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1. Kapitel. In den Flegeljahren.

»Hurra – versetzt!« schallte eine laute Jungenstimme durch das stille Haus. Die Tür zum Wohnzimmer, in dem Frau Professor Winter schreibend saß, wurde ungestüm aufgerissen und blieb sperrangelweit hinter dem Hereinstürmenden offen.

»Hurra – versetzt!« kam das Echo eine Sekunde später von einer hellen Mädchenstimme. Ein schlankes, vierzehnjähriges Mädel eilte freudestrahlend hinter dem Bruder her.

»Hier stelle ich dir zwei frischgebackene, nagelneue Untersekundaner vor, Mutti«, trompetete die Jungenstimme wieder. Sie klang drollig, diese Knabenstimme. Manchmal hatte sie tiefe Baßtöne und dann wieder hell quiekende. Der Besitzer derselben befand sich in dem Alter des Stimmwechsels.

»Wirklich – alle beide in die Untersekunda versetzt?« Erfreut schüttelte die Mutter dem Sohne die Hand, klopfte anerkennend die von der freudigen Erregung glühende Wange ihres Mädels. »Hab's eigentlich auch nicht anders von meinen Zwillingen erwartet. Wer an seinem Vater ein solches leuchtendes Beispiel der Pflichterfüllung und des ständigen Weiterstrebens hat, der kann ja eigentlich gar nicht aus der Art schlagen.«

»Sage das nicht, Mutti«, meinte der Sohn mit hochgezogenen Augenbrauen, was seinem noch kindlichen Knabengesicht etwas Altkluges gab. »Der Junge von Professor Bart ist in der Obertertia klebengeblieben. Sechs Stück, gerade ein halbes Dutzend, haben sie nicht mit hinübergelassen.«

»Bei uns sind alle versetzt – Mädchen sind eben fleißiger als Jungs!« frohlockte die Schwester.

»Das wollen wir mal erst durch die Zensur feststellen, mein liebes Kind.« Trotzdem Herbert und Suse an demselben Tage das Licht der Welt erblickt hatten, spielte sich der Zwillingsbruder doch immer als der Klügere und überlegenere auf. Das war von klein auf so gewesen. Herbert tat sich stets vor der bescheideneren Suse hervor.

»Die Hauptsache ist, daß man versetzt ist, nicht wahr, Mutti?« Suse holte ein wenig umständlich ihr Zeugnis hervor.

»Aha, da stimmt was nicht«, meinte der Bruder und setzte sich die Brille, die die Mutter beim Schreiben trug und die sie neben sich gelegt hatte, auf die Nasenspitze.

»Dummer Junge, gib her!« Ungestüm riß die Suse dem Bruder, der das Zeugnis mit der Miene eines strengen Kritikers zu studieren begann, den Bogen aus der Hand.

Ritsch – ratsch – jeder der Zwillinge hielt eine Hälfte des wichtigen Dokumentes, auf dem bekundet wurde, daß Suse Winter in die Untersekunda versetzt sei, zwischen den Fingern.

»Mutti – Mutti – der Herbert hat mir meine Zensur zerrissen – was mache ich denn nun bloß?« Suse brach trotz ihrer Sekundanerwürde in Tränen aus.

»Mußte in der Obertertia bleiben«, stellte Herbert mit Gemütsruhe fest. »Natürlich, ein Mangelhaft auf der Zensur und hier im Mündlichen noch nicht völlig genügend. Wahrscheinlich in Mathematik, was?« Herbert hielt die Prädikate, Suse die Lehrfächer in der Hand.

»Geht dich nichts an!« schluchzte Suse in ihrem Schmerz über die zerrissene Zensur.

Der Mutter freundliche Züge waren ernst geworden. »Ja, Kinder, müßt ihr mir denn durchaus die Freude an eurem Erfolg zerstören?« sagte sie vorwurfsvoll.

»Ich kann nichts dafür, Muttichen, der Herbert – – –«

»Backfische sind die unausstehlichsten Geschöpfe in der Zoologie«, bemerkte der Junge sachlich. »Wenn man sie nur schief anguckt, heulen sie schon.«

»Und Jungs in den Flegeljahren sind frech und rücksichtslos. Vater hat das neulich erst gesagt«, verteidigte sich Suse, immer noch weinend.

»Hach – ein Untersekundaner heult wie ein Schloßhund!« Herbert ging wieder zum Angriff über, da ihm die Erinnerung an den Ausspruch des Vaters nicht gerade angenehm war.

»So, Kinder, jetzt verlaßt ihr beide mein Zimmer. Wenn ihr zur Einsicht gekommen seid, wie wenig nett ihr euch benommen habt, könnt ihr euch wieder bei mir melden.« Das klang sehr ernst und bestimmt. Frau Professor Winter wandte sich wieder ihren Schreibereien zu.

»Und – und unsere Zeugnisse?« schluchzte Suse.

»Du hast ja noch gar nicht unsere Zensuren angesehen, Mutti«, begehrte der Junge aus.

»Mir ist die Lust dazu vergangen – später.« Die Mutter war jetzt nicht mehr für ihre Zwillinge zu sprechen.

