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1. Kapitel. Puppenmütterchen.

Habt ihr schon mal unser Nesthäkchen gesehen?

Es heißt Annemarie, Vater und Mutti aber rufen es meistens »Lotte«. Ein lustiges Stubsnäschen hat unser Nesthäkchen und zwei winzige Blondzöpfchen mit großen, hellblauen Schleifen. »Rattenschwänzchen« nennt Bruder Hans Annemaries Zöpfe, aber die Kleine ist ungeheuer stolz auf sie. Manchmal trägt Nesthäkchen auch rosa Haarschleifen, und die Rattenschwänzchen als niedliche, kleine Schnecken über jedes Ohr gesteckt. Doch das kann es nicht leiden, denn die alten Haarnadeln pieken. Sechs Jahre ist Annemarie vor kurzem geworden, ihre beiden Beinchen stecken in Wadenstrümpfen und hopsen meistens. Keinen Augenblick stehen sie still, geradeso wie ihr kirschrotes Mäulchen. Das schwatzt und fragt den ganzen lieben Tag, das lacht und singt, und nur ganz selten mal verzieht es sich zum Weinen.

So sieht unser Nesthäkchen aus, und wenn ihr in Berlin lebt, könnt ihr es jeden Tag mit Fräulein in den Tiergarten gehen sehen.

In einem schönen, großen Hause wohnt Klein-Annemarie, in einer langen Straße, durch die elektrische Bahnen bimmeln. Ein Gärtchen ist vor dem Hause, aber keiner darf hinein, das erlaubt der Portier nicht. Er selbst aber kann sooft darin herumspazieren, wie er nur Lust hat, das Gras schneiden, die Beete begießen und sogar das Gitter mit schöner neuer Ölfarbe anstreichen. Darum glaubt Annemarie, daß der Portier beinahe so viel ist wie der Kaiser. Und wenn sie nicht Muttis Nesthäkchen wäre, dann würde sie am allerliebsten Portier sein. Manchmal aber auch Konditor.

Zwei größere Brüder hat Annemarie, den wilden Klaus, der nur zwei Jahre älter ist als sie, und den großen Quartaner Hans, der sogar schon Latein kann. Ihr Hänschen liebt die Kleine über alles, wenn er sie auch öfters mal neckt, während es mit Kläuschen nur allzuoft Krieg gibt.

Ach, was ist das für ein schönes, warmes Nest, in dem das Nesthäkchen daheim ist. Wenn der Vater abgespannt von der Praxis nach Hause kommt, denn Annemaries Papa ist ein viel beschäftigter Arzt, und sein kleines Mädchen springt ihm jubelnd an den Hals, dann hat er alle Müdigkeit vergessen. Er lacht und scherzt mit ihr, ja, er setzt sie sogar auf seine Schultern und reitet mit dem jauchzenden Ding durch sämtliche Zimmer. Sagt Mutti dann: »Du verwöhnst unsere Lotte zu sehr, Vater, sie ist schon viel zu groß dazu«, dann drückt er seinen Liebling nur um so fester ans Herz und meint lächelnd: »Es ist doch unser Kleinstes!«

Wenn aber der Vater mal davon anfängt, daß es nun auch für Annemarie bald Zeit sei, in die Schule zu gehen, dann breitet Mutti ihre Arme um das Töchterchen und bittet: »Laß sie mir doch noch ein Weilchen zu Hause, sie ist ja so zart und doch unser Nesthäkchen!«

Ja, Nesthäkchen wird von allen Seiten ein wenig verwöhnt. Wenn Fräulein auch noch so viel zu tun hat, sie wird nicht müde, Annemies tausend Fragen zu beantworten. Dafür hat die Kleine aber auch ihr Fräulein ganz schrecklich lieb.

Hanne, die Köchin, schmunzelt über das breite, rote Gesicht, wenn Annemie ein bißchen zu ihr in die Küche herauskommt, weil sich die Hanne so ganz allein am Ende langweilen könnte. Ob das kleine Fräulein ihr auch noch so zwischen ihren Töpfen, Löffeln und Quirlen kramt, Hanne wirft Annemarie nicht raus. Dabei macht sie doch mit den beiden Jungen nicht viel Umstände und bringt sie öfters mal auf den Trab.

