließen. Der einzige bedeutende Exportschlager war Militärschrott, der auf verlassenen Schlachtfeldern aufgesammelt wurde.

König Idris I. war wenig mehr als eine Marionette der Briten. So verpachtete er beispielsweise mehrere Militärstützpunkte an Großbritannien und die USA, deren Nutzung während der Suez-Krise von 1956 und im Sechs-Tage-Krieg von 1967 schwere Unruhen hervorrief.

Idris I. umgab sich in seiner Herrschaft hauptsächlich mit ehemaligen Senussi-Scheichs und Stammesführern der Kyrenaika, die Stämme Tripolitaniens und des Fessan blieben von jeder Machtausübung weitgehend ausgeschlossen. Erst im Jahre 1963 erfolgte, auf dem Papier, eine Umwandlung Libyens von einer Föderation zu einem Einheitsstaat.

Die von den faschistischen Besatzern enteigneten Ländereien blieben auch nach der Unabhängigkeit im italienischen Besitz, Handel und Industrie waren weiter italienische Domänen. Nach den ersten Erdölfunden im Jahre 1955 duldete Idris, dass das libysche Territorium unter den weltweit führenden Erdölkonzernen faktisch aufgeteilt wurde, und kassierte für den Staatshaushalt nur eine vergleichsweise niedrige Grundrente. Die Öleinnahmen kamen fast ausschließlich Mitgliedern der privilegierten Oberschicht zugute, während die Bevölkerungsmehrheit in Armut und Unterentwicklung verblieb. Zahlreiche Nomaden und Oasenbauern gaben in der Folge die Landwirtschaft auf und strömten in der Hoffnung auf guten Verdienst auf die Ölfelder. Ohne hinreichende Schulbildung und Ausbildung konnten sie dort meist nur als Hilfsarbeiter Beschäftigung finden.

In der herrschenden Schicht rief der Ölboom eine blühende Korruption hervor. Auf sich mehrende Proteste reagierte das Herrscherhaus mit Repression – formell war Libyen zwar eine konstitutionelle Monarchie, praktisch konnte der König aber jede ihm nicht genehme Gesetzesvorlage blockieren. Schon im Jahre 1952 verbot Idris I. alle politischen Parteien und unabhängigen Gewerkschaften. Nach dem Sturz des Königshauses im benachbarten Ägypten ließ Idris I. zahlreiche oppositionelle Politiker inhaftieren oder hinderte sie an der Teilnahme am politischen Leben.

Machtübernahme des Militärs und Beginn der Gaddafi-Ära

Unter Idris I. blieben sämtliche höheren Posten in Staatsapparat, Polizei und Geheimdienst Angehörigen der Oberschicht vorbehalten. Die einzige Möglichkeit des Aufstiegs auch für Angehörige nicht privilegierter Stämme bildete das Militär. Gerade in den niederen Offiziersrängen gab es daher Gruppen Unzufriedener, die gegen die konservierte Rückständigkeit und den nationalen Ausverkauf opponierten. Der Bund der Freien Unionistischen Offiziere stürzte Idris I. im Jahre 1969 durch einen mehrheitlich unblutigen Militärputsch. Der gerade 27 Jahre alte Armeeoberst Muammar al-Gaddafi ließ sich als Oberhaupt der Verschwörung vom Revolutionären Militärrat als Befehlshaber der Streitkräfte bestätigen. Unter der Losung Freiheit, Sozialismus, Einigkeit wurde in der nun beginnenden Gaddafi-Ära ein Prozess der radikalen Modernisierung der libyschen Gesellschaft in Gang gebracht.

Muammar al-Gaddafi gilt heute, umso mehr als damals, als eine widersprüchliche Persönlichkeit. Geboren als Sohn eines halbnomadischen Wüstenbauern in einem wenig einflussreichen Stamm, besuchte er zunächst eine islamische Schule. Sein Großvater war 1911 im Kampf gegen die Italiener gefallen, Vater und Onkel wurden jahrelang in faschistischen Internierungslagern gefangen gehalten. Gaddafi wurde Kadett an der Militärhochschule des Landes, kam als junger Offizier zur Weiterbildung nach Großbritannien und begann anschließend einen steilen Aufstieg in der libyschen Militärhierarchie.

