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1. Kapitel. Nesthäkchen lernt Opfer bringen.

Glutheiß war es auf dem Balkon. Trotzdem derselbe auf der Schattenseite lag, fühlte man die sengende Hitze, mit der die Augustsonne die Straßen Berlins einheizte, selbst hier oben.

Ein alter Frauenkopf mit silbernem Scheitel und ein goldblonder Kinderkopf neigten sich über graue Strickarbeit. Emsig klapperten die Nadeln in den Händen der alten Dame, während die Kinderfinger nur widerwillig die dicke Wollarbeit förderten. Immer langsamer bewegten sich die braungebrannten kleinen Hände, und schließlich schleuderte Annemarie den kaum begonnenen Pulswärmer mit jähem Entschluß auf den Steinboden.

»Puh – ich ersticke!« Das seegebräunte runde Kindergesicht, das sich luftschnappend in die Höhe hob, sah nicht weniger rot aus als das feuerrote Musselinkleid, welches das elfjährige Mädchen trug. »Liebstes, einziges Großmuttchen, was sollen denn bloß unsere Soldaten bei dieser dollen Bärenhitze mit den dicken Pulswärmern? Ich glaube, ich kann meine Strickarbeit ruhig bis zum Winter verschieben.« Das kleine Mädchen ließ die Tat dem Wort auf dem Fuß folgen. Ohne sich darum zu kümmern, daß Puck, das kleine weiße Zwerghündchen, an der auf dem Boden liegenden Wollarbeit zu zerren und zu beißen begann, sah sie untätig den lustigen Rauchwölkchen nach, die aus den Schornsteinen Berlins zu dem fahlen Augusthimmel emporwirbelten.

»Herzchen, wenn wir erst zum Winter die Finger zu regen beginnen, müssen unsere armen Truppen in dem kalten Rußland frieren. Jetzt heißt es fleißig sein, solange wir noch Sommer haben, damit bis zum Winter alles fertig ist.« Schneller ließen Großmamas Finger die Stricknadeln klappern, als gelte es, gleich ein ganzes Regiment gegen russische Kälte zu vermummen.

»Aber mir ist doch so doll heiß!« Das Enkelchen warf die frischen Lippen unmutig auf. »Ich muß mich überhaupt erst wieder an die olle Berliner Luft gewöhnen. Wenn man ein ganzes Jahr lang an der Nordsee gewesen ist, wo immer frischer Seewind geweht hat, dann drückt die Stadtluft auf den Kopf, hat Vater gesagt.«

»Nun höre mal, mein Herzchen«, Großmamas gütiges Gesicht wandte sich liebevoll dem hübschen Blondkopf zu. »Glaubst du, daß unsere braven Feldgrauen, die täglich mit Jubel und Begeisterung in den Krieg hinausziehen, nicht auch durch die Augusthitze leiden? Hast du nicht ihren schweren Ranzen gesehen, und meinst du, daß der Helm nicht mehr auf den Kopf drückt als die Großstadtluft? Und doch singen und jubeln die Braven, trotzdem die tagelange Fahrt in den engen, glühenden Eisenbahnwaggons zum Kriegsschauplatz gewiß keine Annehmlichkeit ist. Du hast es ja mit eigenen Augen gesehen, Herzchen, als wir Sonntag abend dem Vater das Geleit zum Bahnhof gaben. Wollen wir Daheimgebliebenen uns von unfern tapferen Kriegern beschämen lassen? Sollten wir nicht auch etwas Unbequemlichkeiten für sie, die ihr Leben für uns hingeben wollen, in den Kauf nehmen und jedes Opfer für sie bringen?« Großmamas liebe, klare Augen sahen ernsthaft in die strahlenden Blauaugen des kleinen Mädchens.

Das mußte den Blick beschämt senken.

»Wenn ich groß wäre, würde ich bestimmt auch Opfer für unser Vaterland bringen«, meinte Annemarie schließlich ungewöhnlich nachdenklich. »Dann würde ich Schwester werden und die Verwundeten pflegen wie Tante Lenchen. Ach, Großmuttchen, wäre das schön! Denk' mal, dann hätte ich mich nicht gleich wieder von Vati, den ich doch ein ganzes Jahr lang nicht gesehen habe, trennen müssen! Mit ihm wäre ich zusammen in den Krieg gezogen – au, fein wäre das!« Die strahlenden Augen der Kleinen blitzten unternehmungslustig.

»Es ist nicht nötig, mein liebes Kind, daß man groß ist und Großes leistet in dieser gewaltigen Zeit der Erhebung Deutschlands. Auch die Kinder können im kleinen Opfer bringen und ihr Scherflein dazu steuern. Nichts ist zu gering, auch das winzigste Steinchen, das man zu dem großen Bau der Kriegsarbeit beiträgt, ist von Wert.« Sprechend wanderte Großmamas Blick zu dem zu Boden geschleuderten Pulswärmer, mit dem sich Puck sachverständig beschäftigte.

Annemarie bückte sich schnell und entriß ihrem vierfüßigen Freund das verhedderte Strickzeug.

»Wenn ich doch wenigstens ein Junge wäre, dann könnte ich ganz anders helfen als hier bloß bei der dummen Strickerei. Wie gut hat's Hans als Pfadfinder! Der kann den ganzen Tag auf dem Bahnhof sein und die durchziehenden Soldaten verpflegen. Das ist tausendmal lustiger, als sich mit den mopsigen Pulswärmern quälen.« Vergeblich bemühte sich die Kleine, wieder Ordnung in die von Puck herabgezerrten Maschen zu bringen.