Auch Frida, das Stubenmädchen, läßt sich die Gesellschaft der Kleinen beim Plätten, Maschinenähen und Stubenbohnern gern gefallen.

Der gute Bruder Hans findet trotz seiner vielen Schularbeiten noch Zeit, dem Schwesterchen Schiffchen zu machen und Kreiselstöcke zu fabrizieren.

Nur Klaus meint, daß Annemie zu sehr verwöhnt wird und ist für strengere Erziehung. Aber meistens endigt diese mit einer Balgerei.

Puck, das niedliche Zwerghündchen, und Mätzchen, das zitronengelbe Vögelchen, zeigen ebenfalls eine besondere Vorliebe fürs Nesthäkchen. Puck läßt sich geduldig von ihm Ohren und Schwänzchen zausen und ist stets zu allen Spielen bereit. Mätzchen aber singt jubelnd mit der Kleinen um die Wette.

Wer aber, glaubt ihr wohl, hat Klein-Annemarie am liebsten im ganzen Hause? Vater und Mutti natürlich, und dann – alle ihre Puppen.

Die ziehen den Mund vor Freude von einem Ohr zum andern, sobald das kleine Mädchen in die Kinderstube tritt. Was ist Annemie aber auch für ein gutes Puppenmütterchen! Jedes Kind ihrer zahlreichen Puppenfamilie hat sie in ihr zärtliches Herz geschlossen.

Da ist zuerst Irenchen, das ist ihre Älteste, denn sie besitzt schon eine Schulmappe mit Schiefertafel und Heften. Irenchen macht ihrer kleinen Mama jetzt viel Sorge. Sie hat ihre schönen roten Backen verloren, seitdem Nesthäkchen ihr neulich das Gesicht mit Bimsstein abgescheuert hat. Das Puppenkind sollte zum erstenmal mit Tinte schreiben, und hatte dabei die Nase zu tief in das Schulheft gesteckt, über und über hatte sie sich mit Tinte eingeschmiert, das unbedachtsame Irenchen, und die weiße Schürze ihrer kleinen Mama dazu. Annemarie schalt auf Irenchen, und Fräulein schalt auf Annemie. Fräulein begann Annemies Tintenschürze mit Zitrone zu bearbeiten, und Annemie das Tintengesicht ihres Irenchens mit Bimsstein. Au – tat das weh! Irenchen schrie wie am Spieß. Aber energisch rubbelte Nesthäkchen weiter, denn »wer nicht hören will, muß fühlen«. Ganz blaß ist das arme Puppenkind noch davon, und Annemie meint bekümmert zu Fräulein: »Ich glaube, die Schulluft bekommt dem Kinde nicht!«

Auch um Mariannchen, das zweite Töchterchen, sorgt sich Nesthäkchen. Die Kleine hat seit einigen Tagen eine schwere Augenkrankheit und muß sicher nächstens in eine Puppenklinik. Die Schlafaugen sind fest zugeklebt und gehen nicht mehr auf. Und das schlimmste ist, daß die kleine Mama selbst die Schuld an der Krankheit trägt. Oder vielmehr Klaus, denn der hat ihr geraten, dem Kinde richtige Wimpern mit flüssigem Gummi anzukleben. Und nun sind Mariannchens Augen ganz verkleistert, oder vielmehr »vereitert«, wie der vierbeinige Doktor Puck mit bedenklichem Schwanzwedeln feststellte.

Ja, solch kleines Puppenmütterchen hat schon seine Sorgen mit soviel Jören! Der Puppenjunge Kurt ist ein furchtbar wilder Strick, kein Tisch ist ihm zu hoch, um davon herunterzuspringen. Bald zerschlägt er sich die Nase, bald hat er ein tiefes Loch im Kopf, und einen halben Fuß hat er sich auch schon abgeschlagen, der Schlingel.

