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1. Kapitel. Marietta.

Oktobersonne blinzelte durch hohe, unverhangene Fenster. Sie malte goldene Strahlenkegel an die schlichtgetünchte Wand des Klassenraumes. Sie streichelte mit warmen Fingern junge Mädchengesichter, die sich voll Andacht und Eifer dem Katheder zuwandten. Dort stand eine Frau, die mit ernsten, warmen Worten die jungen Zuhörerinnen in Bann hielt. Eine von den Frauen, die ihre starke Persönlichkeit schon beim ersten Zusammensein offenbaren. Sie war weder jung noch alt, weder hübsch noch häßlich. Ein feingeschnittener, kluger Kopf mit ruhigen, in die Tiefe schauenden Augen. Das war Fräulein Dr. Engelhart, die Leiterin der sozialen Frauenschule.

Zum erstenmal hatte sich die unterste Fachklasse zu Beginn des neuen Lehrjahres versammelt. Herzklopfend, in seltsamer Befangenheit, wie man einst als kleine Abcschützen den ersten Schritt in das Schulleben hinein getan, so hatten die fast zwanzigjährigen Mädchen heute die soziale Frauenschule betreten. Aber bei den gütigen Begrüßungsworten der Vorsteherin wich jede Befangenheit. Heiligen Ernst, erwartungsvolle Arbeitsfreudigkeit offenbarten die jungen Gesichter der Zuhörerinnen. O ja, sie wußten es, daß es ein schweres Feld war, das es für sie zu beackern galt.

»Der soziale Beruf sollte nur von denen ergriffen werden, die der Ruf einer inneren Stimme dazu treibt, die sich im wahren Sinne des Wortes dazu berufen fühlen. Soziale Hilfsbereitschaft verlangt volle Hingabe, dienende Liebe. Sie verlangt Menschen, die ihr eigenes Selbst hintenansetzen, in der Allgemeinheit aufgehen können. Nur wer mit diesen Vorbedingungen in den sozialen Beruf eintritt, wird eine beglückende, erfüllende Aufgabe finden.« So klang es ernst und verheißungsvoll von den Lippen der Sprechenden.

Fräulein Dr. Engelharts Blick, der die neuen Zöglinge prüfend überflog, blieb in der vorletzten Reihe haften. War es das goldbraune Kraushaar, über das die Oktobersonne all ihr flimmerndes Gold ausgestreut zu haben schien, das wie ein Heiligenschein ein schmales, zartes Mädchengesicht umstrahlte, was den Blick der Vorsteherin hielt? Oder waren es die großen schwarzen Augen, die in selbstvergessener Hingabe an den Lippen der Sprechenden hingen? Fräulein Dr. Engelhart, daran gewöhnt, schnell und sicher zu sondieren, empfand sofort Fäden der Sympathie und Gemeinschaft, die von dem unbekannten, neuen Zögling sich zu ihrer eigenen Person herüberspannen. Aber auch die klaren, blaugrauen Augen der Danebensitzenden mit dem schlichten Blondscheitel, die ihren Ausführungen so verständnisvoll folgten, fesselten die Menschenkennerin.

»Es ist notwendig, meine Damen,« fuhr sie in ihrer Rede fort, »daß sich jede von Ihnen sobald wie möglich, schon bei Beginn ihrer sozialen Laufbahn, klar darüber wird, zu welchem Ziele Sie der einzuschlagende Weg führen soll, welchem Sondergebiet der sozialen Fürsorge Sie sich widmen wollen. Es ist dies für die praktische Tätigkeit, die Hand in Hand mit unseren theoretischen Lehrkursen geht, unumgänglich. Wir unterscheiden drei Hauptgruppen, für die wir Wohlfahrtspflegerinnen ausbilden. Die erste ist die Gesundheitsfürsorge. Sie können auf dem Boden dieser Abteilung Beamtin an Säuglingsfürsorgestellen, städtische Armenpflegerin, Lungenfürsorgeschwester, Wohnungsinspektorin werden. Es ist ein großes Feld für soziale Tätigkeit. – Die zweite Hauptgruppe umfaßt die Jugendwohlfahrtspflege. Diese Gruppe bildet Schul-, Jugend- und Waisenpflegerinnen aus. Die dritte und letzte Gruppe ist der allgemeinen und wirtschaftlichen Wohlfahrtspflege gewidmet, insbesondere der Arbeiterinfürsorge. Fabrikpflegerinnen und Beamtinnen für Arbeiterinnenheime und Vereine gehen aus ihr hervor.«

»Das ist für dich das Richtige, Marietta, – die Arbeiterfürsorge«, flüsterte die Besitzerin der blaugrauen Augen da hinten auf der vorletzten Bank ihrer Nachbarin mit dem goldbraunen Heiligenschein zu.

»Wollen Sie sich irgendwie dazu äußern, Fräulein – wie war doch Ihr Name?« wandte sich Fräulein Dr. Engelhart freundlich an die Flüsternde.

»Ebert – Gerda Ebert.« Das blasse Mädchengesicht überzog leichte Röte. »Ich meinte nur, Arbeiterfürsorge wäre das richtige Feld für meine Kusine Marietta Tavares. Und ich selbst möchte – –«

»Nun – nun, Fräulein Ebert, ich verlange nicht, daß Sie diese für die Zukunft schwerwiegende Frage sofort entscheiden sollen. Gut Ding will gute Weile haben. Erst müssen Sie einen Einblick in unsere verschiedenen Abteilungen mit ihren Anforderungen und Pflichten bekommen, bevor Sie einen endgültigen Entschluß fassen. Dabei muß Sie Ihre eigene Veranlagung leiten. Sie selbst müssen es fühlen, zu welcher sozialen Betätigung Sie Ihr Inneres treibt. Keiner der Wege ist leicht, jeder ist gleich schwer, das darf ich Ihnen nicht verhehlen. Nur wer sich selbst geprüft hat, wer zielbewußte Pflichttreue und volle Aufopferung dazu mitbringt, ist uns als Weggenossin im Dienste der Menschheit willkommen. So, meine Damen,« – Fräulein Engelhart schlug jetzt einen sachlichen Ton an, – »nun notieren Sie bitte den Stundenplan.«

