Der Autor

Conrad Ferdinand Meyer (* 11. Oktober 1825 in Zürich; † 28. November 1898 in Kilchberg bei Zürich) war ein Schweizer Dichter des Realismus, der (insbesondere historische) Novellen, Romane und lyrische Gedichte geschaffen hat. Er gehört mit Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf zu den bedeutendsten deutschsprachigen Schweizer Dichtern des 19. Jahrhunderts.

~ ~ ~

Werke u.a.

Conrad Ferdinand Meyer

ENGELBERG

Eine Dichtung

Ein firnbeglänztes Alpental,
Durchstreift in meiner Jugendzeit,
Stieg vor mir auf mit einemmal
In seiner herben Lieblichkeit,
Mit seinem Himmel tief und rein,
Um düster schroffes Felsgestein,
Mit seinem Himmel tief und rein,
Mit seinen hellen Wasserstürzen -
Ich atmete die Kräuterwürzen!
Was ohne Kunst ich dir erzähle,
Hab ich, o Leser, nicht ersonnen,
Es ist des Alpentales Seele,
Die hier von selbst Gestalt gewonnen.

Frühjahr 1872

I

Einsam und dunkelzackig stand
Des Engelberges schroffe Wand,
Ein wild zerrissen Felsgestein,
Am Morgenhimmel blaß und rein.
Steil senkre manche Schlucht und Rinne
Sich von des Gipfels öder Zinne
Und stieg in breiten, schattgen Falten
Hinunter in der Nebel Walten.

Genüber thronte silbergleich
Der Titlis in der Lüfte Reich.
Leis schwebt ihn an ein Rosenglimmer,
Ihn überfliegt ein Freudeschimmer,
Des Königs blasses Haupt erwacht,
Zu Lebensröten angefacht,
Auf seine Stirne tritt das Blut,
Und immer wärmer strömt die Glut,
Den Purpurmantel nimmt der Greis,
Dann weckt er seiner Diener Kreis,
Und um den hohen frühen Alten
Beleben sich die Berggestalten.
Die dunkel nun zu glühn beginnen,
Das sind des Engelberges Zinnen.

Jetzt aus der Nebel duftgem Wallen
Steigt feierliches Glockenhallen,
Und in des heilgen Tones Kreis
Zerteilen sich die Schleier leis.
Das Kloster in des Tales Grund
Tut seines Abtes Hingang kund.
Es ist das alte Gotteshaus,
Zu dem die Pilgerwege führen,
Seit hier gesiegt im Todesgraus
Der Märtrer Kurd von Seldenbüren,
Und über ihm die Engel sangen
Und immergrüne Palmen schwangen.
Es ruft der Glocken ehrner Mund
Bis morgenhell der Wiesengrund,
Wo stattlich sich die Klöster sonnen,
Eins heilger Mönche, eins der Nonnen.

Aus Bergestannenschatten tritt
Ein Mann mit rüstgem Wanderschritt,
Das schwarze Mönchsgewand geschürzt,
Der querfeldein die Wege kürzt.
Ein fest entschlummert Mägdlein liegt
Blond seiner Schulter angeschmiegt,
Er hält die zarte Last geborgen
Im Priesterkleid mit frommen Sorgen.
Rasch schreitet durch die feuchten Aun
Er hin zum Klostertor der Fraun,
Und vor dem heilgen Zufluchtsorte
Pocht kräftig jetzt er an die Pforte.

Da wird vom kleinen Gitter oben
Gemach das Lädlein weggeschoben,
Und es bescheint das Tageslicht
Ein runzelvolles Angesicht.

Er grüßt: "Gelobt sei Jesus Christ!"
- "In Ewigkeit!" spricht Schwester Marthe,
"Hilar, Ihr kommt zu guter Frist,
Schon seit der ersten Frühe harrte
Ich sehnlich, daß mir Nachricht werde,
Wie unser Gnädger ließ die Erde.
Wohl, dacht ich, wird sich heut erwahren,
Daß singend Engel niederfahren,
Wie's frommen Äbten oft geschehn
Vorzeiten beim Vonhinnengehn.
So gab ich auf das Wunder acht
Und lauschte still die ganze Nacht.
Da hört ich um die Morgenhelle
In meinem eifrigen Gebet
Musik der himmlischen Kapelle,
Vom Engelberge hergeweht."
Jetzt wiegt gedankenvoll Hilar
Das Haupt und spricht: "Du redest wahr!
Was hier dein gläubig Ohr entzückt,
Am Berg ward ichs zu schaun beglückt."
- "Um Gott, Ihr saht den Engelreigen?"
- "Demut gebietet mir zu schweigen."
- "Zu solchem wart Ihr auserwählt?
Gesegneter des Herrn, erzählt!"
- "So höre, kann es dich erbaun,
Was ich gewürdigt ward zu schaun;
Doch kümmerlich nur kann erreichen
Mein armes Wort, was ohnegleichen.
Kurz ehe Tag und Nacht sich scheiden,
Stieg auf ich zu des Rotstocks Weiden,
Allsommerlich muß dort nach alten
Gebräuchen ich die Messe halten,
Und eben klettert ich entlang
Des Engelberges steilen Hang.

