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Titelseite

 

Für meine allerliebste Catherine

 

Wer einmal das Fliegen erlebt hat,

der wird auf Erden stets

mit zum Himmel gewandten Augen einhergehen.

Denn dort wird er mit seinen Gedanken immer sein.
 

Leonardo da Vinci

1

Als ich auf den stillen See hinausblicke, weiß ich, dass es das Risiko wert ist.

Das Wasser ist ruhig und glatt. Wie poliertes Glas. Nicht ein einziger Windhauch kräuselt die dunkle Oberfläche. Tief hängender Nebel wallt von den glänzenden Bergen auf, die in einem Himmel voller Purpur schweben. Gierig atme ich die Luft ein. Nicht mehr lange, dann wird die Sonne aufgehen.

Völlig außer Atem holt Azure mich ein. Sie gibt sich keine Mühe, den Radständer auszuklappen, und lässt ihr Fahrrad scheppernd neben meins auf den Boden fallen. »Hast du mich denn nicht rufen hören? Du weißt genau, dass ich nicht so schnell fahren kann wie du!«

»Ich wollte das hier nicht verpassen.«

Endlich spitzt die Sonne hinter den Bergen hervor, zunächst nur als dünner rotgoldener Schimmer, der den dunklen See umrahmt.

Neben mir stößt Azure einen Seufzer aus und mir ist klar, dass in ihr dasselbe vorgeht wie in mir – sie malt sich aus, wie das Licht des frühen Morgens auf ihrer Haut schmecken mag.

»Jacinda«, sagt sie, »wir sollten das nicht tun.« Aber überzeugt klingt sie dabei nicht.

Ich vergrabe die Hände in den Taschen und wippe auf den Fußballen auf und ab. »Dich zieht es genauso hierher wie mich. Schau dir nur diese Sonne an!«

Bevor Azure sich weiter beschweren kann, schlüpfe ich schnell aus meinen Klamotten und stopfe sie hinter einen Busch. Zitternd stehe ich am Ufer, aber nicht die schneidende Kälte des frühen Morgens lässt mich schaudern. Ich zittere vor Aufregung.

Hinter mir fallen Azures Kleider auf den Boden. »Cassian wird davon gar nicht begeistert sein«, sagt sie.

Finster runzle ich die Stirn. Als ob mir seine Meinung wichtig wäre! Er ist schließlich nicht mein Freund. Auch wenn er mich gestern beim Flugmanöver-Training erst überraschend attackiert und dann versucht hat, meine Hand zu halten. »Hey, jetzt verdirb uns nicht die Stimmung! Ich will im Moment keinen Gedanken an ihn verschwenden.«

Meine kleine Rebellion richtet sich auch gegen ihn: Cassian. Ständig ist er da, wie ein Schatten, und beobachtet mich aus seinen dunklen Augen. Wartet. Von mir aus kann Tamra ihn haben! Ein Seufzer entfährt meinen Lippen. Es ist einfach grauenhaft, dass sie mir keine Wahl lassen!

Aber noch bleibt mir eine ganze Weile, bevor Nägel mit Köpfen gemacht werden. Jetzt will ich nicht darüber nachdenken.

»Na komm schon!« Ich lasse meinen Geist treiben und sauge alles Leben um mich herum auf. Die Äste mit ihren graugrünen Blättern. Die Vögel, die von der aufgehenden Sonne geweckt werden. Den feuchten Nebel, der sich an meine Schenkel schmiegt. Ich bohre meine Zehen in den rauen Untergrund und zähle in Gedanken die Kieselsteine unter meinen Füßen. Dann spüre ich das vertraute Ziehen in der Brust, während meine menschliche Hülle schmilzt und sich auflöst, um von meiner viel dickeren Drakihaut ersetzt zu werden.

Mein Gesicht wird kantiger, die Wangenknochen bekommen mehr Kontur, werden spitzer und dehnen sich. Während meine Nase eine neue Form annimmt und kleine Höcker sich abzeichnen, verändert sich auch mein Atem. Alle meine Gliedmaßen werden lockerer und länger. Es fühlt sich gut an, wie meine Knochen sich strecken. Voller Vorfreude hebe ich den Kopf und blicke in den Himmel, zu den Wolken. Ich sehe sie, als würde ich bereits durch sie hindurchgleiten – fast kann ich ihren kühlen, feuchten Kuss schon spüren.

Diesmal geht es sehr schnell – es ist vielleicht eine meiner schnellsten Verwandlungen überhaupt. Jetzt, da meine Gedanken frei und klar sind, wo niemand hier ist außer Azure, fällt es mir leicht. Kein Cassian mit seinen grüblerischen Blicken. Keine Mum, deren Augen voller Angst sind. Keiner der anderen, die mich ständig beobachten, begutachten und abschätzen.

Über jeden Schritt und Tritt fällen sie ihr Urteil.

Mir wachsen hauchzarte Flügel, die ein bisschen länger als mein Rücken sind, bis sie schließlich ihre volle Weite entfalten. Mit einem leisen Wispern recken sie sich in die Luft – als würden auch sie seufzen. Als würden auch sie sich nach Erlösung sehnen. Nach Freiheit.

Ein vertrautes Geräusch steigt in meiner Brust auf, das beinahe klingt wie das Schnurren einer Katze. Ich drehe mich zu Azure um und sehe, dass auch sie bereit ist.

Wunderschön, in einem schillernden Blau, steht sie neben mir. Im Morgenlicht bemerke ich die rosa- und violettfarbenen Schattierungen, die im Tiefblau ihrer Drakihaut leuchten. Solche kleinen Dinge sind mir noch nie zuvor aufgefallen. Erst jetzt, bei Tagesanbruch, der Zeit, in der es das Rudel verbietet zu fliegen, kann ich sie sehen.

Ich blicke an mir hinab und bestaune den rotgoldenen Glanz meiner seidig schimmernden Arme. Meine Gedanken schweifen ab und ich erinnere mich an einen Bernstein, der neben vielen anderen wertvollen Steinen und Juwelen in der Schatzkammer meiner Familie liegt. Genauso sieht meine Haut jetzt aus, wie baltischer Bernstein im Sonnenlicht. Doch der Schein trügt. Meine Haut wirkt zart und verletzlich, dabei ist sie hart wie eine Rüstung. Es ist schon eine Ewigkeit her, dass ich mich selbst so gesehen habe – zu lange, dass ich das letzte Mal die Sonne auf der Haut gespürt habe.

Azure schnurrt leise. Unsere Blicke treffen sich – Augen, deren Iris größer geworden sind und die dunkle senkrechte Schlitze statt Pupillen haben – und ich weiß, dass meine Freundin all ihre Zweifel vergessen hat. Aus tiefblauen Augen strahlt sie mich an, genauso glücklich darüber, hier zu sein, wie ich es bin. Auch wenn wir jede Regel unseres Rudels gebrochen haben, um uns aus dem geschützten Gebiet wegzuschleichen. Jetzt sind wir hier. Wir sind frei!

Ich federe vom Boden ab und springe in die Luft. Mit einem Knall breite ich die Flügel aus und drahtige Membranen tragen mich durch die Lüfte. Ich wirbele einmal im Kreis herum und schnelle dann in die Höhe. Azure fliegt neben mir und stößt ein tiefes, kehliges Lachen aus.