Da wurde es mancher der jungen Novizen im Reiche der sozialen Hilfsgemeinschaft etwas schwül zumute. Schon bei den eindringlich mahnenden Worten der Anstaltsleiterin hatte sich diese und jene bange gefragt, ob man auch wirklich die notwendigen Vorbedingungen für den schweren sozialen Beruf mitbringe. Himmel, man war doch knapp zwanzig Jahre alt, das Leben mit all seinen Freuden lag vor einem. Man lachte gern, man belustigte sich, und man tanzte nur allzu gern. Und doch wollte man helfen, Tränen stillen, Schmerzen lindern. Aber man hatte es sich leichter gedacht. Schon der Stundenplan. Da gab es Berufskunde und soziale Literatur, Gesundheitslehre und Gesundheitsfürsorge, Pädagogik und Jugendfürsorge. Da gab es Volkswirtschaftslehre und Sozialpolitik, Worte, bei denen einem allein schon himmelangst werden konnte. Unter denen man sich vorläufig nur einen steilen Berg, den man niemals erklimmen würde, vorzustellen vermochte.

Die schwarzen Augen unter dem goldbraunen Kraushaar in der vorletzten Reihe schienen diese bange Beklommenheit besonders sprechend zum Ausdruck zu bringen. Fräulein Engelhart, die gerade »Buchführung und Verwaltungskunde« diktierte, unterbrach sich lächelnd: »Fräulein Tavares, Sie brauchen nicht solche bangen Augen zu machen. Das hört sich für den Neuling schlimmer an, als es ist. Das Labyrinth der Ihnen fremden Sozialgebiete wird Ihnen allmählich schon vertraut werden. In einem Tag ist auch Rom nicht erbaut worden. Nur guten Willen, ernstes Pflichtbewußtsein müssen Sie als Wanderstab mitbringen. Aber auch des Jugendfrohsinnes, frischen fröhlichen Muts bedarf es zu Ihrer Aufgabe, die Sie vor Verflachung schützt, Sie über persönliche Interessen hinaus Gemeinschaftszielen zum Wohle Ihrer Mitmenschen entgegenführt. Wer einen Teil seines Lebens wahrhaft hingibt, wird ungeahnte Schätze dabei heimtragen. Lassen Sie mich zum Schluß Ihnen als Weggeleit ein Wort Marie von Ebner-Eschenbachs mitgeben: ›Wenn uns auf Erden etwas mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt wird, so ist es unsere Menschenliebe.‹« Die Leiterin der sozialen Frauenschule neigte leicht grüßend den Kopf und verließ den Klassenraum.

»Eine wundervolle Frau!« Man wußte nicht, wer es gesagt, wer das ausgesprochen, was eine jede der Schülerinnen empfand.

Die beiden aus der vorletzten Reihe schritten Arm in Arm durch das schmiedeeiserne Gittertor hinaus in den herbstelnden Vorgarten. Die eine, groß und überschlank, ging fest und sicher, die blaugrauen Augen geradeaus auf ein unsichtbares Ziel gerichtet. Die andere, fast um einen Kopf kleiner, von elfenhafter Anmut, blickte noch immer zaghaft. Sie kam sich vor wie das losgelöste Blatt zu ihren Füßen, das der Wind hierhin und dorthin wehte. Und doch hielt sie selbst jetzt ihr Schicksal in der Hand, konnte es hinsteuern, zu welchem Ziele sie wollte.

»Mit einer solchen Frau wie Fräulein Dr. Engelhart gemeinsam zu wirken, ist allein schon ein Gewinn für das Leben«, unterbrach die größere der Kusinen das minutenlange Schweigen. »Ich freue mich auf die Arbeit. Je schwerer sie ist, um so größer ist der Erfolg.«

Marietta blickte bewundernd zu ihrer Gefährtin auf. Wie sicher Gerda des Erfolges war, während sie selbst sich bange fragte, ob es nicht eine Anmaßung von ihr sei, sich auf solch ein schwieriges Gebiet zu begeben.

»Du bist so still, Jetta. Hat dich der erste Tag in der sozialen Frauenschule oder gar deren Leiterin enttäuscht? Es erscheint mir undenkbar.«

»Nein, Gerda!« Das goldbraune Kraushaar flatterte im Winde, so lebhaft wurde der Kopf geschüttelt. »Nur von mir selbst bin ich enttäuscht. Ich fürchte, den großen Anforderungen, welche die soziale Frauenschule verlangt, nicht gewachsen zu sein.« Marietta sprach ein fehlerloses Deutsch. Nur leichter, fremdländischer Anklang erinnerte daran, daß sie ein Kind ferner Zonen war.

»Du mit deinem warmen, die ganze Menschheit umfassenden Herzen? Ich wüßte nicht, wer mehr für soziale Tätigkeit geeignet wäre als du, Jetta«, protestierte die andere.

»Wenn es nur mit dem Herzen zu schaffen wäre. Aber der Verstand scheint mir für unseren Stundenplan notwendiger zu sein. Ich weiß nicht, ob ich den schweren Lehrkursen werde folgen können. Ja, wenn ich so klug wäre wie du.«

»Du leidest wieder mal an falscher Bescheidenheit, Jetta. Das Theoretische wirst du so gut wie jede andere bewältigen. Und für die Praxis bedarf es vor allem starker Menschenliebe und Selbstaufopferung, die du in vollstem Maße besitzt. Hat meine Mutter es nicht oft genug während deiner zweijährigen Hilfstätigkeit in ihren Kleinkinderkrippen und Jugendhorten geäußert, daß keine andere sich so ganz einsetzt wie du? Na also! Dir fehlt nur Selbstvertrauen. Du darfst nicht auf den mühevollen Weg schauen, sondern auf das Ziel, das es zu erreichen gilt. Denke nur, Jetta, wenn du die Arbeiterfürsorge bei euch drüben in Brasilien nach europäischen Mustern wirst ausbauen können, was für ein reiches, soziales Feld da vor dir liegt.« Gerda Ebert sprach klug und fließend.

Marietta war stehengeblieben. Sie kämpfte augenscheinlich, ob sie das, was sie bewegte, in Worte fassen wollte. Das Blut kam und ging in ihrem zarten Gesicht.

»Nun?« fragte Gerda erstaunt. Sie blickte von der Kusine zu dem Schaufenster mit Lichten, Seifen, Waschpulvern und Bürsten, vor dem sie gerade haltgemacht. Was konnte denn die Kusine hier fesseln?