Großmama mußte sich erbarmen.

»Ich glaube nicht, daß der Hans gar so leichte Arbeit bei seinem Bahnhofsdienst in diesen heißen Augusttagen hat. Müde und erhitzt genug kommt er des Abends heim. Und was das Lustige anbelangt, Herzchen, gerade etwas, was uns schwer fällt, hat doppelten Wert. Unser eigenes kleines Ich und all unsere persönlichen Wünsche müssen wir jetzt hintenan setzen, nur an das Wohl unseres Vaterlandes und seiner braven Verteidiger dürfen wir denken. Sonst ist es kein richtiges Opfer.«

Großmama seufzte unhörbar. Ja, sie selbst hatte all ihr Wünschen in diesen ersten schweren Augusttagen unterdrücken gelernt. Beide Schwiegersöhne hatte sie ins Feld ziehen lassen müssen. Den einen, der Landwirt in Schlesien war, als Reserveoffizier gen Osten und Annemaries Vater, Doktor Braun, als Stabsarzt nach Frankreich zu. Die Sorge um die ins Feld Ziehenden, die teilte sie mit Tausenden von deutschen Müttern, aber eine andere, größere bedrückte Großmamas Herz.

Was war das Schicksal ihrer Tochter Elsbeth, der Mutter Annemaries?

Seitdem nicht nur Frankreich, sondern auch England in schnödester Weise sich zu Deutschlands Feinden geschlagen, hatte die alte Dame keine ruhige Minute mehr. Annemaries Mutter befand sich gerade bei Ausbruch des Krieges zu Besuch bei Verwandten in England. Würde es ihr möglich sein, unbehindert heimzukehren? Oder würde man sie dort als Deutsche festhalten? Das Kind, Doktors Nesthäkchen, ahnte zum Glück nichts von Großmamas Angst und Aufregung. Das stürzte bei jedem Klingelzeichen zur Tür, in der Hoffnung, die Mutter käme zurück. Oder doch wenigstens eine Nachricht von ihr.

Aber auch diese Sorge um die Tochter stellte die alte Dame großherzig den allgemeinen Sorgen um das bedrohte Vaterland hintenan. Ringsum neidische Feinde, wie sollte sich Deutschland bei aller Tapferkeit und Begeisterung da wohl behaupten? Masche um Masche glitt von einer Nadel zur anderen, Gedanke auf Gedanke glitt durch den alten Kopf.

Auch durch den jungen Kopf der kleinen Enkelin zuckten und sprangen die Gedanken, wenn sie auch weniger ernster Natur waren, als dies bei Großmama der Fall war.

Nur schwer fand sich Doktors Nesthäkchen jetzt in diesem Wirrwarr der Geschehnisse zurecht. Es war ja alles so schnell gegangen. Die Flucht aus dem Nordseebad Wittdün, wo sie ein ganzes Jahr im Kinderheim nach überstandener Krankheit zugebracht. Der jähe Wechsel zwischen der Stille des Seebades und dem lauten Kriegstumult in Berlin. Das Wiedersehen nach dem langen Trennungsjahr mit dem geliebten Vater, das nur wenige Stunden währte. Dann winkte er in feldgrauer Uniform seinem Nesthäkchen die letzten Grüße aus dem vollgepfropften Truppenzuge zu, der ein Scherzschild trug: »Durchgehender Wagen nach Paris.«

Auch zu Hause war alles jetzt so ganz anders. Weder Vater noch Mutter daheim, an denen die Kleine mit der ganzen Zärtlichkeit ihres Herzens hing. Oft lief Annemarie zu Muttis Fensterplatz, wie sie das früher stets getan, um ihr ganz etwas Wichtiges mitzuteilen. Aber der war leer. Oder sie glaubte, wenn draußen die Eingangstür ging, Vater käme aus der Praxis heim und wollte ihm wie sonst entgegenspringen.

Brachte sie dem Vaterland denn nicht schon genug Opfer, daß sie ihre Eltern solange entbehren mußte?

Wohl war die gute Großmama zu den drei augenblicklich elternlosen Kindern gezogen und versorgte sie getreulich. Allzusehr fanden die Enkel. Denn die durch die Kriegserklärung erregte alte Dame behielt sie, besonders die beiden jüngsten, Klaus und Annemarie, am liebsten an ihrer Seite. Bei dem wilden Strick Klaus gelang ihr das nur selten, der entwischte einfach der großmütterlichen Aufsicht. Nesthäkchen aber gab sich alle Mühe, der lieben Großmama, die an Ruhe gewöhnt war, ihr Amt nicht noch zu erschweren. Trotzdem dem kleinen Mädchen das durchaus nicht leicht wurde. Denn Annemarie war durch das Jahr an der Nordsee gewöhnt, sich frei in Garten, Strand und Heide umherzutummeln.

Auch von dem Wiederbeisammensein mit den älteren Brüdern, das sie herbeigesehnt, war sie recht enttäuscht. Ihr Lieblingsbruder Hans, der Obersekundaner, war als Pfadfinder ständig unterwegs im Dienst des Vaterlandes. Der hatte jetzt Wichtigeres zu tun, als sich mit seinem kleinen Schwesterchen zu beschäftigen. Und Klaus glänzte ebenfalls oft durch Abwesenheit. Der trieb sich allenthalben herum, wo Truppen ins Feld zogen, wo neue Kriegsdepeschen erschienen, und wo es einen Menschenauflauf gab. Großmama hätte den Schlingel am liebsten wie Puck an die Leine genommen.