Der Wind braust über unsere Körper und die Sonne küsst unsere Haut. Als wir endlich hoch genug sind, lässt Azure sich fallen und stürzt in atemberaubender Geschwindigkeit durch die Luft auf den See zu.

Ich schneide eine Grimasse. »Angeberin!«, rufe ich und fühle das Grollen der Drakisprache, die tief unten in meiner Kehle vibriert, während Azure in den See eintaucht und minutenlang unter Wasser bleibt.

Als Wasserdraki wachsen ihr längs des Körpers Kiemen, sobald sie in Wasser eintaucht. So kann sie unter der Oberfläche bleiben, bis … na ja, eigentlich für immer, wenn sie mag. Eine der vielen nützlichen Fähigkeiten, die unsere Drachenvorväter entwickelt haben, um zu überleben. Natürlich können das nicht alle von uns. Ich zum Beispiel nicht.

Ich habe andere Talente.

Langsam schwebe ich über den See und warte darauf, dass Azure wieder hochkommt. Endlich durchbricht sie, glitzernde Gischt verspritzend, die Oberfläche. Von ihren Flügeln perlt Wasser ab, das ihren blauen Körper in der Luft funkeln lässt.

»Nette Vorstellung«, sage ich.

»Dann lass dich mal sehen!«

Ich schüttle den Kopf und ignoriere Azures drängendes »Komm schon, es ist doch so cool!«.

Dabei ist meine Fähigkeit alles andere als das. Und ich würde alles dafür geben, sie gegen eine andere einzutauschen. Wie gerne wäre ich ein Wasserdraki oder ein Visiocrypter. Oder ein Onyx. Oder … Ehrlich, die Liste ist endlos.

Stattdessen bin ich das hier.

Ich kann Feuer speien. Als einziger Feuerdraki im ganzen Rudel seit über vierhundert Jahren! Das hat mir mehr Berühmtheit eingebracht, als mir lieb ist. An dem Tag, als ich mich mit elf zum ersten Mal verwandelt habe, habe ich aufgehört, Jacinda zu sein. Stattdessen bin ich der Feuerspeier. Aus diesem Grund kontrolliert das Rudel mein Leben, als wäre es sein Eigentum. Sie sind sogar noch schlimmer als meine Mutter.

Plötzlich höre ich etwas. Ein leises, weit entferntes Geräusch, das durch das Pfeifen des Windes und den dichten Nebel zu uns dringt, der die Berge ringsum einhüllt.

Aufmerksam spitze ich die Ohren und halte in der dichten Luft schwebend inne.

Auch Azure legt den Kopf schief. Mit ihren Drachenaugen starrt sie so angestrengt nach vorne, dass sie blinzeln muss. »Was ist das? Ein Flugzeug?«

Das Geräusch wird lauter und kommt schnell näher, schon ist es ein regelmäßiges Wummern. »Wir sollten tiefer fliegen.«

Azure nickt und taucht ab. Mit einem Blick über die Schulter folge ich ihr, doch außer den zerklüfteten Bergen kann ich noch immer nichts erkennen. Dafür höre und fühle ich umso mehr.

Es kommt immer näher.

Das Geräusch verfolgt uns.

»Sollen wir zurück zu unseren Rädern fliegen?« Azure sieht mich fragend an, während ihr schwarzes Haar mit den blauen Strähnen wie eine Fahne hinter ihr her weht.

Ich zögere. Ich will nicht, dass unser Ausflug schon endet. Wer weiß, wann wir uns das nächste Mal wegschleichen können. Schließlich lässt mich das Rudel nicht aus den Augen, und Cassian –

»Jacinda!« Azure deutet mit einem schillernd blauen Finger hinter sich.

Ich wirble herum und folge ihrem Blick. Mein Herz setzt einen Schlag lang aus.

Hinter einem niedrigen Berg taucht ein Helikopter auf. Aus der Entfernung wirkt er winzig, doch während er stetig näher kommt und den Nebel durchdringt, wird er größer und größer.

»Los!«, schreie ich. »Runter!«

Im Sturzflug tauche ich ab, die Flügel fest an den Körper gepresst, die Beine pfeilgerade – im perfekten Winkel, um so schnell wie möglich zu fallen.

Aber nicht schnell genug.

Wie wild peitschen die Rotoren des Hubschraubers durch die Luft. Jäger! Der Wind schneidet mir in die Augen, als ich schneller fliege als je zuvor in meinem Leben.

Azure fällt zurück. Ich rufe nach ihr, blicke mich um und sehe die Verzweiflung in ihren glänzenden Augen. »Az, beeil dich!«

Geschwindigkeit zählt nicht gerade zu den Stärken der Wasserdraki und dessen sind wir uns beide bewusst. Azures Stimme wird zu einem Schluchzen, aus dem ich nur zu klar heraushöre, wie deutlich sie das in diesem Moment spürt. »Ich versuch’s ja! Lass mich nicht alleine! Jacinda! Bitte, lass mich nicht zurück!«

Hinter uns holt der Helikopter immer weiter auf. Der bittere Geschmack von Angst breitet sich in meinem Mund aus, als zwei weitere dazukommen und jede Hoffnung zunichtemachen, der erste könne vielleicht doch nur zufällig hier sein, um ein paar Luftaufnahmen zu schießen.

Das hier ist ein Geschwader, das es eindeutig auf uns abgesehen hat.

Ist das Gleiche auch Dad passiert? Waren seine letzten Momente so wie diese? Ich schüttle den Kopf und verscheuche diesen schrecklichen Gedanken. Nein, ich werde nicht sterben – sie werden meinen Körper nicht in sämtlichen Einzelteilen verscherbeln.

Ich deute mit dem Kopf auf die nahen Baumwipfel. »Da rüber!«

Normalerweise fliegen Drakis nie so nahe über dem Boden, aber uns bleibt keine Wahl.

Azure folgt in meinem Windschatten. Sie drängt sich dicht an mich und saust in ihrer Panik um ein Haar gegen einen Ast. Ich halte in der Luft inne, während sich mein Brustkorb heftig schnaufend hebt und senkt. Über uns dröhnen die Hubschrauber, ihr monotones Rattern ist ohrenbetäubend laut, während sie die Bäume unter sich wie ein grünes, schäumendes Meer niederdrücken.

»Wir sollten uns zurückverwandeln«, sagt Azure keuchend.

Als ob wir das könnten! Dazu haben wir viel zu große Angst. Wenn Drakis sich fürchten, dann können sie ihre menschliche Form nicht annehmen. Das ist ein Überlebensinstinkt. Im inneren Kern sind wir nun einmal Drakis und das ist unsere Stärke.

Ich blicke durch das Dickicht der bebenden Äste, die uns versteckt halten, und der intensive Geruch von Tannennadeln und Wald steigt mir in die Nüstern.

»Ich kann mich zusammenreißen«, beteuert Azure in unserer kehligen Sprache.

Ich schüttle den Kopf. »Selbst wenn du das schaffst, ist es zu gefährlich. Wir müssen warten, bis sie wieder weg sind. Wenn sie hier draußen zwei Mädchen sehen, kurz nachdem sie zwei Drakiweibchen aufgespürt haben, könnten sie Verdacht schöpfen.« Eine eiskalte Faust greift nach meinem Herzen. Das dürfen wir nicht zulassen! Nicht nur unseretwegen, sondern auch wegen all der anderen – wegen allen Drakis auf der ganzen Welt. Unsere Fähigkeit, uns in Menschen zu verwandeln, ist unsere wichtigste Verteidigung, doch nur, solange sie geheim bleibt.

