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1. Kapitel. Das lustige halbe Dutzend.

Im Ofen heulte der Wind. Er ächzte und stöhnte. Mit knöcherner Hand fuhr er in den Schornstein und wirbelte die Kohlenglut ungestüm durcheinander. An den Fensterscheiben rüttelte er, daß sie ärgerlich anfingen zu klirren. Jetzt warf er gar ein paar Hände Eisschollen wie ein echter Gassenjunge gegen das Fensterglas. Dann aber gab er schnell Fersengeld. Denn innen hinter der weißgepunkteten Mullgardine tauchte ein rosiger Blondkopf auf, mit weitaufgerissenen Blauaugen in das tolle Durcheinander hinausstarrend.

»Brrr – ist das ein Hundewetter!« Doktor Brauns Nesthäkchen schüttelte sich. »Die Mädels werden sich durch den Hagel doch nicht vom Kränzchen zurückhalten lassen? Ach wo, die sind nicht aus Marzipan. Höchstens Margot Thielen, aber die wohnt auf demselben Flur und braucht sich keinen Fuß naß zu machen. Wenn nur Veras Tante nicht Einspruch erhebt, die denkt auch immer gleich, wenn Vera mal hustet, sie hätte schon die Lungenentzündung. Himmel – ist denn die Welt ganz aus den Fugen!« Ein erneuter Hagelschauer prasselte gegen die Scheibe; die weißen Körner sprangen und hopsten so hoch, als hätten sie es auf Nesthäkchens sich gegen das Glas pressende Nasenspitze abgesehen.

Um so gemütlicher war es drinnen. Die von einem mattlila Seidenschleier gedämpfte elektrische Lampe warf ihr Licht über den zierlich gedeckten Kaffeetisch vor dem kleinen bunten Ecksofa. Auf dem goldgelben Gedeck, das Annemarie der Mutter mit dem festen Versprechen abgebettelt, daß bestimmt kein Kaffeefleck darauf prangen würde, standen sechs goldgeränderte Tassen. Die Mitte aber nahm der umfangreiche Kuchenteller ein mit allerlei verlockenden Sachen darauf. Das mochte wohl auch die derbe Jungenhand dazu bewegen, sich nach einem zuckerbestreuten Pfannkuchen auszustrecken und denselben gleich auf einmal in den Mund verschwinden zu lassen.

In diesem kritischen Augenblick gerade wandte sich Annemarie vom Fenster in das Zimmer zurück. Eine Sekunde stand sie entgeistert. Dann aber flog sie auf den Missetäter zu und schien nicht übel Lust zu haben, ihm den entwendeten Kuchen wieder aus dem Mund zu reißen.

»Mutti – der Klaus maust mir meinen Kränzchenkuchen weg! Gerade einen Pfannkuchen hat er erwischt! Und die Hanne hat bloß sechs gebacken, weil sie nicht mehr Fett spendieren wollte. Ach Gott, nun bekommt eine keinen!« so jammerte Annemarie und ging trotz ihrer fast sechzehn Jahre mit kriegerisch erhobenen Fäusten auf den älteren Bruder los.

Der verschanzte sich lachend gegen einen als Schild erhobenen Korbsessel.

»Reg' dich wieder ab, Annemie. Der Pfannkuchen hat deinem lieben Bruder mindestens so gut geschmeckt wie deinen Kränzchenschwestern. Und da du mit deiner Vera stets ein Herz und eine Seele bist, könnt ihr ja auch mal ein Magen sein und euch den Pfannkuchen teilen,« schlug der Primaner mit Gemütsruhe vor.

Aber gerade diese goß Öl in das Feuer von Annemaries leicht aufflammendem Temperament.

»Wenn es noch ein Stück Napfkuchen gewesen wäre!« Die Empörung über den gemausten Pfannkuchen überwältigte das junge Mädchen wieder. »Und mein Zimmer paffst du mir auch mit deiner alten Zigarette voll. Bei dem Sturm kann ich nicht mal ein Fenster aufmachen.« Wieder erfolgte ein energischer Vorstoß auf den Bruder.

»Was, ihr Mädels wollt Sekundaner sein und könnt nicht mal ein bißchen Zigarettendampf vertragen? Na, warte, Annemie, ich werde daran denken, wenn du mir mal wieder Zigaretten abbettelst.« Damit blies er der hübschen Schwester eine große Rauchwolke in das Gesicht.

Jetzt ging der Kampf um die Zigarette. Annemarie war geschmeidig wie eine Eidechse. Aber auch Klaus war geschickt und behende. Bald balgten sich die zwei kunstgerecht, wie sie es von klein auf getan hatten. Wenn es jetzt auch mehr Scherz war und weniger erbitterte Formen annahm.

Der Korbsessel stürzte zu Boden. Die Blumenkrippe am Fenster kam bedenklich ins Wanken. Annemaries Blondzöpfe, die sie seit kurzem mit einer schwarzen Seidenschleife am Hinterkopf aufgesteckt trug, entsprangen den fesselnden Nadeln. Puck, das weiße Zwerghündchen, sprang bald an dem einen, bald an dem andern laut blaffend empor, als wolle es seine Neutralität den beiden kriegführenden Parteien bezeigen.

Bums – da flog der goldgeränderte Milchtopf um. Eine weiße Flut ergoß sich über das schöne goldgelbe Damastgedeck.

»Mutti – Mutti – der Klaus hat – der Milchtopf ist umgefallen.« Annemaries Wahrheitsliebe mußte ihr doch denselben Anteil Schuld zusprechen. »Mutti – ach Gott, hier schwimmt alles!« Der große Backfisch rief nach der Mutter wie das kleine Nesthäkchen aus den Kindertagen.