Suse schlich sich schuldbewußt aus dem Zimmer. Herbert schmetterte vor Ärger, daß sein gutes Zeugnis gar keine Beachtung gefunden hatte, rücksichtslos die Tür ins Schloß.

»Schließe die Tür leise und anständig, wie sich's gehört«, klang die Stimme der Mutter hinter ihm her.

Brummend kam der Sohn der Aufforderung nach. Offensichtliche Widersetzlichkeit wagte Herbert doch nicht.

Im Hausflur sprang Bubi, Herberts Hund, an seinem jungen Herrn, der heute so finster dreinblickte, mit lebhaftem Schwanzwedeln empor. Dann bezeugte er Suse in gleicher Weise seine Liebe und Freude, daß sie nun endlich wieder aus der Schule daheim waren. Von einem Zwilling zum andern sprang Bubi, als müsse er das Bindeglied zwischen den beiden bilden. Das kluge Tier merkte sofort, daß mal wieder nicht alles in Ordnung war.

»Kusch dich, Bubi!« befahl Herbert. Jedesmal, wenn es mit Suse Streit gesetzt hatte, empfand er vor seinem Bubi, der schon die kleinen Zwillinge wie eine treue Kinderfrau bewacht hatte, ein peinliches Gefühl. Aus diesen Empfindungen heraus gab er der bekümmerten Schwester einen Ausmunterungspuff mit dem Ellenbogen.

»Au!« schrie Suse auf.

»Biste aus Zucker? Immer noch das Marzipanpüppchen von früher trotz allem Spott?« höhnte der Bruder.

Suse barg gekränkt das Gesicht wieder in ihr Taschentuch. Sie merkte daher nicht, daß die Tür zum Zimmer der Großmutter sich öffnete, daß die alte Dame, von dem lauten Wortwechsel draußen in ihrer Ruhe aufgestört, auf der Schwelle erschien.

»Ei, Tränen, Suschen?« fragte sie erschreckt. »Was hat denn mein Goldkind?«

Suse schluchzte jetzt herzbrechend. Denn wenn man sie bedauerte, kam sie sich selbst am bedauernswertesten vor.

»Ist ja nur halb so schlimm, Omama. Suses Zensur ist – – –,« begann Herbert die Erklärung. Denn vor den lieben alten Augen der Großmutter hielt die Ruppigkeit seiner Flegeljahre nicht stand.

»Aber Suschen«, unterbrach ihn die Großmama, »das macht doch nichts, wenn du auch nicht versetzt worden bist. Latein und Mathematik ist nun mal nichts für ein Mädchen. Dann gehst du eben wieder aufs Lyzeum zurück. Ich würde das freudig begrüßen.« Die alte Dame war mit dem modernen Bildungsgang der Mädchen ganz und gar nicht einverstanden.

»Aber ich bin ja versetzt, Omama – in Latein habe ich sogar gut. Ich bin ja Untersekundanerin!« Da brach doch der Stolz wieder durch bei Suse trotz der Tränen.

»Ihre Zensur ist ja bloß entzweigerissen, darum heult sie«, setzte Herbert seine Erklärung fort.

»Na, wenn's weiter nichts ist. Suschen, das läßt sich doch kleben.« Die alten, runzligen Hände streichelten liebevoll das junge, verweinte Gesicht der Enkelin. Es ging eine merkwürdige Beruhigung von diesen gütigen Händen aus. Selten versagten sie ihre Kraft.

Suse ließ das Taschentuch sinken. »Ja, das läßt sich kleben«, wiederholte sie und wußte eigentlich nicht mehr, warum sie geweint hatte.

»Es läßt sich alles wieder kleben«, bekräftigte auch Herbert. »Bloß Suse ist immer gleich hops.« Seine Stimme schnappte bei dem Worte »hops« über. Das hörte sich so komisch an, daß die Großmama und Suse trotz der nicht mißzuverstehenden Bewegung Herberts gegen die Stirn lachen mußten.

Die Gegenwart ihrer »kleinen Omama«, die der in die Höhe geschossene Herbert um Haupteslänge überragte, und auf die auch Suse jetzt schon herabblickte, schien noch anderes zu kleben als nur auseinandergerissenes Papier. Auch der Riß, der das gute Einvernehmen der Zwillinge gestört hatte, war plötzlich wieder zugeklebt. Suse mußte noch immer über das Wort »hops« lachen, ohne es in sonstiger Backfischempfindlichkeit übelzunehmen. Herbert klopfte ihr wohlwollend auf die Schulter: »Na, wieder normal, Mensch?«

Und die Großmama meinte lächelnd: »Ihr seid doch wie der erste April draußen, Kinder, weinen und lachen. Regen und Sonnenschein, alles in einem Sack.«

Bubi aber blaffte so stolz, als ob die Versöhnung sein Werk sei.

Einträchtig zogen die Zwillinge die Treppe zum obern Stockwerk, in dem ihre Zimmer nebeneinander lagen, empor. Einträchtig beugte sich der goldbraune, kurzgelockte Mädchenkopf und der dunkelbraune Jungenschädel über die Zeugnisse. Sie waren beide gut ausgefallen. Herberts Zensur wies in Naturgeschichte, Physik und Mathematik sogar ein »Sehr gut« auf. Während Suses Kenntnisse gerade in Mathematik nicht ganz befriedigt hatten. Das sonst gute Zeugnis verunstaltete ein »Mangelhaft« in Turnen.

