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Fabio Volo

Zeit für mich
und Zeit für dich

Roman

Aus dem Italienischen von
Peter Klöss

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2009

bei Arnoldo Mondadori Editore, Mailand,

erschienenen Originalausgabe:

›Il tempo che vorrei‹

Copyright © 2009 by Arnoldo Mondadori

Editore S. p. A., Mailand

Der Text wurde für die 2013 im Diogenes Verlag

erschienene deutsche Erstausgabe

in Zusammenarbeit mit dem Autor

nochmals durchgesehen

Die vorliegende Übersetzung

wurde durch ein Arbeitsstipendium

des Deutschen Übersetzerfonds e. V. gefördert

Umschlagillustration nach Motiven von fotolia.com

Copyright © Fotolia 2004 – 2012

 

 

Für meine Schwester Cristina

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24292 8 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60298 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Prolog  [9]

Der kaputte Rollladen  [14]

Sie  [21]

Eine schonend beigebrachte Neuigkeit  [27]

Ein Kind  [36]

Warum ruft ihr nicht an?  [44]

Sie (die ein Kind wollte)  [51]

Spuren der Wut  [58]

Der neue Nachbar  [66]

Ganz unten  [80]

Sie (kommt zurück)  [93]

Allein auf der Welt  [97]

Frischer Wind  [109]

Sie (die Unausstehliche)  [139]

Nicola  [145]

Sie (die Unersetzliche)  [153]

Mit offenem Visier  [158]

Pflanzenpflege  [164]

Sie (das erste Mal)  [170]

Die längste Reise  [174]

Sie (und die geraubten Küsse)  [178]

Bewährtes Gleichgewicht  [179]

Sie (und Satie)  [187]

[6] Ein neues Leben  [189]

Aber dem war nicht so  [192]

Sie (und unser Geruch)  [201]

Was ich nicht bin  [202]

Sie (die schönste Frau der Welt)  [209]

Das Licht des Morgens  [211]

Auf Zehenspitzen sitzen  [220]

Sie (am Keksregal)  [233]

Schweigen mit Pausen  [240]

Wir  [245]

 

[7] »Lo que me gusta de tu cuerpo

es el sexo.

Lo que me gusta de tu sexo

es la boca.

Lo que me gusta de tu boca

es la lengua.

Lo que me gusta de tu lengua

es la palabra.«

Julio Cortázar

 

»Ich habe die schlimmste Sünde begangen,

die ein Mensch begehen kann. Ich bin nicht

glücklich gewesen.«

Jorge Luis Borges

 

[9] Ich bin der Sohn eines nie zur Welt gekommenen Vaters. Um das zu begreifen, brauche ich nur sein Leben zu betrachten. So weit ich zurückdenken kann, habe ich kaum je Zufriedenheit in seinem Blick gesehen: Genugtuung ab und zu, Freude vielleicht nie.

Und weil das so war, konnte ich auch mein eigenes Leben nie in vollen Zügen genießen: Wie kann ein Sohn sein eigenes Leben leben, wenn der Vater seins nicht gelebt hat? Mancher schafft es vielleicht trotzdem, aber es ist verdammt schwer. Die Maschinerie der Schuldgefühle arbeitet unablässig.

Mein Vater ist sechsundsiebzig Jahre alt, er ist hager, und seine Haare sind grau. Er war immer ein sehr kräftiger Mann, ein Malocher. Jetzt ist er ausgelaugt, müde, gealtert. Das Leben hat ihn enttäuscht. So sehr, dass er sich ständig wiederholt, wenn er darüber spricht. Ihn so zu sehen rührt stark an meinen Beschützerinstinkt. Es geht mir ans Herz, ich empfinde Mitleid, ich möchte etwas für ihn tun, ihm irgendwie helfen. Und ich fühle mich ohnmächtig, weil ich denke, dass ich nicht genug tue, nicht genug bin.

In den letzten Jahren habe ich mir angewöhnt, ihn heimlich zu beobachten. Danach bin ich dann meist [10] irgendwie aufgewühlt, aber ohne konkreten Grund, abgesehen von diesem Knoten im Bauch, den ich seit je in mir spüre und der mich an ihn fesselt.

Unsere Beziehung war stets schwierig, und unsere Liebe ist von der Art, die nur kennt, wer den Mut hatte, den anderen zu hassen: eine wahrhaftige, im Schweiße unseres Angesichts erarbeitete, gewollte und erkämpfte Liebe.

Um die ganze Welt habe ich reisen müssen, damit ich lernte, ihn zu lieben. Je weiter ich mich von ihm entfernen wollte, desto näher kam ich ihm: Die Welt ist rund.

Eine Zeitlang haben wir nicht miteinander geredet. Wenn man mit einem Elternteil nicht reden kann, ist man irgendwie schwach auf den Beinen, man muss sich immer wieder mal kurz hinsetzen. Nicht, weil einem schwindlig wird, sondern weil einen der Magen drückt. Bauchweh, das war mein Vater für mich. Ihn wirklich lieben konnte ich erst, nachdem ich meine ganze Wut ausgekotzt hatte, meinen Hass und meine Schmerzen, denn viele dieser Gefühle waren mit seinem Namen verbunden.