In der zum Speisezimmer führenden Tür erschien Frau Doktor Braun. Eine schlanke Dame mit noch jungem Gesicht trotz des früh ergrauten Haars.

»Aber Kinder – schämt ihr euch denn gar nicht, ihr großen Menschen, euch wie die Gören zu betragen! Was sollen deine Freundinnen nur davon denken, wenn sie hier das wüste Durcheinander sehen, Lotte. Und mein Kaffeegedeck ist auch verdorben. Hatte ich nicht recht, daß ich es dir nicht geben wollte?« Vorwurfsvoll blickte die Mutter auf den jetzt wenig einladenden Tisch.

»Milch gibt keine Flecke, Kaffee wäre schlimmer.« Klaus pflegte allem im Leben die beste Seite abzugewinnen.

Während Annemarie mit ihrem kleinen Batisttaschentuch vergeblich die Milchfluten zu dämmen versuchte, öffnete sich die zweite zum Korridor führende Tür des Zimmers. Das Hausmädchen meldete: »Fräulein Annemarie – Fräulein Vera.«

Da trat auch schon ein schlankes junges Mädchen, Annemaries Intima, ins Zimmer. Der matte, elfenbeinfarbene Hautton ihres zarten Gesichtes bildete einen reizvollen Gegensatz zu dem tiefschwarzen Haar.

»Puh – hat es gegeben hierr Krrieg?« Lachend wies die Freundin auf die noch von dem Kampf zeugenden Spuren. Ihr Deutsch verleugnete die polnische Abstammung von der Mutter her noch immer nicht, trotzdem Vera schon einige Jahre in Deutschland lebte. Jetzt erst entdeckte das Backfischchen die in der Tür zum Speisezimmer lehnende Frau Doktor Braun.

Errötend holte es den verabsäumten Gruß nach und bestellte Empfehlungen von der Tante, in deren Haus das junge Mädchen aufwuchs. Denn Vera war eine Waise.

»Guten Tag, Vera. Nun kann sich meine Lotte mal tüchtig vor dir schämen, daß sie mit dem Klaus keinen Frieden hält. Draußen ist der Krieg nun glücklich zu Ende, aber hier in unseren vier Pfählen tobt er immer noch.« Es sollte scherzhaft klingen, aber man hörte doch einen mißbilligenden Ton aus den Worten der Mutter heraus.

Doktors Nesthäkchen schämte sich wirklich. Es begrüßte die Freundin lange nicht so jubelnd, wie das sonst der Fall war.

»Tag, Verachen. Sei froh, daß du keinen Bruder in Berlin hast.« Seufzend machte sich Annemarie daran, die entsprungenen Haarnadeln vom Teppich zusammenzusuchen, um die herabgerutschte Frisur wieder aufzustecken. Vera half ihr dabei.

»Oh, ich tue serr wünschen, daß Brruder Stani lebt auch hierr in Berlin bei die Onkel und Tante. Wenn er mirr auch noch so serr ärrgern wollte. Czernowitz ist so serr weit – oh, so serr!«

Traurig schaute das junge Mädchen in die Ferne.

Klaus aber rief lebhaft: »Da siehst du, Annemie, wie andere Leute über Brüder denken. Wir sind ein sehr begehrter Artikel.« Pfeifend schritt er in sein Zimmer.

»Ja, nach meinem Hänschen bange ich mich auch. Da wünschte ich ebenfalls, er studierte in Berlin und nicht in Freiburg,« rief Annemarie lebhaft hinter ihm drein.

Inzwischen hatte das Hausmädchen eine andere Kaffeedecke aufgelegt und die Ordnung im Zimmer wieder hergestellt. Es war auch die höchste Zeit, denn zum Kränzchen war man pünktlich.

Annemarie hatte gerade noch ihre eben erblühte mattrosa Hyazinthe, die sie in Gläsern zwischen den Doppelfenstern zog, unter Veras lebhafter Bewunderung auf den Tisch gesetzt. Da ging die Türklingel in kurzen Zwischenräumen hintereinander.

»Eins – zwei – drrei – vierr – sie werrden kommen, alle auf eine Mal.« Die beiden Freundinnen lauschten hinaus.

»Es können auch Patienten sein, Vater hat noch Sprechstunde.« Trotzdem es der beweglichen Annemarie in den Füßen zuckte, hinauszueilen, um zu sehen, ob die Freundinnen da wären, bezwang sie ihre Ungeduld. Der Vater liebte es nicht, wenn sie sich während der Sprechstunde im Korridor aufhielt.

Es waren die Kränzchenschwestern. Alle vier zugleich. Das heißt, Ilse Hermann und Marlene Ulrich, die beiden Cousinen, erschienen nie eine ohne die andere. Sie holten sich stets gegenseitig ab.

»Tag, Annemie, Tag, Vera – puh, ist das ein Wetter!« Die Freundinnen brachten einen frischen Hauch von Winterkälte mit in das mollige Zimmer.

»Marianne, du hast dir die Füße nicht ordentlich auf der Strohdecke draußen abgetreten,« sagte Margot Thielen, die peinlich saubere, und wies vorwurfsvoll auf die schwärzlichen Spuren, die Mariannes derbe Stiefel auf dem hellgrauen Teppich hinterließen.