Die schwarze Lolo, das Negerkind, muß wohl die Unsauberkeit und Unordentlichkeit aus ihrer Heimat Afrika mitgebracht haben. Wenn Annemarie sie eben erst sauber angezogen hat, im nächsten Augenblick hat sie sich schon wieder schmutzig gemacht. Bald verliert sie einen Schuh, bald einen Strumpf. Neulich sogar die Höschen! Mitten im Tiergarten war's, Klein-Annemarie hat sich schrecklich geschämt, denn sehr weiß waren sie auch nicht mehr.

Am bravsten ist noch Baby. Das läßt seine Mama die ganze Nacht ruhig schlafen, höchstens am Tage schreit es mal, aber auch nur, wenn es allzusehr auf den Bauch gedrückt wird. Annemie verzieht Baby ein bißchen, na, dafür ist es ja auch ihr Nesthäkchen.

Aber trotz aller ihrer Fehler liebt Annemarie ihre Kinder wie eine richtige kleine Mama. Den ganzen Tag plagt sie sich für sie. Kaum hat sie morgens früh Irenchen in die Schule gebracht und die anderen angezogen, verlangt Baby auch schon nach seinem Fläschchen. Dann sind die Betten der Kinder zu machen, die beiden Großen schlafen in dem weißen Himmelbett, die beiden Kleinen, Lolo und Baby, im Wagen, und Kurt in der umgekippten Fußbank. Die ist wenigstens nicht so hoch, wenn er rausfällt.

Beim Aufräumen der Kinderstube hilft Nesthäkchen Fräulein fleißig; es hat einen kleinen Besen mit Schaufel und einen Schrubber nebst Eimer und Scheuertuch. Auswischen tut Annemie für ihr Leben gern. Aber Fräulein erlaubt es nicht oft, denn sie setzt die ganze Stube dabei unter Wasser, es gibt jedesmal eine Überschwemmung. Beinahe wäre neulich ihr Kurt, der sich unterm Spielschrank versteckt hatte, dabei ertrunken.

Eine reizende Puppenküche hat Klein-Annemarie, mit Kohlenkasten, Wasserleitung und Spiritusherd, aber Mittagbrot kochen kann sie ihren Kindern nur, wenn's regnet. Die Puppen sind auch so vernünftig, bei schönem Wetter keinen Hunger zu haben. Sie wissen, daß ihre kleine Mama, wenn die Sonne scheint, in den Tiergarten spazierengehen muß. Oft nimmt Nesthäkchen eins oder zwei ihrer Kinder mit und fährt sie in dem feinen weißen Puppenwagen mit der rosa Seidendecke aus. Dann setzt sie ihnen Spinat vor, frisch gepflückt vom Rasen. Auch Kieselsteinbraten vertragen sie merkwürdig gut, wenn er auch noch so zäh ist.

Die armen Zuhausegelassenen aber werden in ihr Gärtchen, aufs Blumenbrett, gesetzt, damit sie auch ein bißchen Luft schnappen. Nur Kurt nicht, der Bengel ist zu wild und würde sicher in den Hof herunter Purzelbaum schießen.

Auch waschen und plätten muß Annemie für ihre Kleinen, ja, sie verbrennt sich sogar die Händchen dabei vor lauter Eifer. Denn das kleine Plätteisen wird auf dem Herd heiß gestellt, anders tut das Hausmütterchen es nicht.

Nächstens soll auch große Puppenschneiderei stattfanden, Annemarie hat zu ihrem Geburtstag eine allerliebste kleine Nähmaschine bekommen. Fräulein will ihr zeigen, wie man darauf näht. Dabei hat sie auch noch den Kaufmannsladen und die Mehlhandlung zu bedienen, wenn Klaus gerade keine Lust dazu hat, oder wenn sie sich beide gezankt haben.

Und Mutti will ihr Nesthäkchen doch auch ein bißchen um sich haben, wirklich, Annemarie weiß oft gar nicht, was sie von all ihren vielen Arbeiten zuerst machen soll.