Gaddafis politische Vorstellungen werden häufig als sozialistisch oder marxistisch beschrieben, tatsächlich ist er eher ein stark islamisch geprägter panarabischer Nationalist. Sein zeitweiliges Zusammengehen mit dem sozialistischen Osteuropa war rein taktischer Natur.

Die vom Revolutionären Militärrat durchgesetzten Reformen wiesen allerdings gewisse Ähnlichkeiten zum osteuropäischen Sozialismusmodell auf: hoher Mindestlohn, Verstaatlichung zahlreicher Unternehmen, Bodenreform, staatliche Lenkung der Wirtschaft und Preiskontrolle sowie staatliches Monopol des Außenhandels. Die dahinter stehenden Überlegungen entsprachen den realen Verhältnissen im Land: Ein nationales Bürgertum als Träger des angestrebten Modernisierungsprozesses hatte in der libyschen Stammesgesellschaft keine Grundlage, die Reformer konnten sich daher nur auf eine Staatsbürokratie stützen.

Stammesgesellschaft contra Volks-Dschamahirija

Viele der Merkwürdigkeiten der Gaddafi-Ära haben ihre Ursache darin, dass ein umfassendes Modernisierungsprogramm eigentlich nur auf der Grundlage eines funktionierenden Nationalstaats hätte erfolgen können. Ein solcher Nationalstaat ist aber Libyen bis heute nie gewesen, sondern eher ein loses Bündnis vormoderner Stämme und Clans, das durch die übergestülpte Staatsbürokratie mehr als notdürftig zusammengehalten wurde. Der Staat Libyen ist daher dauerhaft instabil, seine Staatsführung auf ein Lavieren zwischen den verschiedenen Stammesinteressen, zwischen Erneuerern und Traditionalisten, zwischen vormodernen Clanchefs und einem modernen Management angewiesen. Auch der Kult, den Gaddafi um seine eigene Person kreierte, hat seine Ursache genau in diesen Elementen: Er begriff sich selbst als einzige Person, die die widerstrebenden Interessen ausbalancieren und die libysche Gesellschaft zusammenhalten konnte. Eine lange Zeit gelang ihm dies auch.

Da Gaddafi selbst einem unbedeutenden und relativ machtlosen Wüstenstamm der Syrte angehört, verfügte er über keine traditionelle Hausmacht. Der von ihm angeführte Revolutionsrat wurde ständig von Militärverschwörungen, Putschversuchen und Stammesrevolten bedroht. Gegen die königstreuen Stammesführer der Kyrenaika verbündete sich der Revolutionäre Militärrat zunächst mit verschiedenen Stammeskoalitionen Tripolitaniens und des Fessan. So konnten erste Reformen durchgesetzt und die Rolle der Zentralgewalt gegenüber den Stämmen gestärkt werden.

Die offizielle Auflösung des Militärrates und die Ausrufung der Volks-Dschamahirija, der Herrschaft der Massen, im Jahre 1977 waren der Versuch, die soziale Basis des Regimes zu verbreitern und so das gesamtstaatliche Modernisierungsprogramm dauerhaft gegen partikulare Stammesinteressen durchzusetzen. Nachdem eine Massenmobilisierung mittels einer nach ägyptischem Vorbild gegründeten Einheitspartei mit dem Namen Arabische Sozialistische Union gescheitert war, wurden die bereits geschaffenen Parteizellen in sogenannte Volkskomitees umgewandelt. Sie sollten in Volkskonferenzen direkt von der Bevölkerung gewählt werden und als Interessenvertretungen und lokale Verwaltungsgremien fungieren.