»Wenn wir in einer Stunde nicht zu Hause sind, bekommen wir einen Wahnsinnsärger!«

Ich beiße mir auf die Unterlippe und verkneife mir die Bemerkung, dass wir im Augenblick größere Sorgen haben, als beim Ausbüxen erwischt zu werden.

Ich will ihr nicht noch mehr Angst einjagen.

»Wir müssen uns eine Weile verstecken …«

Plötzlich mischt sich ins Rattern der Rotoren ein weiteres Geräusch. Ein dumpfes Dröhnen liegt in der Luft und mir stellen sich die winzigen Nackenhaare auf. Da draußen ist noch etwas anderes – weiter unten auf dem Boden – und es nähert sich.

Ich blicke in den Himmel, meine langen klauenartigen Finger öffnen und schließen sich immerzu und meine Flügel zittern, so sehr muss ich mich beherrschen, nicht aufzuspringen. Meine Instinkte drängen mich dazu, die Flucht zu ergreifen, aber ich weiß, dass sie dort oben sind und nur darauf lauern. Wie die Geier. Durch die Wipfel kann ich ihre dunklen Umrisse erspähen. Verzweiflung kriecht in meine Brust. Die denken gar nicht daran, weiterzufliegen!

Ich gebe Azure einen Wink, mir ins dichte Geäst einer riesigen Kiefer zu folgen. Wir schlingen die Flügel eng um unsere Körper und drängen uns in die kratzenden Nadeln und Zweige, wo wir mit angehaltenem Atem abwarten.

Dann erwacht der Boden unter uns zum Leben und plötzlich wimmelt es von Fahrzeugen: Trucks, Geländewagen, Motorräder.

»Nein«, krächze ich, während ich die Maschinen und die Männer mustere, die bis an die Zähne bewaffnet sind. Im Unterbau eines Lastwagens kauern zwei Männer mit Netzkanonen im Anschlag. Ausgebildete Jäger! Sie wissen, was sie tun, wissen genau, was sie jagen.

Az zittert so sehr, dass der dicke Ast, auf dem wir hocken, zu wackeln anfängt und die Nadeln rascheln. Schnell drücke ich ihre Hand. Die Motocrossräder fahren voraus und weisen den anderen mit wahnwitziger Geschwindigkeit den Weg. Einer der Geländewagenfahrer gestikuliert wild aus dem Fenster heraus. »Vergesst nicht, die Bäume abzusuchen!«, schreit er mit tiefer, furchterregender Stimme.

Az droht aufzuspringen und ich packe ihre Hand noch fester. Eins der Motorräder fährt direkt unter uns vorbei. Der Fahrer trägt ein schwarzes T-Shirt über seinem muskulösen Körper. Ein Schaudern fährt mir über den Rücken und meine Haut zieht sich so fest zusammen, dass es beinahe wehtut.

»Ich halt’s hier nicht länger aus!«, wimmert Az an meiner Seite. »Ich muss weg!«

»Az«, knurre ich und meine tiefe Stimme klingt flehend und verzweifelt. »Das ist doch genau das, was die wollen. Sie wollen uns aufscheuchen. Behalt einfach die Nerven, okay?«

Ihre Antwort presst sie durch gefletschte Zähne. »Ich. Kann. Nicht.«

Mir dreht sich der Magen um, als mir klar wird, dass sie es nicht durchstehen wird.

Ich werfe noch einmal einen Blick auf die Jäger unter uns und die Hubschrauber am Himmel. Dann fälle ich eine Entscheidung.

»Na schön.« Ich schlucke. »Folgender Plan: Wir trennen uns jetzt …«

»Nein!«

»Ich verlasse die Deckung zuerst. Sobald sie hinter mir herjagen, fliehst du, so schnell du kannst, zum Wasser. Tauch ab und bleib unter der Oberfläche! Und zwar so lange wie nötig. Bis sie weg sind!«

Ihre Augen schimmern nass und die lotrechten Schlitze ihrer Pupillen pochen.

»Kapiert?«

Zögernd nickt sie, dann atmet sie tief ein, wobei die Höcker auf ihrer Nase kurz beben. »W…was hast du vor?«

Ich setze eine tapfere Miene auf und verziehe meine Lippen zu einem grimmigen Lächeln. »Fliegen, natürlich.«

2

Als ich zwölf war, flog ich mit Cassian um die Wette und gewann.

Es geschah während eines Gruppenausflugs – nachts natürlich. Zu einer anderen Zeit dürfen wir ja nicht fliegen. Cassian hatte fürchterlich angegeben und ich wollte ihm eine Lektion erteilen. Früher waren wir mal Freunde gewesen, bevor der Erste von uns beiden sich verwandelte. Ich fand es unerträglich, wie er sich verändert hatte – er führte sich auf, als wäre er Gottes Geschenk an die Drakis.

Ehe ich mich versah, rasten wir über den Nachthimmel und Dad feuerte mich lautstark an. Cassian war damals vierzehn, ein Onyxdraki – ein schwarzer Muskelprotz mit ausgeprägten Sehnen. Auch mein Vater war ein Onyx gewesen. Sie sind nicht nur die Stärksten und Größten unter den Drakis, sondern normalerweise auch die Schnellsten.

Aber nicht in dieser Nacht. In dieser Nacht besiegte ich Cassian, den Prinzen des Rudels und unseren zukünftigen Leitdrachen – der von Geburt an darauf gedrillt worden war, der Beste zu sein.

Ich hätte nicht gewinnen dürfen, aber ich hab’s getan. Im Schatten des Mondes bewies ich, dass ich weit mehr als nur der wertvolle Feuerspeier des Rudels bin. Mehr, als nur das kleine Mädchen, das Cassian auf seinem Kettcar fahren ließ. Danach veränderte sich Cassian. Auf einmal ging es ihm nicht mehr darum, der Beste zu sein, sondern das Beste zu gewinnen – und ich war der Preis.

Jahrelang habe ich bereut, bei diesem Wettkampf gesiegt zu haben, habe die Aufmerksamkeit verabscheut, die es mir eingebracht hat. Wie sehr habe ich mir gewünscht, nicht so schnell fliegen zu können. Doch jetzt, als meine nackten Füße über die schroffe Rinde wetzen und ich mich bereit mache, abzuheben, bin ich froh darüber – dankbar, schnell wie der Wind fliegen zu können.

Az, die hinter mir kauert, klappern die Zähne. Ein unterdrücktes Wimmern wird laut und ich weiß, was ich zu tun habe.

Und deshalb springe ich einfach. Lasse mich vom Baum fallen, breite die Flügel aus, die sich über meinem Rücken wie zwei gewaltige Segel aus feurigem Gold spannen, und segle durch die Luft.

Schreie dringen an mein Ohr und Motoren heulen auf, als die Fahrzeuge beschleunigen. Laute, undeutliche Stimmen überschlagen sich – die harten Stimmen von Männern. Ich presche durch die Bäume mit den Jägern dicht hinter mir, die in ihren erdzerfressenden Geländewagen durch den morgendlichen Wald pflügen.

Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht, als sie immer weiter zurückfallen, während ich meinen Vorsprung ausbaue. Ich höre mich selbst lachen.

Dann explodiert Feuer in meinem Flügel. Ich zucke zusammen, kippe zur Seite und beginne in der Luft zu taumeln.

Sie haben mich getroffen.

Während ich darum kämpfe, mich mit einem Flügel in der Luft zu halten, schaffe ich gerade noch ein paar Schläge, bevor ich abstürze. Die Welt fängt an, sich zu drehen, und alles verschwimmt zu einem wirren Strudel aus Grün und Braun. Ich krache mit der Schulter in einen Baum und schlage dann auf dem Boden auf, während mir der Kupfergeruch meines eigenen Blutes in die Nase steigt.

Meine Finger krallen sich in die feuchte Erde, deren kräftiges, stechendes Aroma eine Wohltat für meine Haut ist. Ich grabe meine Hände noch tiefer in die Erde, bis ich sie unter meinen Krallen spüre. Mit pochender Schulter krabble ich vorwärts, um mich Stück für Stück über den Waldboden zu ziehen.

Tief in meiner Kehle entbrennt ein Laut, halb Stöhnen, halb Knurren. Nicht ich! Nicht ich!, fährt es mir durch den Kopf.

Ich ziehe die Knie an, teste meinen getroffenen Flügel, indem ich ihn vorsichtig hinter mir ausstrecke. Als ein unsäglicher Schmerz die dünne Membran durchzuckt und sich zwischen den Schulterblättern tief in meinen Rücken bohrt, beiße ich mir auf die Lippen, um einen Schrei zu unterdrücken. Kiefernnadeln piksen mir in die Hände, als ich mich hochdrücke und aufzutreten versuche.

Schon höre ich sie kommen, höre ihre Rufe. Das Dröhnen der Motoren steigt und fällt, während die Männer die Hügel hinauf- und wieder hinunterfahren. Mir schießt wieder das Bild des Trucks mit den Netzkanonen durch den Kopf.

Genau wie bei Dad. Nur jetzt passiert es mir.

Als ich auf den Beinen bin, falte ich meine Flügel zusammen und renne los, schieße blindlings durch die dichten Bäume und höre, wie der Motorenlärm immer näher rückt.

Als ich in den nebligen Wald hinter mir spähe, erkenne ich erschrocken den trüben Schimmer von Scheinwerfern. So nah sind sie schon! Mir rauscht das Blut in den Ohren, während ich mich nach allen Seiten umblicke und ein Versteck suche. Dann höre ich noch etwas anderes – das gleichmäßige Rauschen von Wasser.

Ich lote die Richtung des Geräusches aus und renne, so leise wie eine Katze, über den Waldboden. Gerade noch rechtzeitig klammere ich mich an einem Stamm fest, als sich vor mir plötzlich ein steiler Abhang auftut. Heftig keuchend schaue ich in die Tiefe. Ein kleiner Wasserfall ergießt sich sprudelnd in ein großes Becken, das an allen Seiten von zerklüfteten Felswänden umgeben ist.

Die Luft über mir fängt an zu knistern, mir stellen sich die Haare zu Berge, meine Kopfhaut spannt sich und fängt an zu jucken – und sofort springe ich zur Seite. Im selben Moment schnellt etwas sirrend an mir vorbei und bohrt sich neben mir in den Boden.

»Nachladen!«

Ich werfe einen Blick über die Schulter – und sehe den Truck mit zwei Männern auf der Ladefläche, die einen zweiten Netzwurf vorbereiten. Wie hüpfende Insekten preschen Motorräder über den Boden, deren Fahrer mich durch große metallisch blitzende Brillen anstarren. Sie sehen noch nicht einmal menschlich aus! Es sind Monster. Ich kann ihre zusammengepressten Münder sehen, die eine erbarmungslose schmale Linie bilden. Über mir nähern sich die Helikopter, die die Luft zu einem brutalen Sturm aufwühlen, der meine Haare in alle Richtungen peitscht.

Ich hole einmal tief Luft, dann drehe ich mich um. Und springe.

Es fühlt sich komisch an, durch den Wind zu fallen, ohne abheben und fliegen zu wollen, ohne es zu können. Aber genau das mache ich jetzt. Bis ich ins Wasser stürze.

Es ist so kalt, dass ich schreie und sofort einen Mundvoll Algenwasser schlucke. Wie macht Az das nur? Bei ihr sieht es so nach Spaß aus. Und nicht nach eiskalter Qual wie das hier.

Ich komme wieder an die Oberfläche, paddle wie ein Hund im Wasser und drehe mich schnell einmal um mich selbst, in der Hoffnung etwas zu finden. Irgendwas. Dann fällt mein Blick auf eine Höhle. Eigentlich ist es nur ein kleiner Spalt in der Felswand, aber er ist tief genug, dass ich hineinkriechen und mich darin verstecken kann – es sei denn, die Jäger tauchen mir hinterher.

Ich schwimme auf den Höhlenvorsprung zu und zwänge mich hinein. Dann drücke ich mich so eng wie möglich an die raue Felswand und rolle mich zu einer kleinen Kugel zusammen.

Nass und bibbernd halte ich den Atem an und warte. Es dauert nicht lang, da höre ich schroffe Stimmen weit über mir.

»Es ist da runtergesprungen!« Das Geräusch von knallenden Türen lässt mich zusammenfahren. Sie müssen aus ihren Wagen gestiegen sein. In meiner schattigen Höhle fange ich an, furchtbar zu schlottern, und kann nichts dagegen tun. Nur meine Finger krallen sich blutleer um meine kalten Knie.

»… ins Wasser gesprungen!«

»Vielleicht ist es weggeflogen«, höre ich sie über das Knattern der Motocrossräder hinweg.

»Keine Chance! Es kann nicht mehr fliegen, so wie ich dem Ding den Flügel durchlöchert hab.« Die arrogante Selbstzufriedenheit in dieser Stimme lässt mich schaudern und heftig rubble ich mir über die Arme, um die Kälte zu vertreiben. Und die Angst.

»Also ich kann da unten nichts sehen.«

»Jemand muss da runter und hinterher.«

»Teufel noch mal! Da runter? Es ist scheißkalt – geh du doch!«

»Und warum gehst du nicht? Was bist du doch für ein Angsthase …«

»Ich gehe!« Beim Klang dieser Stimme erstarre ich, sie ist tief und ruhig – und sanft wie Samt im Gegensatz zum harschen, schneidenden Ton der anderen.

»Sicher, dass du das hinkriegst, Will?«

Ich schlinge die Arme noch fester um mich, während ich seine Antwort abwarte und wünschte, ich wäre ein Visiocrypter, damit ich mit meiner Umgebung verschmelzen und so gut wie unsichtbar werden könnte.

Wie ein verschwommener Blitz gleitet ein Körper in das Wasser und lässt beim Eintauchen kaum einen Tropfen hochspritzen. Ich starre auf die glitzernde Wasseroberfläche und wage kaum zu atmen, während ich darauf warte, dass er hochkommt. Jeden Augenblick wird sein Kopf auftauchen und dann wird er sich umsehen. Wird die Höhle finden. Und mich.

Ich lecke mir über die Lippen und fühle, wie mein Blut zu brodeln anfängt und sich Rauch in meinen Lungen bildet. Würde ich es tun, wenn mir keine Wahl bliebe? Könnte ich meine Gabe einsetzen, um mich zu retten?