Sie kann sich gar nicht denken, daß es kleine Mädchen gibt, die sich manchmal langweilen.

10. Kapitel. Der Mohrenkopf.

»Wir kriegen Besuch – Tante Albertinchen kommt heute!« Jubelnd tanzte Annemie durchs Zimmer.

Tante Albertinchen war eine alte Dame, die nur selten den weiten Weg machen konnte. Aber Annemie freute sich jedesmal, wenn sie zu Besuch kam.

Erstens hatte sie in ihrem umfangreichen Perlpompadour immer irgend etwas Süßes für das Nesthäkchen. Zweitens durfte die Kleine ins Speisezimmer kommen, »Guten Tag« sagen, und auch ein Weilchen drin bleiben, weil sie Tante Albertinchens Liebling war. Und drittens, und das war die Hauptsache, gab es jedesmal Kuchen und Schlagsahne.

Auch heute hatte Nesthäkchen, bevor die Tante noch eintraf, prüfend den Kaffeetisch in Augenschein genommen.

Mmmm – der große Mohrenkopf und daneben die prächtige Marzipankartoffel, die beiden stachen der Kleinen am meisten von allen Kuchen in die Augen. Annemie klopfte sich im Vorgeschmack der verlockenden Dinge den kleinen Bauch. Wenn sie doch auch eine alte Tante wäre und sich nach Herzenslust etwas von der Kuchenschüssel aussuchen dürfte!

»Mutti, kriegen wir heute auch Kuchen?« erkundigte sie sich erwartungsvoll.

»Wenn Tante Albertinchen noch etwas übrig läßt!« lächelte Mutti.

»Och, das kann sie doch gar nicht alles allein aufessen, alte Damen haben überhaupt immer einen schwachen Magen. Da ist sie morgen bestimmt krank!« prophezeite Nesthäkchen menschenfreundlich.

Allerdings der Weg, den Tante Albertinchen bis hierher zu machen hatte, war weit – da konnte man schon ordentlichen Hunger kriegen!

»Weißt du, Muttichen« – jetzt hatte das angestrengt nachdenkende kleine Mädchen endlich einen Ausweg gefunden – »du könntest ja vielleicht an den Mohrenkopf oder an die Marzipankartoffel, oder vielleicht auch an beides, ein Zettelchen mit meinem Namen ankleben, damit Tante Albertinchen gleich Bescheid weiß, daß sie für mich bestimmt sind.«

»Sie sind aber gar nicht für dich bestimmt, Lotte, sondern für die Tante!« lachte Mutti.

Damit mußte sich Annemie bescheiden. Sie lief ins Kinderzimmer, stellte sich ans Fenster, blickte fromm zu dem blauen Himmel empor und faltete ihre Händchen: »Lieber Gott,« so betete sie, »du siehst doch alles und kannst alles machen. Sorge doch, bitte, dafür, daß Tante Albertinchen nur Streußelkuchen und Brezel nimmt, und den Mohrenkopf und die schöne Marzipankartoffel für mich übrigläßt – amen!«

Etwas beruhigter ging Annemie darauf zu ihren Puppen. Gerda mußte fein gemacht werden, denn sie sollte mit hereinkommen und die Tante begrüßen. Tante Albertinchen hatte ihr Nesthäkchen Gerda noch gar nicht gesehen. Sie würde sich gewiß freuen, Gerdas Bekanntschaft zu machen.

»Sei nur nicht vorlaut, Gerda, antworte nur, wenn die Tante dich etwas fragt. Aber schüchtern und verlegen brauchst du auch nicht zu sein, und dich auch nicht zu schonieren. Und nimm dein hübsches Schürzchen in acht, ich habe es selbst mit meinem kleinen Plätteisen geplättet. Und denn schiele bloß nicht immer nach der Kuchenschüssel hin, das sieht so schrecklich verfressen aus, hörst du, Gerda?« So gab Annemie ihrem Kind Ermahnungen für sein erstes gesellschaftliches Auftreten.

