Der Koch

Für Toni

20. Juli 2006 bis 25. August 2009

MÄRZ 2008

1

Maravan! Siphon!«

Maravan legte rasch das scharfe Messer neben die feinen Gemüsestreifen, ging zum Wärmeschrank, entnahm ihm den heißen Edelstahlsiphon und brachte ihn zu Anton Fink.

Der Siphon enthielt die Paste für die Bärlauchsabayon der marinierten Makrelenfilets.

Noch bevor sie den Tisch erreicht hatte, würde sie in sich zusammengefallen sein, darauf könnte Maravan wetten. Er hatte nämlich beobachtet, wie Fink, der Spezialist für molekulare Küche, Xanthan und Johannisbrotkernmehl verwendet hatte. Anstatt Xanthan und Guarkernmehl, wie es sich für heiße Schäume empfahl.

Er stellte den Siphon auf die Arbeitsfläche vor dem ungeduldig wartenden Koch.

»Maravan! Julienne!« Diesmal war es die Stimme von Bertrand, dem Beilagenkoch, in dessen Auftrag er eigentlich dabei war, die Julienne zu schneiden. Maravan eilte zu seinem Küchenbrett zurück. In ein paar Sekunden hatte er das restliche Gemüse geschnitten – Maravan war ein Messervirtuose – und brachte Bertrand die Gemüsestreifen.

»Scheiße!«, schrie hinter ihm Anton Fink, der Mann fürs Molekulare.

 

Der Huwyler – kein Mensch sagte »Chez Huwyler«, wie es auf der Fassade stand – war in Anbetracht der Wirtschaftslage und des Wetters gut besetzt. Nur dem genauen Beobachter wäre aufgefallen, dass Tisch vier und neun fehlten und auf zwei anderen die Réservé-Schilder noch immer auf ihre Gäste warteten.

Das Lokal war, wie die meisten Spitzenrestaurants aus der Nouvelle-Cuisine-Zeit, etwas überdekoriert. Die Tapeten gemustert, die Vorhänge aus schwerem Brokatimitat, an den Wänden goldgerahmte Öldrucke berühmter Stillleben. Die Platzteller waren zu groß und zu bunt, das Besteck zu unhandlich und die Gläser zu originell.

Fritz Huwyler war sich bewusst, dass der Trend an seinem Restaurant vorbeigezogen war. Er besaß genaue Pläne für dessen Neupositionierung, wie seine Einrichtungsberaterin es nannte. Aber dies war keine Zeit für Investitionen, er hatte sich entschieden, in kleinen Schritten Neuerungen vorzunehmen. Eine davon war die Farbe von Kochjacke, Hose und Dreieckstuch: alles in trendigem Schwarz. Die ganze Brigade war so eingekleidet, bis und mit Commis de Cuisine. Nur die Küchenhilfen und Officeangestellten trugen nach wie vor Weiß.

Auch was die Küche anging, hatte er sachte mit einer Neuorientierung begonnen: Die klassischen und halbklassischen Gerichte wurden da und dort durch molekulare Highlights akzentuiert. Zu diesem Zweck hatte er die vakant gewordene Stelle des Gardemanger mit einem Koch mit molekularer Erfahrung besetzt.

Huwyler selbst besaß in dieser Hinsicht keine persönlichen Ambitionen mehr. Er legte in der Küche nur noch selten Hand an und konzentrierte sich auf den administrativen und gastgeberischen Teil seiner Aufgabe. Kam dazu, dass er Mitte fünfzig war und ein vielfach preisgekrönter Koch, vor dreißig Jahren sogar ein Pionier der Nouvelle Cuisine. Er fand, er habe seinen Teil zur kulinarischen Entwicklung des Landes beigetragen. Er war zu alt, um noch einmal etwas Neues zu lernen.

Seit der unschönen Trennung von seiner Frau, der er einen großen Teil des Erfolges von Chez Huwyler und die ganze verunglückte Inneneinrichtung zu verdanken hatte, erfüllte er gegenüber der Gästeschaft alle Repräsentationsaufgaben. Vor der Trennung waren ihm die allabendlichen Rundgänge von Tisch zu Tisch eine lästige Pflicht gewesen, aber inzwischen war er auf den Geschmack gekommen. Es geschah immer öfter, dass er sich an einem der Tische verplauderte. Dieses spät entdeckte Kommunikationstalent hatte auch dazu geführt, dass er sich im Berufsverband engagierte und dafür viel Zeit opferte. Fritz Huwyler war Vorstandsmitglied und zur Zeit turnusgemäß amtierender Präsident von swisschefs.

Im Moment stand er neben Tisch eins, einem Sechsertisch, der heute nur für zwei gedeckt war. Dort saß Eric Dalmann mit einem Geschäftsfreund aus Holland. Dalmann hatte zum Aperitif einen 2005er Chardonnay von Thomas Studach aus Malans à hundertzwanzig Franken bestellt anstatt, wie sonst immer, eine Flasche Krug Grande Cuvée brut für vierhundertzwanzig.

Das war aber auch sein einziges Zugeständnis an die Wirtschaftskrise. Zum Essen hatte er wie immer das große Surprise bestellt.