»Es ist nicht allein Mangel an Selbstvertrauen, Gerda. Es ist vor allem der Entschluß über unsere Zukunft, den Fräulein Engelhart von uns verlangt und der mich beschwert. Du glaubst nicht, wie haltlos und unsicher es mich macht, daß ich jetzt vor eine Entscheidung gestellt bin.« Marietta schien erregt.

Am Gegensatz dazu stand die ruhige Verwunderung der Gefährtin. »Entscheidung? Wir sind doch beide längst entschieden, welchen sozialen Zielen wir zustreben. Schon als Backfisch hast du davon geschwärmt, euren Plantagenarbeitern in Brasilien bessere Lebensmöglichkeiten zu schaffen, eine soziale Helferin der bedrückten Arbeiterklassen in Sao Paulo zu werden.«

»Ja, davon habe ich früher stets geträumt, es mir als Zukunftsideal ausgemalt. Aber jetzt, wo ich den Weg dazu einschlagen soll, da sehe ich nur, daß er mich über das große Wasser zurückführt, fort von allem, was mir in den fünf Jahren meines Aufenthaltes in Europa teuer und lieb geworden ist. Es erscheint mir geradezu als Unmöglichkeit, wieder in die Tropen zurückzugehen.«

»Kindchen, du weißt ja nicht, was du willst«, lachte sie die Kusine aus. »Brasilien ist doch deine Heimat, du hast deine Eltern, deine Geschwister in Sao Paulo. Und du tust, als ob du in die Fremde solltest.«

»Ich bin dort fremd geworden, Gerda. Ich bin wohl niemals dort richtig daheim gewesen. Das ist mir erst zum Bewußtsein gekommen, als ich deutschen Boden betreten. Das mütterliche deutsche Blut in mir ist stärker als das väterliche. Als meine Eltern mich vor einem Jahr bei ihrem letzten europäischen Besuch wieder mit hinübernehmen wollten, habe ich sie himmelhoch gebeten, mich hier in Deutschland meine sozialen Studien vollenden zu lassen. Nur einen Aufschub wollte ich – und ich habe es ja auch durchgesetzt. Aber nun muß ich mich entscheiden. Was soll ich tun? Niemals war ich unentschlossener.«

»Ich weiß immer, was ich will«, sagte Gerda kopfschüttelnd. »Ich habe stets der Gesundheitsfürsorge besonderes Interesse entgegengebracht. Meine Arbeit soll der Hebung der Volksgesundheit gehören. Willst du hier in Deutschland Fabrikpflegerin oder Beamtin an einem Arbeiterheim werden, wenn du nicht nach Brasilien zurückgehst?« Alles, was Gerda sagte, war klar und sachlich.

Marietta schüttelte den Kopf. »Wenn ich hierbleibe, würde ich die Jugendfürsorge für mich als Beruf wählen. Ich habe es während der praktischen Arbeit in Gemeinschaft mit deiner Mutter erkannt, daß es besonders die Kinder sind, zu denen mich mein Herz zieht. Aber es kommt mir wie ein Verrat an unseren armen, brasilianischen Arbeitern vor.«

»Ja, Kindchen,« – trotzdem Gerda die jüngere war, erschien sie als die überlegenere, – »ja, das mußt du mit dir allein abmachen. In so wichtigen Lebensfragen kann einem kein Mensch raten. Was ich an deiner Stelle täte, wüßte ich. Mich würde es viel mehr reizen, drüben in Brasilien soziale Hilfstätigkeit zu organisieren, Neues zu schaffen, als hier ausgetretenen Pfaden nachzugehen. Aber da kommt meine Elektrische. Überleg' es dir, Jetta – auf Wiedersehen morgen. Und grüße den Großpapa und die Großmama.«

Das Letzte klang schon von der Plattform der sich in Bewegung setzenden Elektrischen herunter.

Marietta blickte der zurückwinkenden Kusine nach. Ach, wer doch auch so sicher und unbeirrt seines Weges ginge! Warum wurde es ihr nur besonders schwer, das Rechte zu finden? Anita, ihre Zwillingsschwester, quälte sich niemals mit langen Überlegungen ab. Die tat das, was ihr gerade einfiel, und vor allem, was ihr gefiel. Und auch Kusine Gerda, mit der sie die ganzen Jahre über Freundschaft gehalten, schien nie im Zweifel zu sein über das, was sie wollte. Wer half ihr den richtigen Entschluß fassen?

Die Großmama – Gerdas letztes Wort klang ihr noch im Ohre nach. Ja, die Großmama wußte immer zu helfen, so oft eins der Enkelkinder sich in Nöten befand. Galt es bei den Eltern etwas zu erbitten oder für ein schlechtes Zeugnis ein gutes Wort einzulegen, immer war es Großmamas liebevolles Herz, an das man sich wandte. Und besonders Marietta, die im Hause der Großeltern ihre Heimat auf deutschem Boden gefunden, verband innige Zuneigung mit der stets gütigen, alten Frau. Sie hatte ihr die fernen Eltern und Geschwister ersetzt, war ihr, trotz der Schulfreundinnen, stets die beste Freundin gewesen. Warum zögerte sie nur, sich, wie sie es sonst stets getan, in ihrer Bedrängnis an die Großmama zu wenden? Sich von ihr beraten zu lassen?

Die Verbindungsbahn von Berlin nach dem Vorort Lichterfelde, die Marietta zur großväterlichen Wohnung benutzen mußte, hatte sich inzwischen schrill pfeifend in Bewegung gesetzt. Mauern mit farbenschreienden Reklamen sausten vorüber, Neubauten, herbstlich buntgefärbte Laubenkolonien. Das junge Mädchen nahm den unterbrochenen Faden seiner Gedanken wieder auf.

War es Feigheit, daß sie sich in dieser für ihre Zukunft ausschlaggebenden Frage nicht von der Großmama raten lassen wollte? Fürchtete sie, die Großmama könnte in ihrer Selbstlosigkeit Verzicht leisten, um sie nicht größeren Lebensaufgaben zu entziehen? Hatte sie doch schon öfters geäußert, ob es auch recht von ihr sei, die junge Enkelin so ganz an sich zu ketten, sie ihren Eltern und Geschwistern zu nehmen. Nein, es war nicht nur Feigheit vor dem stets ehrlich-geraden Urteil der Großmama. Sie dachte mehr dabei an die liebe alte Frau, als an sich selbst. Sie durfte sie nicht vor einen Entschluß stellen, der sie Herzblut kosten würde. Gerda Ebert hatte recht – allein mußte sie damit fertig werden.