»Macht nix – trocknet wieder,« entschied Annemarie mit der ihr eigenen Sorglosigkeit. »Kommt nur gleich Kaffee trinken, da werdet ihr am schnellsten warm.«

»Ich sitzen auf die Sofa« – »au, Pfannkuchen« – »habt ihr die Mathematikaufgaben schon gemacht« – »na, ich kriege sie nicht raus« – »ach, Kinder, fangt doch bloß nicht gleich mit der dummen Schule an, dazu ist nachher auch noch Zeit,« so schwirrten die Mädchenstimmen lustig durcheinander.

Minna brachte den Kaffee. Aber einschenken mußte ihn die junge Wirtin selber. So verlangten es die Kränzchenparagraphen. Ob es die Minna nun zu gut gemeint und die Kanne zu voll gefüllt hatte, oder ob Annemaries huschliges, unachtsames Wesen die Schuld daran trug, genug – auch die zweite Kaffeedecke mußte dran glauben. Diesmal war es ein bräunlicher See, der sich zu Füßen der mattrosa Hyazinthe ergoß.

Aber das störte die fidele Kränzchenlaune durchaus nicht. Wenn auch Margot Thielen, »Tugendschäfchen« genannt, sich nicht enthalten konnte, auszurufen: »Au weh, Annemie, deine Mutter wird schön schimpfen.«

Man ließ es sich schmecken. Ein edler Wettstreit entspann sich um den zu teilenden Pfannkuchen. Keine wollte einen ganzen essen, jede verzichtete großmütig zugunsten der andern. Der Erfolg davon war, daß sogar noch zwei Pfannkuchen übrig blieben. Bei einem Haar wären dieselben noch in Klaus' unersättlichen Magen gewandert. Als er im Nebenzimmer den uneigennützigen Wettstreit vernahm, erbot er sich großmütig, sich zu opfern und die mit Pflaumenmus gefüllten beiden Urheber der lebhaften Auseinandersetzung ebenfalls noch zu vertilgen, auf daß sie den Kränzchenfrieden nicht störten.

»Jawoll, das könnte dir passen, aber daraus wird nichts, mein Söhnchen,« erhob Annemarie lebhaft Einspruch. Sie wurde darin von der Mutter unterstützt, welche die jungen Gäste ihres Töchterchens gerade zu begrüßen kam. Frau Doktor Braun schlug vor, eine ehrliche kränzchenschwesterliche Teilung vorzunehmen, jeder Pfannkuchen in drei Teile.

»Nee, aussteinen müßt ihr,« rief Klaus dazwischen, »ihr wollt doch mal Studentinnen werden.« Als Primaner hatte er bereits reges Interesse für studentische Gepflogenheiten.

»Au ja« – »aber du mußt uns sagen, wie man das macht« – »los, Klaus!« so bestürmten die Mädels ihn von allen Seiten. Sie waren gut Freund miteinander und duzten sich noch aus der Kinderzeit her. Nur Annemarie, die ihren Bruder am besten kannte, gab zögernd zu bedenken: »Aber du darfst dich nicht dabei beteiligen, Klaus, sonst betrügst du uns.«

»Dann macht's doch ohne mich.« Der junge Mann zuckte gleichmütig mit der Achsel und gab sich den Anschein, als ob er das Zimmer verlassen wollte.

»Hierbleiben« – »du soll uns das Aussteinen zeigen« – »natürlich darfst du dich auch daran beteiligen« – »Annemie hat ja nur Spaß gemacht,« schwirrte es wie in einem Bienenstock durcheinander.

Klaus war nicht empfindlich. Er ließ sich erbitten. »Also paßt auf: Wenn ihr mit der Hand eine Faust macht, das bedeutet einen Stein. Streckt ihr die Hand aus, so wird es ein Stück Papier. So – und kreuzt ihr Mittel- und Zeigefinger übereinander, so habt ihr eine Schere.« Sechs Mädchenhände, kleine und große, zarte und frostrote, bemühten sich eifrig, dem Primaner seine Kunst nachzumachen.

»Schön – nun aufgepaßt – jetzt kommt das Eigentliche: Der Stein schleift die Schere, die Schere schneidet das Papier, und das Papier wickelt den Stein ein. Also, wenn ich zum Beispiel einen Stein mache und Vera eine Schere, habe ich gewonnen, denn der Stein ist mehr als eine Schere, er schleift sie. Hat aber Vera statt der Schere die Hand ausgestreckt und ein Stück Papier dargestellt, so hat sie gewonnen, denn das Papier geht über den Stein, es wickelt ihn ein. Verstandez – vous?«

»Nee« – »keine Spur« – »völlig schleierhaft« – »aber Kinder, das ist doch klar wie Kloßbrühe!« Wieder erhob sich ein lebhafter Tumult. Annemarie und Marlene Ulrich waren die einzigen, welche die Auseinandersetzung begriffen hatten.

»Weibliche Sekundaner sind Heupferde,« stellte Klaus weniger ritterlich als sachgemäß fest. »Probiert's doch mal, man lernt's am besten in der Praxis. Aber, du Schafsbock, doch nicht alle auf einmal, immer nur zwei und zwei.« Diesmal galt die brüderliche Liebkosung der Schwester. Diese quittierte dankend mit einem Knuff.

»Los – Marlene und Ilse können beginnen – eins – zwei – drei – alle beide Stein, – noch mal – Marlene Schere, Ilse Papier, wer hat also gewonnen?«

»Marlene« – »nein, Ilse« – die Parteien waren sich nicht einig.