Gerda nickte zu allem mit dem Kopf. Sie würde sich schon höchst damenhaft benehmen!

Die kleine Mama wurde nun selbst fein gemacht. Ihr Gesicht sah ewig verschmiert aus, und wo sie die schmutzigen Händchen bloß immer her bekam, war Fräulein vollends ein Rätsel. Die blonden Löckchen sprangen stets widerspenstig aus den festgeflochtenen Rattenschwänzchen heraus, wenn sie auch eben erst frisiert worden war.

Heute steckte Fräulein ihr, Tante Albertinchen zu Ehren, Schnecken über den Ohren auf und band eine rosa Seidenschleife hinein. Annemie war das gar nicht recht, weil sie dabei so lange stillstehen mußte. Aber in dem verheißungsvollen Gedanken an den Mohrenkopf auf der Küchenschüssel drin, ließ sie alles ruhig über sich ergehen.

»So, nun mache dich ja nicht schmutzig, Annemiechen, ich muß den Damen jetzt den Kaffee auftragen«, sagte Fräulein, nachdem sie der Kleinen noch ein weißes Stickereischürzchen vorgebunden hatte, ermahnend.

Annemarie fühlte sich fast in ihrer Ehre gekränkt; das wußte sie doch schon längst, sie hatte es Gerda doch sogar schon beigebracht.

»Was spielen wir nun, bis Fräulein wiederkommt?« wandte sich Annemie an ihre Puppen und sah sich unschlüssig in der Kinderstube um. »Radau dürfen wir nicht machen, weil Tante Albertinchen schon so alt ist und das gewiß nicht mehr aushalten kann!«

Da flog ihr Blick über ein kleines Büchelchen, das zwischen den Baukästen hervorlugte.

»Au ja – Abziehbilder!«

Großmama hatte ihr neulich das Büchlein mitgebracht. Aber da die Kleine bei dem schönen Wetter jetzt stets spazieren ging, war sie noch gar nicht dazu gekommen, die Bilder abzuziehen. Dabei tat sie das doch so schrecklich gern. Erst das feine Panschen und dann die Aufregung, in was für ein Bild sich das weiße Papier wohl verwandeln würde.

Annemie schleppte geschäftig ihren Seifnapf mit Wasser zum Kindertisch und rückte Gerda mit ihrem Stühlchen heran, damit die zugucken konnte, wie schön ihre kleine Mama das verstand. Ein Läppchen zum Befeuchten hatte sie gerade nicht zur Hand. Ach was – sie nahm einfach Babys Windelhöschen, die zum Trocknen auf dem Blumenbrett hingen.

Schwieriger war schon die Frage, wo sie einen Bogen Papier zum Abziehen der Bilder hernehmen sollte.

Bruder Hans, der sonst bei solchen Verlegenheiten seines Schwesterchens stets gutmütig aushalf, hatte Nachmittagsschule, und Klaus, mit dem mochte sie lieber erst gar nicht anfangen.

Aber wozu war denn ihr kleiner Tisch so wunderschön weiß? Der ging doch geradesogut wie der schönste Bogen Papier!

Schwapp – da klebte bereits das erste Bild auf dem Tischchen. Annemie panschte unbekümmert um Puppe Gerdas durchweichte Locken den ganzen Inhalt des Seifnäpfchens über das Bild. Das ließ sich ja wieder füllen. Dann drückte sie mit Babys Windelhöschen auf das nasse Papier. Aber da die Höschen winzig klein waren und nicht genügend deckten, nahm Annemie unbekümmert ihr reines Stickereischürzchen zu Hilfe und drückte nun mit ihrer ganzen gewichtigen kleinen Person, so sehr sie nur konnte.

So, jetzt vorsichtig – ganz behutsam – ein Eckchen des nassen Papiers heben – »siehst du, Gerda, so muß man das machen!«

Mit heißen Bäckchen zog Annemie das Papier herunter – »Hurra, der Struwwelpeter!«

Er war zwar nicht ganz vollständig geworden, die langen Nägel fehlten, und auch die Wuscheltolle war nur halb mit heraufgekommen. Aber er prangte doch immerhin unverkennbar auf dem Kindertischchen.