Da blieb außer der Großmama nur noch Hanne, die Köchin, zur Gesellschaft für Nesthäkchen, das im Kinderheim stets mit munteren Altersgenossen zusammen gewesen, übrig. Die alte Köchin aber war ganz kopflos durch den Krieg geworden. Die redete von nichts anderem als von den Russen und von Hungersnot.

Wenn bloß erst Margot Thielen, ihre beste Schulfreundin, wieder daheim wäre! Dieselbe wohnte in demselben Hause wie Doktors Nesthäkchen. Von der zehnten Klasse an hatten sie getreulich zusammengehalten. Aber die Fenstervorhänge waren drüben noch immer fest geschlossen: soviel Annemarie auch hinüberäugte, sie wollten sich nicht heben. Wahrscheinlich waren Thielens durch die Militärzüge an der Heimreise von ihrem Ferienaufenthalt behindert worden. Aber zum Schulanfang würde sich Margot, die eine fleißige Schülerin war, doch sicher wieder einstellen. Annemarie sehnte deshalb den Beginn der Schule herbei, trotzdem sie Ferien sonst eigentlich mindestens so gern hatte. Auch auf die übrigen Schulfreundinnen, die sie ein ganzes Jahr lang nicht gesehen, freute sie sich. Großmama hatte im Namen des Vaters an den Direktor geschrieben und Annemarie für die sechste Klasse wieder angemeldet.

Das Strickzeug in den kleinen Händen klebte, so fest preßte sie es zwischen die Finger. Zehn ganze Minuten hatte sie nun schon emsig hintereinander gestrickt, und doch wollte der Pulswärmer gar nicht wachsen. Annemarie warf einen verzweifelten Blick zu der Turmuhr, die sie von ihrem Balkon aus erkennen konnte. Noch fast eine halbe Stunde bis zum Kaffeetrinken. Gerechter Strohsack – konnten die Soldaten wirklich ein solches Opfer von ihr verlangen? Kam denn gar nichts, was sie von dem langweiligen Strickzeug erlöste?

Großmama war in ihrem Korbsessel wohl durch die Hitze ein wenig eingenickt. Sie opferte jetzt sogar ihren Nachmittagsschlaf, um für die Krieger zu arbeiten und gleichzeitig Nesthäkchen zu beaufsichtigen. Na ja, alte Damen stricken eben gern, aber wenn man erst elf Jahre alt ist ...

Ob sie es einfach machen sollte wie Klaus, und sich heimlich davonschleichen?

Ach nee, nee – dann ängstigte sich Großmama nachher, glaubte am Ende, sie sei vom Balkon gestürzt. Das wäre eine schlechte Vergeltung für all ihre treue Fürsorge.

Da – horch – Militärmusik – gleichmäßiges Klappen vieler Füße auf dem Straßenpflaster. Hui – flog das Strickzeug in die Ecke und Nesthäkchen an die Balkonbrüstung.

Aber auch Großmama war emporgeflogen, jäh aus ihrem Nickerchen aufgeschreckt. Jetzt stand sie hinter der Kleinen und hielt das sich weit über das Gitter lehnende Kind angstvoll am Schürzenbande fest.

Mit »Gloria-Viktoria«, mit Schingderassa und Schnetteretteng marschierten wieder neue Regimenter blumengeschmückt dem unweit gelegenen Bahnhofe zu. Ihnen zur Seite Frauen und Kinder, die den Söhnen, Männern und Vätern das Geleit gaben. Früh und spät erschallte jetzt der Sang ausrückender Truppen durch die sonst so stille Straße. Er bildete Nesthäkchens schönste Abwechslung.

Auf einen Schlag waren alle Balkone belebt. Aus allen Fenstern lugten Köpfe, Hände und Tücher winkten den Ausziehenden ein Lebewohl zu.

Auch Nesthäkchen wedelte mit ihrem rotgerandeten Tüchlein, was Zeug hielt – Großmama mußte sich entsetzlich aufregen. Wie leicht konnte das Kind dabei hinunterstürzen! Aber das kümmerte Annemarie nicht. Alle Langeweile war verflogen. Von den Pelargonien und Bethunien des Balkons riß sie sämtliche Blüten, welche die Augustsonne noch hervorgelockt, zu Großmamas Entsetzen ab, und streute sie auf die lachend heraufwinkenden Feldgrauen.

»Kind – Kind – die schönen Blumentöpfe zerstörst du«, vorwurfsvoll gebot Großmama Einhalt.

»Für unsere Krieger müssen wir Daheimbleibenden Opfer bringen«, meinte die Kleine eifrig mit denselben Worten, welche die alte Dame vor kurzem ihr selbst ans Herz gelegt hatte.

Da mußte Großmama über das drollige Mädel lächeln. Doch das Lächeln erstarb ihr auf den Lippen – »mein Tuch – mein Taschentuch – – –« bei einem Haar wäre Nesthäkchen ihrem davonflatternden Tüchlein hinterdrein auf die Straße gestürzt.

»Ich bin gleich wieder oben«, ehe Großmama den Wildfang zurückhalten konnte, war er schon die Treppen hinunter.