Beinahe wäre Marietta über ihr Ziel hinausgefahren. Sie war so in ihre Überlegungen vertieft, daß sie erst im letzten Augenblick ans Aussteigen dachte. Nun schritt sie langsam die mit samtroten Blutbuchen bestandene Villenstraße entlang. In den Gärten trug Baum und Busch metallflimmerndes Herbstkleid. Oh, diese Farben! Vom zartesten Goldton bis zum leuchtendsten Kupfer. Ganz besonders liebte Marietta den deutschen Herbst mit seinem letzten Aufglühen der Natur, bevor Winterstille sie umfing. Unter Silberwolken schossen im Bogenflug blaue Schwalben. Sie sammelten sich zur Reise in ferne Sonnenländer.

Und sie selbst zog es nicht heim, in das Sonnenland ihrer Kindheit? Wo die Palmen ihre Blätterdächer vor sengendem Strahl schützend wölbten. Wo die Blumen und Früchte in ganz anderer Schönheit, Größe und Farbenpracht glühten. In das schloßartige Marmorhaus mit den schwarzen Dienern und Dienerinnen, mit all seinem Luxus, all seinem Reichtum?

Nein – Marietta schüttelte den Kopf, als habe sie irgend jemand Antwort auf die stumme Frage zu geben. Nein, das hatte sie niemals hier in Deutschland, in der schlicht bürgerlichen Häuslichkeit der Großeltern entbehrt. Die einfachen Lebensbedingungen hier entsprachen viel mehr ihrer bescheidenen Sinnesart. Freilich, nach den Eltern, vor allem nach der Mutter, war ihr im Anfang recht bange gewesen. Und Anita, ihre Zwillingsschwester, fehlte ihr auf Schritt und Tritt. Auch nach Klein-Juan erwachte öfters die Sehnsucht, besonders an den Sonntagnachmittagen, wenn sich die kleinen Vettern in Lichterfelde bei den Großeltern einfanden. Aber solche Stimmungen waren nur selten. Die wußte die Großmama stets feinfühlend durch Lektüre eines guten Buches, durch irgendeinen gemeinsamen Kunstgenuß oder auch nur durch ein liebes Wort zu zerstreuen. Nein, Marietta hatte es niemals bereut, daß sie als fünfzehnjähriges Backfischchen den Entschluß gefaßt hatte, die Eltern und Geschwister allein über das große Wasser zurückgehen zu lassen, bei den Großeltern in Deutschland zu bleiben. Das Beste in ihr hatten diese Jahre ihr gegeben, das Streben, sich innerliche Werte zu eigen zu machen. Das war ihr besonders bewußt geworden, als Anita als Siebzehnjährige zum zweiten Male nach Europa herüberkam, um ihre Violinstudien zu vervollkommnen und vor allem, wie sie lachend sagte, ihren treulosen Zwilling heimzuholen. Da hatte sie es täglich, fast stündlich, empfunden, daß sie sich bei all ihrer Liebe zu der Schwester mit dieser ganz auseinandergelebt hatte. Anita war inzwischen eine fertige junge Dame geworden, die sich ihrer Schönheit und ihrer gesellschaftlichen Stellung durchaus bewußt war. Kaum, daß sie ihre Musikstudien ernst nahm. Sie war nur darauf bedacht, Vergnügungen zu genießen und durch ihre Toilettenpracht, durch ihre sprühende Lebhaftigkeit ihre Umgebung zu blenden. Was Marietta Freude machte, ihre guten Bücher, von denen jedes ihr ein Freund war, die Berliner Galerien und Museen mit ihren Kunstschätzen, ihre armen Kinder im Hort und in der Kleinkinderkrippe, für die sie nach absolvierter Schulzeit mütterlich sorgte, das alles tat Anita mit einem geringschätzigen Achselzucken ab. »Spießbürgerlich« hatte sie das alles genannt, Mariettas einfachen, aber geschmackvollen Anzug »unmöglich«. »Es wird höchste Zeit, daß du wieder nach Sao Paulo zurückkehrst, Jetta«, so hatte sie sich geäußert. »Ich muß dich wieder ganz ummodeln. Sonst halten dich unsere Bekannten am Ende noch für Juans deutsche Erzieherin.« Es sollte scherzhaft klingen, aber der Blick, der Mariettas schlichtes Äußere musterte, war mißbilligend. Und als Marietta ihr antwortete, daß sie besseres zu tun habe, als sich den ganzen Tag mit bunten Seidenfahnen zu behängen und in den Spiegel zu schauen, da verstand Anita sie gar nicht. Was konnte es denn besseres geben, als sich so hübsch wie möglich zu machen. Sie hatte Anita für ihre kleinen Schützlinge zu interessieren gesucht, sie mitgenommen in den Kinderhort, ihr erzählt, welch ein Segen diese Einrichtung für die arbeitenden Mütter bedeutete, wenn sie ihre Kleinen inzwischen gut versorgt wußten. Naserümpfend hatte Anita zugesehen, wie die ärmlich gekleideten Kinder freudestrahlend auf die Schwester zuliefen, sie mit zärtlichen Ärmchen zu umfangen. Sie hatte ihre eleganten Sachen zusammengerafft, daß sie nur nicht in Berührung mit den Armen kämen. Aber als Marietta all die Händchen vor dem Essen wusch und das Kleinste gar selbst auf den Schoß nahm, um es zu füttern, wurde es Anita doch zu stark. »Das ist keine Arbeit für eine Tavares! Wie kannst du deine Familie nur derart erniedrigen, Jetta. Nimm dir eine Dienerin, die derartige Arbeit macht.« Als wäre es heute, hörte Marietta sich darauf antworten: »Arbeit erniedrigt nicht, Nita, noch dazu eine Arbeit im Dienste der Menschenliebe. Aber eine Gesinnung, die voll Hochmut nur sich selbst kennt, nur für Äußerliches Interesse hat, die erniedrigt. Fühlst du denn nicht, was für eine innere Befriedigung mir daraus erwächst, wenn ich diesen armen, kleinen Wesen die Mutter ersetzen kann?« Anita hatte den Kopf geschüttelt, dann aber doch etwas beschämt in die Tasche gegriffen: »Hier ist Geld. Kaufe den armen Kindern hübsche Kleider.« – »Sie brauchen Notwendigeres, Nita, Wäsche und Schuhe.« Aber sie hatte das Geld nicht zurückgewiesen, um die Schwester nicht zu kränken. »Anita ist nicht schlecht, nur grenzenlos verwöhnt und von ihrer eigenen Person vollständig ausgefüllt. Wir sind nicht mehr auf denselben Ton gestimmt. Unsere Interessen gehen ganz und gar auseinander.« Es war eine bittere Stunde, in der Marietta diese sie schmerzende Wahrheit zum ersten Male empfunden, daß sie sich von der Genossin ihrer Kinderzeit auch innerlich weit entfernt hatte. Und mit dieser Erkenntnis kam die daraus erwachsende ihr zum Bewußtsein: Ebensowenig wie sie zu Anita paßte, war sie noch für Brasilien geeignet. Sie würde sich dort nicht mehr wohlfühlen, trotzdem es ihr Vaterland war. Das glühende Tropenklima, das die Schaffenskraft lähmte, die damit Hand in Hand gehende Verwöhnung der Frauen, der Luxus und die auf Äußerlichkeiten gestellte Geselligkeit würden sie nicht mehr befriedigen. Die Mutter hatte dort ihren Mann und ihre Kinder, sie hatte ihre Musik, die sie ausfüllte. Aber sie? – »Du hättest deine soziale Arbeit, du könntest dort für die Arbeiter eintreten und ihre menschenunwürdige Lage verbessern.« Wie oft hatte sie sich das gesagt. Den Arbeitern des großen Kaffeehauses Tavares ging es nicht schlecht, dafür hatte sich ihre Mutter schon eingesetzt. Die hatten gesunde Wohnungen und ihr Auskommen. Aber auf den anderen Plantagen sah es bös aus. Durfte sie sich den Mut, die Kraft zutrauen, Fremde für ihre sozialen Bestrebungen zu gewinnen? Man kannte drüben nur das Geld. Wenn es gegen die materiellen Interessen der Besitzenden ging, war der Kampf ziemlich aussichtslos. Nein, Marietta hatte sich bisher noch nicht reif und stark genug gefühlt, um ein derartiges Werk zu unternehmen. Sie hatte die Eltern gebeten, sie weiter in Deutschland zu lassen, um später die soziale Frauenschule zu besuchen. Vielleicht erwuchsen ihr daraus ungeahnte Kräfte. Gern war ihr die Zustimmung der Eltern nicht zuteil geworden. Der kluge Vater erkannte, daß sich die Tochter amerikanischem Wesen und heimischen Sitten entfremdete, daß sie in Deutschland Wurzel schlug. Und die Mutter? Nun, eine Mutter leidet stets, wenn sie eins ihrer Kinder entbehren muß. Trotzdem war sie es, die als Fürsprecherin für die Tochter eingetreten. Marietta war im Kern ihres Wesens deutsch, das wußte sie am besten.