Annemie wies der bewundernden Gerda stolz ihr Kunstwerk und ging ans zweite Bild.

Der böse Friederich mit Schwester Gretchen erschien über dem Struwwelpeter. Es war nur schade, daß sich das Papier verschoben hatte, und daß der Hund und die schöne Leberwurst dadurch statt auf den Tisch auf Annemies weißes Schürzchen gerutscht waren. Auch der Zappelphilipp zappelte vom Tischchen herunter und auf Annemies rosa Batistärmelchen. Die nassen, leeren Papiere aber klebte das Doktortöchterchen sich und Gerda auf die Bäckchen und auf die Stirn, die gaben herrliche Pflaster.

Gerade als die kleine Künstlerin in ihrem Eifer das ganze Seifnäpfchen mit Wasser über sich und Gerda statt über das Bild ausgegossen hatte, erklang Fräuleins Stimme aus dem Eßzimmer: »Annemiechen, du sollst reinkommen und der Tante ›Guten Tag‹ sagen.«

Die Kleine ergriff ihre triefende Gerda und eilte spornstreichs ins Eßzimmer.

Der Mohrenkopf und die Marzipankartoffel – Himmel, die hatte sie ja über ihre Abziehbilder ganz vergessen!

Ein schneller Blick zum Kuchenkorb – die Marzipankartoffel war fort, aber der Mohrenkopf thronte noch in seiner ganzen braunen Herrlichkeit auf dem schon etwas zusammengeschmolzenen Kuchenvorrat.

»Annemie – Lotte – wie siehst du denn aus!« Mutti und Fräulein riefen es entsetzt wie aus einem Munde, noch ehe die Kleine vor Tante Albertinchen ihren Knicks machen konnte.

»Ich – ach Gott, ich hab' mich wohl etwas naß geplanscht, aber das trocknet wieder!« beruhigte Nesthäkchen die beiden und reichte Tante Albertinchen mit einem Knicks das Händchen.

»Guten Tag, mein Herzchen« – da aber zog die Tante ihre feine, geäderte Hand schnell zurück, denn das Kinderhändchen, das sich ihr bot, war naß und klebrig.

»Aber Annemie, was hast du denn bloß inzwischen angestellt?« rief Fräulein wieder, die sich erst allmählich von ihrem Schreck erholte.

»Ich habe feine Abziehbilder gemacht, den Struwwelpeter und den Zappelphilipp, du wirst dich freuen, Fräulein«, sagte die Kleine stolz.

»Den Zappelphilipp genießen wir ja hier bereits«, Mutti hielt Annemies rosa Batistärmelchen vorwurfsvoll in die Höhe. »Nun laß dich bloß erst menschlich machen, und nimm das schmutzige Papier vom Gesicht, du siehst ja aus wie ein verwundeter Krieger. Schämst du dich denn gar nicht, dich so vor der Tante zu zeigen?«

Annemie wurde rot bis zu den blonden Löckchen. Ja, sie schämte sich vor der Tante, doch nicht wegen ihres wenig besuchsmäßigen Aufzuges, sondern weil Mutti sie vor der Tante tadelte. Aber als sie jetzt einen scheuen Blick zu Tante Albertinchens lieben, alten Gesicht hinwandern ließ, sah sie, daß die Tante ihr belustigt zulächelte. Da war sie wieder getröstet. Ach, Tante Albertinchen war ja so gut, die aß ihr auch sicher nicht den Mohrenkopf fort! Sie hatte ja schon die Marzipankartoffel!

Fräulein führte Nesthäkchen ins Kinderzimmer zurück und machte ihr unterwegs ebenfalls noch Vorwürfe. Annemie sah betrübt drein, daß ihr Fräulein so böse auf sie war. Ja, wirklich, Fräulein hatte recht, sie war ein ganz unachtsames, kleines Mädchen! Da hatte sie erst Gerda Vorhaltungen gemacht, und sie dann selber nicht befolgt. Aber Fräulein würde schon wieder gut werden, wenn sie erst ihre schönen Abziehbilder drin sah.