»Und Sie? Spüren Sie etwas von der Krise?«, erkundigte sich Dalmann.

»Null«, log Huwyler.

»Qualität ist krisenfest«, antwortete Dalmann und hob die Hände, um Platz zu machen für den Teller mit der schweren Cloche, den die Kellnerin brachte.

Auch etwas, das er nächstens abschaffen würde, das Theater mit den Cloches, dachte Huwyler, bevor die junge Frau mit jeder Hand einen Messingknopf ergriff und die silbernen Glocken lüftete.

»Mariniertes Makrelenfilet auf seinem Fenchelherzbett mit Bärlauchsabayon«, verkündete sie.

Keiner der beiden Herren blickte auf seinen Teller, beide hatten nur Augen für die Frau, die sie gebracht hatte.

Nur Huwyler starrte auf die Bärlauchsabayon, die als grüner Schleim den ganzen Tellerboden bedeckte.

 

Andrea hatte sich an die Wirkung gewöhnt, die sie auf Männer ausübte. Meistens war sie ihr lästig, nur ab und zu fand sie sie praktisch und bediente sich ihrer. Vor allem, wenn es darum ging, eine Stelle zu finden. Was oft vorkam, denn ihr Aussehen machte es ihr nicht nur leicht, eine Stelle zu finden. Es machte es ihr auch schwer, sie zu behalten.

Sie war noch keine zehn Tage im Huwyler, und schon gab es diese kleinen Rivalitäten in der Küche und im Service, die sie so gut kannte und die ihr so zum Hals heraushingen. Früher hatte sie versucht, darauf mit fröhlicher Kumpelhaftigkeit zu reagieren. Aber das hatte jedes Mal zu Missverständnissen geführt. Inzwischen gab sie sich unterschiedslos distanziert. Das trug ihr den Ruf der Hochnäsigkeit ein. Womit sie aber gut leben konnte.

Und auch damit, dass diese beiden Säcke anstatt den Teller sie anstarrten. Vielleicht entging ihnen so, dass die Makrelenfilets in ihrer Bärlauchtunke aufweichten.

 

»Als seine Frau noch da war, war das Essen besser«, bemerkte Dalmann, als er wieder mit seinem Gast allein war.

»Hatte sie sich auch um die Küche gekümmert?«

»Nein, aber er mehr.«

Van Genderen lachte und ließ sich den Fisch schmecken. Er war die Nummer zwei eines internationalen Unternehmens mit Sitz in Holland, eines der wichtigsten Zulieferer der Solarindustrie. Mit Dalmann traf er sich, weil der ihm gewisse Kontakte vermitteln konnte. Eine von Dalmanns Spezialitäten – Kontakte vermitteln.

Dalmann war vor ein paar Wochen vierundsechzig geworden und trug die Spuren eines Geschäftslebens, in welchem das Kulinarische immer ein entscheidendes Überzeugungsmittel gewesen war: ein wenig Übergewicht, dem er mit einer Weste etwas Form zu geben versuchte, Tränensäcke unter den wässrigen blassblauen Augen, schlaffe, über den Backenknochen immer etwas gerötete, grobporige Gesichtshaut, schmale Lippen und eine mit den Jahren immer sonorer gewordene Stimme. Von seinem gelbblonden Haar war nur ein Halbkranz geblieben, der im Nacken über den Hemdkragen reichte und seitlich in zwei dichte, halblange Koteletten überging, vom gleichen graumelierten Gelb wie seine Brauen.

Dalmann war schon immer das gewesen, was man heute einen Networker nennt. Er pflegte systematisch Beziehungen, vermittelte Geschäfte, gab Tipps und bekam welche, brachte Leute zusammen, sammelte Informationen und gab sie selektiv weiter, wusste, wann schweigen und wann reden. Und davon lebte er, und zwar ziemlich gut.

Im Moment schwieg Dalmann. Und während Van Genderen in seinem gurgelnden Holländerdeutsch auf ihn einsprach, beobachtete er unauffällig, wer an diesem Abend sonst noch alles im Huwyler war.

 

Die Medien waren vertreten durch zwei Mitglieder der Unternehmensleitung eines der großen Verlagshäuser (mit Damen), das in letzter Zeit durch rigorose Sparmaßnahmen aufgefallen war. Die Politik durch einen etwas in Vergessenheit geratenen Parteipolitiker mit seiner Gattin und zwei jüngeren Ehepaaren, Parteifreunden wohl, die im Auftrag der Parteileitung einen Jahrestag des Seniors feiern mussten. Die Medizin glänzte durch die Anwesenheit eines Klinikdirektors mit einem Chefarzt im ernsten Gespräch. Am Nebentisch speiste ein hoher Funktionär eines kriselnden, zur Zeit sponsorlosen Fußballclubs mit dem Finanzchef eines Versicherungskonzerns, beide in Begleitung ihrer Gemahlinnen. Sonst saßen da: ein Autoimporteur, ein Inhaber einer Werbeagentur und ein nicht ganz freiwillig abgetretener Bankpräsident, alle mit ihren großen, dünnen, blonden zweiten Frauen.