Einer der Feldgrauen hatte das rotrandige Tüchlein lachend auf sein Gewehr gespießt, wie eine Fahne wehte es.

Annemarie, die in Wittdün stets ohne Hut und Mantel auf die Straße gegangen, lief auch hier in Berlin, wie sie ging und stand, hinter ihrem flatternden Taschentuch her. Es war schwer, sich bei der Musik verständlich zu machen, oder wollte der Soldat aus Scherz ihre Bitte um das Tuch nicht verstehen? Ausgelassen marschierte sie neben dem »Fahnenträger« her und fiel mit heller Stimme in den Soldatensang ein:

»Die Vöglein im Walde,
Die singen so wunder–wunderschön,
In der Heimat, in der Heimat,
Da gibt's ein Wiedersehn.«

Herzklopfend sah Großmama den winzigen roten Punkt unter all dem Staubgrau sich weiter und weiter entfernen. Du Grundgütiger, kam denn das Kind nicht wieder?

Da endlich am Ende der langen Straße, ehe die graue Menschenschlange um die Ecke bog, erhielt Nesthäkchen ihr Eigentum zurück. In großen Sätzen sprang es wieder dem elterlichen Hause zu.

So – das war eine Aufmunterung zur rechten Zeit gewesen. Ordentlich erfrischt fühlte sich Annemarie nach dem kleinen Ausflug.

Großmama war anderer Ansicht.

»Kind – Kind – wie habe ich mich wieder um dich gebangt – und dann ohne Hut, mit der Schürze bist du auf die Straße gelaufen, das tut ein wohlerzogenes kleines Mädchen doch nicht.« Die gute Großmama pflegte niemals böse auf ihren Liebling zu sein, um so mehr Eindruck machten heute ihre Worte.

»Ach Großmuttchen, wenn du dich immerzu um uns sorgst, wirst du ja deines Lebens gar nicht froh hier bei uns. Vielleicht kannst du dich lieber immer erst hinterher ängstigen, weil du es doch so oft umsonst tust«, schlug die Kleine teilnehmend vor.

Dann aber griff sie von selbst wieder nach ihrem Strickzeug. Die Krieger, die so freudig in den Kampf hinauszogen, sollten nicht frieren. Vielleicht bekam gerade der nette Soldat, der ihr das Taschentuch wiedergegeben, die Pulswärmer. Nesthäkchen quälte sich mit dem dicken Wollzeug, daß Schweißtropfen auf die gebräunte Kinderstirn traten. Es sah nicht auf, bis Hanne mit der Kaffeekanne erschien und Großmama ihr liebkosend über das Blondhaar fuhr: »So, für heute wollen wir es genug sein lassen, Herzchen.«

»Hurra – für heute habe ich genug Opfer gebracht!« Nesthäkchen jubelte so laut los, daß ein kecker Spatz, der sich bis auf die Balkonbrüstung gewagt hatte, erschreckt aufflatterte.

10. Kapitel. Vera.

Es regnete von morgens bis abends, tagelang, unaufhörlich. Echter, rechter Novemberregen. Die Straßen Berlins lagen blankgewaschen da, die Menschen hasteten, so schnell wie möglich wieder unter Dach zu kommen. Aber das Regengrau vermochte die siegesfreudige Stimmung der Bevölkerung nicht davonzuspülen. Keiner dachte an sich, wenn er bis auf die Haut durchnäßt heimkam, nur an die draußen.

»Unsere armen Soldaten im Schützengraben!« so seufzte fast ein jeder, wenn er in das ungemütliche Wetter hinausblickte. Und legte man sich des Abends in sein warmes Bett, während der Regen gegen das Fensterblech trommelte, dann gönnte man es sich nicht, daß man es so gut hatte, während die tapferen Verteidiger in den feuchten Erdhöhlen lagen.

Selbst Doktors Nesthäkchen kamen jetzt solche Gedanken, wenn sie sich in ihrer hübschen Kinderstube abends zur Ruhe legte. Es dachte dabei nicht nur an seinen Vater und an Onkel Heinrich, sondern an die vielen Tausende, die draußen freudig alle Entbehrungen auf sich nahmen.

Nesthäkchen war in diesen grauen Regentagen mit seinem Frohsinn wieder mal der Sonnenschein des Hauses. Wie notwendig brauchte Großmama denselben. Woran lag es nur, daß ihre Tochter Elsbeth nicht schrieb? Es kamen doch Briefe aus England herüber, bekannte Familien hatten welche erhalten. Warum schrieb nur sie nicht? Auch die Abreise war in den ersten Tagen nach Ausbruch des Krieges deutschen Frauen noch gestattet worden. Aus welchem Grunde war sie dort geblieben, wo es sie in dieser Zeit doch sicher doppelt heimgetrieben? Großmama zerbrach sich ihren alten, weißhaarigen Kops und auch die Kinder ihren jungen. Nur daß es bei der Jugend nicht so nachhaltig war wie beim Alter.

Annemarie hatte auch jetzt eine große Menge anderes zu denken. Ihre Schule war aufs neue verlegt worden. Diesmal nach dem Norden der Stadt. Das war für die meisten Schülerinnen, wie für die Lehrer, die im Westen Berlins wohnten, recht unbequem. Aber fürs Vaterland stand man sogar gern eine Stunde früher auf. Soviel Zeit mußte auf den weiten Schulweg gerechnet werden.