»Noch nicht mal die Reife für Sexta; wenn es nach mir ginge, kommt keine von euch zu Ostern nach der Obersekunda,« neckte der unverbesserliche Klaus. »Natürlich hat Marlens gewonnen, denn die Schere schneidet das Papier.«

Die schwarzzöpfige Marlene streckte erfreut die Hand nach dem leckeren, zuckerbestreuten Pfannkuchen aus. »Ich gebe dir die Hälfte ab, Ilse,« flüsterte sie ihrer blonden Intima tröstend zu.

Aber »liegen lassen – so schnell geht die Geschichte nicht,« kommandierte der Jüngling. »Jetzt muß Marlene erst mit einer anderen den Pfannkuchen aussteinen, wer weiß, ob sie ihn behält.«

Tatsächlich, wie gewonnen, so zerronnen. Marlene, die gedacht, mit »Schere« immer gewinnen zu müssen, mußte einsehen, daß der Stein die Schere schliff. Folglich hatte Margot, die eine Faust gemacht, ihr den Pfannkuchen abgewonnen. Aber auch diese durfte ihn nicht behalten. Marianne Davis zog zwar den kürzeren gegen sie, aber Vera Burkhard, mit der sie dann die Wette eingehen mußte, rief glückstrahlend: »Oh, ich habe die Papierr, die ist mehrr, viel mehrr als das Stein.«

Zum Schluß blieb der Wettkampf nur noch zwischen den beiden Busenfreundinnen Vera und Annemarie auszufechten.

»Ich verzichte freiwillig, Verachen, ich bin die Wirtin, laß dir den Pfannkuchen gut schmecken,« verkündete Annemarie großmütig.

»Ausgeschließt – ich nicht essen ohne dirr, wirr werrden steinen aus beide noch eine Mal.« »Eins, zwei, drei« – Annemarie Braun, die Wirtin, blieb Siegerin.

»Nee, Kinder, das geht auf keinen Fall, ich werde mir doch nicht den Pfannkuchen schmecken lassen, und ihr habt das Zusehen. überhaupt müssen wir erst noch den zweiten auswetten.«

»Halt – auf den lege ich Beschlag als Lehrergehalt,« posaunte jetzt Klaus los.

»Klaus hat recht« – »er hat den Pfannkuchen redlich verdient« – »wir haben ja statt dessen das Vergnügen des Wettspiels gehabt,« riefen die Mädels lachend. Nur Annemarie wollte davon nichts hören.

»Das wäre ja, um auf die Akazien zu klettern! Wir beiden Braunschen Sprößlinge futtern Pfannkuchen, und unsere Gäste können sich den Mund wischen! Mutti – Muttichen, komm du doch mal als Schiedsrichter herein.«

Nicht nur Frau Doktor Braun kam dem Hilferuf ihres Töchterchens nach, sondern auch der Vater, der gerade seine Sprechstunde beendigt hatte.

»Na, das lustige halbe Dutzend wieder mal versammelt? Was gibt's denn hier für eine Revolution, Jungs!? Ich denke, wir haben genug an der draußen im Lande.« Annemaries Vater, ein stattlicher Herr um die Fünfzig, pflegte sein Nesthäkchen stets als seinen dritten Jungen zu bezeichnen. Und seitdem sie nun gar ins Gymnasium ging, mußten sich auch die Freundinnen seine scherzhafte Benennung gefallen lassen.

»Vaterchen, zwei Pfannkuchen sind noch übrig. Einen hat Klaus schon vorher stibitzt. Und nun will er von den beiden auch noch einen haben. Und den anderen habe ich beim Wettspiel gewonnen. Aber dies geht doch auf keinen Fall. Meine Freundinnen haben jeder nur einen halben bekommen,« berichtete sein Nesthäkchen erregt.

»Hm – ein schwieriger Fall. Schade, daß ich Arzt und nicht Jurist bin. Hier kann nur ein salomonisches Urteil helfen. Wie wär's, Elsbeth.« Doktor Braun zwinkerte seiner Frau verschmitzt zu, »wenn unsere Hanne die fehlenden fünf Pfannkuchen noch schnell nachbackt?«

Seine Frau war nicht sehr erbaut von dem Vorschlag. Sie schüttelte den Kopf. »Es ist heute Sonnabend, Hanne ist noch beim Küchescheuern, da dürfen wir ihr nicht in die Quere kommen, sonst wird sie ungemütlich.«

»Ich weiß eine Weg aus,« meldete sich jetzt Vera.

»Also, was für eine Weg aus schlägst du vor?« Lachend wurde sie von den Gefährtinnen umringt.

»Wirr werrden geben dies eine Pfannkuchen an Klaus, und das anderre wirr werrden beißen ab jederr davon, bis err ist nichts mehrr da.«

Unter allgemeinem Jubel wurde Veras Vorschlag angenommen. Alle Parteien waren zufrieden gestellt. Nicht am wenigsten Klaus.

»Hol' doch ein Zentimetermaß, Lotte!« Vater und Mutter riefen ihr Nesthäkchen noch immer mit dem Kosenamen der Kleinkinderzeit. »Jede darf anderthalb Zentimeter abbeißen – neun bis zehn Zentimeter wird der Pfannkuchen im Durchmesser haben,« neckte Doktor Braun.

Aber so genau nahm man es nicht. Unter Lachen und Scherzen machte der Pfannkuchen die Runde. »Margot hat nur Luft abgebissen« – »Ilse, nicht die ganze Füllung« – »Zucker ablecken ist nicht – – –« Der eine Pfannkuchen mundete den sechs Mäulchen besser, als wenn Hanne noch eine ganze Schüssel davon gebacken hätte. Und zum Schluß blieb sogar noch ein Bissen übrig, den erhielt – Puck.