»Menschenskind, wozu box' ich denn mit dir, wenn du noch immer keine anständigen Muskeln kriegst!« Herbert nahm Boxerstellung ein.

»Ach nee, Herbert, heute haben wir uns schon genug verkracht.« Suse wußte aus Erfahrung, daß die Boxerrunden meistens mit einer ganz unsportgemäßen Keilerei endeten. »Ich habe ja auch bloß mangelhaft in Turnen, weil ich Angst habe vor dem Bockspringen und mich bei der Kniewelle nicht traue, loszulassen.«

»Warum biste denn bloß so feige, Mensch? Noch dazu, wo du keinen Blinddarm mehr hast?« ereiferte sich der Bruder.

»Das Genick kann man sich auch ohne Blinddarm brechen.«

Gegen diese sachliche Feststellung war nichts mehr einzuwenden.

Herbert begann Suses Zeugnis kunstgerecht zusammenzukleistern, während Suse sich den Pfleglingen in ihrem Reich zuwandte.

Es war eine stattliche Schar in dem hübschen Stübchen, Stumme und Stimmbegabte. Da waren die Goldfische, die in einem Glasbehälter ihr munteres Spiel trieben. Sie schienen ihre junge Pflegerin zu kennen. Denn sie schossen alle auf ihre Seite zu und hoben erwartungsvoll die Köpfchen, als ob sie sagen wollten: »Achtung – jetzt gibt es Futter!« Auch die umfangreiche Kakteenzucht, die in verschiedenen Stockwerken an den Fenstern emporkletterte, bedurfte Suses sorgender Hand. Waren sie auch noch nicht zu trocken? Zwischen den Fenstern standen niedliche, kleine Porzellantöpfe mit farbigen Primeln, blauen und gelben Krokussen. Sie blühten den Eisschloßen, von denen der erste April gerade wieder eine Handvoll wie ein ungezogener Schlingel gegen die Fensterscheiben prasseln ließ, zum Trotz. Wie pflegte Suse aber auch ihre Blumen. Sie waren ihr lebende Wesen, deren Wohl und Wehe ihr anvertraut war. Ein Myrtenstock, der prächtig grünte, war ihr besonderer Liebling. Von einer alten, armen Frau hatte sie ihn vor Jahren geschenkt bekommen, aus Dankbarkeit, weil sie ihr Gutes getan hatte. Die Erinnerung daran erfreute unbewußt noch immer Suses Herz, wenn sie ein welkes Blättchen ablöste oder eine junge Ranke festband.

Im Bauer in der Fensternische plusterte sich wie ein gelber Federball Mätzchen auf seiner Stange. Suse klopfte mit zärtlichem Finger dagegen. Aber das »Piep«, das Mätzchen als Gegengruß hören ließ, klang trübselig, als ob einer Zahnschmerzen habe.

»Du, Herbert, du verstehst dich doch auf Tiere. Ich weiß nicht, Mätzchen wird diesmal gar nicht fertig mit dem Mausern. Sonst hat er doch so herrlich gesungen.«

»Der hat am Ende auch Stimmwechsel wie ich.« Der im tiefen Baß begonnene Satz klang im höchsten Diskant aus. Suse wollte sich jedesmal darüber ausschütten vor Lachen. Aber das nahm ihr Zwillingsbruder nicht übel. Er war ja kein empfindlicher Backfisch.

»Laß es nur erst Frühling werden, dann wird dein Piepmatz schon wieder schlagen.«

»Wir haben doch schon seit elf Tagen Frühling. Aber es sieht freilich noch nicht danach aus.« Suse schaute durch die Fensterscheiben über den Balkon hinweg in den noch winterlichen Garten. Die kahlen Bäume bogen sich unter der harten Faust des Sturmes. Nackt und frierend standen die Pappeln, die die Straße, die aus dem Saaletal zu den Anhöhen emporführte, besäumten. »Es will dies Jahr nicht Frühling werden«, setzte sie seufzend hinzu.

Aus dicken, schwarzen Aprilwolken brach plötzlich die Sonne, in goldenem Strahlenglanze Licht, Wärme und Leben spendend. Kaum eine Minute später, und düstere Wolkenungeheuer hatten sie wieder verschluckt.

Als ob Mätzchen nur auf dieses Frühlingssignal gewartet habe, ließ es plötzlich einen hellen Trillerton hören. Dann versank es ebenso schnell wieder in seine winterliche Teilnahmslosigkeit.

»Und dräut der Winter noch so sehr
Mit trotzigen Gebärden,
Und streut er Schnee und Eis umher.
Es muß doch Frühling werden.«

begann Suse vor sich hinzuträllern, während sie die Decke zu dem Katzenkorb in der Ecke lüftete.

Da lag Piccola, Suses weiße Katze, eine geborene Neapolitanerin, die sie sich aus Italien mitgebracht hatte, und blinzelte ihre junge Herrin aus grasgrünen Augen verschlafen an.