In seiner im Grünen Buch beschriebenen Dritten Universaltheorie arbeitete Gaddafi die ideologischen Grundlagen für die von ihm geführte Revolution von oben aus. Er verwarf sowohl das bürgerliche Demokratiemodell als auch die Diktatur des Proletariats. An deren Stelle traten Vorstellungen von direkter Demokratie der Volksmassen durch eine permanente Revolution – was sein Werk eine Zeit lang auch für westeuropäische Linke attraktiv machte.

Faktisch aber beförderte die Volks-Dschamahirija das Fortbestehen der Stammes- und Clanstrukturen. Die oft nur unter Druck sich konstituierenden Volkskomitees waren leere Hüllen, in denen die Besetzung lukrativer Posten nach Stammeszugehörigkeit ausgehandelt wurde. Auch mit der westlicherseits belächelten Kulturrevolution gelang Gaddafi keine Umgestaltung der libyschen Stammesgesellschaft.

Gegen die partikularen Interessen der einzelnen Clans organisierte der formell aufgelöste Revolutionäre Militärrat ein System sogenannter Revolutionskomitees. Ursprünglich sollten sie die Massen mobilisieren, doch wandelte sich die Rolle dieser bezahlten Berufsrevolutionäre schnell zu einer Kontrollinstanz, die die vorgegebene Linie in den Basiskonferenzen durchzusetzen hatte. Die Befugnisse der Revolutionäre innerhalb der libyschen Gesellschaft waren nirgendwo definiert, die Revolutionskomitees agierten ohne gesetzliche Grundlage. Fälle von Machtmissbrauch waren damit vorprogrammiert. Gaddafi gelang es immerhin, dank eines gut organisierten Geheimdienstapparates, einer Reihe von Attentaten zu entgehen und die meisten Verschwörungen und Putsche im Keim zu ersticken.

Den Machtkämpfen im libyschen Staatsapparat fielen jedoch nach und nach die meisten von Gaddafis politischen Weggefährten und Mitstreitern zum Opfer. Häufig wurden sie durch Angehörige seines Familienclans und anderer zuverlässiger Stämme ersetzt.

Gaddafi selbst hatte anfangs heftig gegen die vormodernen Stammesstrukturen gekämpft, erwies sich aber im Alter gegenüber der Begünstigung von Angehörigen des eigenen Clans als anfällig. Die meisten seiner Verwandten versorgte er mit hoch dotierten Posten und duldete ihre merkwürdigsten Eskapaden.

Öl als Motor des Modernisierungsprogramms

Noch in der Zeit der Monarchie hatte sich ein Großteil der westeuropäischen Industrie auf die Verarbeitung libyschen Erdöls eingestellt. Ursache war einerseits dessen hochwertige Qualität, andererseits die günstige Verkehrslage: Bei einem Import aus Libyen konnten sich die Abnehmer den riskanten und teuren Transport durch den damals umkämpften Suezkanal sparen.

Sofort nach dem Umsturz von 1969 forderte die Revolutionsführung den Ölkonzernen höhere Renditen ab. Mit den auf diese Weise um das Mehrfache gesteigerten Staatseinkünften wurden eine Reform des Bildungssystems und die Ausbildung libyscher Fachkräfte finanziert, sodass die Volksjamahirira ein paar Jahre später die Erdölförderung komplett in eigene Hände nehmen konnte. Die in den 1970er Jahren extrem hohen Ölpreise sorgten für Milliardeneinnahmen im Staatshaushalt, mit denen Gaddafi nicht nur Militär und Außenpolitik finanzierte, sondern auch Industrieunternehmen aus dem Boden stampfte und ein für afrikanische Verhältnisse vorbildliches Gesundheits- und Sozialsystem aufbaute. Libyen wies das höchste Pro-Kopf-Einkommen im nördlichen Afrika auf.