An dem Gitter des großväterlichen Gartens war Marietta stehengeblieben. Dort lag das liebe Rosenhaus, jetzt seines schönsten Schmuckes entkleidet. Die Kletterrosen, die es umrankten, hatten abgeblüht. Nur hier und da auf dem großen Rasenrondell, das von Großpapas Edelrosen umsäumt wurde, hatte der warme Oktobersonnenschein noch eine Spätrose hervorgelockt. Aber die Astern und Georginen blühten dafür in übermütigster Buntheit, als wüßten sie es nicht, daß sie die letzten Grüße des scheidenden Sommers bedeuteten. In flimmerndem Goldkleid stand die Linde da – Marietta mußte an das Bäumlein denken, das andere Blätter hat gewollt. Die Großmama hatte ihr und Anita vor Jahren das Gedicht vorgelesen, damals, als sie aus Brasilien herübergekommen. Die ganze Poesie der deutschen Märchen hatte die Großmama über die aufhorchenden Kinder ausgeschüttet. Was hatte sie ihr nicht gegeben, die liebe Großmama? Alles, was schön und wertvoll in ihrem Mädchenleben gewesen, war ihr von dort gekommen. Durfte sie immer nur nehmen, mußte sie nicht auch zurückgeben?

O ja, sie wußte es, daß sie den alternden Großeltern zum Sonnenschein geworden war, der ihr Haus erhellte und erwärmte. Daß sie selbst wieder jung wurden in dem Bestreben, mit der jungen Enkelin Schritt zu halten, ihr auf all den Wegen, die eine neue Zeit erschloß, zu folgen. Und das alles wollte sie ihnen entziehen? Noch waren sie rüstig, die lieben beiden, die Großmama bei weitem mehr als der Großpapa. Aber wie der Herbst dort die Blätter von der Linde streifte, so würden auch sie mehr und mehr entblättern, ihre Kräfte allmählich hinschwinden fühlen. Es war der Lauf der Natur. Und dann wollte sie die Großeltern treulos im Stich lassen als Lohn für all ihre Liebe? Im fernen Lande fremden Menschen helfen, während ihr Herz hier in Deutschland bei den Großeltern fest verankert war?

Wer sagte ihr, wo ihre Pflicht lag?