»Piccola, du wartest auch sehnsüchtig auf den Frühling, nicht wahr, meine Alte?« fragte Suse, liebevoll Piccola über den Buckel streichend. Ein zustimmendes Miau ertönte.

»Was hast du denn bloß an der altersschwachen Mies?« Kopfschüttelnd betrachtete der Zwillingsbruder, der sich besonders für Tiere interessierte, die stumpfsinnig vor sich hinschnurrende Katze. »Könntest längst Urgroßmutter sein, Suse, wenn du die Jungen von Piccola nicht immer verschenkt hättest. Setze doch die Alte aus, wenn es Sommer ist, und behalte lieber eine von den Kleinen.«

»Meine Piccola aussetzen? Ebenso kannst du mir raten, dich auszusetzen, Herbert. Du wirst noch leichter ohne mich fertig, als meine Piccola.«

»Koch sie dir sauer«, brummte der Bruder. Trotzdem er sich häufig mit Suse zankte, wünschte er doch, die erste Geige bei seinem Zwilling zu spielen. Er ging in sein nebenan gelegenes Zimmer, nach seinen Laubfröschen zu sehen. Vielleicht prophezeiten die besseres Wetter.

Plötzlich schrie er in den höchsten Fisteltönen: »Suse – Suse – eine Überraschung – komm' schnell!«

Die Schwester, die sofort voll Neugier eiligst der Aufforderung nachkommen wollte, blieb mit einem Male stehen. »Nee, ich komme nicht – du schickst mich bloß in den April.«

Das laute Lachen, das aus dem andern Zimmer zu ihr herüberklang, zeigte, daß sie ihren Zwilling richtig eingeschätzt hatte.

Auf ihrem niedlichen Rosenknospensofa nahm Suse Platz und starrte nachdenklich auf das geklebte Zeugnis vor sich auf dem Tisch. Eigentlich konnten die Eltern mit der Versetzungszensur ganz zufrieden sein. Daß sie in Mathematik keine Leuchte war, wußten sie ja. Ob Mutti noch böse war? Es war Suses liebevollem Herzen ein unbehagliches Gefühl, wenn sie jemanden erzürnt hatte, und nun gar ihre Mutti! Ach was, sie ging einfach mit ihrer Zensur zu Mutti hinunter. Mutti würde schon wieder gut sein oder es zum mindesten wieder werden.

Da – am Fenster hemmte das junge Mädchen plötzlich den eiligen Schritt. Suse traute ihren Augen nicht. In bogenartigem Fluge kam es von der Saale herauf. Silberne Bogenflüge über den Weinbergen, über den die bergigen Höhen sich hinaufziehenden Landhäusern. »Die Schwalben – Herbert, die ersten Schwalben sind wieder da!« rief sie aufgeregt ins Nebenzimmer.

»Jawoll, erster April – für Retourkutschen bin ich nicht zu haben«, kam von dort die Antwort.

»E..., Herbert!« Man kürzte jetzt ja alles ab, auch das »Ehrenwort« war von den Gymnasiasten der Stadt Jena in »E...« verwandelt worden.

»Großes oder kleines?« erkundigte sich Herbert noch vorsichtig.

»Das große Ehrenwort, Herbert, rasch – sonst sind sie heidi!«

Nun war der Herbert doch zur Stelle.

»Ob sie wieder bei uns am Sternenhaus nisten werden, Herbert!« Suse war ganz aufgeregt.

»Schwalben kehren immer wieder zu ihrem Nest zurück. Nur wenn dem Hause ein Unglück zustößt, Feuer oder Blitz, ziehen sie davon.«

Suses Braunaugen blickten bei den Worten des Bruders ängstlich drein. Eine Heldin war sie nun mal nicht, die Suse Winter.

Die Zwillinge waren auf den Balkon hinausgetreten, der galerieartig um das Landhaus lief. Wirklich, ein Schwalbenpaar schoß aus der Schar der geflügelten Heimkehrer blitzschnell hinab zum Sternenhaus.

»Fabelhaft, was die Tiere für ein Gedächtnis haben, daß sie in den fernen, warmen Ländern ihr Nest nicht vergessen und sogar das Haus nach so langer Zeit wiederfinden«, meinte der Junge anerkennend.

»Quiwitt – quiwitt«, zwitscherten die Schwälbchen am Dachfirst zu Professors Zwillingen hinab. Es klang wie Wiedersehnsfreude.

»Nun wird es Frühling!« sagte Suse, vor Kälte zusammenschauernd. Sie dachte nicht mehr daran, ob Mutti wohl noch ärgerlich auf sie wäre; spornstreichs eilte sie hinab, die Frühlingsbotschaft zu melden.

»Mutti – Omama – unsere Schwalben sind wieder da!« Jubelnd klang es durch das Haus.

10. Kapitel. Auf geweihtem Boden.

Dem Wunsche der Großmama entsprechend, hatte man für das Nachmittagsprogramm den Besuch in Goethes Gartenhaus am Stern in Aussicht genommen. Dieses stille Fleckchen in den Parkanlagen an der Ilm, das Goethe so geliebt, wo er die glücklichste Zeit seines Lebens zugebracht hatte, erfreute sich auch der besondern Vorliebe der alten Frau Winter.

