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Singe mir, Muse …

Von Athene und der Erfindung der Flöte – Von Marsyas und Apoll – Von Orpheus und Eurydike – Von eifersüchtigen Frauen – Von einem träumenden Hirtenknaben

Sollen wir bei der Schöpfungsgeschichte beginnen, also wie Himmel und Erde aus dem Chaos entstanden? Weiter zurückgreifen läßt sich nicht, denn im Chaos war nichts, wovon man berichten könnte. Es läge nahe, beim Anfang zu beginnen, also an dem Punkt oder Zeitpunkt oder wie man diesen Moment nennen will, an dem es dem Ungeteilten gefiel, sich zu teilen. – Wir tun es nicht. Wir werden von der Schöpfungsgeschichte erst später erzählen. Für uns stehen am Beginn nämlich nicht Chaos und Ursprung, sondern die Sänger, die uns all diese Geschichten erzählen, auch die Geschichte von der Entstehung der Dinge und der Götter und der Menschen. Deshalb will ich den Anfang den Sängern geben.

Ich möchte zunächst von einem kleinen, unbeachteten Musikanten erzählen, nämlich vom unglücklichen Satyr Marsyas. Und diese Geschichte fängt bezeichnenderweise nicht mit diesem komisch-wunderlichen Waldwesen an, sondern mit der ebenso prominenten wie gestrengen Göttin Pallas Athene.

Die Göttin Pallas Athene streifte einst durch die Wälder und fand einen Doppelknochen – ich weiß nicht, was genau darunter zu verstehen ist –, einen von Ameisen ausgehöhlten und gesäuberten Doppelknochen, und in diesen Doppelknochen bohrte sie Löcher, und da war er eine Flöte. Manche behaupten, Athene habe damals die Flöte erfunden. Die Sagen liefern uns ja oft die Entstehungsgeschichte der Dinge, die uns umgeben, wie diese Dinge gegründet, erfunden, gefunden wurden. Bei der besagten Doppelrohrflöte ist zu bemerken, daß sie mit unserer heutigen Flöte nicht zu vergleichen ist. Man muß sich ein Rohr vorstellen, in das ein Blatt geklemmt ist, das in Schwingung gerät, wenn es angeblasen wird, und einen quäkenden Ton von sich gibt, der dann durch Manipulation der beiden Flötenschächte moduliert wird. Aulos wurde das Instrument genannt, und der Aulos war mindestens soviel ein Vorläufer des Dudelsacks wie unserer Blockflöte. Nicht gerade das edelste der Instrumente, und wir werden sehen, die große Pallas Athene konnte sich, zumindest was den Instrumentenbau betrifft, mit ihrem Halbbruder Hermes nicht vergleichen.

Jedenfalls wollte Athene ihre Erfindung oben im Olymp den versammelten Göttern vorführen. Sie setzte sich hin und begann auf dem Aulos zu spielen. Es muß ohne Zweifel eine wunderbare Musik gewesen sein, eine göttliche Musik eben. Und dennoch: Hera, die Göttermutter, die Schwester und auch Gattin des Zeus, und Aphrodite, die Göttin der Liebe, sie drehten sich weg und begannen zu tuscheln und zu kichern. Athene war etwas verwirrt und fragte: »Was ist denn los? Spiele ich nicht richtig?« – Sie bekam aber keine Antwort. Nun, dachte sie, es kann ja nicht nur an den anderen liegen, vielleicht liegt es an mir. Im Gegensatz zu den meisten anderen Göttern war sie zu der eigentlich ganz ungöttlichen Eigenschaft der Selbstkritik durchaus fähig. Sie flog zur Erde hinunter, suchte sich einen klaren Gebirgssee, beugte sich über die Wasserfläche und spielte dasselbe Lied noch einmal, diesmal nur für sich. Und betrachtete, während sie spielte, ihr Spiegelbild. Und nun wußte sie auch, warum Hera und Aphrodite gekichert hatten. Ihr Spiegelbild zeigte ein aufgedunsenes, angestrengtes, bläulich-rot angelaufenes Gesicht, die Augen waren zusammengedrückt, die Nasenflügel unappetitlich gebläht. Die Musik klang zwar wunderschön, aber sie machte den Musikanten häßlich. Und Athene wußte, mit dieser Erfindung konnte sie nirgends großtun, das Spiel auf dem Aulos war nichts für sie, vielleicht überhaupt nichts für Frauen, es machte sie abstoßend.