Der Raum war erfüllt vom behaglichen Gemurmel halblauter Stimmen, dem behutsamen Klappern und Klirren der Bestecke und den unaufdringlichen Düften sorgfältig komponierter Speisen. Das Licht war warm und schmeichelhaft, und die Böen des Regens, der gegen Abend begonnen hatte, den frischen späten Schnee in grauen Matsch zu verwandeln, waren nur für die Gäste mit Fensterplatz als fernes Knistern durch die Vorhänge zu vernehmen. Es war, als hätte sich der Huwyler für diesen Abend gegen die Welt da draußen verpuppt.

 

Die Welt da draußen bot auch keinen erfreulichen Anblick. Es war endlich an den Tag gekommen, dass die Finanzmärkte jahrelang mit Katzengold gehandelt hatten. Unsinkbare Banken sandten mit schwerer Schlagseite Notrufe aus. Jeden Tag gerieten mehr Wirtschaftssektoren in den Strudel der Finanzkrise. Automarken machten Kurzarbeit, Zulieferer Konkurs und Financiers Selbstmord. Überall stiegen die Arbeitslosenquoten, Staaten trieben auf den Bankrott zu, Deregulierer retteten sich in die Arme des Staates, Propheten des Neoliberalismus wurden kleinlaut, die globalisierte Welt erlebte den Anfang ihrer ersten globalisierten Krise.

Und als könnte es auch diesen bevorstehenden Orkan in seiner Tauchglocke überleben, begann das kleine Alpenland, sich wieder abzukapseln. Kaum hatte es sich ein wenig geöffnet.

 

Andrea musste warten, bis Bandini, der Annonceur, die Teller für Tisch fünf kontrolliert und mit der Bestellung verglichen hatte. Sie beobachtete Maravan, die angenehmste Erscheinung der Brigade.

Er war ein für einen Tamilen großer Mann, bestimmt über eins achtzig. Scharfgeschnittene Nase, gestutzter Schnurrbart und blauschwarzer Bartschatten bereits am frühen Abend. Obwohl er die Nachmittagsschicht wie immer frisch rasiert angetreten hatte. Er trug die weiße Arbeitskleidung der Küchenhilfen mit der langen Schürze wie eine traditionelle hinduistische Kleidung. Das weiße Kochschiffchen aus Krepp sah auf seinem schwarzen, exakt gescheitelten Haar aus wie ein Gandhi-Topi.

Jetzt stand Maravan an der Spüle, duschte mit einer Handbrause die Saucenreste von den Tellern und verstaute sie im Geschirrspüler. Er tat dies mit der Anmut eines Tempeltänzers. Als hätte er gespürt, dass sie ihn beobachtete, schaute er kurz auf und zeigte seine schneeweißen Zähne. Andrea lächelte zurück.

Sie hatte im Laufe ihrer kurzen Karriere im Gastgewerbe immer wieder mit Tamilen zu tun gehabt. Viele waren Asylbewerber mit N-Bewilligungen, die ihnen gerade mal das Recht gaben, an einer genau bestimmten Stelle im Gastgewerbe zu einem Niedriglohn zu arbeiten. Und auch das nur auf Gesuch des Arbeitgebers, von dem er dann noch abhängiger war als jemand mit einer Aufenthaltsbewilligung. Mit den meisten kam sie gut aus, sie waren freundlich und unaufdringlich und erinnerten sie an die Reise, die sie als Rucksacktouristin durch Südindien gemacht hatte.

Sie hatte Maravan, seit sie im Huwyler angefangen hatte, schon an allen Stationen arbeiten sehen. Er war virtuos im Zurüsten von Gemüse, wenn er Austern öffnete, sah es aus, als täten sie sich freiwillig für ihn auf, er filetierte mit wenigen geübten Handgriffen Seezungen grätenfrei und konnte Kaninchenkeulen so sorgfältig hohl auslösen, dass es aussah, als sei der Knochen noch drin.

Andrea hatte ihm zugesehen, mit welcher Liebe, Präzision und Geschwindigkeit er auf den Tellern Kunstwerke gestaltete oder wie geschickt er marinierte Waldbeeren mit knusprigen Blätterteig-Arlettes zu dreilagigen Millefeuilles schichtete.

Die Köche des Huwyler benutzten Maravan oft und gerne für Arbeiten, die eigentlich in ihren Bereich fielen. Aber Andrea hatte es noch nie erlebt, dass einer von ihnen ihm für deren Ausführung ein Kompliment gemacht hätte. Im Gegenteil: Kaum hatte er eines seiner Kunstwerke abgeliefert, wurde er wieder als Tellerwäscher und Handlanger eingesetzt.

Bandini gab die Bestellung frei, die beiden Kellner setzten die Cloches über die Teller und trugen sie zum Tisch. Andrea konnte den nächsten Gang für Tisch eins abrufen.

2

Es war weit nach Mitternacht, aber es fuhren noch Trams.

Die Passagiere der Nummer zwölf waren müde Nachtarbeiter auf dem Nachhauseweg und aufgekratzte Nachtschwärmer in Partylaune. In der Gegend, in der Maravan wohnte, lebten nicht nur die meisten Asylbewerber, sondern befanden sich auch die angesagtesten Clubs, Discos und Lounges der Stadt.