Als ich klein war, hätte ich gern öfter mit ihm gespielt, aber immer nahm die Arbeit ihn mir weg. In meiner Erinnerung sehe ich ihn vor allem in zwei Situationen: wie er sich bereitmacht, zur Arbeit zu gehen, und wie er sich, erschöpft von der Arbeit, ausruht. Ich hatte zu warten, ich kam immer an zweiter Stelle.

Mein Vater war nie greifbar, und das ist auch heute noch so. Früher war es die Arbeit, die ihn mir wegnahm, heute ist es die Zeit, die ihn mir Stück für Stück raubt, [11] ein Gegner, mit dem ich mich nicht messen, mit dem ich es nicht aufnehmen kann. Darum verspüre ich heute wieder jenes Gefühl der Ohnmacht, das ich als Kind verspürte.

Wenn wir uns sehen, fällt mir jedes Mal auf, dass er noch mehr gealtert ist, und ich spüre, wie er mir mit jedem Tag ein Stück mehr entgleitet. Ich halte ihn nur noch an seinen Fingerspitzen fest.

Wenn ich diesen nie zur Welt gekommenen Mann anschaue, dann kommt mir der Satz in den Sinn, den Marlon Brando über seinem Bett hängen hatte: »Wer nicht versteht zu leben, lebt nicht.« Ich bin jetzt siebenunddreißig, und immer noch frage ich mich, was ich bloß für ihn tun kann. Doch obwohl er so alt und hilflos ist, obwohl es so scheint, als wäre ich jetzt der Stärkere von uns beiden, weiß ich, dass es nicht so ist. Er ist der Stärkere. War es immer. Weil ein einziges Wort von ihm genügt, mich zu verletzen. Oder weniger noch: ein nicht gesagtes Wort, ein Schweigen, ein Pausieren. Ein Blick, der sich von mir abwendet. Ich kann stundenlang schreien und toben und ihn beschimpfen – von ihm braucht es nur eine kleine Grimasse, um mich niederzumachen, nur ein kurzes Verziehen des Mundwinkels.

Im Erwachsenenalter war er mein Bauchweh, als Kind mein schiefer Hals. Bei allem, was ich tat, reckte ich meinen Kopf, um einen Blick, ein Wort, irgendeine Reaktion von ihm zu erhaschen. Seine Gesten waren kurz und schroff: ein kurzes Tätscheln des Kopfes, ein kleines Zwicken in die Wange, während er das Bild, das ich für ihn gemalt hatte, auf die Anrichte weglegte. Mehr [12] vermochte er mir nicht zu geben, nicht nur weil er meinen Schmerz, meine Bedürfnisse und meine Wünsche nicht wahrnahm, sondern weil er seine eigenen nicht kannte. Er war es nicht gewohnt, Gefühle auszudrücken, ihnen überhaupt Bedeutung beizumessen. Darum sage ich, dass er nie wirklich gelebt hat. Weil er dem Leben immer ausgewichen ist.

Vielleicht konnte ich mir deshalb nicht vorstellen, dass auch er Wünsche, Ängste und Träume hatte. Mehr noch, während ich heranwuchs, war er für mich nicht einmal ein Mensch: Er war einfach mein Vater, so als würde das eine das andere ausschließen. Ich wurde erwachsen, und als ich für eine Weile vergaß, dass ich sein Sohn war, begriff ich, wie er wirklich war, ich lernte ihn kennen. Wäre ich nur schon als Kind erwachsen gewesen, dann hätte ich mit ihm von Mann zu Mann sprechen können, und wir hätten vielleicht gemeinsam einen anderen Weg eingeschlagen. Heute, da ich ihn besser verstehe, habe ich das Gefühl, zu spät zu kommen. Nicht mehr viel Zeit zu haben.

Heute, da bin ich mir sicher, weiß ich Dinge über ihn, die er selbst nicht einmal für möglich hält. Ich habe gelernt, das zu sehen und zu verstehen, was er in sich verbirgt, was er nicht nach außen hin zeigen kann.

Jahrelang habe ich versucht, die Liebe dieses Mannes zu gewinnen, aber auf die falsche Art und Weise. Was ich suchte, war bei ihm nicht zu finden. Ich sah nicht, und ich verstand nicht, und dafür schäme ich mich heute ein wenig. Die Liebe, die er mir gab, steckte in seinen Opfern, den Entbehrungen, den endlosen Stunden der [13] Arbeit und in seiner Bereitschaft, die ganze Verantwortung zu schultern. Vielleicht hatte er sich nicht einmal bewusst dafür entschieden, er lebte nur so, wie alle vor ihm gelebt hatten. Mein Vater gehört einer Generation an, die einfach gewisse Erwartungen zu erfüllen hatte: heiraten, Kinder zeugen, für die Familie arbeiten. Darüber hinaus machte man sich keine Gedanken, die Rollen waren festgelegt. Kann sein, dass er geheiratet und einen Sohn gezeugt hat, ohne es sich je wirklich gewünscht zu haben. Ich bin der Sohn eines Mannes, den das Leben zu den Waffen rief, um einen privaten Krieg zu führen: zum Schutz der Familie. Einen Krieg, den man nicht führt, um zu gewinnen, sondern um ein Soll zu erfüllen, um zu überleben, sich durchzuschlagen.