Lichtgrüne Samtteppiche breiteten die Sommerwiesen zu Füßen des Gartenhäuschen. Wilde Rosen, die Goethe selbst gepflanzt, kletterten am Spalier bis zu dem hochgiebeligen Dach des Hauses empor. Ein seltsames Gefühl umfing die Eintretenden: Du betrittst jetzt geweihten Boden. Selbst das muntere Schwatzen der Jugend verstummte. Neugierig hielten Herbert und Suse Umschau; die Martinschen Zwillinge waren schon öfters Gäste im Goetheschen Sommerhaus gewesen. Weihevolle Stille. Man vernahm nur das Pfeifen und Flöten der Vögel in den alten Bäumen.

Schweigend wies Professor Winter auf eine Inschrift über dem Eingange des Häuschens. Die Kinder lasen halblaut:

Übermütig sieht's nicht aus,
Dieses kleine Gartenhaus.
Allen, die darin verkehrt,
Ward ein guter Mut beschert.

Suse war es, als ob der einstige Besitzer des Hauses selbst diese Worte zu ihr spräche. Ein andächtiger Schauer durchrieselte sie, als sie jetzt den andern durch die bescheidene Eingangspforte ins Haus folgte.

»Hunde sind draußen vor der Gartentür zu lassen«, sagte der führende Beamte ärgerlich, »die gehören nicht ins Goethehaus.«

Herbert ahnte nicht, daß diese Worte ihm galten. Er hatte ja Bubi auf des Vaters Geheiß draußen vor dem Tore gelassen.

Durch die geweihte Stätte huschte etwas Schwarzes, Glattfelliges quer über den Hausflur – hast du nicht gesehen, in die Küche mit der alten Herdesse und dem Wasserstein und wie der Wind die Holztreppe hinauf zu dem Heiligtum, dem Arbeitszimmer des Meisters.

»So rufen Sie doch endlich den Hund zurück!« Der Führer wandte sich aufgeregt an Professor Martin, den er für den Eigentümer des Tieres hielt.

»Aber ich habe doch gar keinen – – –«, verwunderte sich der.

»Sollte am Ende – – –«, erschrak Frau Professor Winter.

»Herbert, deine Hundetöle ist in Goethes Arbeitszimmer!« rief Helga aufgeregt dem eingehend den ehemaligen alten Ziehbrunnen betrachtenden Jungen zu.

Herbert mußte seiner Vornahme, Helga als nicht anwesend zu behandeln, untreu werden. Bubi in Goethes Arbeitszimmer – das hob selbst den großen Bann, den er über Helga verhängt hatte, auf.

»Bubi ist hier? Wo ist er?« stieß Herbert erschreckt hervor, denn sogar seine Jungenhaftigkeit empfand die Heiligkeit dieser Erinnerungsstätte.

Ja, wo war Bubi? Er besichtigte bereits die im oberen Stockwerk gelegenen kleinen Stuben des großen Dichters. Vom Altanzimmer ins Arbeitszimmer, ohne jedes Interesse für die Bibliothek jagte Bubi weiter in das winzige Schlafzimmer, wo er es sich auf dem berühmten Kofferbett Goethes, das sich zur Nacht von einem Koffer in ein Bett verwandeln ließ, gemütlich machte.

Dort erreichte ihn die Hand seines jungen Herrn und spedierte den Friedensstörer des Goetheschen Gartenidylls hinaus auf die Parkpromenade. Das Schlimme war nur, daß Herbert ebenfalls aus dem Paradies vertrieben wurde. Denn Bubis Goethebegeisterung war nicht zu zügeln. Mit jedem neuen Besucher des Gartenhauses versuchte er wieder einzudringen. So mußte Herbert sich damit begnügen, wie einst Moses, das gelobte Land nur von weitem zu schauen. Da gab es im Garten alte, herrliche Bäume, Eichen, Buchen, Birken und Tannen. Der Vater hatte ihnen erzählt, daß Goethe selbst sie gepflanzt, sich ihres Wachstums gefreut und später im Schatten ihrer weitverzweigten Äste Erquickung genossen habe. Vögel musizierten in Goethes Garten wie vor hundert Jahren, da er selber noch als Greis entzückt ihrem Sang gelauscht hatte. Dort war ein Vogelnest, ein Hänfling flog ein und aus. Ob dessen Urgroßvater wohl den Dichter des Morgens mit seinem Sang aus dem Schlaf geweckt hatte?

Besucher gingen und kamen in das Gartenhäuschen, nur er und Bubi waren ausgesperrt. Sie beide mußten draußen bleiben. Solche Gemeinheit! Herberts Gefühle gegen seinen vierfüßigen Kameraden waren heute durchaus nicht liebevoll.

Himmelmohrenelement, wo blieben die andern denn bloß so lange? Er war doch wirklich nicht nach Weimar gekommen, um hier vor Goethes Gartenhaus Schildwache zu stehen.

Da tat sich die Gartentür auf. Ein großes, blondes Mädel trat heraus – Helga. Sollte er wegsehen und tun, als ob sie nicht da wäre?

