Goethes Wahlverwandtschaften

 

Jula Cohn gewidmet

 

I

«Wer blind wählet, dem schlägt Opferdampf in die Augen.»

Klopstock

 

Die vorliegende Literatur über Dichtungen legt es nahe, Ausführlichkeit in dergleichen Untersuchungen mehr auf Rechnung eines philologischen als eines kritischen Interesses zu setzen. Leicht könnte daher die folgende, auch im einzelnen eingehende Darlegung der Wahlverwandtschaften über die Absicht irre führen, in der sie gegeben wird. Sie könnte als Kommentar erscheinen; gemeint jedoch ist sie als Kritik. Die Kritik sucht den Wahrheitsgehalt eines Kunstwerks, der Kommentar seinen Sachgehalt. Das Verhältnis der beiden bestimmt jenes Grundgesetz des Schrifttums, demzufolge der Wahrheitsgehalt eines Werkes, je bedeutender es ist, desto unscheinbarer und inniger an seinen Sachgehalt gebunden ist. Wenn sich demnach als die dauernden gerade jene Werke erweisen, deren Wahrheit am tiefsten ihrem Sachgehalt eingesenkt ist, so stehen im Verlaufe dieser Dauer die Realien dem Betrachtenden im Werk desto deutlicher vor Augen, je mehr sie in der Welt absterben. Damit aber tritt der Erscheinung nach Sachgehalt und Wahrheitsgehalt, in der Frühzeit des Werkes geeint, auseinander mit seiner Dauer, weil der letzte immer gleich verborgen sich hält, wenn der erste hervordringt. Mehr und mehr wird für jeden späteren Kritiker die Deutung des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgehaltes, demnach zur Vorbedingung. Man darf ihn mit dem Paläographen vor einem Pergamente vergleichen, dessen verblichener Text überdeckt wird von den Zügen einer kräftigern Schrift, die auf ihn sich bezieht. Wie der Paläograph mit dem Lesen der letztern beginnen müßte, so der Kritiker mit dem Kommentieren. Und mit einem Schlag entspringt ihm daraus ein unschätzbares Kriterium seines Urteils: nun erst kann er die kritische Grundfrage stellen, ob der Schein des Wahrheitsgehaltes dem Sachgehalt oder das Leben des Sachgehaltes dem Wahrheitsgehalt zu verdanken sei. Denn indem sie im Werk auseinandertreten, entscheiden sie über seine Unsterblichkeit. In diesem Sinne bereitet die Geschichte der Werke ihre Kritik vor und daher vermehrt die historische Distanz deren Gewalt. Will man, um eines Gleichnisses willen, das wachsende Werk als den flammenden Scheiterhaufen ansehn, so steht davor der Kommentator wie der Chemiker, der Kritiker gleich dem Alchimisten. Wo jenem Holz und Asche allein die Gegenstände seiner Analyse bleiben, bewahrt für diesen nur die Flamme selbst ein Rätsel: das des Lebendigen. So fragt der Kritiker nach der Wahrheit, deren lebendige Flamme fortbrennt über den schweren Scheitern des Gewesenen und der leichten Asche des Erlebten.

Dem Dichter wie dem Publikum seiner Zeit wird sich nicht zwar das Dasein, wohl aber die Bedeutung der Realien im Werke zumeist verbergen. Weil aber nur von ihrem Grunde das Ewige des Werkes sich abhebt, umfaßt jede zeitgenössische Kritik, so hoch sie auch stehen mag, in ihm mehr die bewegende als die ruhende Wahrheit, mehr das zeitliche Wirken als das ewige Sein. Doch wie wertvoll immer Realien für die Deutung des Werkes sein mögen – kaum braucht es gesagt zu werden, daß das Goethesche Schaffen nicht wie das eines Pindar sich betrachten läßt. Vielmehr war gewiß nie eine Zeit, der mehr als Goethes der Gedanke fremd gewesen ist, daß die wesentlichsten Inhalte des Daseins in der Dingwelt sich auszuprägen, ja ohne solche Ausprägung sich nicht zu erfüllen vermögen. Kants kritisches Werk und Basedows Elementarwerk, das eine dem Sinn, das andere der Anschauung der damaligen Erfahrung gewidmet, geben auf sehr verschiedene, doch gleichermaßen bündige Weise Zeugnis von der Armseligkeit ihrer Sachgehalte. In diesem bestimmenden Zuge der deutschen – wenn nicht der gesamteuropäischen – Aufklärung darf eine unerläßliche Vorbedingung des Kantischen Lebenswerks einerseits, des Goetheschen Schaffens andererseits erblickt werden. Denn genau um die Zeit, da Kants Werk vollendet und die Wegekarte durch den kahlen Wald des Wirklichen entworfen war, begann das Goethesche Suchen nach den Samen ewigen Wachstums. Es kam jener Richtung des Klassizismus, welche weniger das Ethische und Historische zu erfassen suchte als das Mythische und Philologische. Nicht auf die werdenden Ideen, sondern auf die geformten Gehalte, wie sie Leben und Sprache verwahrten, ging ihr Denken. Nach Herder und Schiller nahmen Goethe und Wilhelm von Humboldt die Führung. Wenn der erneuerte Sachgehalt, der in Goethes Altersdichtungen vorlag, seinen Zeitgenossen entging, wo er nicht wie im Divan sich betonte, so kam dies, ganz im Gegensatz zur entsprechenden Erscheinung im antiken Leben, daher, daß selbst das Suchen nach einem solchen denselben fremd war.