Maravan saß auf einem Einzelsitz hinter einem Mann mit speckigem Nacken, dessen Kopf immer wieder zur Seite kippte. Ein Berufskollege, den Küchendünsten nach zu schließen, die von ihm ausgingen. Maravan besaß eine empfindliche Nase und legte Wert darauf, auch wenn er von der Arbeit kam, nach nichts zu riechen. Die Kollegen benutzten Eau de Toilette oder Rasierwasser, um die Küchengerüche zu übertünchen. Er bewahrte die Kleider im Spind in einem Mottensack mit Reißverschluss auf, und wann immer möglich benutzte er die Dusche in der Personalgarderobe.

 

Es gab schon Küchendüfte, nach denen ein Mensch riechen durfte, doch nach diesen roch es nicht in den Küchen dieses Landes. Aber in der von Nangay.

Wenn Nangay neun Curryblättchen, die Maravan ihr vom Bäumchen vor der Küche gepflückt hatte, ins heiße Kokosöl warf, dann erfüllte ein Duft die kleine Küche, den er so lange wie möglich an sich behalten wollte.

Genau wie den Duft nach Zimt. »Verwende immer etwas mehr Zimt als nötig«, pflegte Nangay zu sagen, »er riecht und schmeckt angenehm, desinfiziert und regt die Verdauung an und ist überall für wenig Geld zu haben.«

Für Maravan war Nangay eine uralte Frau gewesen, dabei war sie zu dieser Zeit erst Mitte fünfzig. Sie war die Schwester seiner Großmutter. Er und seine Geschwister waren mit den beiden Frauen nach Jaffna geflüchtet, nachdem seine Eltern bei den Pogromen 1983 in der Nähe von Colombo in ihrem Auto verbrannt waren. Maravan, das jüngste der vier Kinder, verbrachte danach seine Tage in der Küche von Nangay und half ihr, die Gerichte zuzubereiten, die seine Geschwister auf dem Markt von Jaffna verkauften. Was er an Schulwissen brauchte, brachte ihm Nangay in der Küche bei.

In Colombo hatte sie in einem großen Haus als Herrschaftsköchin gearbeitet. Jetzt betrieb sie auf dem Markt eine Garküche, deren guter Ruf sich rasch verbreitete und ihnen ein bescheidenes, aber regelmäßiges Einkommen sicherte.

Neben den einfachen Speisen für den Markt bereitete Nangay aber auch geheimnisvolle Spezialgerichte zu für eine wachsende, auf Diskretion bedachte Kundschaft, in der Regel Ehepaare mit großem Altersunterschied.

Noch heute, wenn Maravan frische Curryblätter fritierte oder wenn auf seinem Herd ein Curry bei leisem Feuer köchelte, sah er die kleine magere Frau vor sich, deren Haare und Saris immer nach Curryblättern und Zimt dufteten.

 

Das Tram hielt, ein paar Fahrgäste stiegen ein, niemand stieg aus. Als sich die Türen wieder schlossen, schreckte der Mann vor ihm aus dem Schlaf und stürzte zur Tür. Aber sie fuhren schon wieder. Der Dicke drückte wütend auf den Türöffnungsknopf, fluchte laut und stierte Maravan vorwurfsvoll an.

Er wandte den Blick ab und sah zum Fenster hinaus. Es regnete noch immer. In den Tropfen, die ihre schrägen Bahnen über das Fenster zogen, glänzten die Lichter der nächtlichen Stadt. Vor einem Club stand ein junger Mann mit ausgebreiteten Armen und hielt sein Gesicht in den Regen. Im Schutz eines Fassadenvorsprungs standen ein paar junge Leute, rauchten und lachten über den Mann im Regen.

An der nächsten Haltestelle stieg das Partyvolk aus. Gefolgt vom Dicken, der nach Küche roch. Maravan sah, wie er auf der anderen Seite des Wagens wieder auftauchte und sich missmutig ins Tramhäuschen der Gegenrichtung setzte.

Es befanden sich nur noch wenige Passagiere im Wagen, den meisten sah man an, dass sie aus anderen Ländern stammten. Sie dösten oder hingen ihren Gedanken nach, nur eine junge Senegalesin plauderte munter in ihr Handy, in der Gewissheit, dass niemand ein Wort ihres Gesprächs verstand. Jetzt stieg auch sie aus. Maravan sah ihr nach, wie sie immer noch lachend und schwatzend auf eine Seitenstraße zuging.

Im Tram war es still geworden, nur die Ankündigungen der Haltestellen vom Band. An der zweitletzten stieg auch Maravan aus, spannte seinen Schirm auf und ging in Fahrtrichtung weiter. Die Zwölf fuhr an ihm vorbei, die erleuchteten Fenster entfernten sich, bis sie nur noch ein weiterer Lichtfleck auf der regennassen Straße waren.