In der Wüste wurden moderne Städte errichtet, in denen die Bevölkerung nach Abriss der Altbauten mietfrei wohnen konnte. Die durchschnittliche Lebenserwartung stieg zwischen 1970 und 2010 von 53 auf 75 Jahre. Zudem wurde ein gigantisches Bewässerungsprojekt in Angriff genommen. Fossiles Grundwasser wird seitdem in der Sahara gefördert und in die Küstenregionen gepumpt. Die ökologischen Folgen des Projektes sind allerdings umstritten, die vorhandenen Grundwasservorräte erwiesen sich als begrenzt. Libyen unternahm auch mehrere Anläufe zum Aufbau einer Atomindustrie. Zuletzt unterzeichnete Gaddafi im Jahre 2007 mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy einen Vertrag über den gemeinsamen Bau eines libyschen Atomreaktors – das Vorhaben wurde aber nicht mehr realisiert.

Die libysche Gesellschaft blieb jedoch auch in den Industriezentren tief gespalten: Wissenschaftliche und technische Führungskräfte wurden in der Regel aus Westeuropa importiert, Verwaltungspersonal und mittleres Management stellten die Einheimischen, während die niederen Arbeiten von Migranten aus den Nachbarländern geleistet wurden.

Immerhin konnte nach der politischen Öffnung Libyens von westlichen Stellen erstaunt konstatiert werden, dass es sich um ein wohlhabendes Land mit einer modernen Infrastruktur und geringer Analphabetenrate handelte, die Bevölkerung mit allem Notwendigen versorgt wurde und – im Gegensatz zu den meisten Nachbarstaaten – keine bettelnden Kinder auf den Straßen zu sehen waren.

Gaddafis Außenpolitik: Zwischen Verbalradikalismus und Anpassung

Die zuweilen stark abenteuerliche Politik der Volks-Dschamahirija ist zumindest in den Anfangsjahren mit Gaddafis entschiedenem Hass auf den europäischen Kolonialismus zu erklären. Für die angestrebte Modernisierung der libyschen Gesellschaft fand der Revolutionäre Militärrat in der panarabischen Ideologie eine geeignete politische Programmatik.

Als die britischen und US-amerikanischen Militärstützpunkte geschlossen wurden, konnte sich der Revolutionsrat des Beifalls der libyschen Bevölkerung, der übrigen arabischen Welt und des sozialistischen Osteuropas sicher sein. Um mit den ehemaligen Kolonialmächten und der USA militärisch gleichzuziehen, unternahm Libyen in den Folgejahren mehrere – vergebliche – Versuche, das eigene Militär mit Massenvernichtungswaffen aufzurüsten.

Getreu dem Motto Der Feind deines Feindes ist dein Freund unterstützte Gaddafi in den 1970er und 1980er Jahren verschiedene militante Gruppen der westeuropäischen und palästinensischen Linken, libysche Geheimdienstler sollen auch persönlich in verschiedene Anschläge verwickelt gewesen sein. Dieser Verdacht diente seit 1973 immer wieder als Anlass, Libyen mit Wirtschaftssanktionen zu belegen. In den 1980er Jahren erfolgten Zusammenstöße mit dem US-Militär, dieses bombardierte schon damals die Hauptstadt Tripolis.

Im Sinne der panarabischen Ideologie unternahm Gaddafi zahlreiche Versuche, Libyen mit verschiedenen Nachbarstaaten in einer Union zusammenzuschließen. Sämtliche dieser Projekte scheiterten entweder schon in der Verhandlungsphase oder aber hatten langfristig keinen Bestand. Ebenfalls aus der panarabischen Ideologie heraus sind Gaddafis heftige Verbalattacken gegen Israel zu verstehen. Er ließ es jedoch nie zu einer offenen militärischen Konfrontation kommen, auch nicht, als die israelische Luftwaffe 1973 über der Sinaihalbinsel ein libysches Passagierflugzeug abschoss.