Wie klar in den erhabensten Geistern der Aufklärung die Ahnung des Gehalts oder die Einsicht in die Sache war, wie unfähig dennoch selbst sie, zur Anschauung des Sachgehalts sich zu erheben, wird angesichts der Ehe zwingend deutlich. An ihr als einer der strengsten und sachlichsten Ausprägungen menschlichen Lebensgehalts bekundet zugleich am frühesten, in den Goetheschen Wahlverwandtschaften, sich des Dichters neue, auf synthetische Anschauung der Sachgehalte hingewendete Betrachtung. Kants Definition der Ehe aus der »Metaphysik der Sitten«, deren einzig als Exempel rigoroser Schablone oder als Kuriosum der senilen Spätzeit hin und wieder gedacht wird, ist das erhabenste Produkt einer ratio, welche, unbestechlich treu sich selber, in den Sachverhalt unendlich tiefer eindringt, als gefühlvolles Vernünfteln tut. Zwar bleibt der Sachgehalt selbst, welcher allein philosophischer Anschauung – genauer: philosophischer Erfahrung – sich ergibt, beiden verschlossen, aber wo das eine ins Bodenlose führt, trifft die andere genau auf den Grund, wo die wahre Erkenntnis sich bildet. Sie erklärt demnach die Ehe als »die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften. – Der Zweck Kinder zu erzeugen und zu erziehen mag immer ein Zweck der Natur sein, zu welchem sie die Neigung der Geschlechter gegen einander einpflanzte; aber daß der Mensch, der sich verehelicht, diesen Zweck sich vorsetzen müsse, wird zur Rechtmäßigkeit dieser seiner Verbindung nicht erfordert; denn sonst würde, wenn das Kinderzeugen aufhört, die Ehe sich zugleich von selbst auflösen«. Freilich war es der ungeheuerste Irrtum des Philosophen, daß er meinte, aus dieser Definition, die er von der Natur der Ehe gab, ihre sittliche Möglichkeit, ja Notwendigkeit durch Ableitung darlegen und dergestalt ihre rechtliche Wirklichkeit bestätigen zu können. Ableitbar aus der sachlichen Natur der Ehe wäre ersichtlich nur ihre Verworfenheit – und darauf läuft es bei Kant unversehens hinaus. Allein das ist ja das Entscheidende, daß niemals ableitbar ihr Gehalt sich zur Sache verhält, sondern daß er als das Siegel erfaßt werden muß, das sie darstellt. Wie die Form eines Siegels unableitbar ist aus dem Stoff des Wachses, unableitbar aus dem Zweck des Verschlusses, unableitbar sogar aus dem Petschaft, wo konkav ist, was dort konvex, wie es erfaßbar erst demjenigen ist, der jemals die Erfahrung des Siegelns hatte und evident erst dem, der den Namen kennt, den die Initialen nur andeuten, so ist abzuleiten der Gehalt der Sache weder aus der Einsicht in ihren Bestand, noch durch die Erkundung ihrer Bestimmung, noch selbst aus der Ahnung des Gehalts, sondern erfaßbar allein in der philosophischen Erfahrung ihrer göttlichen Prägung, evident allein der seligen Anschauung des göttlichen Namens. Dergestalt fällt zuletzt die vollendete Einsicht in den Sachgehalt der beständigen Dinge mit derjenigen in ihren Wahrheitsgehalt zusammen. Der Wahrheitsgehalt erweist sieh als solcher des Sachgehalts. Dennoch ist ihre Unterscheidung – und mit ihr die von Kommentar und von Kritik der Werke – nicht müßig, sofern Unmittelbarkeit zu erstreben nirgends verworrener als hier, wo das Studium der Sache und ihrer Bestimmung wie die Ahnung ihres Gehalts einer jeden Erfahrung vorherzugehen haben. In solcher sachlichen Bestimmung der Ehe ist Kants Thesis vollendet und im Bewußtsein ihrer Ahnungslosigkeit erhaben. Oder vergißt man, über seine Sätze belustigt, was ihnen vorhergeht? Der Beginn jenes Paragraphen lautet: »Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale) ist der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines andern Geschlechtsorganen und -vermögen macht (usus membrorum et facultatum sexualium alterius), und entweder ein natürlicher (wodurch seinesgleichen erzeugt werden kann) oder unnatürlicher Gebrauch und dieser entweder an einer Person ebendesselben Geschlechts oder einem Tier von einer anderen als der Menschengattung«. So Kant. Hält man diesem Abschnitt der »Metaphysik der Sitten« Mozarts Zauberflöte zur Seite, so scheinen die extremsten und zugleich die tiefsten Anschauungen sich darzustellen, die das Zeitalter von der Ehe besaß. Denn die Zauberflöte hat, soweit überhaupt einer Oper das möglich ist, gerade die eheliche Liebe zu ihrem Thema. Dies scheint selbst Cohen, mit dessen später Schrift über Mozarts Operntexte sich die beiden genannten Werke in einem so würdigen Geiste begegnen, nicht durchaus erkannt zu haben. Weniger das Sehnen der Liebenden als die Standhaftigkeit der Gatten ist der Inhalt der Oper. Es ist nicht nur, einander zu gewinnen, daß sie Feuer und Wasser durchschreiten sollen, sondern um auf immer vereinigt zu bleiben. Hier ist, so sehr der Geist der Freimaurerei alle sachlichen Bindungen auflösen mußte, die Ahnung des Gehalts zum reinsten Ausdruck im Gefühl der Treue gekommen.