Es war kalt. Maravan band seinen Schal fester und bog in die Theodorstraße ein. Graue Häuserzeilen beidseits, geparkte Autos, die nass im weißen Licht der Straßenbeleuchtung glänzten, hie und da ein Laden, asiatische Spezialitäten, Reisebüro, Secondhand, Bargeldtransfer.

Vor einem braunen Mietshaus aus den fünfziger Jahren fischte Maravan den Schlüsselbund aus der Tasche und ging durch eine vollgesprayte Durchfahrt an zwei überfüllten Müllcontainern vorbei zu einer Eingangstür.

Im Hausflur blieb er vor der Wand voller Brief- und Milchkästen stehen und öffnete den, auf dem Maravan Vilasam stand.

Im Briefkasten lagen ein Brief aus Sri Lanka, adressiert in der Handschrift seiner ältesten Schwester, ein Flugblatt einer Firma, die Putzfrauen vermittelte, Wahlwerbung für eine ausländerfeindliche Partei und der Katalog eines Großhändlers von Spezialküchengeräten. Diesen öffnete er noch beim Briefkasten und blätterte darin, während er die Treppen zum vierten Stockwerk hinaufstieg, wo sich seine Wohnung befand. Zwei kleine Zimmer, ein winziges Bad und eine überraschend geräumige Küche mit Balkon, alles durch einen mit abgetretenem Linoleum ausgelegten Flur verbunden.

Maravan machte Licht. Bevor er das Wohnzimmer betrat, ging er ins Bad und wusch sich Gesicht und Hände, dann zog er die Schuhe aus, legte die Post auf den Tisch und zündete mit einem Streichholz den Docht der Deepam an, der tönernen Lampe, die auf dem Hausaltar stand. Er ging auf die Knie, legte die flachen Hände vor der Stirne gegeneinander und verneigte sich vor Lakshmi, der Göttin des Wohlstandes und der Schönheit.

Es war kühl in der Wohnung. Maravan kauerte sich vor den Ölofen, zog den Zünder und ließ ihn zurückschnellen. Fünfmal klang das helle metallische Hämmern durch die Wohnung, bis der Ofen brannte. Maravan zog seine Lederjacke aus, hängte sie an einen der zwei Garderobehaken im Flur und ging ins Schlafzimmer.

Als er wieder herauskam, trug er ein Batikhemd, einen blaurot gestreiften Sarong und Sandalen. Er setzte sich neben den Ofen und las den Brief seiner Schwester.

 

Die Nachrichten waren nicht gut. An den Checkpoints zu den tamilischen Gebieten wurden die Transporte behindert. Die wenigsten der Lebensmitteltransporte von Februar und März hatten den Distrikt Kilinochchi erreicht. Die Preise von Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Treibstoff stiegen ins Unbezahlbare.

 

Er legte den Brief auf den Tisch und versuchte, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Es waren beinahe drei Monate vergangen, seit er zum letzten Mal im Batticaloa-Basar gewesen war, dem tamilischen Laden in der Nähe, und dem Ladenbesitzer Geld und die Ausweisnummer seiner Schwester gegeben hatte. Vierhundert Franken waren es gewesen, siebenunddreißigtausendachthundert Rupien, nach Abzug der Gebühren.

Er verdiente knapp dreitausend Franken, und trotz der günstigen Miete von siebenhundert und obwohl er allein lebte, blieb ihm nach Abzug der Krankenkasse und dem, was ihm Huwyler als Quellensteuer abzog, gerade genug zum Essen. Besser gesagt: zum Kochen.

Kochen war nicht nur Maravans Beruf. Kochen war seine große Leidenschaft. Schon als die ganze Familie noch in Colombo lebte, verbrachte er die meiste Zeit bei Nangay in der Küche. Die Eltern arbeiteten beide in einem der großen Hotels der Stadt, der Vater an der Rezeption, die Mutter als Hausdame. Wenn die Kinder nicht in der Schule waren, standen sie unter der Obhut der Großmutter. Aber weil Maravan noch nicht zur Schule ging, nahm ihn seine Großtante Nangay an manchen Tagen mit zur Arbeit, damit ihre Schwester die Hausarbeit und Einkäufe machen konnte. In der Herrschaftsküche stand Nangay sechs Helferinnen vor. Eine von ihnen hatte immer Zeit, sich um den Kleinen zu kümmern.

So wuchs er auf zwischen Pfannen und Töpfen, Gewürzen und Kräutern, Gemüsen und Früchten. Er half Reis waschen, Linsen verlesen, Kokosnuss raspeln, Koriander zupfen, schon mit drei Jahren durfte er unter Aufsicht mit einem scharfen Messer Tomaten würfeln und Zwiebeln hacken.

Schon früh war Maravan fasziniert von den Vorgängen, die ein paar krude Rohprodukte in etwas ganz anderes verwandelten. Etwas, das man nicht nur essen konnte, das einen nicht nur sättigte und ernährte, sondern das sogar – glücklich machte.

Maravan sah genau zu, merkte sich die Zutaten, Mengen, Vorbereitungen und Reihenfolgen. Mit fünf konnte er ganze Menus kochen, und mit sechs, noch bevor er zur Schule musste, lernte er schreiben und lesen, weil er die Rezepte nicht mehr alle im Kopf behalten konnte.