Da durchbricht er die Oberfläche und wirft den Kopf zurück, sodass tausend Wasserperlen durch die Luft spritzen. Sein Haar glitzert wie ein dunkler Helm, der auf seinem Kopf sitzt. Er ist jung, wenig älter als ich.

»Alles klar da unten, Will?«, schreit jemand von oben herunter.

»Bestens«, ruft er zurück.

So nah ist seine Stimme auf einmal, dass mein Herz einen kleinen Satz macht. Ich ignoriere den stechenden Schmerz in meinem Flügel und drücke mich so dicht wie möglich an die raue Wand hinter mir. Dabei lasse ich ihn keine Sekunde aus den Augen und hoffe, dass er mich so weit hinten nicht sehen kann.

Doch dann merke ich, wie er sich anspannt und sein Blick geradewegs in meine Richtung lenkt. »Da drüben ist eine Höhle!«

»Ist es da drin?«

Es bin ich.

Drohend spanne ich die Muskeln an, meine Haut zieht sich zusammen und ich zittere wie die angeschlagene Saite einer Violine. In mir laufen die Gefühle Amok und vor Aufregung fangen meine Flügel an zu vibrieren, sodass mir erneut ein heißer Schmerz durch die verletzte Haut jagt und mir bis tief in den Rücken sticht. Ich zucke zusammen, zwinge mich dann aber dazu, mich zu entspannen.

Er schwimmt näher.

Aus meiner Nase dringen kleine Rauchwolken, ohne dass ich es will. Es passiert einfach. Für gewöhnlich habe ich es unter Kontrolle, aber wenn ich Angst bekomme, dann klappt das nicht mehr. Dann übernehmen meine Drakiinstinkte die Führung.

Zug für Zug kommt er näher und mein Herz trommelt wie wild in meiner Brust. Mitten im Schwimmen erstarrt er plötzlich. Dann taucht er bis zu den Lippen ins Wasser ein und sieht mich gebannt an.

Unsere Blicke kreuzen sich.

Gleich ist es so weit. Gleich wird er die anderen rufen und dann werden sie sich wie hungrige Raubtiere auf mich stürzen. Wieder muss ich an Dad denken und versuche, ein Schaudern zu unterdrücken. Er hat bestimmt nicht gezittert, sondern war tapfer bis zum bitteren Ende. Außerdem habe ich, anders als Dad, etwas, um mich verteidigen zu können: Feuer.

Plötzlich setzt er sich wieder in Bewegung und gleitet langsam näher. Ich sehe, wie die Muskeln an seinem Hals sich bewegen, und etwas in meinem Bauch fängt an zu flattern. Doch anders, als ich es erwartet hatte, sieht er nicht grausam aus. Auch nicht böse, sondern nur … neugierig.

Er stemmt eine Hand auf den Felsvorsprung und zieht sich in den Spalt. Zu mir. Kein Meter trennt uns mehr voneinander. An seinen Armen zeichnen sich kräftige Muskeln ab, als er sich in die Hocke niederlässt und sachte mit den Fingern über den Höhlenboden streift. Wir tasten einander mit den Augen ab – als wären wir zwei Tiere, die sich zum ersten Mal über den Weg laufen.

Ich schnappe nach Luft und will sie um jeden Preis in meine schwelenden Lungen drücken. Allmählich verbrenne ich von innen nach außen.

Nicht, dass ich noch nie einem Menschen begegnet wäre. Ich habe sie schon Dutzend Mal gesehen, wenn ich mit Mum und Tamra zum Einkaufen in der Stadt war. Die meiste Zeit über sehe ich sogar selbst wie ein Mensch aus, auch innerhalb der geheimen Siedlung unseres Rudels. Trotzdem starre ich diesen Jungen an, als hätte ich noch nie in meinem Leben einen gesehen. Und vermutlich habe ich auch noch nie jemanden wie ihn gesehen – immerhin ist er kein gewöhnlicher Junge. Er ist ein Jäger.

Sein schwarzes T-Shirt sitzt wie eine zweite Haut und klebt an seiner durchtrainierten Brust. In unserer dunklen Höhle scheint sein nasses Haar fast schwarz zu sein. Wenn es trocken ist, könnte es heller sein, vielleicht mittelbraun oder sogar dunkelblond. Aber was mich wirklich in Bann zieht, sind seine Augen. Sein intensiver Blick, der mich nicht loslässt. Ich stelle mir vor, wie er mich sehen muss. Meine Flügel, die zusammengeschlagen hinter dem Rücken hervorspitzen. Meine geschmeidigen Gliedmaßen, die selbst in dem düsteren Felsspalt wie flüssiges Feuer schimmern. Mein schmales Gesicht mit den ausgeprägten Konturen. Die kleinen Höcker auf meiner Nase. Meine hoch geschwungenen Brauen und meine Drachenaugen – zwei schwarze senkrechte Schlitze anstelle von Pupillen.

Langsam streckt er den Arm aus und ich zucke nicht einmal zusammen, als seine warme Hand prüfend meine Haut befühlt. Er streichelt darüber und ich bin mir sicher, dass er meine Drakihaut mit seiner menschlichen vergleicht. Dann hält er inne und legt seine Hand auf meine, wo sie auf meinen langen, klauenartigen Fingern liegen bleibt. Bei seiner Berührung wird mir glühend heiß.

Auch er spürt die Hitze und reißt die Augen auf. Wunderschöne haselnussbraune Augen mit goldenen Sprenkeln. Genau die Farbe, die ich so liebe – die Farbe der Erde. Sein Blick wandert über meine nassen, wirren Haarsträhnen, die fast bis zum Steinboden reichen. Und ich ertappe mich dabei, dass ich mir wünsche, er könne das Mädchen in dem Drachen erkennen.

Ein Ton kommt über seine Lippen. Ein Wort. Ich höre es, aber ich glaube es nicht. Das hat er bestimmt nicht gesagt.

»Will!«, schreit jemand.

Wir zucken beide zusammen und plötzlich verändert sich sein Gesicht. Der sanfte, neugierige Ausdruck darin verschwindet und auf einmal sieht er wütend aus. Bedrohlich. So, wie Männer seines Schlags normalerweise Wesen meiner Art betrachten. Hastig zieht er seine Hand zurück und zerschneidet jede Nähe zwischen uns. Dort, wo er mich berührt hat, prickelt meine Haut.

»Hey da unten! Geht’s dir gut? Soll ich runterkommen?«

»Alles in Ordnung!« Seine tiefe Stimme hallt von den Wänden unserer kleinen Zufluchtsstätte wider.

»Hast du es gefunden?«

Wieder es. Ich schnaube verärgert und Rauchwölkchen puffen aus meiner Nase. Das Glimmen in meiner Lunge wird stärker.

Er blickt mich durchdringend an, seine Augen sind hart und ohne Mitleid. Ich warte darauf, dass er den anderen verrät, wo ich bin. Dabei halte ich seinem Blick stand. Dieser wunderschöne Junge soll dem Lebewesen ins Gesicht sehen, das er mit seinen nächsten Worten zum Tode verurteilt.

»Nein.«

Verblüfft schnappe ich nach Luft, während das Lodern in meinem Innern erlischt. Einen endlos langen Augenblick starren wir uns an.