Doch zu Annemies größtem Staunen äußerte sich Fräulein durchaus nicht freudig beim Anblick ihrer schönen Bilder.

»Um Himmels willen – du bist ja heute ein ganz schreckliches Kind – nicht nur, daß du dein hübsches Kleid und deine Schürze beschmutzt, jetzt hast du auch dein Kindertischchen total verdorben. Zur Strafe dürftest du jetzt eigentlich gar nicht wieder zur Tante rein«, schalt Fräulein aufgebracht.

»Ach, liebes Fräulein, ich kann doch nichts dafür, wenn gerade kein Bogen Papier da war, und das Tischchen seift Frida wieder ab, und die Tante, die wäre schrecklich traurig, wenn ich nicht wieder rein käme. Am Ende stirbt sie sogar davon, weil sie schon so alt ist!« weinte Annemarie.

Der letzte Grund schien Fräulein zu rühren, sie begann Annemie wieder besuchsfähig zu machen. Aber das war ein schwieriges Stück Arbeit. Die aufgeklebten Pflaster lösten sich nur schmerzhaft ab, doch Annemie schrie bloß ganz leise, damit Tante Albertinchen nicht etwa in Ohnmacht fiel.

Nun noch Gesicht und Hände sauber gewaschen, das Blümchenkleid übergezogen, und Annemie war wieder fertig.

Aber sie ging noch nicht. Erst mußte Fräulein wieder gut sein. Das hielt die Kleine nicht aus, daß ihr Fräulein böse auf sie war. Die Versöhnung fiel denn auch von Annemies Seite so stürmisch aus, daß die Haarschnecken ins Rutschen kamen. Nachdem sie wieder befestigt, konnte Annemie endlich wieder mit ihrer Gerda antreten.

»Was meinst du, Gerdachen, ob der Mohrenkopf wohl noch da sein wird?« flüsterte sie ihrer Puppe aufgeregt auf dem Wege ins Ohr.

Die machte ein zweifelhaftes Gesicht.

Aber nein – da lag er noch, Annemie wußte es ja: Tante Albertinchen war gut!

Jetzt ergriff auch die Tante ohne Zögern die kleine Hand und küßte ihren Liebling herzlich.

»So gefällst du mir, Annemiechen, also das ist deine neue Gerda? Guten Tag, mein Kind.«

Gerda machte einen wohlerzogenen Knicks.

»Wie alt bist du denn, Kleine?«

Gerda schwieg verlegen.

»Sie schoniert sich«, erklärte ihr Mütterchen.

Nachdem die Tante sich ein Weilchen mit Annemie und Gerda unterhalten hatte, wandte sie sich wieder Mutti zu. Nesthäkchen stand daneben und tat das, was sie vorhin ihrem Kinde streng verboten hatte: Sie ließ ihre Blauaugen zwischen dem Mohrenkopf und Tante Albertinchens umfangreichen Perlpompadour hin und her wandern.

Die Tante schien ihre Gegenwart augenscheinlich ganz vergessen zu haben. Annemie fand es für angemessen, sich wieder in Erinnerung zu bringen.

»Es dauerte lange, Tante Albertinchen!« sagte sie mit schelmischem Lächeln.

»Was denn, Herzchen, mein Besuch?«

»Nein – aber – – –« ein sprechender Blick auf den Perlpompadour vollendete den Satz.

»Aber Lotte,« rief Mutti ungehalten, »wer wird denn betteln!«

Doch das gute Tante Albertinchen lachte. »Das ist recht, Herzchen, daß du mich daran erinnerst. Wenn man erst so alt ist wie ich, da vergißt man manches!« Sie zog zu Annemies Begeisterung eine große Tüte Schokoladenplätzchen aus dem Pompadour.