Die Einschulung empfand er als beinahe größere Tragödie als kurz darauf den Tod seiner Eltern, dessen Details er erst erfuhr, als er schon fast erwachsen war. Für ihn kamen sie, die ohnehin meistens abwesend waren, einfach nicht mit nach Jaffna. Die Reise dorthin erlebte er als chaotisch und das Haus der Verwandten, bei denen sie in der ersten Zeit lebten, als klein und überfüllt. Aber er musste nicht zur Schule und konnte seine Tage bei Nangay in der Küche verbringen.

 

Der Ölofen hatte etwas Wärme in das kleine Wohnzimmer gebracht. Maravan stand auf und ging in die Küche.

Vier Leuchtstofflampen tauchten den Raum in weißes Licht. Er enthielt einen großen Kühlschrank und einen Tiefkühler in der gleichen Größe, einen Gasherd mit vier Brennern, ein Doppelspülbecken, einen Arbeitstisch und einen Wandkorpus mit Edelstahlabdeckung, auf dem verschiedene Geräte und Küchenmaschinen standen. Der Raum war blitzsauber und glich mehr einem Laboratorium als einer Küche. Nur bei näherer Betrachtung war zu erkennen, dass die verschiedenen Elemente nicht ganz die gleiche Höhe hatten und die Fronten etwas unterschiedlich waren. Maravan hatte Stück für Stück auf Baubörsen und Gebrauchtmärkten zusammengekauft und mit Hilfe eines Landsmanns eingebaut, der in seiner Heimat Sanitärtechniker gewesen war und hier als Lagergehilfe arbeitete.

Er setzte eine kleine Bratpfanne auf die kleinste Flamme, goss Kokosöl hinein und öffnete die Balkontür. Die Fenster gegenüber waren fast alle dunkel, der Hinterhof tief unter ihm lag still und verlassen da. Es regnete noch immer in schweren, kalten Tropfen. Er ließ die Balkontür einen Spalt offen.

In seinem Schlafzimmer standen in Reih und Glied Töpfe mit Currybäumchen, jedes mit seinem Bambusstöckchen, jedes in einem anderen Alter. Das größte reichte ihm bis unter die Achsel. Er hatte es vor ein paar Jahren als Setzling von einem Landsmann aus Sri Lanka bekommen. Aus seinen Ablegern hatte er Bäumchen gezogen, bis es so viele wurden, dass er ab und zu eines verkaufen konnte. Er tat es ungern, aber im Winter fehlte es ihm an Platz. Die Bäumchen waren nicht winterhart, nur in der warmen Jahreszeit konnten sie auf dem Küchenbalkon stehen, im Winter musste er sie im Schlafzimmer ins Licht von Pflanzenlampen stellen.

 

Er brach zwei der neunblättrigen Zweiglein ab, ging in die Küche zurück, warf sie in das heiße Öl und fügte ein zehn Zentimeter langes Stück Zimt hinzu. Langsam begann es, nach seiner Kindheit zu duften.

In einem Schränkchen unter dem Wandkorpus bewahrte er seine Destillationsutensilien auf: einen Destillationskolben, eine Destillierbrücke mit einem Kühlmantel, einen Auffangkolben, zwei Kolbenhalter, ein Thermometer und eine Rolle PVC-Schlauch. Er baute vorsichtig die Glasteile so zusammen, dass der Destillationskolben über einem Gasbrenner zu stehen kam, legte die Schlauchrolle ins Spülbecken und schloss das eine Ende am Wasserhahn, das andere am Kühlmantel an. Dann füllte er ein Spülbecken mit kaltem Wasser, nahm einen Plastiksack Eiswürfel aus dem Tiefkühler und schüttete sie dazu.

In der Zwischenzeit war der Duft von Kokosöl, Curryblättern und Zimt voll erblüht. Maravan goss den Pfanneninhalt in ein hitzebeständiges hochwandiges Glasgefäß und verarbeitete ihn mit dem Stabmixer zu einer sämigen nussbraunen Flüssigkeit, die er in den Destillierkolben füllte.

Maravan zündete die Gasflamme unter dem Kolben an, zog den einzigen Stuhl heran und setzte sich neben die improvisierte Destillationsanlage. Es war wichtig, dass er den Vorgang unter Kontrolle behielt. Wenn sich die Flüssigkeit zu stark erhitzte, das wusste er aus Erfahrung, würde sich das Aroma verändern. Schon oft hatte er versucht, die Essenz aus diesem Duft, dem Duft seiner Jugend, zu gewinnen. Noch nie war es ihm gelungen.

Jetzt begann sich die Glaswand des Kolbens zu beschlagen. Tropfen entstanden, vermehrten sich und zogen ihre klaren Spuren durch den trüben Beschlag. Die Temperatur des Dampfes stieg rasch auf fünfzig, sechzig, siebzig Grad. Maravan drehte die Flamme kleiner und den Wasserhahn ein wenig auf. Das kalte Wasser stieg in den transparenten Schlauch, füllte die doppelte Wand des Kühlmantels, verließ den Kühler und floss durch ein Schlauchstück in den Abfluss des zweiten Spülbeckens.