Die Kränzchenlaune, die nie zu wünschen übrig ließ, war durch die Pfannkuchenteilung noch fideler als sonst geworden. Frau Doktor Braun, welche im Nebenzimmer mit Briefschreiben beschäftigt war, lächelte vor sich hin. Es ging doch nichts über die Backfischzeit! All das Schwere, was die letzten Jahre mit sich gebracht, hielt vor diesem jungfrischen Lachen nicht stand. Die Jugend würde schon mit der schlimmen Zeit fertig werden, ihr gehörte die Zukunft. Und hoffentlich eine bessere!

Auch in dem kleinen, einfenstrigen Zimmer, das auf der anderen Seite an das Annemaries stieß, lauschte einer bei seiner griechischen Aschylosübersetzung auf das übermütige Gekicher nebenan.

»Richtige alberne Gänse – schnattern und schnattern – und unsereiner muß sich abquälen.« Ein halb verächtlicher, halb neidischer Seufzer schloß die nachdenkliche Betrachtung des Primaners.

Bald aber kam auch in Annemaries hübschem Mädchenzimmer Ernst und Arbeit zu seinem Recht. Das »Tugendschäfchen«, Margot Thielen, unterbrach plötzlich die ausgelassene Stimmung: »Kinder, ich denke, ihr schreibt Montag lateinische Versetzungsextemporale und wollt noch gemeinsam dazu wiederholen.«

»Himmel, hast du keine Flinte – das lateinische Extemporale habe ich total verschwitzt – Tugendschäfchen erinnert natürlich daran, trotzdem es nicht mal mitschreibt.«

Margot Thielen war die einzige der sechs Freundinnen, die nicht mit auf das dem Schubertschen Lyzeum angegliederte Gymnasium übergegangen war. Ihre Fähigkeiten lagen vor allem in weiblicher Betätigung. Dabei war sie so fleißig und gewissenhaft, daß sie, trotzdem sie lange nicht so begabt war wie zum Beispiel Annemarie Braun, meistens einen höheren Platz in der Schule einnahm als diese.

»Also schön, Margot, du kannst unsern ollen Professor Herwig vorstellen. Da mußt du aber auch so heiser und hüstelnd sprechen wie der und ab und zu eine Prise nehmen.« Doktors Nesthäkchen hatte bereits ihre Hand zu einer niedlichen Schnupftabakdose geformt und zog mit krausem Naschen die vermeintliche Prise ein.

»Famos« – »genau wie Herwig« – »zum Verwechseln ähnlich!« Der Jubel stieg.

»Wenn wir noch zum Extemporale wiederholen wollen, ist es aber wirklich höchste Eisenbahn,« unterbrach Marlene Ulrich, eine sehr gewissenhafte Schülerin, die Ausgelassenheit. »Annemie, hole Papier und Bleistifte. Margot, du nimmst die Grammatik und diktierst aus Lektion 12-18, Deklination, Konjugation, Vokabeln und Sätze, alles durcheinander. Das übt am meisten.«

Bald saß das lustige halbe Dutzend mit gezücktem Bleistift vor dem leeren Bogen. Aber die Lustigkeit verging einigen von ihnen bald.

»Nicht so schnell, Margot – wer soll denn da mitkommen,« begehrte Ilse auf.

Auch Marianne kam nicht mit. »Weil du selber kein Latein kannst, denkst du wohl, wir müssen es aus dem Ärmel schütteln!«

»Bitte, sage das letzte Satz noch eine Mal mehrr, ich nicht haben verstanden!« Selbst Veras blasse Wangen begannen sich zu röten.

»Konjugation, Margot – Herwig will uns diesmal besonders mit Konjugieren zwiebeln. Ach, zu Ablativ bist du wohl zu dämlich,« meinte Doktors Nesthäkchen treuherzig, ohne es böse zu meinen.

Aber Fräulein Margot war empfindlich. »Lernt doch euer lateinisches Zeug allein, wenn ihr glaubt, daß ich zu dämlich dazu bin!« Damit schlug sie die Grammatik zu, während ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Aber Margotchen, ich wollte dich doch nicht beleidigen!« Annemaries lustiges Gesichtchen schaute plötzlich betreten drein. »Sei kein Frosch und diktiere weiter.«

»Ach, wenn du immer so zu mir bist, so – so – überhebend – und überhaupt, wie du noch nicht mit Vera Burkhard befreundet warst, hast du mich viel lieber gehabt und – und – ich kann doch nichts dafür, daß ich nicht auch im Gymnasium bin – – –« Das Mitleid mit sich selbst überwältigte Margot. Ein Taschentüchlein mit rosa Kante erschien auf der Bildfläche.

»Ach, Marrgot, wie kannst du nurr glauben dies. Annemarrie lieben dirr gerade so viel wie mirr und überhaupt, wirr sein doch alle Schwesters – Krränzchenschwesters,« begütigte Vera in ihrer lieben Art.

»Wer Annemarie etwas übelnimmt, der hat wirklich einen kleinen Piep. Das weiß doch jede von uns, daß die es mit dem Mund nicht so genau nimmt und schnell mal was hinsagt.«

»Du, sei still, Ilse, du bist selbst oft übelnehmend,« verteidigte sich Annemarie. »Aber nun denke ich, wir fahren wirklich fort in unserm Latein.«

Hanne aber, die alte Köchin bei Doktors, welche alle drei Braunschen Sprößlinge einst auf ihren derben Armen gewiegt hatte, war anderer Meinung. Sie öffnete ohne Umschweife die Tür, stellte eine kalte Speise – »Blubber« nannten ihn die Mädels – mitten auf den Tisch neben die lateinische Grammatik und verkündete: »So – nu Schluß mit die Jelehrsamkeit! Jetzt wird erst mal 'n bißchen jefuttert. Vorn Magen sorjen is besser als vorn Kopp.« Hanne war ein Unikum. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund. Doktors hielten ihrer bewährten Treue manch offenes Wort zugute. Mit Nesthäkchens Gymnasiallaufbahn war sie ganz und gar nicht einverstanden. »Puren Unverstand« nannte sie es, daß das »Kind« all das gelehrte Zeug in seinen Kopf pfropfen mußte.