»Du, Herbert, wenn du Lust hast, kannst du jetzt reingehen. Ich bleibe gern hier draußen und bewache deinen Köter. Ich habe das Gartenhaus schon ixmal gesehen und interessiere mich nicht so dafür wie Inge«, sagte sie ganz harmlos, als ahne sie gar nichts von Herberts Feindschaft.

Der schwankte. Ihr Vorschlag war sehr verlockend. Andererseits, was würde Hans Krause dazu sagen, wenn er den großen Bann, den er über Helga verhängt hatte, brach?

Aber es war doch nett von ihr, daß sie wieder gutmachen wollte. Er reichte seiner blonden Feindin die Hand.

»Bist trotz alledem ein anständiger Kerl«, sagte er und ließ sie in Gesellschaft von Bubi zurück.

Der Vater hatte auf Herbert gewartet, um ihn noch einmal im Hause umherzuführen und ihm alles zu erklären, während die andern bereits den herrlichen Garten bewunderten.

»Siehst du, hier an diesem Schreibtisch, Herbert, sind die Meisterwerke zum großen Teil geschaffen worden. Dort auf dem kleinen Kanapee hat Goethe im Gespräch mit Freunden gesessen, und manch frohe Tafelrunde hat das Gartenhaus zur Spargel- und Erdbeerzeit bewirtet. Nebenan im Altanzimmer, seinem Lieblingszimmer, kannst du noch einen alten Kamin sehen. Hier hatte auch Goethes Nachtigall ihren Sommersitz.«

»Eine Nachtigall hatte Goethe? Im Bauer, Vater?« Das interessierte Herbert am meisten. Und ich sollte nicht mal den kleinen Fink behalten, den ich mir mühselig aus dem Nest stibitzt habe, dachte der Junge empört.

Der Professor trat mit seinem Sohn hinaus auf den Altan, der den Blick in das liebliche Ilmtal mit seinen grünen Auen, sanften Abhängen und herrlichen Parkanlagen erschloß.

»Man kann es verstehen, daß Goethe hier das Gedicht: ›Süßer Friede, komm, ach komm in meine Brust!‹ empfunden und in Worte gefaßt hat«, meinte der Vater nachdenklich. Für Friede hatte der ins Leben stürmende vierzehnjährige Herbert nur geringes Verständnis. Es fesselte ihn vielmehr, daß Goethe, um sich abzuhärten, schon damals allerlei Sport getrieben hatte. »Konnte er auch boxen, Vater?« wollte der Junge durchaus wissen.

»Goethe boxen? Der Dichter der Iphigenie und des Tasso?« Dieser Gedanke erschien dem Vater etwas komisch.

»Nein, Herbert, Boxkämpfe gab es noch nicht zu Goethes Zeiten. Ich glaube auch nicht, daß Goethe daran Gefallen gefunden hätte. Er liebte edleren Sport: Reiten, Jagen, Fischen, Eislaufen, Tanzen und Fechten.« Herbert zuckte ein wenig mitleidig die Achsel. Ein richtiger Sportsmann war Goethe sicher nicht gewesen, wenn er von Boxen keine Ahnung gehabt hatte.

»Auf diesem Altan«, fuhr der Vater fort, »hat Goethe manche warme Sommernacht auf einem Strohsack geschlafen und den Mond und den Sternenhimmel beobachtet.«

»Beim Schlafen?« verwunderte sich Herbert.

»Aber Junge, sei doch nicht so dumm. Natürlich wenn er munter war.«

»Nee, Vater, da irrst du dich«, beharrte Herbert, »das war ja Schiller, der die Sterne studiert hat, nicht Goethe.« Der Besserwisser regte sich in Herbert.

»Du kannst dich schon auf das verlassen, was ich dir sage, mein Junge. Auch Goethe hat die Gestirne beobachtet. Die schönen Künste sowohl wie die ernsten Wissenschaften waren ihm gleich vertraut. Er war eben ein Ausnahmemensch. Wenn wir morgen das Goethe-Nationalmuseum, sein einstiges Stadthaus, besuchen, werdet ihr erstaunt sein über die Fülle von Sammlungen auf jedem Gebiete.«

»Auf die zoologische freue ich mich schon mächtig –.« Und ich auf die botanische«, fiel Suse ihrem Zwilling ins Wort. Denn man war inzwischen wieder im Garten zusammengetroffen. »Herbert, den schönen Garten mußt du auch noch sehen. Das sind Malven, die hochstöckigen Pflanzen, die den langen Weg einsäumen. Sie blühen erst später. Goethe hat sie selbst gepflanzt und gepflegt.« Suses Hand strich ehrfürchtig über das Blattwerk.

»Unser Großvater hat uns erzählt, im August gab Goethe öfters eine Teegesellschaft zu Ehren der Malvenblüte«, berichtete Inge, den Arm der Freundin nehmend.

»Muß fein gewesen sein«, stimmte Suse zu.