Ich liebe meinen Vater mit jeder Faser meines Herzens. Ich liebe diesen Mann, der früher nie genau wusste, wie alt ich gerade war.

Ich liebe diesen Mann, der es noch heute nicht fertigbringt, mich zu umarmen, der mir auch heute noch nicht sagen kann: »Ich hab dich lieb.«

Darin sind wir uns gleich. Ich bin ein gelehriger Schüler. Ich kann das genauso wenig.

[14] Der kaputte Rollladen

Meine Familie war arm. Armut, das ist für mich wie an einem gedeckten Tisch zu sitzen und keine Hände zu haben.

Es war nicht jene telegene Art von Armut, wie sie oft im Fernsehen gezeigt wird: Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben und Hunger leiden. Unsere Armut war anders: Man hat zu essen und ein Dach über dem Kopf, besitzt einen Fernseher, ein Auto. So dass man gerade noch verhehlen kann, dass man arm ist. Eine Armut voller Gegenstände, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist. Wer in dieser Art von Armut lebt, hat zugleich Glück und Pech: Es gibt Leute, denen es bessergeht, und andere, denen es schlechtergeht. Und doch bedeutet diese Armut Scham, Schuldgefühl, ständige Einschränkung, Angst und vor allem Unsicherheit, unterdrückte Wut, ein stets gesenkter Kopf. Man ist nicht so arm, dass man keine Kleider am Leib hätte, aber man fühlt sich in diesen Kleidern nackt, sie verraten einen. Ein Flicken genügt, und jeder weiß, was für einer du bist. Diese Armut hält das Gehirn so besetzt, dass darin kein Platz für anderes bleibt, vor allem nicht für irgendeine Art von Schönheit. Schönheit ist ja nicht funktional, nicht nützlich.

[15] Du lebst ein Leben, das in den Augen der anderen ganz normal aussieht, doch in Wirklichkeit bist du einem anderen Gesetz unterworfen, dem Gesetz der Entbehrungen. Und ganz allmählich lernst du zu lügen. Mal sind es größere, mal kleinere Lügen. Wenn das Telefon gesperrt wurde, sagst du, es sei kaputt, und zum Abendessen kommst du nicht mit, weil du angeblich anderweitig verpflichtet bist oder jemandem dein Auto geliehen hast; dabei hast du in Wahrheit die Versicherung nicht bezahlt oder kein Geld für Benzin.

Du wirst zum Experten in der Kunst des Lügens, und vor allem lernst du, dir zu behelfen, lernst reparieren, ausbessern, kleben und nageln. Da ist der kaputte Rollladen, der heruntersaust wie eine Guillotine und nur oben bleibt, wenn du ein Stück Pappe unter den Riemen klemmst. Da ist die fehlende Fliese im Bad, das Loch unter dem Waschbecken, durch das man die Rohre sehen kann, das Stück Furnier, das von der Ecke des Küchenschranks abgesplittert ist. Die Schublade, die herausfällt, wenn du sie aufziehen willst. Die Schranktür, die nur schließt, wenn du sie anhebst. Die Steckdosen, die lose runterbaumeln, weil sie jedes Mal, wenn du den Stecker ziehst, mit aus der Wand kommen. Die Tapete, die sich an den Stoßkanten löst. Der feuchte Fleck in der Küche, über dem sich der Anstrich so einladend wölbt, dass du dich zusammenreißen musst, um keine Leiter zu holen, hinaufzuklettern und die Blase zum Platzen zu bringen. Die Stühle, die aus dem Leim gehen und das Sitzen zum Wagnis machen.

Es ist eine Armut, in der Kleber und Tesa die Dinge [16] zusammenhalten, in der man eine ganze Schublade voller Handwerkszeug braucht, um eine Wirklichkeit zu flicken, die überall bröckelt. Alles ist wackelig und provisorisch und wartet auf bessere Zeiten und hält doch ein Leben lang.

Als ich meinen Vater das erste Mal sagen hörte: »Ich bin ein Versager«, konnte ich nicht wissen, was ein Versager ist. Ich war noch zu klein. Ein paar Männer waren gekommen und hatten Sachen aus der Bar mitgenommen. »Pfändung« war das andere Wort, das ich damals lernte. Von da an stellte ich keine Fragen mehr, wenn Unbekannte in die Bar oder zu uns nach Hause kamen und Sachen mitnahmen. Ich wusste zwar nicht, was genau da vor sich ging, aber ich kapierte es doch. Als Kind lernt man schnell. Deshalb begriff ich auch, dass das Auto meines Vaters dieser Männer wegen auf den Namen meines Großvaters mütterlicherseits lief. So hieß das: »Auf den Namen eines anderen laufen« – ich kannte den Ausdruck nicht, aber ich begriff alles.