»So, Annemiechen, kram man das Jeschreibsel zusammen, daß ich die Teller rumsetzen kann.« Hanne duzte immer noch Annemarie, trotzdem die ihr fast schon über den Kopf gewachsen war. Aber wenn sie zu dem Hausmädchen von ihr sprach, sagte sie nicht anders als »unser Fräulein« – anders tat Hanne es nicht.

Die Backfischchen waren durchaus nicht böse über die angenehme Unterbrechung. Sie zeigten fast noch größeren Eifer bei der eingehenden Beschäftigung mit der Speise als vorher bei der lateinischen Konjugation. Und als man seine Pflicht voll und ganz erfüllt hatte, indem man die Kränzchenspeise bis zum letzten Körnchen vertilgt hatte – wenn Klaus sich nicht als bedachter Mann noch rechtzeitig eingestellt, hätte er das Nachsehen gehabt – ja, nachher war es auch zu spät geworden, um noch einmal mit Latein zu beginnen. Denn der noch immer trotz Friedens knappen Lebensmittel wegen fand das Kränzchen ohne Abendbrot statt. Um acht Uhr mußte eine jede daheim sein. Und Marlene und Ilse hatten einen weiten Weg.

Mit vielen Küssen trennte sich das lustige halbe Dutzend.

»Auf Wiedersehen – auf Wiedersehen« – – – »Daumen drücken zu Montag!« – – – Nur Margot, die in demselben Haus wohnte, blieb noch ein Weilchen und ward dadurch wieder von ihrem Schmerz geheilt, denn jetzt war sie wieder Annemaries »Beste«.

10. Kapitel. Kindermädel.

Ein geschmackvolles, weißes Landhaus, mit blauen Klematisglocken über und über behangen, lag im sonnendurchleuchteten Garten. Das war Parkstraße Nr. 2. An der weißen Holzgittertür war ein Porzellanschild angebracht, »Dr. med. Waldemar Lange, praktischer Arzt. Sprechstunde 8-10, 4-6 Uhr«, stand darauf zu lesen.

Annemaries Herz tat zum zweitenmal einen Freudensprung. Ihr Glücksstern hatte das Doktorkind gerade in das Haus des Arztes geführt. Wenn die Stelle bloß noch nicht besetzt war!

Sie zog die Messingklingel. Die Tür öffnete sich von selbst. Den resedabesäumten Steig unter schwerbeladenen Obstbäumen schritt Annemarie entlang bis zur Steintreppe. Hinter dem Hause wurden Kinderstimmen laut. Sicher ihre zukünftigen Zöglinge.

Die Eingangstür ward geöffnet. Annemarie stand in der Diele vor einem Mädchen mit Latzschürze und weißem Häubchen.

»Sprechstunde ist schon vorüber. Sie müssen nachmittags um vier wiederkommen,« teilte ihr der dienstbare Geist mit.

Annemarie mußte lachen, daß man sie für eine Patientin hielt.

»Ich komme auf die heutige Annonce, um mich als Kindermädchen vorzustellen.«

»Ach so.« Das Mädchen schlug sogleich einen vertraulichen Ton an. »Nu, soweit sein se jo hier ganz nett. Aber die Kleinste ist schrecklich verzogen. Und Butter und Zucker hat se eingeschlossen, und alle vierzehn Tage bloß – – –«

»Das interessiert mich nicht,« unterbrach Annemarie die Vertraulichkeit mit einem ihr sonst fremden Hochmut. Nicht etwa, daß es sie verletzte, daß das Mädchen sie in ihrem Blümchenbauernkleid für ihresgleichen hielt. Im Gegenteil, das machte ihr Spaß. Aber es paßte ihr nicht, hinter dem Rücken der Herrschaften mit dem Mädchen über dieselben zu sprechen.

»Nu, da kummen Sie ooch rein; Ihren Rucksack können Sie hier haußen lassen. Aber wenn und Se können nich gleich zuziehen, denn is es nischte. Ich muß zu meiner Muttel daheime, die is krank – – –« Damit öffnete das Mädchen die Tür zum Balkonzimmer und ließ Annemarie eintreten.

Auf dem Balkon, der in den Hintergarten hinausschaute, war eine Dame mit glattgescheiteltem braunen Haar mit Zuschneiden von Kinderhöschen beschäftigt.

»Gnädige Frau, hier wär' ein Kindermädel auf die heutige Annonce,« meldete das Mädchen.

»Das junge Mädchen kann zu mir auf den Balkon herauskommen.« Freundliche braune Augen blickten der nähertretenden Annemarie prüfend entgegen.

»Guten Tag, liebes Kind. Ich brauche sofort Ersatz für mein Kindermädel, sind Sie frei?«

»Ja – ich könnte gleich zuziehen.« Annemarie pochte das Herz, als ob es galt, das Abiturientenexamen zu bestehen.

»Haben Sie Ihre Zeugnisse da?«

Das junge Mädchen erblaßte. An die Notwendigkeit von Zeugnissen hatte sie nicht gedacht. Besaß sie doch nur ihre Schulzeugnisse.