In der Küche war nur das gelegentliche Gurgeln des Kühlwassers im Abfluss zu hören. Ab und zu vernahm er Schritte in der Mansarde über ihm. Dort wohnte Gnanam, auch ein Tamile, wie alle Bewohner der Theodorstraße 94. Er war noch nicht lange hier und hatte nach den üblichen ersten sechs Monaten Arbeitsverbot eine Arbeit gefunden. Als Küchenhilfe, wie die meisten Asylbewerber aus Sri Lanka. Er arbeitete im Stadtspital. Dass Maravan ihn um diese Zeit herumgehen hörte – es war kurz vor zwei –, bedeutete, dass Gnanam Frühschicht hatte.

Maravan besaß nur Asylbewerberstatus und musste als Küchengehilfe arbeiten. Aber verglichen mit Gnanam war er privilegiert.

Im Huwyler gab es keine Frühschicht, die um vier Uhr morgens begann. Wenn er Tagesdienst hatte, musste er um neun in der Küche stehen. Und er musste auch nicht mit Zweihundertliter-Kochkesseln hantieren oder den schwarzgebrannten Bodensatz von quadratmetergroßen Kippbratpfannen scheuern. Im Huwyler konnte er dazulernen, auch wenn man ihn nicht ließ. Er hatte Augen im Kopf, er guckte sich Techniken ab und lernte aus den Missgeschicken anderer Leute. Dass ihn die Köche nicht besonders gut behandelten, machte ihm nicht viel aus. Er war schon schlechter behandelt worden. Hier und in seiner Heimat.

Maravan stand auf, warf zwei Handvoll Weizenmehl in eine Teigschüssel, fügte etwas lauwarmes Wasser und ein wenig Ghee hinzu, setzte sich mit der Schüssel wieder auf den Stuhl und begann den Teig zu kneten.

Als er in Jaffna seine Kochlehre machte, ertrugen seine Lehrmeister es schlecht, dass er geschickter, begabter und einfallsreicher war als sie. Er hatte lernen müssen, dass er sich dumm anstellen musste, wenn er weiterkommen wollte. Und später, als er Jaffna verließ und in einem Hotel an der Südwestküste arbeitete, behandelten die Singhalesen ihn mit der Herablassung, die sie Tamilen entgegenbrachten.

Der Teig war jetzt geschmeidig und elastisch. Maravan stellte die Schüssel beiseite und deckte sie mit einem sauberen Küchentuch zu.

In letzter Zeit gefiel es ihm im Huwyler besonders gut. Genau genommen, seit Andrea dort arbeitete. Er war, wie alle in der Brigade, fasziniert von diesem eigenartigen, schmalen, bleichen Wesen, das mit abwesendem Lächeln durch alle hindurchblickte. Aber er bildete sich ein, der Einzige zu sein, der von ihr, selten zwar, aber immerhin, beachtet wurde. Dafür sprach auch, dass ihn die Köche, sobald sie in Blickweite war, noch mehr von oben herab behandelten.

Heute, zum Beispiel, als Andrea darauf wartete, bei Bandini einen Gang abrufen zu können, während er Teller vorspülte, hatte sie in seine Richtung geblickt und gelächelt. Nicht durch ihn hindurch. Ihm zugelächelt.

Maravan hatte wenig Kontakt zu Frauen. Die unverheirateten Töchter in der tamilischen Gemeinde waren zu behütet, um mit Männern Beziehungen zu pflegen. Eine tamilische Frau musste als Jungfrau in die Ehe. Und wen sie heiratete, bestimmten traditionsgemäß die Eltern.

Es gab schon Schweizerinnen, die sich für ihn interessierten. Aber sie galten bei den Tamilen wegen ihres freizügigen Lebenswandels als schlechte Frauen. Sich mit einer von ihnen einzulassen würde Schande über seine Familie in Sri Lanka bringen. Und dass sie es früher oder später erfahren würde, dafür sorgte die Gemeinschaft der tamilischen Flüchtlinge, die Diaspora. Er hatte sich damit abgefun den, das Leben eines Junggesellen zu führen, und vertröstete sich auf eine vage Zukunft als Ehemann und Vater in Sri Lanka.

Aber seit dem Auftauchen von Andrea regten sich Gefühle, die er durch seine tiefe und mächtige Leidenschaft, das Kochen, überwunden geglaubt hatte.

Der erste Tropfen des Destillats fiel in den Scheidetrichter, hell und klar. Ein nächster folgte und ein nächster. Bald tropfte das Destillat in regelmäßigen kurzen Abständen in den Behälter. Maravan versuchte, an nichts anderes zu denken als an die Tropfen. Wie sie fielen und fielen, wie die Sekunden, Minuten, Tage und Jahre.

Er wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, bis der Inhalt des Kolbens auf ein paar Zentiliter reduziert und die Tropfen versiegt waren. Maravan öffnete das Hähnchen des Scheidetrichters und ließ das Wasser ablaufen, bis nur noch das ätherische Öl im untersten Teil des konischen Gefäßes übrig blieb. Er mischte es mit dem Konzentrat aus dem Kolben und hielt es an die Nase.