10. Kapitel. Eine Vogelgeschichte.

Die begehrteste Wohnung im ganzen Grunewald war der Wipfel der alten Buche. Erstens wegen der schönen Aussicht – sie überragte bedeutend die Kiefern ringsum –, vor allem aber wegen ihrer Seltenheit. In den Kiefern und Tannen, da konnte jeder wohnen, da hauste bloß das gemeine Vogelvolk, Sperlinge, Krähen und Spechte. Aber der Singvögel Trachten stand nach dem frühlingsgrünen Blätterhaus der Buche. Dort hatten die alteingesessenen Vogelfamilien ihre Erb- und Stammsitze. Die verteidigten sie gegen jeden Grünschnabel, der die Keckheit hatte, sich dort einnisten zu wollen. Aber die Zeit begann auch an den Traditionen des Vogelreiches zu rütteln. Die Wohnungsnot griff, da zu viele Bäume abgeholzt wurden, auch auf die Waldesbewohner über. Wohnungsämter wurden eingerichtet, denen Meister Kuckuck vorstand. Schade war es nur, daß er immer nur seinen Namen rief und daher auch seine eigene Sippe und Freundschaft stets bevorzugte. Ein junges Finkenpärchen, das sich schon lange hatte für ein Nest in der Buche vormerken lassen und stets abschlägig beschieden worden war, dachte: »Zum Kuckuck noch eins, geht's nicht mit Recht, geht's mit Gewalt.« Und es ergriff einfach Besitz von der soeben frei gewordenen Wohnung der Frau Lerche, die auf ihrem Morgenausflug einem Unglücksfall – ein Habicht hatte sie gefressen – erlegen war. Zwar wollte der Vorstand des Wohnungsamtes durchaus das Nest für einen Vetter beschlagnahmen, aber das junge Finkenpaar ließ sich nicht ausweisen. Als die Sipoleute, drei feiste, graue Spatzen, herbeigerufen wurden, riß der junge Ehemann temperamentvoll den Schnabel auf: »Schert euch zum Kuckuck!« rief er, daß es durch die ganze grüne Laubenstadt der Buche schallte. Er bekam zwar eine Strafe wegen Beamtenbeleidigung, aber da die anderen Bewohner der Buche sich auf die Seite der jungen Leutchen schlugen – Herrgott, das ewige Kuckuckrufen in ihrer vornehmen Kolonie war ja beinahe schon ebenso störend wie das Klavierspielen bei den Menschen –, so ging das Finkenpärchen als Sieger hervor. Wirklich, ein herrliches Nest war es, das es sich gebaut. Ganz hoch oben auf schwankem Zweige dünkte es sich in seinem Flitterwochenglück bereits im Himmel zu sein. Aber als das Nest fix und fertig mit Moos, Gras und weichen Federn, die sich andere Bewohner ausgerissen, gemütlich eingerichtet war, als sie sich genug geschnäbelt hatten, hielten sie von ihrem Blätterbalkon aus Umschau. Ihre Mitbewohner kannten sie bereits. Bei Gevatterin Amsel und dem Pirol hatten sie schon Antrittsbesuch gemacht. Aber was außerhalb ihrer Buchenkolonie lag, das war ihnen noch neu. Da war zur Linken eine niedliche Tannenschule, in der es recht manierlich und gesittet zuging. Weniger gesittet aber war es nach der rechten Seite zu. Da führte der Weg nach Pichelsbergen vorüber. Dort sah das junge Finkenpaar öfters, besonders an den Sonntagen, riesengroße, zweibeinige, aufrechte Wesen ohne Flügel sich fortbewegen oder auch im Schatten der Eiche ruhen. Singend, wie sie selbst es machten, wenn auch lange nicht so melodisch, auch öfters zu Paaren sich schnäbelnd, ganz so wie sie. Von der Amsel, welche die älteste in der Laubenkolonie »Buche« war, hatten sie erfahren, daß man diese Geschöpfe Menschen nannte, die nur dazu auf der Welt seien, um den Waldesfrieden zu stören.

Ja, wirklich, die alte Amsel hatte recht. Ungemein störend waren diese flügellosen Geschöpfe. Am Sonntag ließ man es sich noch gefallen, denn da hatten sie, wie Frau Amsel meinte, ein besonderes Anrecht an dem Grunewald. Aber wochentags gehörte er doch der Vogel-, Insekten- und der Pflanzenwelt. Das schienen diese dreisten Eindringlinge aber durchaus nicht anzuerkennen.

Da hatten sie jenseits des Weges eine große Lichtung wie ein Riesenvogelbauer mit Draht umsponnen, und darin flogen, flatterten und hüpften des Wochentages wohl an Hundert solcher Geschöpfe umher. Allerdings etwas kleiner, als die Sonntagsmenschen im allgemeinen waren, aber immer noch erschreckend groß für einen Fink. Sie schrien und johlten und rissen dabei weit die Schnäbel auf. Sie hatten helle und dunkle Federn auf dem Kopfe, »Haare« hatte die Amsel dieselben genannt. Ein Teil dieser fremdartigen Geschöpfe trug einen langen Federschwanz, manchmal sogar zwei, der wuchs ihnen merkwürdigerweise am Kopf. »Zöpfe« hießen diese Federschwänze, hatte ein Kanarienvogel, der früher bei den Menschen gelebt hatte, der Amsel berichtet. Und die mit dem langen Federschwanz wurden ganz besonders von den Geschöpfen mit dem kurzen Federschopf geärgert und daran gerissen. Manchmal bissen und hackten sie sich sogar wie die Vögel. Aber eines Tages, das Finkenpärchen saß gerade traulich auf seiner Blattveranda, begann es in dem Menschenvogelbauer da unten zu zwitschern und zu jubilieren. Es klang zwar etwas laut, aber dabei so schön, daß die Bewohner der Kolonie »Buche« ganz erstaunt lauschten. »Es müssen doch Vögel sein, wenn sie so schön singen können«, meinte die junge Frau Fink. »Ich fliege geschwind zur Gevatterin Amsel hinunter, was die wohl dazu meint.«

Frau Amsel bewohnte die Beletage. Sie fing gerade fleißig Fliegen.

»Liebste, Sie sind noch sehr unerfahren«, lächelte sie ein wenig mitleidig. »Es sind ganz sicher keine Vögel, wenn sie auch noch so schön singen. ›Kinder‹ nennt man diese Lebewesen. Die mit den schönen, langen Federschwänzen sind die Weibchen und die mit dem kurzen Federschopf, das sind die Männchen. Sie heißen auch Buben und Mädel. Aber, wenn ich Ihnen raten kann, lassen Sie sich nicht zu nahe mit ihnen ein. Sie sind grausam und trachten danach, uns einzufangen und einzukerkern. Seien Sie auf Ihrer Hut.«