»Ich war noch nicht in Stellung – ich habe nur bei Verwandten geholfen.« Das kam etwas unsicher heraus.

»Dann wissen Sie auch nicht mit Kindern umzugehen?«

»O doch, ich habe den Kleinen dort meistens ganz allein besorgt, und ich habe Kinder riesig gern.« Die Blauaugen strahlten die Dame vertrauenerweckend an.

»Das ist mir lieb. Und was verstehen Sie von Hausarbeit?«

»Ich kann Zimmer aufräumen.« Das hatte sie wirklich schon mal getan, als das Hausmädchen zu Hause krank gewesen.

»Na, was Sie nicht verstehen, zeige ich Ihnen. Sie sind ja jung und können noch lernen. Wenn Sie nur willig sind.«

»Das werde ich sicher sein,« versprach das neue Kindermädel treuherzig.

»Kinderwäsche müssen Sie natürlich waschen.«

»Natürlich,« erklärte sich Annemarie einverstanden und hatte keine Ahnung, wie man das machte.

»Wie sind Ihre Gehaltsansprüche?«

Annemarie dachte angestrengt nach. Soviel, daß ich die Reise nach Berlin bezahlen kann – das konnte sie doch der Dame unmöglich sagen.

»Mein jetziges Mädel erhält dreißig Mark im Monat. Ich würde Ihnen dasselbe geben. Bin ich zufrieden, lege ich zu. Ist Ihnen das recht?« fragte die Dame.

»Ja, natürlich.« Eine Fahrkarte vierter Klasse bekam man dafür sicher nach Berlin.

»Schön, dann will ich's mit Ihnen versuchen, trotzdem ich sonst nie ohne Zeugnisse oder Erkundigungen miete. Aber ich bin in Verlegenheit. Und ich denke, daß ich mich nicht in Ihnen täusche. Hoffentlich bleiben wir lange beisammen.«

»Ich hoffe gerade das Gegenteil, daß die Eisenbahnsperre recht bald aufgehoben wird,« dachte Annemarie und schämte sich, daß sie in Gedanken das Vertrauen der netten Dame täuschte. Aber was wollte sie machen? Sagte sie, daß sie die Stelle nur vorübergehend haben wollte, würde man sie sicher nicht nehmen. Wovon sollte sie dann leben?

»Also dann ist die Sache in Ordnung. Wie heißen Sie?«

»Annemarie Braun.« Einen fremden Namen mochte Doktors Nesthäkchen doch nicht angeben.

»Wie alt?«

»Ich werde siebzehn.« Sie war zwar vor kurzem erst sechzehn geworden, aber sie sagte damit keine Unwahrheit.

»Wo sind Sie her?«

»Aus – aus Arnsdorf in Schlesien.« Da kam sie ja wirklich her.

»Schön – haben Sie Verwandte am Ort?«

»Nein, ich bin ganz fremd hier.«

»Dann können Sie Ihren Korb bringen und sobald als möglich zuziehen. Mein Mädchen ist aus einem Dorf in der Umgegend und möchte am liebsten sofort nach Hause, da die Mutter erkrankt ist.«

»Ich könnte gleich hierbleiben, gnädige Frau. Das Notwendigste habe ich in meinem Rucksack draußen, und mein Korb – mein Korb ist noch unterwegs.« Das war wieder keine Lüge.

Dennoch wurde die gnädige Frau stutzig. Da schien irgendwas nicht zu stimmen. Aber sie war in großer Verlegenheit und froh, so schnell ein Kindermädel zu bekommen. Auch machte ihr die Neue einen denkbar guten Eindruck. So freundlich und freimütig war das junge Ding. Vielleicht ein bißchen zu fein, aber das war nur gut im Verkehr mit den Kindern. Da lernten sie nichts Schlechtes.

»Gut, dann bleiben Sie gleich hier, Annemarie. Und noch eins. Sie müssen in den Sprechstunden den Patienten die Tür öffnen, lernen, Bestellungen für Herrn Doktor ganz genau aufzuschreiben und das Telephon zu bedienen. Es ist nicht allzu schwer.«

»Das kann ich schon«, entfuhr es Annemarie unüberlegt.

»Woher denn?« Wieder stutzte die Dame.

Das neue Kindermädel wurde rot bis an die krausen Blondhaare. »Ich habe zu Hause schon mal bei unserm Doktor geholfen.« Ach Gott, dies war das schwerste für die ehrliche Annemarie, daß sie ständig die Wahrheit umgehen mußte.

Frau Doktor Lange gab sich zufrieden. Der Grund war einleuchtend.

»Nun werde ich Sie gleich mit Ihren kleinen Pflegebefohlenen bekannt machen, Annemarie.« Die Dame schritt eine von der Veranda hinabführende Treppe hinunter in den Garten. Das neue Kindermädel folgte, selig, daß das schwere Examen so gut vorübergegangen war.

»So, Rudi und Kätherle, das ist eure neue Annemarie! Nun seid mal recht lieb zu ihr.«

Ein allerliebstes, vielleicht zweijähriges Mädchen kam auf die Mutter mit tappelnden Schritten zu. Annemarie fing es lachend auf. Das Kleine verzog erst das Mündchen ein wenig, als ob es weinen wollte. Aber als es in Annemaries lustige blaue Augen blickte, begann es ebenfalls zu lachen und zu jauchzen.