Er, ein Jäger. Ich, eine Draki.

Dann ist er verschwunden.

Und ich bin ganz allein.

3

Eine Ewigkeit lang warte ich. Noch lange, nachdem das Dröhnen der Hubschrauber und der Motoren verstummt ist. Klamm und zitternd sitze ich zusammengekauert in meiner Höhle und schlinge die Arme um meine Knie. Immer wieder fahre ich mit den Händen über die rotgoldene Haut und rubble über meine Beine. Mein verletzter Flügel brennt und pocht, während ich ausharre und lausche. Aber alles bleibt still. Nur das Flüstern des Waldes und das leise Seufzen des herabfallenden Wassers sind zu hören.

Keine Männer. Keine Jäger. Kein Will.

Ich runzle die Stirn. Aus irgendeinem Grund stört mich das. Ich werde ihn niemals wiedersehen. Niemals wissen, warum er mich nicht verraten hat. Niemals erfahren, ob er wirklich das geflüstert hat, was ich zu hören geglaubt habe: wunderschön.

In diesem kurzen Augenblick habe ich mich mit ihm verbunden gefühlt. Irgendwie ist es einfach passiert, auch wenn ich es mir nicht erklären kann. Ich war mir so sicher, dass er mich auffliegen lässt. Mitleid gehört nicht gerade zu den Stärken der Jäger. Sie sehen in uns nur ihre Beute. Wir sind für sie nichts anderes als niedere Kreaturen, die man zerstören und an unsere größten Feinde verkaufen kann – die Enkros. Seit Beginn der Menschheit gieren die Enkros nach den Kräften der Drakis und sind davon besessen, uns in unsere Einzelteile zu zerlegen oder uns für ihre Zwecke gefangen zu halten. Sie haben es auf die magische Kraft unseres Bluts abgesehen, auf unsere panzerartige Haut und unsere Fähigkeit, Edelsteine tief im Erdreich auszumachen. Für sie sind wir keine Lebewesen mit einer Seele oder einem Herz.

Also warum hat Will mich gehen lassen? Sein außergewöhnliches Gesicht hat sich in meine Erinnerung eingebrannt: sein glänzend nasses Haar, der intensive Blick seiner dunklen Augen. Dabei sollte ich eigentlich an Cassian denken – er ist meine Bestimmung. Das habe ich akzeptiert, auch wenn ich sogar das Tageslicht riskiere, um ihm zu entkommen.

Ich warte, bis ich die feuchte Kälte meines Verstecks nicht mehr ertragen kann. Noch immer bin ich auf einen Hinterhalt gefasst und verlasse meine Höhle nur vorsichtig, um mich ins eisige Wasser gleiten zu lassen. Dann klettere ich die zerklüftete Felswand hoch und schlage dabei nach Kräften mit meinem unverletzten Flügel, dessen Flugmembran vor Anstrengung ganz straff gespannt ist und wehtut.

Mit einem letzten Keuchen ziehe ich mich nach oben, wo ich zusammenbreche und das volle, lehmige Aroma des Bodens einatme. Ich schlage meine Klauen in die feuchte Erde. Ein Summen durchfährt meinen Körper und gibt mir neue Kraft. Das Vulkangestein tief unten im Erdreich schnurrt wie eine schlafende Katze. Ich kann es spüren – kann es hören, fühlen und davon zehren.

So fühlt es sich immer an, diese Verbindung zur fruchtbaren, reichen Erde. Das wird meinen Flügel heilen, keine der Arzneien, die die Menschen herstellen. Ich schöpfe meine Kraft aus der pulsierenden, Leben spendenden Erde.

Im Nebel, der sich behutsam an mich schmiegt, liegt der Geruch von Regen. Ich stehe auf, lasse mich einhüllen und laufe dann zurück zum See, wo meine Kleidung und mein Fahrrad auf mich warten. Schwaches Sonnenlicht dringt durch das dichte Geäst über mir, kämpft gegen den Nebel an und taucht meine frierende Haut in rötliche Bronze.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass Az es nach Hause geschafft hat, an eine andere Möglichkeit will ich gar nicht denken. Allerdings wird auch das Rudel inzwischen bemerkt haben, dass ich fort bin, und deshalb lege ich mir in Gedanken schon verschiedene Ausreden zurecht.

Lautlos tapsen meine Füße über den Boden, während ich mir einen Weg durch die Bäume bahne und auf Geräusche achte, die nicht hierher gehören, immer gefasst auf die Rückkehr der Jäger. Aber unter der Furcht versteckt sich auch Hoffnung.

Die Hoffnung, dass ein bestimmter Jäger zurückkommt und mir meine Fragen beantwortet, meine Neugierde stillt … und das eigenartige Kitzeln in meinem Bauch, das sein Flüstern heraufbeschworen hat.

Nach und nach wird mir tatsächlich ein Geräusch bewusst, das die Vögel aus den Bäumen scheucht. Meine Drakihaut fängt an zu prickeln und verändert ihre Farbe von Rot zu Gold, von Gold zu Rot.

Angst durchfährt mich, als das leise Dröhnen von Motoren allmählich näher kommt. Zuerst denke ich, dass es wieder die Jäger sind, die noch nicht aufgegeben haben.

Hat der schöne Junge doch seine Meinung geändert?

Dann höre ich plötzlich meinen Namen.

»Jacinda!« Verzweifelt hallt der Ruf durch das Labyrinth aus riesigen Kiefern.

Ich hebe den Kopf, lege die Hände wie einen Trichter um den Mund und schreie: »Hier bin ich!«

Einen Moment später kommen mehrere Fahrzeuge hart zum Stehen und ich bin umzingelt. Blinzelnd beobachte ich, wie Türen geöffnet und zugeknallt werden.

Mehrere der Älteren treffen ein, die mit griesgrämigen Mienen aus dem sich auflösenden Nebel stürmen. Az sehe ich nicht, aber Cassian ist dabei – ganz wie sein Vater sieht er aus, den Mund zu einer unnachgiebigen Linie gepresst. Eigentlich mag er mich in Drakigestalt sogar lieber als sonst, aber in diesem Augenblick ist von Bewunderung nichts zu spüren. Er kommt ganz nah und baut sich vor mir auf. So benimmt er sich immer – so massig, so männlich … so bedrohlich.

Ganz kurz muss ich an seine warme, starke Hand denken, die gestern während des Flugmanövers nach meiner gegriffen hat. Es wäre so leicht, ihm eine Chance zu geben und einfach nur das zu tun, was jeder von mir erwartet.

Ich kann ihm nicht in die Augen sehen, deshalb betrachte ich seine glänzenden rabenschwarzen Haare. Er beugt sich zu mir herunter und die Haare nahe meiner Schläfe zittern, als er mit seiner rauchigen Stimme sagt: »Du hast mich erschreckt, Jacinda. Ich hab schon geglaubt, ich hätte dich verloren.«

Bei diesen Worten steigt mir die Zornesröte ins Gesicht. Nur weil das Rudel meint, dass wir zusammengehören, muss das noch lange nicht stimmen. Zumindest noch nicht. Zum ungefähr hundertsten Mal wünsche ich mir, nur eine stinknormale Draki zu sein. Nicht der großartige Feuerspeier, an den alle so hohe Erwartungen stellen. Mein Leben wäre so viel einfacher. Und es wäre allein meins. Mein Leben.