»Die Kinderfeste hier draußen waren noch viel schöner, Suse«, mischte sich Inges Vater, Professor Martin, in die Unterhaltung. »Goethe lud sich die Kinder seiner Freunde, die kleinen Herder und Wielande, später seine eigenen Kinder und Enkel in sein Gartenhaus. Ohne Eltern und ohne Erzieher mußten sie kommen. Ganz in Freiheit sollten sie sich hier draußen bei ihm vergnügen. Da wurden Ostereier gesucht, die Goethe selbst im Garten versteckt hatte, und Kinderbälle fanden hier draußen statt. Goethe im Hofgalakleide eröffnete den Ball mit einem der winzigen Dämchen. ›Ihr kleinen Menschengesichter‹ pflegte er sie anzureden.«

»Ulkig, nicht, Herbert?«

»Na, ich sage lieber ›du Affengesicht‹ zu dir, Suse«, lachte der Bruder.

»Pfui, Herbert, wie kannst du nur so was zu Suse sagen«, entrüstete sich Paul, während Suse derartige Zärtlichkeiten von ihrem Zwilling gewohnt war.

Auf einer schattigen Bank neben der in Stein gehauenen Inschrift Goethes: »Hier im stillen gedachte der Liebende seiner Geliebten«, fand man die Großmama, die sich dort ein wenig ausruhte.

»Was ist das für ein Gefühl, Kinder, auf derselben Bank zu sitzen, auf der Goethe an seine Charlotte von Stein gedacht hat«, empfing die alte Dame die Kommenden begeistert.

Die Jugend hatte dafür kein Verständnis. Die interessierte sich vielmehr für Goethes Bienenzucht und für den alten Wacholderbaum, Goethes Liebling, den ein Sturm entwurzelt hatte, und an dessen ehemaligem Standorte weiße, gespensterhafte Mädchen geistern sollten.

»Hu – wie graulig!« Suse packte am hellen lichten Tage den Arm ihres Zwillings.

»Hab' dich nicht, Suse. Wo ist denn bloß der Fuchs? Hier muß bestimmt noch ein Fuchs sein. Goethe hatte ihn hier draußen an einer Kette. Sie haben es uns doch in der deutschen Stunde erzählt, Herr Professor Martin.«

»Der Fuchs hat längst das Zeitliche gesegnet. Junge«, lachte der Professor. Das war eine arge Enttäuschung für Herbert. Er hatte gehofft, wenigstens noch Nachkommen dieses Fuchses in Goethes Garten zu finden.

Draußen vor dem Tor traf man Helga, die Bubi Gymnastikstunde gab. »Du, Helga, Goethe hat auch Sport getrieben, sogar fechten konnte er«, rief Herbert seiner ehemaligen Feindin zu. Er schien ganz vergessen zu haben, daß er noch vor kurzem mit ihr »schuß auf ewig« gewesen war.

»Wollen wir jetzt zur Fürstengruft gehen, wo auch die Särge Goethes und Schillers beigesetzt sind?« fragte Professor Winter seine Gesellschaft.

»Nee, ach nee, Vatichen! Es ist schon bald dämmerig. Lieber morgen am hellen Tage, wenn es sein muß«, bat Suse inständig. Sie war und blieb doch ein Angsthäschen.

»Ich schlage vor, den schönen Nachmittag hier draußen im Park zu bleiben und einen Spaziergang nach dem Schlößchen Belvedere an der Ilm entlang zu unternehmen. Den Weg, den Goethe mit seinem Freunde, dem Herzog Karl August, so gern gewandert ist«, schlug die Großmama vor.

Damit waren alle einverstanden. Es wurde ein herrlicher Abend bei Sonnenuntergang in dem idyllischen Sommersitz der weimarischen Fürstin. An allen Tischen saßen junge Menschen, die der Schillerbund nach Weimar geführt hatte.

»Paul, du könntest auch dem Schillerbund beitreten, das wäre eine hübsche Anregung für dich«, meinte Professor Winter zu seinem jungen Schützling.

»Ich auch, Vater, ich trete auch bei«, ließ sich Herbert sofort vernehmen, der nicht hinter Paul zurückstehen mochte.

»Du bist noch zu jung, mein Sohn. Erst mit sechzehn Jahren wird man aufgenommen, vorausgesetzt, daß man dann die innere Reife dazu hat.«

»Die habe ich schon jetzt«, behauptete Herbert.

»Goethe würde seine Freude an all dem fröhlichen Jungvolk hier haben«, meinte Frau Professor Winter, die Nebentische beobachtend.

»Ja, er hat die Jugend geliebt, aber er hat auch manchmal Undank erfahren. Sie kennen doch die Geschichte vom Peter im Baumgarten?« fragte Professor Martin, der ein eifriger Goetheforscher war.

»Nein, erzählen – bitte, erzählen!« Alles lauschte gespannt.