Aber die Neugierde der jungen Frau war geweckt. Ihr Mann war jetzt öfters auf der Mückenjagd, ab und zu sogar schon beim Frühschoppen zur »Regenpfütze«. Kinder hatten sie noch nicht, was sollte sie da den ganzen Tag vor sich hinbrüten. So wagte sie sich näher und immer näher an den Riesenvogelbauer heran. Da ging es gar lustig zu. Die meisten hielten sich bei den Vorderbeinen angefaßt, hüpften auf den Hinterbeinen im Kreise herum und sangen dazu. Das sollten also Kinder sein, Buben und Mädel. Sie jagten sich und warfen bunte Kugeln in die Luft, die sie wieder auffingen, und die fast so schön fliegen konnten wie Vögel. Manche aber beteiligten sich nicht an dem Herumhüpfen. Die hatten sich ein Nest aus Tüchern und Kleidungsstücken am Rande des Gitters gebaut und sich darin eingekuschelt. Dort schliefen sie in der warmen Sonne oder starrten auf merkwürdig raschelnde weiße Blätter mit schwarzen Zeichen darauf. Das seien Bücher, erklärte ein alter Spatz, der früher am Dachfirst eines Gelehrten genistet, der jungen Frau Fink. Wer darin lesen kann, der weiß alles. Dann gab es dort noch einen besonders großen, dicken Menschen. Der hatte sogar Federn im Gesicht, unter der Nase und um den Mund herum und schien beinahe ebensoviel zu sagen zu haben wie der Kuckuck in der Kolonie »Buche.« Die kleinen Menschen redeten ihn »Herr Lehrer« an, und er hüpfte und sprang niemals, sondern stolzierte wie ein Hahn einher. Manchmal nahm er einen von den kleinen Menschen ans Ohr. Das konnte Frau Fink alles von ihrem Auslug, dem Birkenbäumchen am Eingang des großen Vogelbauers, beobachten. Am besten von allen aber gefiel dem Finkenweibchen ein Weibchen unter den Menschenkindern. Es war etwas größer und schlanker als die andern und so zart und hold wie eine Blume. Seine goldbraunen Federn flatterten lustig im Frühlingswind um den Kopf. Es trug keinen langen Federschwanz wie die kleineren Weibchen, sondern ein goldenes Federnest am Hinterkopf aufgesteckt. Augen hatte es so schwarz wie die Dohle, und wenn es lachte, klang es, als ob das Rotkehlchen trillerte. Sein Gang war anmutig wippend wie eine Bachstelze, und singen konnte es beinahe so schön wie die Nachtigall. Ja, das war der Liebling von Frau Fink. Auch die Kinder schienen ihre Vorliebe zu teilen. Sobald dieses blumenhafte Wesen erschien, flogen sie alle auf dasselbe zu und jauchzten dabei: »Tante Jetta – Tante Jetta.« Es spielte und sang mit ihnen und streute ihnen mittags das Futter aus einem gewaltigen dampfenden Kessel in große Vogelnäpfe. Nein, es war wirklich merkwürdig, daß dies Kinder und keine Vögel waren. Sie umflatterten die Futter Austeilende wie eine Vogelschar und piepten gerade so durcheinander. Manchmal hielt sich die mit Tante Jetta Angeredete die Ohren unter den goldbraunen Federn zu.

Aber da war ein kleiner Mensch darunter, ein Männchen war es dem kurzen, dunklen Federschopf nach, der schien der schwarze Rabe unter der Schar zu sein. Er zankte und biß sich mit allen herum und hatte stets den größten Schnabel. Vor keinem hatte er Respekt, nicht einmal vor dem Herrn Lehrer, der doch so majestätisch einherstolzierte wie der Hahn. Auch Frau Finks Liebling ärgerte er. Ganz traurig sah das liebliche Gesicht der Tante Jetta manchmal aus, wenn sie eindringlich mit ihm sprach. Dann schien er in sich zu gehen, der Nichtsnutz. Aber kaum hatte sie den Rücken gewandt, da bläkte er die Zunge aus dem Schnabel ganz lang hinter ihr her. Er nahm den kleineren Kameraden das Spielzeug fort, mauste ihnen das Frühstücksbrot, ja, er stahl, wo er nur konnte, wie ein Rabe. Die Blumen des Waldes zertrat er, die Käfer fing er und riß ihnen die Flügel aus, ja selbst den Vögeln stellte er nach. Es war ein furchtbarer kleiner Mensch.

An einem besonders herrlichen Tage war es. Das grüne Blätternest des Finkenpärchens war ganz von Sonnengold eingesponnen. Aus allen Wohnungen der Kolonie »Buche« sang und jubilierte es in das blaue Himmelslicht hinein. Da streckten sechs junge Finklein den Kopf aus dem Ei und sperrten die Schnäbel zum ersten Piep auf. Wie stolz war die junge Mutter auf ihr halbes Dutzend. Und nun erst der glückliche Vater. Der hatte jetzt keine Zeit mehr, zum Frühschoppen zu fliegen, sondern hatte alle Mühe, die sechs hungrigen Schnäbel satt zu machen. Der Kuckuck beklagte sich zwar über das Kindergeschrei da oben, aber sein Räsonieren nützte ihm nichts.

Bald lernten die Kleinen die eigenen Flügel gebrauchen und machten ihre ersten, ungeschickten Flugversuche. Von Tag zu Tag ging es besser. Wirklich, Frau Fink konnte stolz auf ihre kleinen sein.

»Heute wollen wir mal den ersten Ausflug in die weite Welt unternehmen«, sagte die Mutter eines Tages. »Es ist Zeit, daß ihr euren Horizont erweitert und euch Bildung aneignet.« Und sie flog mit ihren unternehmungslustig piepsenden Sechsen zu dem Birkenbäumchen, das seine Zweige über das Gitter der großen Lichtung streckte, auf welcher die kleinen Menschen umherhüpften. Ein wenig mühsam ging es noch mit dem Fliegen. Sie mußten öfters unterwegs auf einem der Kiefernzweige Rast machen. Aber schließlich war man am Ziel.

»Seht ihr, das da unten sind Menschen, auch Kinder genannt. Sie können ganz schrecklichen Lärm machen und furchtbar viel Futter in ihre Schnäbel stecken. Der da mit dem schwarzen Federschopf, das ist der Tunichtgut unter ihnen. Ei, da rauft er schon wieder mit seinen Gefährten. Die Tante Jetta muß schon wieder Frieden stiften. Vor dem hütet euch. Der hat nichts Gutes mit Gottes Geschöpfen im Sinn. Aber dies Menschenweibchen, das sie Tante Jetta rufen, das meint es gut mit den Vögeln. Das streut uns stets Brotkrümchen von dem eigenen Futter. Wirklich, es wäre wert, ein Fink zu sein.«

So sang die Vogelmutter klug belehrend.