Das libysche Militär führte jahrelang einen unerklärten Krieg gegen das Nachbarland Tschad, da Libyen die Grenzziehung zwischen den damaligen Kolonialmächten Italien und Frankreich nicht anerkannte. Hintergrund der Auseinandersetzungen waren aber in Wahrheit die Uranerzlagerstätten in diesem Gebiet. Libyen unterstützte Rebellenverbände im Tschad mit Waffen und Geld und rüstete eine multinational zusammengewürfelte islamische Legion auf. Nach dem militärischen Eingreifen Frankreichs erlitt Libyen eine Niederlage, Gaddafi musste schließlich seine Truppen aus dem Tschad zurückziehen.

In den 1990er Jahren trat in der libyschen Führung an die Stelle der gescheiterten panarabischen Ideologie zeitweilig eine panafrikanische: Gaddafi machte palästinensische Arbeitsmigranten für die zunehmende Ausbreitung des Islamismus verantwortlich und ließ Zehntausende von ihnen ausweisen. Da die libysche Wirtschaft auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen war, öffnete Gaddafi in der Folge die Grenzen für Arbeitsmigranten aus dem Süden, gefiel sich mehrere Jahre lang in heftiger Parteinahme für afrikanische Staaten und ließ sich in einer PR-Aktion von 200 afrikanischen Fürsten und Königen zum König der Könige krönen. Später schloss Libyen seine südlichen Grenzen wieder und warf einen großen Teil der afrikanischen Gastarbeiter aus dem Land.

Wirtschaftskrise und politischer Frontwechsel

Bereits in den 1990er Jahren konnte man absehen, dass die Bildung einer libyschen Nation gescheitert war und ein Auseinanderbrechen des Staates entlang der Stammesgrenzen bevorstand. Trotz des mit Brachialgewalt vorangetriebenen Modernisierungsprogramms war es nicht gelungen, die traditionelle Stammesgesellschaft aufzulösen. Im Hintergrund der offiziell propagierten Volksdemokratie tobten andauernd Machtkämpfe zwischen Angehörigen der verschiedenen Clans. Das System der Volks-Dschamahirija funktionierte als ein labiles Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Stammes- und Claninteressen, das Gaddafi lange Zeit aufrechtzuerhalten verstand. Doch es funktionierte nur, solange die libysche Gesellschaft sich im wirtschaftlichen Aufschwung befand.

Das staatliche Modernisierungsprogramm war Ende der 1980er Jahre an seine Grenzen gestoßen. Die meisten Produkte der neu errichteten Industrieanlagen und dank des Bewässerungsprojektes erschlossenen Agrarflächen erwiesen sich als überteuert und auf dem Weltmarkt nicht absetzbar. Dies lag weniger an der viel beschworenen Misswirtschaft der libyschen Staatsbürokratie, als vielmehr daran, dass Libyen ein Zuspätkommer in der Reihe der Industrienationen war. Ein Hineindrängen in längst aufgeteilte Absatzmärkte kann im Regelfall nur auf der Basis von Niedriglöhnen erfolgen. Da diese in der libyschen Gesellschaft trotz des massiven Einsatzes von Billiglohn-Gastarbeitern aus den Nachbarländern nicht durchsetzbar waren, blieb nur die Subventionierung von Produkten auf der Basis der Öleinnahmen. Eine solche volkswirtschaftliche Umschichtung widerspricht zwar eklatant den Grundlagen neoliberalen Wirtschaftens, ist aber durchaus nichts Ungewöhnliches. Die Abhängigkeit der gesamten Volkswirtschaft von Ölexporten war der Hintergrund, vor dem Gaddafi trotz seiner zeitweise heftigen anti-westlichen Rhetorik jahrzehntelang als zuverlässiger und vertragstreuer Handelspartner und Lieferant der westlichen Staaten galt.

Die Abhängigkeit von der Ölförderung erwies sich für das libysche Entwicklungsmodell jedoch langfristig als fatal. Als der Absatz stockte und die Preise in den Keller fielen, fehlten dem libyschen Modernisierungsprogramm mit einem Mal die Grundlagen. Mitte der 1990er Jahre waren die Öleinnahmen auf ein Drittel des Standes von 1980 gesunken. Im reichen Libyen wurden plötzlich monatelang keine Gehälter mehr gezahlt, Angestellte mussten schlecht bezahlte Zweitjobs annehmen. Und im florierenden Schwarzmarkt, jenseits des staatlich organisierten Handels, explodierten die Preise.