Da schiebt sich meine Mutter durch die Gruppe und schubst Cassian zur Seite, als wäre er nur ein Junge und kein gut zwei Meter großer Onyx, der sie mit Leichtigkeit zerquetschen könnte. Sie ist richtig schön, mit den hüpfenden Locken ums Gesicht und den hübschen bernsteinfarbenen Augen, die meinen so ähnlich sind.

Seit Dad tot ist, haben sich schon einige der Männer um sie bemüht, sogar Cassians Vater, Severin. Zum Glück war sie nicht interessiert – an keinem. Es ist schon schwer genug, mit Mum klarzukommen. Auf einen Machodraki, der versucht, den Platz meines Vaters einzunehmen, kann ich ganz gut verzichten.

Jetzt, in diesem Moment, sieht meine Mutter alt aus. Tiefe Falten liegen um ihren Mund. Nicht einmal an dem Tag, an dem man uns erklärt hat, dass Dad nicht wieder heimkommen würde, hab ich sie so gesehen. Und schlagartig wird mir klar, dass ich der Grund dafür bin. In meinem Magen bildet sich ein Knoten.

»Jacinda! Gott sei Dank, du bist am Leben!« Sie schlingt die Arme um mich und ich schreie auf, als sie meinen verletzten Flügel drückt.

Sofort weicht sie zurück. »Was ist passiert?«

»Dafür ist jetzt keine Zeit.« Cassians Vater legt eine Hand auf Mums Schulter und schiebt sie zur Seite, damit er sich genau vor mich stellen kann. Mit seinen fast zwei Metern ist er genauso groß wie Cassian und ich muss mir den Hals verrenken, um zu ihm hochschauen zu können. Er wirft mir eine Decke über den bibbernden Körper und schnauzt mich an. »Verwandle dich zurück, sofort!«

Ich gehorche und verbeiße mir die Schmerzen, als ich meine Flügel in meinen Körper zurückziehe, wobei die Wunde gedehnt wird und meine sich wandelnde Haut noch ein Stück weiter einreißt. Meine Knochen schrumpfen und meine dickere Drachenhaut löst sich auf.

Auch nach der Verwandlung ist die Verletzung noch da, ein tiefer Schnitt in meinem Schulterblatt. Ich spüre, wie mir warmes Blut über den Rücken rinnt, und wickle mich noch fester in die Decke. Mit einem Mal trifft mich die Kälte härter, sie sticht in meine menschliche Haut und ich fange furchtbar an zu zittern. Meine nackten Füße werden ganz taub, so kalt ist mir.

Dann steht Mum neben mir und legt mir eine zweite Decke um. »Was hast du dir bloß dabei gedacht?« Ich hasse diesen Tonfall, so kritisch, so scharf. »Tamra und ich sind fast gestorben vor Sorge. Willst du etwa genauso enden wie dein Vater?« Sie schüttelt hektisch den Kopf und ihre Augen blicken wild entschlossen. »Ich habe schon meinen Ehemann verloren. Ich will nicht auch noch meine Tochter verlieren!«

Mir ist bewusst, dass alle auf eine Entschuldigung warten, aber lieber würde ich Reißnägel schlucken. Genau davor renne ich weg: vor einem Leben, in dem ich für meine Mutter eine ständige Enttäuschung bin, einem Leben, in dem ich mein wahres Ich ersticken muss. Ein Leben voller Regeln, Regeln und noch mehr Regeln!

»Sie hat gegen unser heiligstes Gebot verstoßen«, verkündet Severin.

Ich zucke zusammen. Fliege nur im Schutz der Dunkelheit.

Wahrscheinlich trägt der Umstand, dass ich beinahe von Jägern getötet wurde, nicht unbedingt dazu bei, die Sinnlosigkeit dieser Regel zu beweisen.

»Es steht außer Frage, dass ihr Verhalten Konsequenzen haben muss.« Meine Mutter und Severin tauschen einen Blick, als unter den Versammelten unruhiges Gemurmel ausbricht. Zustimmende Laute. Warnend erwachen meine Drakisinne. Unruhig blicke ich von einem zum anderen – ein Dutzend Gesichter, die ich allesamt seit meiner Geburt kenne. Und nicht ein Freund in der ganzen Bande.

»Nein. Nicht das«, flüstert Mum.

Nicht was?

Sie drückt mich fester an sich und ich lehne mich an sie, brauche jetzt ihren Trost. Urplötzlich ist sie die Einzige, die auf meiner Seite steht.

»Sie ist unser Feuerspeier …«

»Nein! Sie ist meine Tochter«, fährt Mum die anderen an. Und ihr Tonfall erinnert mich daran, dass auch sie eine Draki ist, auch wenn sie das inzwischen verabscheut. Auch wenn sie sich seit Jahren nicht mehr verwandelt hat und es wahrscheinlich gar nicht mehr könnte.

»Es gibt keine andere Möglichkeit«, sagt Severin unnachgiebig.

Ich schneide eine Grimasse, als Mums Finger sich trotz der Decke in meine Haut krallen. »Sie ist doch noch ein Kind. Nein!«

Endlich finde ich meine Stimme wieder und will endlich wissen, was los ist. »Was denn? Wovon redet ihr alle?«

Keiner gibt mir eine Antwort, aber das ist nichts Neues. Jeder – Mum, die Älteren, Severin – tratscht über mich, beratschlagt über meine Zukunft, gibt mir Anweisungen, aber niemals reden sie mit mir.

Mum und Severin starren sich noch immer schweigend an und ich weiß, dass Worte gewechselt werden, obwohl kein Ton über ihre Lippen kommt. Die ganze Zeit über beobachtet mich Cassian mit gierigen Blicken. Ein Zwinkern seiner violett-schwarzen Augen, und die meisten Mädchen würden ihm seufzend zu Füßen liegen, einschließlich meiner Schwester. Vor allem meine Schwester!

»Wir besprechen das später. Jetzt bringe ich sie erst einmal nach Hause.«

Schnell bringt mich Mum zum Auto. Ich werfe einen Blick über die Schulter zu Severin und Cassian, Vater und Sohn, König und Prinz. Seite an Seite sehen sie mir nach und in ihren Augen glimmt der Drang nach Vergeltung – und etwas anderes. Etwas, das ich nicht entziffern kann.

Ein kalter Schauder läuft mir über den Rücken.

4

Zu Hause wartet schon Az auf uns, die unruhig auf der Veranda auf und ab tigert – in zerrissenen Jeans und einem blauen Trägertop, das nicht annähernd so leuchtet wie die meeresfarbenen Strähnen in ihrem dunklen Haar. Als sie uns sieht, steht ihr die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.

Mum parkt und Az rennt uns entgegen durch den Nebel, der die Stadt dank Nidia immerzu einhüllt. Dieser Nebel ist für uns lebensnotwendig. So können uns Flugzeuge, die zufällig in unsere Nähe kommen, nicht entdecken.