Ist wirklich Goethe in den Wahlverwandtschaften dem Sachgehalt der Ehe näher als Kant und Mozart? Leugnen müßte man es schlechtweg, wollte man ernsthaft, im Gefolge der ganzen Goethephilologie, Mittlers Worte darüber für solche des Dichters nehmen. Nichts erlaubt diese Annahme, allzuvieles erklärt sie. Suchte doch der schwindelnde Blick einen Anhalt in dieser Welt, die wie in Strudeln kreisend versinkt. Da waren nur die Worte des verkniffenen Polterers, die man froh war nehmen zu können wie man sie fand. »Wer mir den Ehstand angreift, rief er aus, wer mir durch Wort, ja durch Tat diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu tun; oder wenn ich sein nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu tun. Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessere Gelegenheit, seine Milde zu beweisen. Unauflöslich muß sie sein, denn sie bringt so vieles Glück, daß alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist. Und was will man von Unglück reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebter, sich unglücklich zu finden. Lasse man den Augenblick vorübergehen, und man wird sich glücklich preisen, daß ein so lange Bestandnes noch besteht. Sich zu trennen, gibt's gar keinen hinlänglichen Grund. Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, daß gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden. Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann. Unbequem mag es manchmal sein, das glaub ich wohl, und das ist eben recht. Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet, das wir oft gerne los sein möchten, weil es unbequemer ist, als uns je ein Mann oder eine Frau werden könnte?« Hier hätte nun selbst denen, die den Pferdefuß des Sittenstrengen nicht sahen, zu denken geben müssen, daß nicht einmal Goethe, der oft skrupellos genug sich erwiesen hat, wenn es galt, den Bedenklichen heimzuleuchten, auf die Worte Mittlers zu deuten verfallen ist. Vielmehr ist es höchst bezeichnend, daß jene Philosophie der Ehe einer zum besten gibt, der ehelos selber lebend als der tiefststehende unter allen Männern des Kreises erscheint. Wo irgend bei wichtigen Anlässen er seiner Rede den Lauf läßt, ist sie fehl am Ort, sei es bei der Taufe des Neugeborenen, sei es beim letzten Weilen der Ottilie mit den Freunden. Und wird dort das Abgeschmackte in ihr hinreichend an den Wirkungen fühlbar, so hat nach seiner berühmten Apologie der Ehe Goethe geschlossen: »So sprach er lebhaft und hätte wohl noch lange fortgesprochen«. Unbeschränkt läßt sich in der Tat solche Rede verfolgen, die, um mit Kant zu sprechen, ein »ekelhafter Mischmasch« ist, »zusammengestoppelt« aus haltlosen humanitären Maximen und trüben, trügerischen Rechtsinstinkten. Niemandem sollte das Unreine darin entgehen, jene Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit im Leben der Gatten. Alles läuft auf den Anspruch der Satzung hinaus. Doch hat in Wahrheit die Ehe niemals im Recht die Rechtfertigung, das wäre als Institution, sondern einzig als ein Ausdruck für das Bestehen der Liebe, die ihn von Natur im Tode eher suchte als im Leben. Dem Dichter jedoch blieb in diesem Werk die Ausprägung der Rechtsnorm unerläßlich. Wollte er doch nicht, wie Mittler, die Ehe begründen, vielmehr jene Kräfte zeigen, welche im Verfall aus ihr hervorgehn. Dieses aber sind freilich die mythischen Gewalten des Rechts und die Ehe ist in ihnen nur Vollstreckung eines Unterganges, den sie nicht verhängt. Denn nur darum ist ihre Auflösung verderblich, weil nicht höchste Mächte sie erwirken. Und allein in diesem aufgestörten Unheil liegt das unentrinnbar Grauenvolle des Vollzugs. Damit aber rührte Goethe in der Tat an den sachlichen Gehalt der Ehe. Denn wenn auch unverbildet diesen darzutun in seinem Sinne nicht lag, so bleibt die Einsicht in das untergehende Verhältnis gewaltig genug. Im Untergange erst wird es das rechtliche als das Mittler es hochhält. Goethen aber fiel es, wiewohl er von dem moralischen Bestande dieser Bindung eine reine Einsicht gewiß nie gewonnen, doch nicht bei, die Ehe im Eherecht zu begründen. Es ist die Moralität der Ehe für ihn im tiefsten und verschwiegenen Grunde am wenigsten zweifelsfrei gewesen. Was er im Gegensatz zu ihr an der Lebensform des Grafen und der Baronesse darzulegen wünscht, ist das Unmoralische nicht so sehr als das Nichtige. Dies eben bezeugt sich darin, daß sie weder der sittlichen Natur ihres gegenwärtigen Verhältnisses sich bewußt sind, noch der rechtlichen derjenigen, aus denen sie getreten sind. – Der Gegenstand der Wahlverwandtschaften ist nicht die Ehe. Nirgends wären ihre sittlichen Gewalten darin zu suchen. Von Anfang an sind sie im Verschwinden, wie der Strand unter Wassern zur Flutzeit. Kein sittliches Problem ist hier die Ehe und auch kein soziales. Sie ist keine bürgerliche Lebensform. In ihrer Auflösung wird alles Humane zur Erscheinung und das Mythische verbleibt allein als Wesen.