»Nun, im Sommer 1777 erschien an Goethes Gartentür ein zwölfjähriger, halbwilder Schweizer Hirtenknabe. Eine Tabakspfeife hatte er im Munde, und ein schwarzer Spitz, Hänsli genannt, begleitete ihn. ›Peter im Baumgarten‹ hieß der Schweizer Bub, weil man ihn im Berner Oberland in einem Baumgarten als kleines Kind gefunden hatte. Man wußte nicht, wer seine Eltern waren. Goethe hatte sich bei seinem Aufenthalt in der Schweiz für den Waisenknaben interessiert. In einer Erziehungsanstalt wurde er erzogen. Dort tat er nicht gut, es war ein verwilderter Schlingel. So schickte man ihn seinem Gönner Goethe zu. Da war er nun mit seinem Hänsli und begehrte Einlaß im stillen Goetheschen Gartenhaus. Das stellte er bald auf den Kopf, der kleine Eindringling. Von morgens bis abends rauchte er Pfeife, der Bengel. Als Hirtenknabe war er daran gewöhnt und ließ sich die Pfeife nicht entziehen. Er verdarb gute Sammlungen, und die Büste Lavaters malte er gar mit Tinte an. Auf Stelzen lief er durch die Stadt, gefolgt von der Gassenjugend und trieb allerlei Streiche. Goethes Köchin Dorothee rang die Hände über den schmutzigen Naturburschen. Schließlich gab Goethe ihn fort zu einem Wildmeister. Aber jahrelang hatte er noch Sorgen und Undank von seinem Schützling.« So erzählte der Professor.

»Da mache ich mit meinem Schützling doch bessere Erfahrungen«, lachte Professor Winter und reichte seinem Namensvetter Paul die Hand über den Tisch.

Als man in der Spätdämmerung an der leise plätschernden Ilm entlang heimwärts ging, schlugen die Nachtigallen in den Büschen wie einst zur Goethezeit.

Frisch ausgeschlafen traf man sich am Sonntagmorgen mit Martins wieder vor dem Schillerhaus. Dorthin war Schiller von Jena aus übergesiedelt, den Todeskeim schon in der Brust. Ein schlichtes, bescheidenes Heim öffnete sich den Besuchern. Wie klein und niedrig die Stuben, wie ärmlich die Einrichtung. Und hier waren so große Gedanken entstanden, trotz bitterster Not. Ehrfürchtig durchschritten sie die Räume, die der Genius geweiht.

»Das Goethehaus am Frauenplan, das wir jetzt besichtigen werden, ist mit vornehmem Behagen ausgestattet. Die Räume, in denen die beiden größten deutschen Dichter gelebt haben, geben ein getreues Abbild ihres Lebens. Schiller hat immer mit Not zu kämpfen gehabt, dagegen hat sich Goethes Leben stets im Wohlstand abgespielt.« Professor Martin schritt voran in das Goethe-Nationalmuseum, dem ehemaligen Stadthaus Goethes.

Ehe man die große Treppe hinaufging, wandte sich Professor Winter in der Eingangshalle an seine Zwillinge. »Hier in diesen Räumen, umgeben von Kunstwerken und seinen naturwissenschaftlichen Sammlungen, führte Goethe ein Leben voll unermüdlicher Arbeit, voll von fruchtbarem Wirken. Ihr werdet staunen über diese Fülle von verschiedenartigen Interessen, die der große Meister in sich vereinigte.«

Die römischen und griechischen Kunstwerke, die Majoliken, Gemälde und Zeichnungen fesselten die Kinder noch nicht. Da interessierten sie die naturwissenschaftlichen Sammlungen Goethes schon mehr. Farbenlehre, Optik und Elektrizitätsversuche, all die dazugehörigen Instrumente und Apparate waren etwas für Paul, der sich in den Zeiß-Werken mit ähnlichen Dingen beschäftigte. Herbert war nicht aus den zoologischen Sammlungen herauszubekommen. Die Schädel und Skelette von Säugetieren, die ausgestopften Vögel, die Insekten-, Korallen- und Muschelsammlungen betrachtete er eingehend. Schließlich aber meinte er doch: »Im Aquarium in Neapel sieht man das alles viel schöner, und da ist alles noch obendrein lebendig.« Selbst vor Goethe machte Herberts Kritik nicht halt.

Auch Suse war heimlich enttäuscht. Goethes botanische Sammlung umfaßte lauter Herbarien und Mappen. Sie hatte sich auf Blumen gefreut und fand statt dessen große Schränke mit Samen und Früchten und allerlei getrocknetem Zeug. Da hatte es ihr in Goethes Gerten am Stern ungleich besser gefallen. Der Garten hier im Stadthaus war ja ganz nett, aber er war nicht groß und die Hauptsache – man durfte nicht hinein. Eine Kette sperrte den Eintritt. Suse hatte große Lust, unter der Kette durchzukriechen, aber die Weihe des Ortes hinderte sie doch daran.

Goethes Arbeits- und Sterbezimmer betraten die Kinder halb neugierig, halb beklommen. Das schmucklose Gemach mit dem Mitteltisch, an dem einst Goethes Schreiber, den Gänsekiel in der Hand, saß, während Goethe im Zimmer auf und ab schritt und seine Dichtungen diktierte, durchwehte heute noch ein Hauch seiner Gegenwart. Der hochbeinige Korb mit Goethes Taschentuch stand noch da wie vor hundert Jahren. Andächtige Stille herrschte. Man flüsterte nur. Die Großmama legte eine Rose auf den Platz des Dichters in stummer Verehrung.

»Warum hat Goethe seine Werke denn nicht lieber gleich in die Schreibmaschine diktiert?« erklang da eine laute Jungenstimme in das ehrfürchtige Schweigen. Die Besucher vermochten kaum ein Lächeln zu unterdrücken. Herbert zeigte sich als ein Kind des technischen Jahrhunderts.