Sie warf die Flöte hinter sich und nicht nur das, sie heftete an die Flöte zusätzlich noch einen Fluch. Sie sagte: »Wer auch immer diese Flöte spielen wird, es soll Unglück über ihn kommen.«

Und nun kam dieser unglückselige Satyr Marsyas des Weges, ein Kobold, ein harmloser Waldbewohner, nicht sehr klug, aber rundum zufrieden mit sich selbst. Und er stolperte über die Flöte, und er sagte sich: »Na gut, wenn ich schon darüber stolpere, dann soll sie mir auch dienen.«

Und er begann darauf zu spielen. Er hatte keine Ahnung von Musik und keine Ahnung von der Handhabung dieses Instruments. Aber siehe da, aus der Flöte kamen wie von selbst wunderbare, weil eben göttliche Klänge. Marsyas dachte nicht daran, dahinter einen Spuk zu vermuten, er schrieb die wunderbare Musik ganz seinem Genie zu, von dem er, wie er sich sagte, bisher nur nichts gewußt hatte.

So zog er vor die Bauern der Umgebung und spielte ihnen auf. Und die sagten: »Also, wir können dir nur gratulieren, Satyr Marsyas!« – Sie bewunderten ihn mit offenen Mündern. Hingerissen waren sie, und einer der Bauern sprach es aus: »So schön wie du spielt nur noch Apoll, der Gott der Musik!«

Und da hätte der unglückselige, närrische Marsyas widersprechen sollen. Unbedingt! Spätestens nach diesem Wort hätte er die Flöte weit von sich werfen sollen. Aber er hat es nicht getan, er war eben auch eitel wie jeder, und er hat sich solches Lob gerne sagen lassen. Er hat diesen Satz auf seiner weiteren Tournee sogar als eine Art Werbespruch vor sich hergetragen: »So schön wie ich spielt nur noch Apoll!«

Mir scheint es ratsam, die Finger und die Worte von den Göttern zu lassen, man erregt nur ihre Aufmerksamkeit und ihren Ehrgeiz. Apoll hörte, wie da mit seinem Namen geprahlt wurde, er sah eine Weile lang vom Olymp aus zu, dann kam er herunter und sagte zu Marsyas: »Wenn du meinst, daß du so schön spielen kannst wie ich, dann laß uns doch einen Wettstreit abhalten. Ich auf der Lyra und du, Marsyas, auf deiner merkwürdigen zweiknochigen Flöte.«

Fehler Nummer zwei: Marsyas stimmte zu.

Apoll bestellte eine Jury, eine wirklich auserlesene Jury, das muß festgehalten werden, nämlich die Musen, die Göttinnen der Künste und der Wissenschaften, und die sollten beurteilen, wer nun tatsächlich schöner spielte.

Bevor sie aber zu spielen begannen, sagte Apoll: »Weil ich der Gott bin und du, Marsyas, nur ein niedriger, schmutziger Satyr, werde ich die Regeln des Wettstreites bestimmen. Wer von uns beiden Sieger wird, der darf mit dem anderen machen, was er will.«

Marsyas war wieder einverstanden. Es blieb ihm diesmal allerdings keine Wahl. Außerdem sah der eitle Dummkopf in der Tatsache, daß Apoll, Zeus’ erstgeborener Sohn, sich herabließ, ihm Bedingungen zu diktieren, ein Zugeständnis, daß er, der kleine, unbedeutende, schmutzige Satyr, dem großen, bedeutenden Gott überlegen sei – oder zumindest sein könnte, daß er eine reelle Chance habe gegen den strahlenden Sohn der Leto.

Sie spielten – Apoll auf der Lyra, Marsyas auf dem Aulos. Und zunächst sah die Sache für den Satyr gar nicht so schlecht aus. Die Musen sagten: »Nein, wir können tatsächlich nicht feststellen, wer von euch der Bessere ist. Ihr seid beide gleich gut.«

Und Apoll sagte: »Dann werde ich den Wettbewerb erweitern. Im folgenden sollst du, Marsyas, mir alles nachmachen, was ich mache. Wenn du das kannst, dann gebe ich mich geschlagen.«

Nun wird es dem Marsyas wohl etwas mulmig geworden sein, aber er stimmte wieder zu.