Die Kleine dankte mit einem seligen Knicks. Es war doch besser, daß sie Tante Albertinchen erinnert hatte!

Nun hätte Annemie eigentlich wieder in ihr Kinderzimmer gehen können, aber da war ja noch etwas, was sie fesselte – der Mohrenkopf!

Warum Mutti auch die Tante soviel aufforderte, zuzulangen – jetzt bot sie ihr gerade wieder die Kuchenschüssel.

Annemies Herz zitterte – nein, Tante Albertinchen war gut, die nahm eine Brezel. Aber morgen würde sie ganz sicher an verdorbenem Magen im Bett liegen!

»Hast du gar keine Angst, daß du sterben mußt, Tante?« fragte die Kleine teilnehmend.

»Meinst du, weil ich schon so alt bin, Herzchen?« erkundigte sich die Tante verwundert.

»Nein – wegen des vielen – – – aber Muttchens verweisender Blick ließ Annemie ihre gastfreundliche Rede nicht zu Ende bringen.

»Es ist Zeit für dich, wieder in das Kinderzimmer zu gehen«, sagte Mutti nachdrücklich.

Tante bat für ihren Liebling.

»Laß sie mir doch noch ein bißchen, ich habe sie ja so selten«, sagte sie und zog Nesthäkchen an sich.

So mußte Annemie aus nächster Nähe mit ansehen, wie sich Tante die Brezel schmecken ließ. Was das bloß für eine dumme Mode war, daß Kinder immer nur den übriggebliebenen Kuchen erhielten!

Wieder reichte Mutti der Tante den Kuchenkorb, wieder zitterte Klein-Annemaries Herzchen. Tante wollte durchaus nicht mehr nehmen, aber Mutti quälte: »Nur noch ein kleines Stückchen!«

Tante Albertinchen griff, während sie sich mit Mutti weiter unterhielt, ohne hinzusehen, nach dem Kuchen.

Nesthäkchens Augen wurden schreckensweit, und auch Gerda schaute entgeistert drein.

Da lag er, der schöne Mohrenkopf – auf Tante Albertinchens Teller!

Grenzenlose Enttäuschung quoll in Klein-Annemie empor, mit tränenerstickter Stimme rief sie: »Mein Mohrenkopf – das ist meiner!«

Gerda war erstarrt über die Ungezogenheit ihrer kleinen Mama. Noch viel erstarrter aber war Mutti. Die kannte ihr sonst so artiges Nesthäkchen heute gar nicht wieder.

Tante Albertinchen jedoch wandte sich freundlich um.

»Ach, den wolltest du wohl haben?« Und mit gütigem Lächeln reichte sie der Kleinen ihren Teller mit dem ersehnten Mohrenkopf.

Da aber legte sich Mutti ins Mittel.

»Annemie hat heute keinen Kuchen verdient, sie war zu unartig! Ich hatte ihr die Marzipankartoffel verwahrt, aber das ist nur was für artige Kinder!«

Soviel auch das gute Tante Albertinchen für Nesthäkchen bat, Mutti blieb fest.

Die Marzipankartoffel bekam Hans, und der Mohrenkopf, den Tante Albertinchen nun auch nicht mehr essen mochte, wanderte in den Magen von Klaus.

Annemarie aber hatte das Zusehen – etsch – das kam davon!

11. Kapitel. Knabber – knabber – Mäuschen.

Selten hatte auf Annemie eine Strafe solchen nachhaltigen Eindruck gemacht wie der Verlust des erträumten Mohrenkopfes. Tagelang dachte Naschmäulchen noch mit tiefem Bedauern an sein schönes, braunes Schokoladenkleid. Ihr liebstes Spiel war seitdem: Konditor.

Die Mehl- und Vorkostbude wurde in einen Konditorladen umgewandelt. Annemie machte einen Knoten in jede Ecke ihres Taschentuches, da, hatte sie die feinste Konditormütze. Auch ihr Kurt bekam eine Taschentuchmütze. Er war der Konditorjunge und wurde »Fritze mit der Zippelmütze« genannt.