Ganz dunkel war es des Morgens noch, wenn die beiden Freundinnen Margot und Annemarie sich auf den Schulweg machten. Hin und wieder brannten an den trüben Regentagen sogar noch die Gaslaternen auf der Straße. Eigentlich hätten sie eine halbe Stunde später aufbrechen können, denn sie bekamen von Hause jede zwanzig Pfennige zur Hin- und Rückfahrt mit der elektrischen Bahn. Doch die beiden kleinen Mädchen zogen es vor, bei dem schauderhaften Regenwetter zu Fuß zu gehen – die gesparten Groschen aber wanderten in die Schulkasse für die Weihnachtslazarettbescherung.

Fräulein mußte es natürlich auffallen, daß Annemarie zeitiger als notwendig von Hause fortging, und daß sie so spät heimkam. Auch daß ihr Lodenmantel triefte, war merkwürdig, da sie eigentlich die ganze Strecke fahren konnte.

Natürlich forschte Fräulein der Ursache nach, und die ehrliche Annemarie erzählte wahrheitsgemäß, wo ihre Fahrgroschen blieben.

»Aber nicht wahr, liebes Fräulein, du verbietest es mir nicht? Unsere Krieger ertragen mehr als das bißchen Regen für uns.«

Fräulein war nicht ihrer Meinung. »Ihr könnt euch auf den Tod erkälten, Annemiechen, wenn ihr mit feuchten Strümpfen und in den nassen Sachen den ganzen Vormittag in der Schule sitzt. Es genügt, wenn ihr bei trockenem Wetter den Groschen für die Verwundeten spart.« Dabei blieb es, trotz Nesthäkchens Bitten. Auch Margots Mutter hatte zum Glück die feuchten Wanderungen untersagt, so machten die Freundinnen nach wie vor den Schulweg gemeinsam.

Nicht nur die Gegend und das Gebäude, es hatte sich auch vieles andere in der Schule geändert. Von den jüngeren Lehrern waren jetzt fast alle einberufen, überall wurden Lehrerinnen statt ihrer angestellt. Zwei der Lehrer waren bereits gefallen, das hatten die Schulkinder tief empfunden. Da war wohl keins, das ein ganz reines Gewissen besaß, daß es nicht mal Unsinn in den Stunden getrieben oder die Lehrer nicht zufriedengestellt hatte. Wie gern hätte man jetzt, da es zu spät war, gut gemacht.

Aber auch der Schülerinnenkreis hatte manche Veränderung erfahren. Ostpreußenkinder, die mit ihren Eltern die Heimat verlassen mußten, waren eingeschult worden, manche auf Monate, manche nur auf Wochen. Aus Deutsch-Rußland und Polen waren viele deutsche Familien ausgewiesen oder geflüchtet, die ihre Kinder nun in Berlin in die Schule schickten.

Auch in die sechste Klasse war ein kleines Mädchen aus Czernowitz eingeschult worden. Es hieß Vera Burkhard und sprach, trotzdem der Vater Deutscher war, fast nur Polnisch. Ein bildhübsches Kind war es, mit langen, schwarzen Locken, zartem Gesichtchen und ängstlichen, blauen Augen. Das arme Ding kam sich ganz verlassen unter all den fremden Kindern vor. Von ihrer Sprache verstand es nur das Wenigste. Auch was die Lehrerinnen in der Stunde sagten, vermochte die kleine Vera nicht zu erfassen. Meistens saß sie gelangweilt während des Unterrichtes dabei, oder sie trieb inzwischen etwas anderes. Statt mitzuschreiben, malte sie Püppchen und Tiere auf ihr Löschblatt. Die Lehrerinnen konnten sie nicht mal tadeln, denn die Kleine verstand sie ja nicht.

Am schlimmsten aber erging es der kleinen Fremden in den Zwischenpausen. Wenn die andern Schülerinnen zusammen kicherten und lachten, wenn sie innig umschlungen oder zur langen Reihe eingehakt auf dem Schulhof auf und ab spazierten, dann stand Vera mit sehnsüchtigen Augen irgendwo allein in einer Ecke. Keins ging mit ihr von all den vielen Mädchen, keins forderte sie auf, an den lustigen Spielen im Hof teilzunehmen.

Wie kam es denn bloß, daß die kleine Vera so vereinsamt war, daß sich alle Kinder geflissentlich von ihr zurückhielten? Sie hatten doch sonst weiche, warme Herzen, die empfänglich waren für fremdes Unglück. Und Vera war doch eine kleine Heimatlose wie all die anderen, die vor den russischen Kosaken geflüchtet!

Gleich am ersten Tage war es gewesen. Da hatten Margot und Annemarie das fremde, kleine Mädchen, mit dem sie Mitleid hatten, aufgefordert, mit ihnen in der Pause zu gehen. Die Verständigung war auf die einfachste Art und Weise erfolgt. Von einer Seite hatte Annemarie, von der andern Margot den Arm der schwarzlockigen Vera durch den ihren gezogen, und dann hatten sie sich gegenseitig angelacht. Auch weiter wäre alles gut gegangen. Margot strich über das nette, grünschottische Kleid der neuen Freundin, zum Zeichen, daß es ihr gefiel, und Annemarie steckte ihr die Hälfte von der Schokolade, welche die gute Großmama ihr in die Frühstücksbüchse gelegt hatte, in den Mund. Dann sprachen die beiden Freundinnen Deutsch und Vera Polnisch. Natürlich verstanden sie sich nicht. Das war aber auch gar nicht nötig. Denn sie lachten sich halbtot über das Kauderwelsch.