Ich wuchs heran und sah, wie mein Vater sich krumm schuftete, um den Problemen gewachsen zu sein. Tagein, tagaus arbeitete er in der Bar, auch wenn er krank war. Selbst sonntags, wenn geschlossen war, verbrachte er einen Großteil des Tages bei der Arbeit, machte die Bestellungen, schaffte Ordnung, putzte, besserte aus.

Nicht ein einziges Mal bin ich mit meinen Eltern in die Ferien gefahren. Im Sommer wurde ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits abgeliefert, die jeweils für ein paar Wochen ein Haus in den Bergen mieteten.

Sonntags kam meine Mutter mich dort besuchen, [17] allein, und überbrachte mir Grüße von meinem Vater. Es gibt kein einziges Foto von uns dreien vor einer Sehenswürdigkeit. Für gemeinsame Ferien war kein Geld da.

Geld… Ich kriegte mit, wie mein Vater es sich bei allen möglichen Leuten borgte. Bei Verwandten, Freunden, Nachbarn. Wie er sich demütigte und gedemütigt wurde. Oft begleitete ich ihn als Kind zu irgendwelchen Freunden, Leuten, die ich nicht kannte. Ich musste dann in der Küche warten, während er mit dem Freund ins Nebenzimmer ging, um etwas »zu regeln«. Wenn die unbekannte Hausfrau, in deren Gesellschaft ich warten musste, mich fragte, ob ich etwas essen oder trinken wollte, sagte ich immer nein. Überhaupt sprach ich nicht viel, ich fühlte mich immer unbehaglich, alle kamen mir vor wie Riesen. Meinem Vater ging es vermutlich genauso.

Alle bat er um Geld, wirklich alle. Selbst mich, als ich noch klein war. Einmal kam er zu mir ins Zimmer – ich hatte Fieber, und es ging mir schlecht, aber ich war trotzdem glücklich, weil meine Mutter gesagt hatte, das Fieber komme daher, dass ich am Wachsen sei.

»Papa, wenn ich wieder gesund bin, bin ich ein ganzes Stück größer, weißt du? Ob ich mal so groß werde wie du?«

»Na klar, sogar noch größer.«

Als er ging, nahm er meine Spardose, ein rotes Nilpferd, mit. Er werde das Geld zur Bank bringen, sagte er, und wenn ich es irgendwann wiederhaben wolle, werde es mehr geworden sein. Damit kriegte er mich rum.

Mit der Zeit kam ich dahinter, was tatsächlich mit dem [18] Inhalt meiner Spardose passiert war, und ich fühlte mich belogen und betrogen. Ich lernte früh, Erwachsenen nicht zu trauen, und verbarg meine Verletzlichkeit hinter gespielter Stärke. Ich hatte niemanden an meiner Seite, der Stärke ausgestrahlt und mir das Gefühl gegeben hätte, beschützt und in Sicherheit zu sein. Viele Menschen müssen im Lauf ihres Lebens einsehen, dass der übermächtige Vater gar nicht so mächtig ist. Ich wusste das schon als Kind. Auch ich hätte meinen Vater gern für unbesiegbar gehalten, aber diese Illusion zerbrach früh.

Mein Vater schuftete und schuftete. Ich erinnere mich, wie er während der Abendnachrichten am Tisch einschlief. Sein Kopf sank langsam immer tiefer, bis ihn schließlich ein letzter heftiger Ruck wieder aufweckte, als hätte er einen Schlag in den Nacken bekommen. Das brachte mich zum Lachen. Er blickte dann verstört um sich, versuchte zu verstehen, wo er war, und herauszufinden, ob meine Mutter und ich es mitbekommen hatten. Wenn er merkte, dass ich ihn beobachtet hatte, lächelte er und zwinkerte mir zu. Das machte mich glücklich. Jedes Mal, wenn er mir zuzwinkerte, am besten so, dass meine Mutter es nicht sah, fühlte ich mich ihm nah, fühlte ich mich wie sein Komplize. Es war dann eine Sache zwischen uns Männern. Ich versuchte zurückzuzwinkern, kriegte es aber nicht hin und kniff einfach beide Augen zu. Oder ich legte meinen Finger auf eines. Jedes Mal hoffte ich, dies sei der Beginn einer neuen, innigeren Freundschaft zwischen uns. Dass er von jetzt an öfter mit mir spielen und mich überallhin mitnehmen würde. Ich war so glücklich, dass ich auf [19] meinem Stuhl mit den Beinen zu strampeln begann, als schwämme ich in diesem Gefühl. Aber die Verbrüderung ging nie über diesen kurzen Augenblick hinaus. Nach dem Essen stand er auf, um noch ein paar Dinge zu erledigen oder wieder an die Arbeit zu gehen. Ich war noch klein und verstand das nicht, dachte nur, dass er mich nicht wollte, nicht den Wunsch hatte, bei mir zu bleiben.