Kaum bin ich aus dem Auto gestiegen, fällt mir Az um den Hals und zerdrückt mich fast. Ich wimmere und besorgt tritt sie zurück. »Was ist los, bist du verletzt? Was ist passiert?«

»Gar nichts«, nuschle ich und werfe Mum einen verstohlenen Blick zu. Sie weiß ohnehin schon, dass ich verletzt bin. Kein Grund, sie daran zu erinnern. »Bist du okay?«

Sie nickt. »Ja, ich hab genau gemacht, was du gesagt hast – bin unter Wasser geblieben, bis die Luft rein war, und dann nach Hause geflogen, um Hilfe zu holen.«

Ich kann mich nicht daran erinnern, ihr gesagt zu haben, dass sie Hilfe holen soll. Und ich wünschte, sie hätte es bleiben lassen, aber ich kann ihr wohl kaum übel nehmen, dass sie mich retten wollte.

»Rein mit euch, Mädchen!« Mum scheucht uns ins Haus, sieht uns dabei aber nicht an. Sie blickt über die Schulter zu Jabel, die gegenüber wohnt: Cassians Tante steht auf der Terrasse vor ihrem Haus und beobachtet uns mit verschränkten Armen. In letzter Zeit beobachtet sie uns ziemlich oft. Mum ist davon überzeugt, dass sie Severin über alles, was wir machen, Bericht erstattet. Mit einem knappen Nicken schiebt uns Mum nach drinnen. Früher waren sie und Jabel beste Freundinnen, damals, als ich noch klein war. Vor Dads Tod. Vor allem. Aber heute sprechen sie kaum mehr ein Wort miteinander.

Als wir ins Haus kommen, blickt Tamra von ihrer Müslischale hoch, die sie auf ihrem Schoß balanciert. Im Schneidersitz hockt sie auf der Couch und sieht fern – mit voller Lautstärke dröhnt das Geplapper einer alten Cartoonserie aus den Boxen. Tamra sieht gar nicht so aus, als wäre sie »krank vor Sorge«, wie Mum behauptet hat.

Mum marschiert zum Fernseher und macht den Ton leiser. »Musst du ihn immer so laut stellen, Tamra?«

Tamra zuckt mit den Schultern und wühlt sich auf der Suche nach der Fernbedienung durch die Sofakissen. »Nachdem ich eh nicht mehr schlafen konnte, habe ich versucht, die Sirenen zu übertönen.«

Mir wird irgendwie schlecht. »Sie haben den Alarm ausgelöst?« Das letzte Mal haben die Sirenen geschrillt, als Dad vermisst wurde und das Rudel einen Suchtrupp organisieren musste.

»Oh ja, und ob!« Az nickt und reißt dabei die Augen weit auf. »Severin ist total ausgetickt.«

Endlich findet Tamra die Fernbedienung und stellt den Ton wieder lauter. Dann lässt sie sich in die Kissen zurücksinken und schiebt sich einen großen, tropfenden Löffel Müsli in den Mund. »Überrascht es dich etwa, dass sie deinetwegen einen Suchtrupp zusammengetrommelt haben?« Sie schenkt mir einen genervten Blick. »Streng mal deinen Grips an.«

Zu gerne hätte ich mich verteidigt, aber ich atme tief durch und spare mir die Worte. Ich habe schon ein paarmal probiert, es Tamra zu erklären, aber sie kapiert es nicht. Sie kann Drakiinstinkte nicht verstehen – wie auch?

Mum schaltet den Fernseher aus. Az, die von der angespannten Stimmung nichts mitzukriegen scheint, wedelt mit den Händen in der Luft herum. »Also? Was ist passiert? Wie bist du denen entkommen? Mein Gott, die waren ja wirklich überall! Hast du die riesigen Netzkanonen gesehen?«

Mum sieht aus, als würde sie sich gleich übergeben.

»Ich war mir so sicher, dass du’s nicht schaffst. Ich meine, klar, du bist schnell und du kannst Feuer spucken und alles, aber …«

»Als ob wir das je vergessen könnten«, grummelt Tamra, den Mund voll Müsli, und verdreht übertrieben die Augen.

Tamra hat sich nie verwandelt. Das ist ein zunehmendes Phänomen unter den Drakis und die Älteren, die unsere Spezies so verzweifelt erhalten wollen, sind deswegen in größter Sorge. Allen Genen zum Trotz ist meine Zwillingsschwester, die nur Minuten jünger ist als ich, ein ganz gewöhnlicher Mensch. Und das macht sie verrückt. Und mich auch. Bevor ich mich verwandelt habe, waren wir wirklich unzertrennlich, haben alles miteinander geteilt. Aber jetzt gleichen wir einander nur noch äußerlich.

»Az«, sagt Mum, während sie sich hektisch im Wohnzimmer zu schaffen macht und alle Fensterläden schließt, bis das ganze Zimmer im Halbdunkel liegt, »verabschiede dich jetzt.«

Meine Freundin blinzelt verwirrt. »Verabschieden?«

»Geh jetzt«, wiederholt Mum nun etwas deutlicher.

»Oh.« Az runzelt die Stirn und sieht mich an. »Wollen wir morgen zusammen zur Schule gehen?« Dabei liegt in ihren Augen ein bedeutungsvolles Glitzern, das mir zu verstehen gibt, dass ich sie dann morgen in alles einweihen kann. »Ich werde auch extra früh aufstehen.«

Wir wohnen an entgegengesetzten Enden der Stadt. Unsere Gemeinde ist wie ein riesiges Rad mit acht Speichen aufgebaut. Jede Speiche ist eine Straße und genau in der Mitte, im Zentrum des Rads, liegt das Herz unserer Stadt. Dort sind die Schule und der Bürgersaal. Ich wohne in der Ersten Weststraße. Az wohnt in der Dritten Oststraße. Eine Mauer, an der wilder Wein rankt, verläuft um die ganze Stadt. Man kann also nicht außen herumlaufen, um abzukürzen.

»Klar. Wenn du wirklich so früh aufstehen und rüberkommen willst.«

Sobald Az zur Tür hinaus ist, schließt Mum ab. Soweit ich mich erinnern kann, hat sie das noch nie gemacht. Dann dreht sie sich zu uns um und blickt Tamra und mich eine ganze Weile lang wortlos an. Das einzige Geräusch im Haus kommt von Tamras Löffel, der gegen ihre Schüssel stößt. Mum fährt herum und späht zwischen den hölzernen Fensterläden hindurch, als wolle sie sichergehen, dass Az – oder jemand anderes – nicht vielleicht lauscht.

Als sie sich uns wieder zuwendet, sieht sie sehr ernst aus. »Packt eure Sachen! Wir gehen noch heute Nacht«, sagt sie.

Mein Magen sackt mir in die Kniekehlen, wie er es sonst nur tut, wenn ich beim Fliegen rasant und plötzlich abtauche. »Was?!«

Tamra springt so schnell von der Couch, dass ihre Schüssel mitsamt Milch und Müsli auf den Boden scheppert. Mum schimpft nicht. Sie schenkt der Sauerei auf den Dielen keine Beachtung – und in diesem Moment wird mir klar, dass auf einmal alles anders ist – oder bald sein wird.

»Ist das dein Ernst?« Tamras Augen leuchten regelrecht. Zum ersten Mal seit … na ja, seit ich mich verwandelt habe und klar war, dass sie das niemals tun wird, wirkt sie lebendig. »Sag jetzt bitte, dass du keine Scherze machst!«

»Über so was würde ich nie scherzen. Fangt an zu packen. So viel Kleidung wie möglich – und alles andere, was euch wichtig ist.« Dann sieht Mum mich an. »Wir kommen nicht zurück.«