»Das freut mich, Annemarie, daß unser Kätherle gleich zu Ihnen geht. Der Rudi, unser Großer, wird schon bald zehn Jahre. Gib der Annemarie die Hand, Rudi. Und dann ist da noch die Edith – wo steckst du denn, Mädel? Komm, sage artig guten Tag.« Um die Ecke der Laube lugte ein braunes Lockenköpfchen und verschwand sofort wieder.

»Wir werden uns schon anfreunden«, versprach Annemarie und ließ Kätherle wie Bübchen Huckepack reiten. Durch den ganzen Garten klang das Jauchzen. Das braune Lockenköpfchen wagte sich wieder neugierig hervor.

»Nun, ich sehe, Annemarie, daß Sie mit Kindern umzugehen wissen. Ich überlasse Ihnen jetzt meine kleine Gesellschaft. Gefrühstückt hat sie schon. Aber Sie selbst werden vielleicht hungrig sein?« fragte Frau Doktor freundlich.

»Ja, ich habe seit heute morgen noch nichts gegessen«, gab Annemarie zu. »Aber ich habe noch Stullen in meinem Rucksack, die werden sonst alt.«

»Stullen?« lachte Rudi sie aus. Er kannte das Wort nicht.

»Das sind Schnitten«, belehrte ihn die Mutter. »Aber wie kommen Sie zu dem Berliner Ausdruck, Kind?«

»Ich – wir haben Verwandte in Berlin, die uns öfters besuchen«, redete sich Annemarie in größter Verlegenheit heraus. Nun mußte sie doch schwindeln.

»Lassen Sie sich in der Küche einen Topf Suppe zu Ihren Schnitten geben, Annemarie. Rudi, zeige der Annemarie die Küche.« Kopfschüttelnd ging Frau Doktor Lange zurück ins Haus. Ob sie recht getan hatte, das fremde Mädchen, von dem sie nichts wußte, nur auf sein vertrauenerweckendes Wesen hin ins Haus zu nehmen? Irgend etwas war da nicht ganz in Ordnung – am Ende war sie von Hause fortgelaufen. Aber schlecht war das Mädel sicher nicht. So konnten die blauen Augen nicht lügen.

Das neue Kindermädel hatte die Bekanntschaft der Köchin gemacht, einer ziemlich mürrischen Person. Es hatte seiner Vorgängerin den Korb fortschaffen helfen und sich selbst mit seinem Rucksack im Kinderzimmer einquartiert. Das war gut, daß sie nicht mit der brummigen Auguste zusammen wohnen mußte, sondern bei den Kindern schlafen sollte. Auguste hätte sich gewiß auch über die elegante Wäsche des neuen Mädchens gewundert.

Frau Doktor legte ein frisch gewaschenes schwarzes Satinkleid, Latzschürzen und Häubchen auf den Tisch.

»Annemarie, Ihr Bauernkleid ist ja sehr nett, aber Herr Doktor wünscht, daß unser Mädchen in den Sprechstunden Schwarz trägt. Ich gebe daher jedem neuen Mädchen ein Kleid, zwei Schürzen und zwei Häubchen. Sind Sie länger als ein Jahr bei uns, dürfen Sie die Sachen behalten.«

Annemarie mußte lachen. Da würde sie das Kleid wohl kaum bekommen. Als Frau Doktor die Kinderstube verlassen hatte, schlüpfte sie in ihre neue Livree.

O Gott, sah sie drollig aus! Wie zu einem Kostümball. Das Kleid paßte vorzüglich, Annemarie war ja groß und schlank. Die Schürze mochte auch noch gehen. Verlangte doch auch Mutti, daß sie zu Hause eine Schürze tragen sollte. Aber das Häubchen! Nein, war das komisch – war das ulkig! Das neue Kindermädel lachte sein hübsches Spiegelbild unter dem weißen Tollhäubchen an, daß es Tränen in den Blauaugen hatte. Wenn doch nur eine der Kränzchenschwestern zum Mitlachen hier gewesen wäre. Was Vera wohl zu ihr sagen würde!

»Ei, Annemarie, Sie freuen sich ja so über Ihren neuen Staat. So was haben Sie wohl daheim in Ihrem Dorf noch nicht gesehen?« Lächelnd beobachtete die zurückkehrende Frau Doktor die Lustigkeit ihres Kindermädels. »Nun können Sie noch für Kätherle ein Paar Höschen plätten und dann mit den Kindern spazieren gehen. Sind Sie gewöhnt, mit Gaseisen oder Bolzen zu plätten?«

Ach, das neue Kindermädel war gar nicht gewöhnt, zu plätten. Das bekam seine Wäsche, seine Blusen und weißen Kleider tadellos von dem Hausmädchen daheim hergerichtet. Mutti hatte manchmal gesagt, ihre Lotte solle sich nicht so bedienen lassen. Sie könne sich ganz gut allein eine Bluse aufplätten. Aber dann war ganz sicher die gute Hanne eingesprungen und hatte ihr das Plätteisen aus der Hand genommen. Nein, das litt die nicht, daß Doktors Nesthäkchen selbst plättete. Das »Kind« hatte sich gerade genug mit Lernen abzuquälen.

»Bei uns zu Hause wurde elektrisch geplättet.«

Wieder mußte sich Frau Doktor über ihr vornehm gewöhntes Mädchen wundern. Aber elektrische Kraft war ja auf dem Lande billig, schließlich war man jetzt in jedem Nest schon vorgeschritten.

»Na, wir plätten noch mit Bolzen. Auguste hat ihn bereits eingelegt. Das Plättbrett steht in dem Wirtschaftsraum neben der Küche. Auguste wird Ihnen schon Bescheid sagen.«