All meine Versuche, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, seine Liebe zu gewinnen, schlugen fehl. Bei meiner Mutter war ich da sehr viel erfolgreicher. Sie lachte, wenn ich etwas Lustiges sagte, sie lobte mich, umarmte mich, und ich fühlte mich unendlich stark: Ich hatte es in der Hand, ihre Stimmung zu ändern, ich konnte sie froh machen. Bei meinem Vater funktionierte das nicht. Ich konnte nichts tun, damit er mich liebhatte.

Trotzdem erinnere ich mich auch an schöne Dinge, die er für mich getan hat oder die wir zusammen erlebt haben. Zum Beispiel als meine Mutter für eine kleinere Operation ins Krankenhaus musste und in der Zeit meine Oma zu uns kam, um uns zu helfen. Oma schlief in meinem Zimmer und ich bei meinem Vater im Ehebett. Jeden Morgen, bevor er hinunter in die Bar ging, kochte er mir zum Frühstück Vanillepudding. Ich erinnere mich noch genau daran, wie der Tisch gedeckt war.

Oder an jenen Samstagabend, als er, Mama und ich eine Pizza essen gingen. Es war das erste Mal, dass wir zum Abendessen ausgingen. »Und was machen wir Montag, wenn der Mann vom Wasserwerk kommt und sein Geld will?«, fragte meine Mutter.

[20] »Keine Ahnung, das überlegen wir uns morgen«, antwortete er.

Auf dem Weg zur Pizzeria hob mein Vater mich auf seine Schultern. Ich erinnere mich ganz genau an alles. Zuerst hielt er mich an den Händen fest, dann packte er mich an den Fußgelenken, und ich legte die Hände auf seinen Kopf und krallte mich in seine Haare. Ich kann immer noch seinen Hals zwischen meinen Beinen spüren. Nie war ich größer. Nie schlug mein Herz höher. Ich weiß nicht, was an diesem Abend mit ihm los war, aber plötzlich war er ein richtiger Vater. Er schnitt mir sogar die Pizza klein. Er war nett, lachte über meine Bemerkungen. Auch meine Mutter lachte. An jenem Abend waren wir eine glückliche Familie. Er noch mehr als wir. Vielleicht war der Mann, den ich an diesem Abend sah, mein wirklicher Vater, der Vater, der er ohne all die Probleme gewesen wäre.

Als wir mit dem Auto zurück nach Hause fuhren und ich hinter ihnen zwischen den Sitzen stand, wünschte ich mir, dass dieser Abend niemals zu Ende ginge. Darum sagte ich: »Darf ich noch aufbleiben, wenn wir wieder zu Hause sind?« Aber noch während der Fahrt schlief ich ein.

Am nächsten Morgen war alles wie immer. Es war Sonntag. Meine Mutter werkelte in der Küche, mein Vater räumte in der Bar auf.

»Gehen wir heute Abend wieder Pizza essen?«

»Nein, heute bleiben wir zu Hause.«

[21] Sie

Sie hat mich vor zwei Jahren verlassen, oder gestern Abend, oder gar nicht, ich weiß es nicht. Wenn du nicht mehr mit der Person zusammen bist, mit der du gern zusammen wärst, dann denkst du in den unmöglichsten Momenten an sie und wirst von Erinnerungen und Bildern überschwemmt. Vor allem, wenn die Gegenwart achtlos an dir vorübergeht, ist ein Plätzchen in den Ecken und Winkeln vergangener Tage vorzuziehen. »I’ll trade all my tomorrows for a single yesterday«, wie Janis Joplin singt: All mein Morgen würde ich gegen ein einziges Gestern eintauschen.

Nicht mehr mit der Frau zusammen zu sein, mit der du gern zusammen wärst, bedeutet, dass du nachts im Dunkeln die Hand ausstreckst und nach ihr suchst. Dass du die ersten Tage morgens aufwachst, auf ihre Seite des Bettes schaust, dir die Augen reibst und hoffst, die Schlaftrunkenheit spiele dir einen Streich. Dass auf dem Herd eine Kaffeepfütze steht, weil du vergessen hast, die Flamme abzustellen. Dass du zweimal Salz ins Nudelwasser gibst. Oder gar keins. Es bedeutet, dass sich Wiederholungen häufen: von Dingen, die du tust, Gedanken, die du denkst. In dem Buch, das du gerade liest, blätterst du immer wieder zurück, weil die Worte [22] nicht hängenbleiben, und bis du es merkst, hast du schon den Faden verloren. Und bei der DVD, die du dir anschaust, drückst du immer wieder REWIND, weil du die Handlung nicht kapiert hast.

Es bedeutet, dass du mehr zurückschaust als nach vorn. Eine Reise, bei der du nicht am Bug stehst, sondern am Heck.