Da kamen zwei große Mädchen aus der ersten Klasse, die ihr Haar schon aufgesteckt trugen, vorbei.

»Pfui, die gehen ja mit unseren Feinden Arm in Arm«, sagten sie ganz laut, als sie die fremde Sprache der Kleinen vernahmen.

Annemarie ließ erschreckt Veras Arm los. Gehörte diese wirklich zu Deutschlands Feinden? In Annemaries Köpfchen war ebensowenig Ordnung, wie öfters in ihren Schubladen. Russen und Polen waren darin lustig durcheinandergewirbelt, sie vermochte sie nicht auseinanderzuhalten. Nein, daß sie auch nicht eher daran gedacht hatte! Wie schämte sich Annemarie, daß sie so ehrvergessend gewesen und mit der Polnisch sprechenden Vera Arm in Arm gegangen. Ein deutsches Mädchen war so wenig patriotisch!

Zum Glück war die Zwischenpause gerade zu Ende, so daß Vera vorläufig nichts von den verwandelten Gefühlen ihrer neuen Freundin ahnte.

»Sie ist doch polnisch und nicht russisch!« hatte Margot einzuwenden gewagt, als Annemarie, über und über errötend, ihr zuflüsterte, daß sie nie mehr mit der Vera Burkhard gehen dürften, da es ein Verrat am Vaterlande wäre!

»Das ist ja ganz dasselbe – spricht sie Deutsch? Na also! Alles, was nicht Deutsch spricht, gehört zu unseren Feinden«, stellte das dumme, kleine Mädel fest.

Margot wußte zwar als gute Schülerin ganz genau, daß Polen nicht dasselbe war wie Rußland. Aber sie war in ihrer sanften Art gewöhnt, sich der lebhaften Freundin unterzuordnen. Und Vera sprach doch wirklich nicht Deutsch!

Das war aber noch nicht alles. In der nächsten Stunde ging heimlich unter dem Tisch ein Zettel von Hand zu Hand. Nur zu der kleinen Fremden kam er nicht. Darauf stand: »Wer mit Vera Burkhard in den Pausen geht oder überhaupt mit ihr spricht, verrät sein Vaterland!«

Das wollte keine. Jedes der Kinder wollte so patriotisch wie nur irgend möglich sein. Trotzdem sich die meisten zu der hübschen, fremdartigen Vera hingezogen fühlten – denn alles Neue zieht Kinder an – nahmen sie sich fest vor, sie links liegen zu lassen. Kam doch der Zettel von Annemarie Braun, die stets tonangebend in der Klasse war. Und außerdem war sie Vertrauensschülerin und Kassiererin des Junghelferinnenbundes – nein, Annemaries Zettel mußte Folge geleistet werden, wenn man nicht vor der ganzen Klasse als Vaterlandsverräterin gelten wollte.

So wagten auch die, welche Mitleid mit dem verlassenen, kleinen Mädchen hatten, es nicht, freundlich gegen dasselbe zu sein. Vera war plötzlich ausgestoßen aus der Klassengemeinschaft.

Die, welche das alles verursacht hatte, Doktors Nesthäkchen, ahnte gar nicht, was für ein Unrecht es damit getan. Im Gegenteil – Annemarie war noch äußerst stolz darauf, ihre Klasse vor einem Vaterlandsverrat errettet zu haben.

In der nächsten großen Pause, nachdem jener verhängnisvolle Zettel die Runde gemacht hatte, stellte sich Vera mit freundschaftlicher Selbstverständlichkeit wieder bei Margot und Annemarie ein. Ihnen aus ihren schönen, tiefblauen Augen zulächelnd, wollte sie, wie in der vorigen Pause, ihren Arm in den der neuen Freundinnen schieben.

Margot ließ es in ihrer bescheidenen Art mit puterrotem Gesicht über sich ergehen, sie wagte keine Abweisung. Die temperamentvolle Annemarie aber riß sich mit blitzenden Augen los und rief so laut, daß es die ganze Klasse hören konnte: »Mit dir gehen wir nicht, du alte Feindin!«

Damit zog sie auch Margot schnell fort.

Diejenige, an welche die häßlichen Worte sich richteten, war die einzige, die sie nicht verstanden hatte! Aber daß das blonde, kleine Mädchen nichts Freundliches gesagt, das hatte Vera aus dem Ton der Stimme herausgehört. Auch die Art, wie sich Annemarie von ihr losgemacht, war so verletzend gewesen, daß jeder die Abweisung verstehen konnte, auch wenn er nicht Deutsch sprach. Dazu kamen die spöttischen Mienen der andern Kinder, denen Annemarie es deutlich gezeigt hatte, wie man sich seiner »Feinde« erwehren mußte.

So stand die arme Vera von nun an einsam und verlassen in allen Pausen abseits von der fröhlichen Gemeinschaft der andern. Mit sehnsüchtigen Augen blickte sie auf das muntere Treiben, auf die lustigen Spiele, von denen man sie ausschloß.

Sie zerbrach sich den Kopf, was sie der hübschen Annemarie, die ihr von all den Kindern am besten gefiel, bloß zuleide getan habe, daß sie plötzlich so unfreundlich zu ihr war. Vielleicht hatte sie irgend etwas mißverstanden, da sie doch nur so wenig Deutsch konnte. Auf jeden Fall wollte sie es noch mal versuchen, sie freundlicher zu stimmen.