Wo es nichts mehr zu verteilen gibt, funktioniert auch die erkaufte Loyalität nicht mehr: Die oppositionellen Kräfte erstarkten zunehmend. Entmachtete Armeeoffiziere verbanden sich mit traditionalistischen Clanchefs und gewesenen islamischen Würdenträgern und vor allem in der ehemaligen Senussi-Hochburg Kyrenaika organisierten sich islamistische Geheimbünde, die von den im benachbarten Ägypten starken Muslimbrüdern gefördert und offenbar auch von westlichen Geheimdiensten insgeheim hochgepäppelt wurden.

Gaddafi reagierte mit der für ihn typischen Schaukelpolitik und versuchte, das gestörte Gleichgewicht in der libyschen Gesellschaft wieder herzustellen. Putschversuche des Militärs und islamistische Aufstände ließ er brutal niederschlagen – die dabei ausgeübte Repression hob sich allerdings nicht sonderlich von anderen nationalistischen Regimes in der Region ab. Gleichzeitig aber versuchte Gaddafi, der Opposition den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem er sich ihre Forderungen zu eigen machte: Im weitgehend laizistischen Libyen wurde 1994 die Scharia wieder eingeführt (allerdings kaum angewendet). Die Macht der Revolutionskomitees wurde zurückgedrängt, eine Liberalisierung des Wirtschaftslebens angekündigt und schrittweise ein Drittel der Staatsbetriebe privatisiert.

Die Auslieferung von libyschen Geheimdienstoffizieren an ein schottisches Gericht wegen des Attentats von Lockerbie sowie Entschädigungszahlungen fasste der Westen zutreffend als Kniefall auf. In der Folge wurden Wirtschaftssanktionen und das Waffenembargo ausgesetzt. Gaddafi war plötzlich ein bevorzugter Partner: Milliardeninvestitionen flossen in die libysche Wirtschaft, veraltete Ölförderanlagen wurden saniert, staatliche Investitionsprogramme zunehmend an westliche Firmen vergeben und das Militär von westeuropäischen Waffenschmieden neu aufgerüstet.

Flankiert wurde Gaddafis politischer Schwenk durch eine nationalistische Rhetorik, die ausgerechnet die Schwächsten im Lande traf. Von über 2 Millionen Gastarbeitern, die in der Zeit des libyschen Wirtschaftswunders ins Land geströmt waren, blieben bis ins Jahr 2006 nur etwa 600.000 übrig. Auch Angehörige nicht-arabischer Stämme wurden nun als Ausländer betrachtet und ausgewiesen. Zu den finstersten Kapiteln der Gaddafi-Ära gehören die Pogrome gegen afrikanische Gastarbeiter im Jahre 2000, bei denen über 130 Menschen starben.

Die verstärkte Zusammenarbeit Libyens mit der Europäischen Union äußerte sich auch in der Gewährung von Wirtschaftshilfen. Als Gegenleistung kooperierte Gaddafi, damals Duzfreund des italienischen Premiers Berlusconi und des österreichischen Rechtsaußen Jörg Haider, mit der italienischen Marine und der europäischen Grenzschutzorganisation FRONTEX. Libyen war der erste afrikanische Staat, der sich umfassend in das europäische Sicherungssystem zur Migrationsabwehr integrieren ließ. Hunderte von Booten mit afrikanischen Elendsflüchtlingen, die über das Mittelmeer in Richtung Europa strebten, wurden seitdem von der libyschen Marine aufgebracht, Zehntausende Migranten interniert und zurück in Richtung Hunger und Bürgerkriegschaos abgeschoben. Allein im Jahre 2006 wurden von der libyschen Regierung 60.000 illegale Einwanderer in Lagern festgehalten.

Bürgerkrieg und Intervention



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