Nicht mehr mit der Person zusammen zu sein, mit der du gern zusammen wärst, bedeutet, dass niemand da ist, bei dem du dich beim Nachhausekommen über deinen Tag beklagen kannst. Dass der Müllsack tagelang an der Wohnungstür stehen bleibt. Dass das Klopapier im Bad auf dem Boden oder auf dem Heizkörper liegt, aber nie da, wo es hingehört. Dass die Laken nicht mehr duften wie früher. Ich erinnere mich noch an den Geruch ihrer Laken in einer der ersten Nächte, die ich bei ihr verbrachte. In meine Wohnung zog dieser Duft ein, als es unsere gemeinsame Wohnung wurde. Jetzt ist es wieder meine Wohnung, und mit ihr haben auch alle Wohlgerüche meine Wohnung wieder verlassen. Selbst die Stille ist nicht mehr die gleiche, seit sie fort ist. Wir haben oft geschwiegen, das Schöne an unserer Beziehung war ja, dass wir uns beide nicht verpflichtet fühlten, den anderen zu unterhalten. Mit ihr war die Stille schön, rund, weich und freundlich. Jetzt ist sie störend, abweisend und zu lang. Ehrlich gesagt ist sie mir zu laut. Ich mag sie nicht.

Bevor ich sie kennenlernte, hatte ich klare Vorstellungen von meiner Person. Sie hat versucht, mir zu zeigen, dass es falsche Vorstellungen sind, und ich habe lange [23] gebraucht, um es einzusehen. Zu lang: Als ich endlich so weit war, war sie schon fort.

Sie fehlt mir. Noch nie habe ich jemanden so geliebt wie sie. Jetzt, da ich viele Dinge verstanden habe und ein anderer geworden bin, kann ich mit keiner anderen Frau mehr zusammen sein. Ich rassle nicht mehr in ungewollte Situationen hinein, so wie früher.

Manchmal habe ich seitdem mit anderen Frauen geschlafen, aber nur mit solchen, die keine Spuren in mir hinterlassen. Mit einer lag ich sogar schon nackt im Bett, als mir plötzlich bewusst wurde, dass der Geruch ihrer Haut nicht der war, in den ich immer noch verliebt war. Ich fühlte mich so unwohl, dass ich mich wieder anzog, mich entschuldigte und ging.

Manche Beziehungen halten Jahre, und in dieser Zeit kann man sich manchmal ver- und wieder entlieben. Manche Paare hören auf, sich zu lieben, bleiben aber trotzdem zusammen. Andere beschließen sich zu trennen, brauchen aber Zeit dafür. Erst wollen sie ergründen, ob sie sich wirklich sicher sind, ob es nicht nur eine Krise ist, die vorübergeht. Wenn sie schließlich überzeugt sind, dass es wirklich vorbei ist, müssen sie noch die Art und Weise sowie die Worte finden, die am besten geeignet sind, den Schmerz ein wenig zu lindern. Manche brauchen dazu Monate oder gar Jahre. Einige vergeuden ihr ganzes Leben damit, ohne den Schritt jemals zu tun. Viele können nicht loslassen, weil sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen, oder weil sie den Gedanken nicht ertragen, dass sie für den Schmerz des anderen verantwortlich sind – für den tiefen, heftigen Schmerz, den man [24] empfindet, wenn man sich sehr nahe war, weshalb man ihn lieber Tag für Tag in kleinen Dosen verabreicht.

Und so dauern diese Beziehungen immer weiter fort, selbst wenn derjenige, der verlassen werden soll, das längst weiß. Aber lieber tut er so, als wäre alles in Ordnung. Wenn keiner von beiden in der Lage ist, den Dingen ins Gesicht zu sehen, wird die Situation verfahren. Ihrer beider Unfähigkeit macht sie ohnmächtig. Also lassen sie sich Zeit. Vergeuden Zeit. Schöpfen die Zeit bis zum Letzten aus.

Derjenige, der verlassen werden soll, wird meist zugänglicher, anschmiegsamer, nachgiebiger. Er oder sie versteht nicht, dass er die Situation dadurch nur noch schlimmer macht, denn wer zu allem ja und amen sagt, verliert an Attraktivität. Je länger man das hinnimmt, desto schwächer wird man.

Einige warten aber auch ab und hoffen, dass der andere einen falschen Schritt tut, einen Fehler macht, die kleinste Schwäche zeigt, damit eine Trennung unausweichlich scheint und sie nicht als Unmenschen dastehen.

Es kommt auch vor, dass zwei, die einander nicht mehr lieben und sich nur gegenseitig das Leben schwermachen, trotzdem noch eifersüchtig sind und nur deshalb zusammenbleiben, damit kein anderer ihre Stelle einnehmen kann.

Es gibt viele Gründe dafür, zusammenzubleiben. Vielleicht ist man seit fünf Jahren zusammen, hat sich davon aber nur zwei oder drei oder vier Jahre geliebt. Man kann die Qualität einer Beziehung nicht an ihrer Dauer [25] messen. Was zählt, ist das Wie. Meine Beziehung zu ihr dauerte drei Jahre, aber für mich fühlt es sich an, als hätte ich sie vier Jahre und mehr geliebt, als wäre meine Liebe weit über die eigentliche Dauer unserer Beziehung hinausgegangen. Bis vor kurzem war ich davon überzeugt, dass ich sie auch in den zwei Jahren, die ich nun ohne sie lebe, weitergeliebt habe.