Ein Wölklein schwebt' am Firmament,
Als hätt es, eine weiße Locke,
Vom Titlishaupt sich losgetrennt,
Doch immer schneller wuchs die Flocke,
Sie flog im Morgenwind heran
Und dehnte sich zum Wolkenkahn.
Beweglich schienen seine hellen
Durchsichtgen Segel sich zu schwellen,
Es ließen ihn die dienstbereiten
Frühwinde rasch talüber gleiten,
Und wenn ihm eine von den scharfen
Berglüften nah vorüberstrich,
Erschauert' es wie Geisterharfen,
Wie süße Saiten regt' es sich.

Es war die Barke oder Wolke
Gefüllt mit festlich frohem Volke.
Inmitten stand in wehndem Schleier
Die hehre Königin der Feier,
Cäcilia mit sel'gem Schall,
Des Paradieses Nachtigall,
Umringt von edler Knaben Schar;
Und aus dem Nachen hier und dort
Sahn blonde Kinder morgenklar
Mit frohen Augen über Bord.

Jetzt hat der Nachen angelegt,
Wo hoch der Berg die Zinne trägt.
Den Felsengipfel wild gezackt
Betritt die Meisterin im Takt,
Und mit den Flöten, mit den Geigen
Umlagert sie der helle Reigen,
Bereit den Abbas zu begrüßen;
Die Kleinsten saßen ihr zu Füßen,
In ihres Mantels Schutz gehalten,
Und spielten mit den Purpurfalten.

Ich schlich mich klimmend in die Nähe,
Ob ich vernehme, was geschähe.
Andächtig an verborgn m Orte
Hört ich der Heil'gen süße Worte.
Sie sprach:,Sein Stündlein ist gekommen
Dem greisen Engelberger Abt,
Herr Heinrich war vor allen Frommen
Mit Liebe zur Musik begabt,
Der Violine süße Geister
Gehorchten ihm als ihrem Meister.
Sankt Jürg, der flugs vom Leder zieht,
Ist tapfern Rittern ein Behüter,
Ich hege, das ist mein Gebiet,
Melodisch friedliche Gemüter.
Herr Heinrich hat mir frommgemut
Kapell und Altar aufgebaut,

Da steht mein Bild in Rosenglut
Und lächelt hold wie eine Braut.
Sein Klostervolk erzog er sich
Mit Hunger nicht und Geißelstreich,
Er schufs mit sanftem Bogenstrich
Zum heiligsten im deutschen Reich.
Doch nun ist ihm das Blut versiegt,
Ich sehe, daß er sterbend liegt.
Noch möcht er nach dem Bogen greifen,
Doch ist er seiner Hand zu schwer,
Und mit der abgezehrten, steifen
Pflückt auf der Decke Blumen er.
Stimmt an! Daß ihm der Tod nicht bang,
Tun wir ihm Beistand mit Gesang!"
Sie winkt! Ein heller Chor erscholl,
Ein Kinderjubel himmlisch klar,
Der Heil'gen mächtge Stimme quoll
Aus Herzenstiefen wunderbar.
Und, sieh, da kam der Abt gezogen,
Das Antlitz licht und das Gewand,
Und Geige gaben gleich und Bogen
Sie dem Verklärten in die Hand.
Herr Heinrich musizierte leis,
Umgaukelt von dem hellen Kreis.
Wie sich ein Kranz in Eile flicht,
Wie Blume sich an Blume reiht,
Schwebt' Angesicht an Angesicht
In unschuldsvoller Fröhlichkeit;
Und mit verstärkter Macht erscholl
Der Jubelsturm, der Freudechor,
Der Zug bewegt' sich wonnevoll,
Und wiegte sich und schwand empor.

Wie noch ich in Verzückung stand,
Quoll Glockenton aus Talesgründen,
Den Klosterleuten rings im Land
Des frommen Herren Tod zu künden."

Jetzt faltet Marthe froh die Hände
Und spricht: "Fürwahr, ein herrlich Ende!"
Fortfährt Hilar nach kurzem Sinnen:
"Hei, dacht ich, das ging rasch von hinnen!
Wenn sie so keck gen Himmel fahren,
Mich sollt es wundern, ob nicht eines
Zurück blieb aus den hellen Scharen,
Ob nicht verlorenging ein Kleines?
Wo Englein rings an Englein lacht,
Wie hätte man auf jedes acht?
So denkend, schon gewandt zum Gehn,
Fiel ein mir, rückwärts noch zu sehn.
O Wunder! An des Berges Zinnen
Sah wehen ich ein blankes Linnen!
Ich trat heran. Da saß ein Kind,
Mit seinen Locken spielt' der Wind,

Zum Hemdlein war die lichte Schwinge
Gewandelt! Das sind hohe Dinge!
Ein Magdlein schiens. Wie ging das her?
Es ist dem Menschengeist zu schwer!
Die Heil'ge war nicht zu errufen,
So hob ichs in die Arme sacht
Und stieg hinab des Berges Stufen.
Hier ists! Ich hab es dir gebracht."

II

Die Pförtnerin des Klosters stand,