Apoll drehte seine Lyra um und spielte das Griffbrett linkshändig – und wurde somit gleich auch zum Stammvater aller linkshändigen Gitarristen von Jimi Hendrix bis Paul McCartney –, und er sagte: »Dreh du dein Instrument ebenfalls um, Marsyas! Und noch etwas!« Und der Gott begann zur Lyra zu singen. »So«, sang er, »mach es genauso! Sing, während du spielst!«

Das geht vielleicht mit der Lyra, mit der Kithara geht das vielleicht, aber sicher nicht mit einem flötenähnlichen Instrument, wie es der Aulos ist. Erstens kommt nichts heraus, wenn man die Flöte umdreht und hinten hineinbläst, und zweitens kann kein Mensch Flöte spielen und gleichzeitig singen. Nicht einmal ein Gott kann das. Denn auch die Götter können mit den Dingen dieser Welt nicht nach Willkür verfahren.

Also hatte Marsyas diesen Wettstreit verloren. Die Musen gaben den Siegerkranz an Apoll.

Apoll sagte zu Marsyas: »Nun, wir hatten ausgemacht, der Sieger darf mit dem Verlierer machen, was er will. Ich bin der Sieger.«

Er packte den kleinen Marsyas am Genick, hängte ihn an eine hohe Fichte und schabte ihm mit dem kuriosen Doppelknochen die Haut vom Körper. Die Musen standen dabei, und das Geschrei des Marsyas empfanden sie auch als eine Art von Musik. Denn die Musen verstehen es, in allen Dingen dieser Welt das Ästhetische zu sehen.

Wir dürfen aber nicht glauben, daß Apoll einer gewesen sei, der neben sich keinen anderen hätte aufkommen lassen, keinen anderen Sänger, keinen anderen Lyraspieler. Das Gegenteil ist der Fall. Darum will ich nun die Geschichte des größten aller Sänger des griechischen Altertums erzählen, die Geschichte von Orpheus.

Orpheus soll – und ich neige dazu, dies zu glauben – der Sohn des Apoll gewesen sein. Man kann sich sonst nicht erklären, daß jemand so verzaubernd singen konnte. Wer aber war die Mutter des Orpheus? – Ich möchte hier auf die erste Zeile aus Homers Ilias verweisen:

»Singe, Göttin, den Zorn des Peleiden Achilleus…«

Das ist ein Hinweis auf die Mutter des Orpheus, auf Kalliope. Kalliope heißt: die Schönstimmige. Sie ist die Patronin der epischen Dichtung.

Kalliope die Mutter, Apoll der Vater, der Sohn: Orpheus, der bedeutendste, der größte, der schönste, der rätselhafteste Sänger der Antike. Über ihn hieß es: »In unendlichen Scharen kreisten die Vögel über seinem Haupt, und hoch sprangen die Fische aus dem dunkelblauen Meer ihm entgegen.«

Die Tiere versammelten sich um ihn, wenn er zu singen und zu spielen begann, die Tiere des Wassers, die Tiere des Landes, die Tiere der Luft. Aber nicht nur die Tiere wandten sich ihm zu, sondern, wie es heißt, auch die Bäume und die Sträucher. Ich war vor kurzem in der kleinen Inselstadt Sirmione im Gardasee, wo der römische Dichter Catull seine Villa angelegt hat, und dort stehen im Hain des Catull uralte Olivenbäume. Sie sind so alt, daß ihre Stämme gespalten und zerrissen sind, und es sieht manchmal so aus, als ob es alte Männer wären, die sich im Schritt befinden, der Stamm geht unten zweifach in die Erde hinein. Und solche alten Olivenbäume kann man auch in Griechenland sehen, und man sagt, das seien die Olivenbäume, die Orpheus nachgelaufen sind.

Es sind ihm auch die Erdhügel, die Steine, die Felsbrocken nachgefolgt, und die Berge hätten, so heißt es, an ihren breiten Wurzeln gerissen, so daß die Erde zu beben begonnen habe. Wenn man am Ufer steht und ins Meer hinausschaut, an manchen Stellen sieht man die Felsen wie Köpfe aus dem Meer herausragen. Man sagt, sie seien vom Meeresgrund aufgetaucht, um Orpheus singen zu hören.

Orpheus bedeutet das Dunkle, und tatsächlich gab es ein Ereignis, das aus dem einst fröhlichen Sänger eine düstere, rätselhafte Gestalt machte…

Ich will zunächst erzählen, woher er sein Instrument hatte. Seine Stimme zusammen mit diesem Instrument ergab ja erst diese alles bezwingende Musik. Und auch dieses Instrument, wie schon die Flöte des Marsyas, ist göttlichen Ursprungs.