Doch eines Tages wurde mir schlagartig klar, dass ich sie in Wirklichkeit überhaupt nicht geliebt hatte, aus dem einfachen Grund, weil ich dazu gar nicht in der Lage war. Weil ich schon immer ein sehr distanzierter Mensch war. Ich habe nie wirklich geliebt, sondern lediglich Gefühle nachempfunden, wie ein Schauspieler. Zwar weine ich, wenn ich ins Kino gehe oder wenn ich einen hinkenden Hund sehe, wenn jemand stirbt oder bei Schreckensmeldungen in den Nachrichten. Vielleicht ist das typisch für Leute, die nicht wirklich lieben können.

Meine Liebe war nur gespielt – Theater. Ehrlich gemeint, aber dennoch Theater. Ohne dass es mir bewusst gewesen wäre. Ich gab nicht vor zu lieben, um sie zu täuschen. Ich sagte nicht: »Ich liebe dich«, obwohl ich wusste, dass dem nicht so war. Ich betrog mich selbst genauso, ich glaubte wirklich, dass ich sie liebte.

Sie hatte recht, als sie sagte, ich wüsste nicht, wie man liebt. Dass ich dazu nicht imstande sei. Dass ich Liebe mit Anpassung verwechselte.

»Das ist für dich das höchste der Gefühle. Du passt dich an und denkst, das sei Liebe. Aber du verwechselst da was.«

Sie wollte etwas von mir, das ich ihr nicht geben konnte, [26] aber ich verstand nicht, was sie meinte. Ich dachte sogar, es liege an ihr, dachte, sie sei irgendwie unsicher oder ängstlich. Von mir selbst dachte ich: Ich bin nicht eifersüchtig, ich verlange nie etwas von ihr, was sie nicht auch will, ich werde nie wütend, lasse ihr alle Freiheiten, und wenn sie ausgeht, frage ich nicht, wo sie war – was kann ich noch tun?

Ich verstand nicht, was sie von mir wollte. Irgendwann ist der Groschen gefallen. Es hat ein wenig gedauert, aber dann war ich so weit. Leider hat meine Begriffsstutzigkeit dazu geführt, dass ich seit einiger Zeit in kalten Laken schlafe.

Ich bin ein anderer geworden, und darum habe ich vor etwa einem Monat begonnen, wieder den Kontakt zu ihr zu suchen. Sie anzurufen. Heute zum Beispiel: »Hallo, ich bin’s.«

»Das weiß ich. Ich hab nur abgenommen, um dir zu sagen, dass du nicht mehr anrufen sollst.«

»Aber –«

Klick.

Ich habe begriffen, dass ich sie liebe und dass ich bereit bin, zu ihr zurückzukehren. Ihr alles zu geben, was sie will. Darum war es ein Riesenschock, als Nicola mir vor ein paar Tagen sagte, dass es Neuigkeiten über sie gibt.

[27] Eine schonend beigebrachte Neuigkeit

Wenn einer mich fragt, was ich beruflich mache, bin ich immer unsicher, ob ich »Copywriter« sagen soll oder einfach: »Ich schreibe Werbetexte.« Manchmal schätze ich es falsch ein, sage »Copywriter« und werde dann gefragt, was das denn sei. Ich antworte dann gewöhnlich: »Ich werde dafür bezahlt, dummes Zeug auszuspucken«, oder, um die Sache abzukürzen: »Freiberufler.« Das ist zwar die Antwort, die ich am allerwenigsten mag, aber damit ist die Frage am schnellsten vom Tisch.

Wenn gerade eine von mir getextete Werbung erfolgreich läuft, sage ich: »Kennst du den Spot mit dem Slogan xy? Der ist von mir.«

Wie alle Copywriter arbeite ich mit einem Art Director zusammen, in meinem Fall ist das Nicola. In unserem Job ist Kreativität gefragt, und wenn man im Kopf blockiert ist, kann man’s vergessen. Deshalb wartete Nicola, bis wir die aktuelle Kampagne abgeschlossen hatten, um mir die Neuigkeit zu eröffnen, die mich dann auch prompt aus der Bahn warf. Ich selbst hätte vorher nicht gedacht, dass es mich so umhauen würde. Vielleicht hätte ich damit rechnen müssen, aber irgendwie hatte ich es trotzdem nicht erwartet.

[28] Wenigstens habe ich es von ihm erfahren und nicht von jemand anders.