Als Vera einige Tage darauf von ihrer Tante, bei der sie jetzt wohnte, einen besonders schönen Apfel mit in die Schule brachte, faßte sie schweren Herzens den Entschluß, sich von demselben zu trennen und ihn Annemarie zu schenken. Sicher würde sie dann wieder mit ihr gut werden.

»Da,« sagte sie, als Annemarie Braun an ihr vorüberging und mit ihrem Blick ein Loch in die Luft bohrte, nur um Vera nicht sehen zu müssen, »da – biete, nemmen Sie«, soviel hatte die Kleine inzwischen schon von der deutschen Sprache gelernt. Damit hielt Vera ihr den herrlichen, rotbackigen Apfel an den Mund.

Aber Annemarie stieß ihn so unsanft zur Seite, daß er der Kinderhand entsprang und unter den Klassenschrank rollte.

»Von dir nehme ich nichts geschenkt!« rief sie verächtlich.

Vera schossen die Tränen in die Augen, während sie sich bückte, um ihren Apfel aufzuheben. Die prächtige Frucht, über die sie sich so gefreut, schmeckte ihr jetzt gar nicht.

»Ich gehe nicht mehr in die Schule«, erklärte Vera zu Hause bei der Tante nach dieser schroffen Abweisung weinend. Trotzdem sie Deutsch sprechen sollte, gebrauchte sie, wenn sie erregt war, nur die polnische Sprache. Ihr Vater war meist auf Reisen gewesen, und die Dienstboten, denen Vera überlassen war, sprachen nur Polnisch.

Die Tante, eine Schwester ihres Vaters, verstand Polnisch. Sie war vor ihrer Verheiratung viel in Czernowitz im Hause ihres Bruders gewesen, da Veras Mutter, eine Polin, früh gestorben war. »Warum denn nur, Herzchen?« fragte sie ganz erstaunt.

»Die Kinder sind so häßlich zu mir – keins will mit mir gehen – ich will wieder nach Czernowitz zu meinen Freundinnen!« weinte die Kleine schmerzlich.

»Sprich Deutsch, Vera!« mahnte die Tante. »Wenn du stets nur Polnisch redest, verstehen dich die Kinder in der Schule nicht. Dann ist es erklärlich, daß sie nicht mit dir gehen mögen. Je schneller du Deutsch lernst, um so rascher wirst du dich mit ihnen anfreunden.« So tröstete die Tante.

War das wirklich nur der einzige Grund? Aber Annemarie und Margot waren doch in der ersten Pause, wo sie sich ebensowenig verständigt hatten, so nett mit ihr gewesen.

Auch ihr Vater, der als Freiwilliger gegen die Russen bei Augustow kämpfte, antwortete seinem Töchterchen auf ihren Klagebrief, sie müsse möglichst schnell die Sprache der Kinder erlernen, dann würde es sicherlich besser mit dem Verkehr werden. Nun gab sich Vera grenzenlose Mühe, sich die schwere deutsche Sprache zu eigen zu machen.

»Ist es nicht unrecht von uns, daß wir uns so abscheulich gegen Vera Burkhard benehmen?« sagte eines Tages Ilse Hermann zu ihrer Freundin Marlene Ulrich zweifelnd. »Sie kann doch eigentlich nichts dafür, daß ihre Mutter Polin war! Und ihr Vater soll ja Deutscher sein!«

Auch Marlene hatte schon Ähnliches gedacht. »Wollen wir sie auffordern, mit uns zu gehen?«

»Nee, dann ist Annemarie mit uns schuß, und alle Kinder halten uns für unpatriotisch!« Die gute Regung in den Herzen der beiden kleinen Mädchen wurde durch falsche Scham wieder erstickt.

Annemarie Braun trieb es am schlimmsten mit ihrer Feindschaft gegen die »Polnische«. Diesen Spitznamen hatten die bösen Mädel Vera angehängt. Sie fühlte die Verpflichtung, den andern mit »gutem Beispiel« voranzugehen.

Heute regnete es vom Himmel, was nur herunter wollte. Annemarie hatte keinen Schirm. Jeden Tag vergaß sie in ihrer Unbedachtsamkeit irgendwas anderes. Mal den Federkasten oder ein Heft, mal das Frühstück oder die Gummischuhe. Heute war es zur Abwechslung der Regenschirm. Sie hatte es zwar gleich morgens früh unten auf der Straße gemerkt, aber war in ihrer Sorglosigkeit nicht noch mal umgekehrt. Sie ging ja mit Margot Thielen, die hatte sicher einen Schirm, die vergaß nichts. Die nahm sie gern mit unter ihr Regendach, das war auch viel gemütlicher.

Nun mußte sich Margot aber unglücklicherweise gerade heute von der Schule aus mit ihrer Mutter treffen, die für ihr Töchterchen einen Wintermantel besorgen wollte.

»Bis mittags kann es lange aufhören zu regnen«, tröstete sich Annemarie.

Es hörte aber nicht auf, im Gegenteil, es regnete »kleine Schusterjungs«, wie der Berliner zu sagen pflegt.

Selbst Doktors Nesthäkchen, dem solche kleine Dusche nichts weiter auszumachen pflegte, war das ein bißchen zu toll. Es lief, so schnell es nur konnte, möglichst an den Hausmauern entlang, an denen die Balkone etwas Schutz gaben, zur Bahnhaltestelle.