Dem widerspricht freilich der Augenschein. Nach ihm ist eine höhere Geistigkeit in keiner Ehe denkbar als in der, wo selber der Verfall es nicht vermag, die Sitte der Betroffenen zu mindern. Aber im Bereich der Gesittung ist das Edle an ein Verhältnis der Person zur Äußerung gebunden. Es steht, wo nicht die edle Äußerung jener gemäß, der Adel in Frage. Und dieses Gesetz, dessen Geltung man freilich unbeschränkt nicht ohne großen Irrtum nennen dürfte, erstreckt sich über den Bereich der Gesittung hinaus. Gibt es ohne Frage Äußerungsbereiche, deren Inhalte unangesehen dessen gelten, der sie ausprägt, ja sind dies die höchsten, so bleibt jene bindende Bedingung unverbrüchlich für das Gebiet der Freiheit im weitesten Sinne. Ihm gehört die individuelle Ausprägung des Schicklichen, ihm die individuelle Ausprägung des Geistes an: alles dasjenige, was Bildung genannt wird. Die bekunden die Vertrauten vor allem. Ist das wahrhaft ihrer Lage gemäß? Weniger Zögern möchte Freiheit, weniger Schweigen möchte Klarheit, weniger Nachsicht die Entscheidung bringen. So wahrt Bildung ihren Wert nur da, wo ihr freisteht, daß sie sich bekunde. Dies erweist auch sonst die Handlung deutlich.