Nicola und Giulia, meine Nachbarin, sind die Freunde, die ich zurzeit am häufigsten sehe. So oft, dass wir am Telefon oder an der Gegensprechanlage nie unseren Namen sagen, sondern nur: »Ich bin’s.«

Mit Giulia bin ich noch nicht so lange befreundet wie mit Nicola, aber in bestimmten Stimmungslagen harmoniere ich mit ihr besser. Manchmal brauche ich so etwas wie ein zweites Instrument, auf das ich mich einstimme, und das geht nur mit Frauen. Oft suche ich die richtige Stimmung allein, in der Stille meiner Wohnung, wie ein Musiker eben, aber manchmal brauche ich einen anderen, der mir einen Ton vorgibt. Giulia gelingt es immer, mir den richtigen Ton vorzugeben. Dafür besitzt Nicola die Gabe, durch einen dummen Spruch alles zu entdramatisieren und mich mit einem Satz oder einer Geste wiederaufzurichten. Darin ist er unvergleichlich. Ich bin froh, solche Freunde zu haben.

Giulia kommt abends oft zu mir rüber. Ich rufe sie an, und wenn sie noch nicht gegessen hat, lade ich sie zu mir ein. Es ist zwar auch schön, für sich selbst zu kochen, aber richtig Spaß macht es nur, wenn man für andere kocht. Außerdem sind Rezepte für zwei nicht nur leckerer, ich kann sie mir auch besser merken. Manchmal lädt sie mich auch zu sich ein. Dann bekomme ich auf der Arbeit eine Nachricht aufs Handy: Heute Abend Reis und Gemüse bei mir?

Wir sind einfach nur Freunde, zwischen uns läuft gar nichts. Das mag daran liegen, dass meine Sie mich gerade [29] erst verlassen hatte, als wir uns kennenlernten, und Giulia gerade dabei war, sich von ihrem Mann zu trennen. Es war kein Platz in unserem Leben… höchstens für eine schnelle Nummer, aber bestimmt nicht mit der Nachbarin. Die Versuchung ging also an uns vorüber. Außerdem kann man sehr wohl bei einem Menschen eine gewisse Anziehung, auch sexueller Art, wahrnehmen, ohne unbedingt gleich zur Tat zu schreiten.

Als ich Giulia das erste Mal zum Essen einlud, ging ich zu ihr rüber und klopfte an ihre Tür. »Ich geleite dich zu mir. Ich bin altmodisch, musst du wissen.«

Sie lachte, und weil sie noch nicht fertig war, bat sie mich herein. Ich schaute mich um: eine echte Frauenwohnung, sauber und aufgeräumt.

Später am Abend begleitete ich sie in ihre Wohnung zurück. »Um die Uhrzeit solltest du wirklich nicht allein nach Hause gehen.«

Keinen Monat nach unserem ersten gemeinsamen Abendessen hatte ich bereits den Schlüssel zu ihrer Wohnung und sie den zu meiner. An einen der ersten Abende mit Giulia erinnere ich mich noch, als wäre es gestern gewesen, weil ich mir vorkam wie in einem Tarantino-Film.

Ich hatte ihr tagsüber eine SMS geschickt: Fisch? Nach wenigen Sekunden kam die Antwort:

Okay, muss aber frisch sein, vertrag ich sonst nicht, erklär ich dir später.

Lieber Fischstäbchen? Im Ernst, soll ich was anderes kochen?

Nein, Fisch ist okay. Muss nur frisch sein.

Werde auf dem Nachhauseweg einen angeln gehen.

[30] Okay, dann Fisch um neun. Nach der Arbeit dusch ich kurz und komm dann rüber.

Ich hol dich ab, wie immer. Bis später.

Gegen halb neun hörte ich sie nach Hause kommen und ging dann um neun rüber, um sie abzuholen. In der Küche war soweit schon alles fertig: Salat, Basmatireis und im Ofen eine Dorade mit Kartoffeln und Cherrytomaten.

Wir entkorkten den Wein. Es gab zwar Fisch, doch wir wollten Rotwein trinken, also machte ich eine Flasche Montecucco auf.

»Ich muss dir was sagen, aber erschrick nicht«, sagte sie und holte ein kleines, gelbes Röhrchen mit einer Nadel obendrauf hervor, eine Art Spritze. »Wenn wir den Fisch essen und dir auffällt, dass ich irgendwie komisch oder undeutlich rede, oder wenn du merkst, dass es mir nicht gutgeht, musst du diese Kappe abmachen und mir das hier spritzen. Ist Adrenalin drin.«

»Spinnst du? Das soll wohl ein Witz sein!«

»Gar nicht. Es ist nur so, dass ich eine Histaminintoleranz habe, und Fisch, der nicht ganz frisch ist, enthält davon jede Menge. Macht aber nichts, falls es mir wirklich schlechtgehen sollte, brauchst du mir nur das hier zu spritzen.«

»Warum hast du das denn nicht eher gesagt? Dann hätte ich Pasta gemacht oder Hühnerbrust…«

»Weil ich gern ab und zu Fisch esse. Sogar Sushi esse ich manchmal. Ich sag’s dir nur vorsichtshalber jetzt schon, weil ich später vielleicht nicht mehr deutlich genug sprechen kann, bevor ich bewusstlos werde.«