Er roch die Curryblätter, den Zimt, das Kokosöl. Aber das, wonach er suchte, fand sich nicht: die Essenz dessen, zu dem sich die drei Stoffe in Nangays Eisenpfanne über dem Holzfeuer vereinigt hatten.

Maravan nahm eine tawa, eine schwere Eisenpfanne, von der Wand und stellte sie aufs Gas. Er streute etwas Mehl auf die Arbeitsfläche neben dem Herd und formte aus dem Teig ein paar Chapatis. Als die Pfanne heiß genug war, legte er das erste in die Pfanne und bräunte es auf beiden Seiten. Und wieder entstand ein Duft, der ihn in seine Jugend versetzte.

 

Als Maravan fünfzehn war, schickte Nangay ihn nach Kerala in Südindien. Eine alte Freundin arbeitete dort als ayurvedische Köchin in einer neueröffneten Hotelanlage, der ersten des Landes mit einem breiten Angebot an ayurvedischen Behandlungen. Maravan sollte dort die Arbeit in einer Hotelküche erlernen und in die ayurvedische Küche eingeweiht werden.

Vieles kannte Maravan schon von Nangay, und er gab sich auch keine Mühe, dies zu verbergen. Rasch geriet er in die Situation des Schulanfängers, der bei Schuleintritt schon schreiben und lesen kann: Er ging den Lehrern und den Mitschülern mit seinem Wissen auf die Nerven. Obwohl er in einem Personalhaus auf engem Raum mit ihnen zusammenlebte, fand er keinen Anschluss an seine Kollegen und Vorgesetzten. Auch die Freundin von Nangay ging auf Distanz zu ihm, sie befürchtete, dass er es als ihr Protegé noch schwerer haben könnte.

Maravan blieb viel allein und konzentrierte sich ganz aufs Lernen, was ihn noch unbeliebter machte. In seiner Freizeit unternahm er lange Spaziergänge am endlosen menschenleeren Strand. Oder er übte stundenlang elegante Kopfsprünge in die beharrlich heranrollenden Brecher des indischen Ozeans.

In Kerala war Maravan zum Einzelgänger geworden. Und war es bis heute geblieben.

 

Die Chapatis waren fertig. Er nahm sich eines, träufelte ein wenig von dem frischen Konzentrat darauf, schloss die Augen und sog den Duft ein. Dann nahm er einen Biss, kaute ihn sorgfältig, behielt ihn im Mund, hob ihn mit der Zunge an den Gaumen, atmete langsam durch die Nase aus – von den missratenen Proben würde er dieser die zweithöchste Punktezahl geben, die Neun. In ein Notizbuch mit dem Titel »Extrakte« notierte er Datum, Zeit, Zutaten, Destillierdauer und Temperatur.

Darauf aß er das Produkt seines Experimentes als Würze der frischen Chapatis hastig und ohne großen Appetit, wusch die Kolben und Röhren seiner Anlage, stellte sie zum Trocknen auf die Spüle, machte das Licht aus und ging zurück in sein Wohnzimmer.

Dort, auf einem kleinen Tisch an der Wand, stand ein veralteter Secondhand-Computer. Maravan schaltete ihn ein und wartete geduldig, bis er aufgestartet hatte. Er stellte die Verbindung zum Internet her und sah nach, wie die Versteigerung des Rotationsverdampfers stand, die er seit ein paar Tagen verfolgte. Tausendvierhundertdreißig, gleich wie gestern. Noch zwei Stunden und zwölf Minuten bis Versteigerungsschluss.

Ein Rotationsverdampfer würde das, was er auch heute wieder vergeblich versucht hatte, in der richtigen Zeit, mit der richtigen Temperatur, ohne Anbrennen und ohne Geschmacksbeeinträchtigung erledigen. Nur kostete so ein Ding über fünftausend Franken, ein Vielfaches von dem, was sich Maravan leisten konnte. Manchmal wurden gebrauchte ältere Modelle bei Internetversteigerungen angeboten, wie das vor ihm auf dem Bildschirm.

Weniger als tausendfünfhundert war ein guter Preis. Tausendzweihundert hatte Maravan auf der Seite. Und den Rest würde er irgendwie auftreiben, falls der Preis nicht weiter stieg. Er würde die zwei Stunden abwarten und kurz vor Auktionsschluss mitbieten. Vielleicht hatte er Glück.

Er nahm den Brief seiner Schwester vom Tisch und las ihn zu Ende. Erst auf der letzten Seite kam sie zum Punkt: Nangay war krank, Diabetes insipidus. Das sei keine wirkliche Diabetes. Sie habe den ganzen Tag Durst, trinke literweise und müsse ständig auf die Toilette. Es gebe ein Medikament dagegen, aber es sei teuer und kaum erhältlich in Jaffna. Aber wenn sie es nicht nehme, vertrockne sie, sage der Arzt.

Maravan seufzte. Er ging zurück zum Bildschirm. Immer noch tausendvierhundertdreißig. Er schaltete den Computer aus und ging schlafen. Im Treppenhaus hörte er die Schritte von Gnanam auf dem Weg zur Frühschicht.