Sie hatte kaum ausgesungen, da flog eine von den großen, bunten Gummikugeln, welche die Kinder in die Luft zu werfen pflegten, gerade zu dem Birkenzweig, auf dem die Finkenfamilie Platz genommen. Von der rohen Hand des ungezogenen Buben war sie geschleudert.

Husch – da flatterten sie alle erschreckt in die Höhe, die Vöglein. Nur das Jüngste, das noch nicht so sicher fliegen konnte wie die andern, verlor das Gleichgewicht und fiel herunter. O weh, schon hatte eine derbe Jungenfaust es gepackt. Dem armen Finklein verging Hören und Sehen vor Schreck und Angst.

»Ein Piepmatz – 'n janz kleiner! Kiekt mal bloß her! Den nehme ich mir mit nach Hause. In meine alte Maikäferschachtel tue ich ihn. Und zu Weihnachten wünsch' ich mir ein Vogelbauer. Ja, jetzt ist es aus mit dem Fliegen, du dummer Kerl. Jetzt biste gefangen.« Und er riß es an seinem Flügel, daß das Finklein ein schmerzliches »Piep« hören ließ.

»Ja, piep du nur, das nützt dir alles nichts«, lachte der Junge das ängstliche Vöglein aus und knüpfte es in sein unsauberes Taschentuch. Himmelangst wurde dem armen Tierchen.

Eine Menge schaulustiger Kinder, Knaben und Mädchen, hatten sich um den kleinen Vogelräuber versammelt. Mit teils neugierigen, teils neidischen Blicken betrachteten sie seine Beute. Über ihnen aber erklang herzzerreißendes Gepiepse. Das war die arme Finkenmutter, die ihr Nesthäkchen mißhandelt sah.

War es ihr jämmerliches Piepen, oder war es die aufgeregte Kinderschar, was Marietta herbeirief. Die arme Vogelmutter in den Lüften atmete ein wenig auf. Wenn einer, so würde sie helfen.

»Ei, was gibt es denn, Kinder?« fragte sie freundlich.

»Der Karle hat 'n Piepmatz jefangen, man 'n janz kleenen, mieserigen. Er piept wie 'ne Maus«, erzählte eins der Kinder.

»Wo hast du ihn denn?« fragte Marietta verwundert.

»In meiner Tasche – damit er mir nich wieder auskneift.«

»Um Himmels willen, das arme Tierchen! Da muß es ja ersticken. Gleich tust du es heraus, Karl«, verlangte Marietta.

»Nee – ach nee – nachher nehmen Se ihn mir fort, oder er fliegt von alleene heidi.« Karl machte keine Anstalten, dem Gebote nachzukommen.

»Freilich werden wir ihm die Freiheit wiedergeben.«

Aber da kam Marietta schlecht an. Ehe sie sich's versah, war Karl auf und davon. Wie ein Pfeil schoß er quer über die Lichtung. Jämmerliches Piepsen in den Lüften begleitete ihn. Da aber ereilte den kleinen Vogeldieb sein Verderben. Der Herr Lehrer hatte ihn plötzlich am Kragen. Und als er die Geschichte von dem Vogelfang gehört, gebot er, ihm das Tierchen zu zeigen. Widerwillig gehorchte der Schlingel. Dem Herrn Lehrer gegenüber wagte er keinen offenbaren Ungehorsam.

Ein arg zerdrücktes, kaum noch piepsendes Etwas kam aus Karls Tasche zum Vorschein.

»Ein kleiner Fink«, sagte der Lehrer zu der inzwischen herbeigekommenen Marietta. »Ein ganz junges Tierchen. Am Ende gar aus dem Nest gefallen. Was machen wir nun mit dem kleinen Kerl?«

»Wir lassen ihn fliegen. Der Vogel über uns, das wird gewiß die Mutter sein, er umkreist uns voller Angst«, rief Marietta mitleidig.

»Ja, Tante Jetta, wir wollen ihn fliegen lassen«, riefen auch die andern Kinder. Nur Karl heulte vor Wut und vor Enttäuschung.

Man setzte das Vögelchen behutsam ins Gras. Aber es machte keine Anstalten, davon zu fliegen. Es zuckte nur mit den Beinchen.

»Es will ja jar nich fortfliegen. Es will viel lieber bei mir bleiben«, meldete sich Karl wieder.

Marietta nahm das Tierchen behutsam in ihre weiche Hand, aus Furcht, daß Karl ihm zum zweiten Male gefährlich werden könne. Leis und zärtlich strich sie über die flaumigen Federn. Da rief sie erschreckt: »Das eine Flügelchen ist ja gebrochen. Darum kann das arme Vögelchen auch nicht mehr fliegen.«

»Nu kann ich ihn doch haben, Tante Jetta?« rief Karl hoffnungsvoll.

Aber Tante Jetta schüttelte den Kopf. »Wenn Sie nichts dagegen haben,« wandte sie sich an den Lehrer, »dann nehme ich den kleinen Vogel mit mir nach Lichterfelde. Mein Großvater ist nicht nur Menschenarzt, er heilt auch allerlei Getier. Und dann kann der kleine Wicht im Garten bei uns seine Freiheit haben.«

»Das ist ein guter Gedanke«, sagte der Lehrer erfreut, denn er wußte nicht recht, was er mit dem Vogel anfangen sollte.

Die Kinder sammelten Moos und Blätter zu einem weichen Bettchen für den flügellahmen kleinen Fink. Sanft wurde er in eine leere Schachtel gebettet. Und die Kinder standen abwechselnd dabei Wache, daß der böse Karl ihm nicht wieder zu nahe kam.

Nein, Karl wagte sich nicht heran, aber ein anderer kam dem Vögelchen nahe. Aus der Luft flog es herbei. Mutterliebe und Sorge waren stärker als die Angst vor den Menschen. Doch soviel die Vogelmutter auch lockte und ermunterte, ihr Jüngstes vermochte auf das mütterliche Piepsen nur matt und betrübt das Köpfchen zu heben. Kein Gedanke, daß es ihr ins Nest folgen konnte.