Da hörte sie einen eiligen Schritt hinter sich, es hörte sich an, als ob jemand sie einholen wollte.

Annemarie wandte den Kopf. Ein Schulkind kam mit einem Regenschirm hinter ihr hergejagt. Der Schirm verbarg das Gesicht der Betreffenden. Annemarie blieb jedenfalls stehen und ließ das Mädchen näher kommen. Vielleicht war es aus ihrer Klasse, oder sie kannte es, daß sie es bitten konnte, sie bis zur Haltestelle mit unter ihren Schirm zu nehmen.

Der eilig laufende Regenschirm kam heran – ein zartgerötetes, feines Gesichtchen, von feuchten, schwarzen Locken umrahmt, ward unter braunem Ledersüdwester sichtbar – es war die »Polnische«.

Annemarie drehte ihr stracks den Rücken und hastete weiter in dem Regengepladder. Was fiel denn der ein, ihr nachzulaufen?

Trotz Annemaries Eile blieb ihr Vera dicht auf den Fersen, jetzt hatte sie den triefenden Blondkopf erreicht, nun lief sie dicht neben ihm her.

»Komm biete unterr meine Schirrm«, Vera hatte in kurzer Zeit durch ihren Fleiß erstaunliche Fortschritte im Deutschen gemacht. Nur das schnarrende Er konnte sie sich nicht abgewöhnen. Deswegen wurde sie von den Mitschülerinnen oft verlacht.

Solche Dreistigkeit! Annemaries Augen blitzten vor Empörung.

»Mit dir gehe ich nicht unter einen Schirm, du – Polnische!« Da hatte sie doch tatsächlich dem armen Kind den Spitznamen an den Kopf geworfen.

Vera hatte zum Glück trotz ihrer Fortschritte im Deutschen die ganze Verachtung, die in diesen Worten lag, nicht begriffen. Nur soviel hatte sie verstanden, daß Annemarie Braun nicht mit ihr zusammen unter dem Schirm gehen wollte.

»Nemmen du ihm – ich haben Gummimantel, nicht werden serr naß«, damit hielt das gutherzige, kleine Mädel ihrer Feindin den eigenen Regenschirm hin.

Das Blut schoß Doktors Nesthäkchen ins Gesicht. Aber das war nicht mehr die Röte der Empörung, das war peinlichstes Schamgefühl. Zum erstenmal kam Annemarie ihre ganze Schlechtigkeit der »Polnischen« gegenüber zum Bewußtsein. Und zum Lohn dafür bot ihr Vera ihren eigenen Regenschirm an, wollte sie statt ihrer bei dem furchtbaren Regen naß werden!

Stumm schüttelte Annemarie den Blondkopf, sie brachte kein Wort, weder ein freundliches, noch ein unfreundliches über die Lippen. Dann lief sie, was sie nur konnte, davon zur Haltestelle.

Vera folgte langsam mit wehem Herzen.

Als die Elektrische endlich kam, war auch Vera am Halteplatz angelangt. Sie wohnte ebenfalls in Charlottenburg und fuhr täglich die weite Strecke.

Annemarie und Margot hatten es stets einzurichten gewußt, daß sie nie dieselbe Bahn mit der »Polnischen« benutzten. Heute stieg Vera hinter Annemarie ein.

Diese machte ein bitterböses Gesicht. Das galt aber eigentlich gar nicht Vera, sondern entsprang dem quälenden Gefühl, daß ihre Feindin, gegen die sie die ganze Klasse aufgehetzt, tausendmal besser war als sie selbst.

Die Bahn war überfüllt.

»Geht bis hinten an die Tür, Kinder«, sagte die Schaffnerin.

An Stelle der im Felde weilenden Männer taten jetzt fast in allen Bahnen Frauen den Dienst.

Da standen nun die beiden Feindinnen dicht nebeneinander in der überfüllten Bahn. Bei jeder Biegung, bei jedem Schleudern des Wagens flogen sie aneinander – beiden gleich unangenehm.

Annemarie hatte ihr Fahrgeld bezahlt. Auch Vera zog ihr Geldtäschchen hervor.

»Ich – ich haben nurr fünf Pfenniger«, stotterte sie, ängstlich in ihrem Täschchen herumsuchend – mußte sie nun aussteigen?

»Deine kleine Schulfreundin kann ja mal für dich auslegen«, meinte die Schaffnerin.

Vera sah Annemarie mit ihren schönen Augen bittend an.

Aber die kleine »Freundin« tat, als ginge sie die ganze Sache nichts an. Unentwegt blickte sie zur Seite durch die bespritzte Scheibe, durch die man vor lauter Regengrau nichts sah.

Dabei spiegelte sich in Annemaries offenem Kindergesicht ein lebhafter Kampf wider. Sie hatte genügend Geld bei sich, sollte sie Vera, die ihr den eigenen Regenschirm geben wollte, nicht die fehlenden fünf Pfennige leihen? Wollte sie wirklich zulassen, daß sie bei dem scheußlichen Wetter aussteigen und zu Fuß gehen mußte?

Aber der »Polnischen« zu Hilfe kommen – nein, das durfte kein deutsches Mädchen tun! Das Gute in Annemaries Herzen, das beinahe schon die Oberhand gewonnen, verkroch sich wieder vor ihrer falschen Vaterlandsliebe.