Orpheus hat es von seinem Vater Apoll bekommen, und diesem hat es wiederum Hermes, Apolls Halbbruder und olympischer Freund, geschenkt. Hermes ist einer der liebenswürdigsten Götter. Am ersten Tag in seinem Sein  – um nicht zu sagen: in seinem Leben – kroch er aus den Windeln, hinaus aus seiner Höhle, dort fand das kleine Götterbaby eine Riesenschildkröte, der drehte er kurzerhand den Hals ab, riß ihr den Rückenpanzer vom Körper, spannte darüber Saiten und hatte somit im Handumdrehen die Lyra, die Kithara, unsere Gitarre erfunden. Und weil er an demselben ersten Tag seinem Halbbruder Apoll einen frechen Streich gespielt hatte und dieser ihm vorübergehend zürnte, hat er ihm die Lyra als Versöhnungsgeschenk überlassen.

Und Apoll hat sie an seinen Lieblingssänger Orpheus weitergegeben. Und auf diesem Instrument hat Orpheus seinen wunderbaren Gesang begleitet.

Orpheus war einer der Argonauten, die auf dem Schiff Argo durch die Welt gesegelt sind. Er war für die Besatzung der Argo nicht irgendein Sänger, ein lästiges kulturelles Anhängsel, so eine Art Troubadix, wie wir ihn von Asterix und Obelix kennen, dem gleich der Mund zugebunden wird, sobald er nur einen Laut von sich gibt – nein, Orpheus war auch aus militärischen Gründen für die Besatzung der Argo äußerst wichtig. Man stelle sich vor, was das für ein militärischer Vorteil ist, wenn man dem Feind gegenübersteht, und noch bevor ein Schuß abgegeben wird, beginnt der Sänger auf der eigenen Seite zu singen, und die Gegner sind so hingerissen von dieser Musik, daß sie die Waffen sinken lassen und sich niedersetzen, um zu lauschen. Und während die Stimme des Sängers noch erschallt, kann man in aller Ruhe den Feinden die Kehlen durchschneiden.

Ein anderes Beispiel für die Nützlichkeit der Musik an Bord der Argo: Orpheus hat die Mannschaft auch vor den Sirenen gerettet. Auf die Sirenen werden wir noch zu sprechen kommen, wenn wir von Odysseus berichten. Als die Argo an der Insel dieser verlockenden Ungeheuer vorüberfuhr, hat Orpheus so laut gesungen, daß die Sirenen dagegen nicht ankamen, und das Schiff fuhr ungehindert an dieser gefährlichen Stelle vorbei.

Die Bücher, die über Orpheus geschrieben wurden, sind nicht zu zählen; auch Filme wurden gedreht, ich denke nur »Orphée« von Jean Cocteau, Comics wurden gezeichnet, sogar solche mit dem Etikett »besonders wertvoll« wie »Orphi und Eura« von Dino Buzzati. Und vieles mehr.

Der Grund, warum Orpheus bis heute so berühmt und beliebt ist, liegt nicht in seinen militärischen Erfolgen beim Zug der Argonauten. Seinen Ruhm verdankt er einer Liebesgeschichte. – Es ist die Geschichte von Orpheus und Eurydike.

Als er zurückkam von seiner Weltreise, traf er Eurydike. Und verliebte sich sofort in sie. Und auch Eurydike verliebte sich sofort in ihn. Sie waren das glücklichste und schönste Paar, das in der damaligen Welt anzutreffen war.

Eurydike ging eines Tages hinaus auf das Feld, um Blumen für Orpheus zu pflücken, denn Orpheus war in die Stadt gefahren, um ein leichtes Tuch für Eurydike zu kaufen. Es war ein schläfriger Sommernachmittag, um die Blumen surrten die Bienen. Eurydike wartete, bis die Bienen ihren Nektar gehoben hatten, dann erst brach sie die Blumen.

Die Bienen aber gehörten dem berühmtesten Bienenzüchter der Antike, nämlich Aristaios. Er hatte die Bienenzucht erfunden, er betrieb eine erfolgreiche Imkerei und belieferte den ganzen Erdkreis mit Honig, und nicht nur die Menschen, sondern auch die Götter belieferte er.

Dieser Aristaios beobachtete Eurydike, wie sie sich niederbeugte, um die Blumen zu pflücken, und er war augenblicklich von Begierde erfüllt und rannte auf sie zu. Eurydike lief davon, Aristaios lief ihr hinterher, Eurydike hatte furchtbare Angst vor dem Mann, der so ein merkwürdiges Netz über dem Gesicht hatte, und sie blickte nicht auf den Boden und trat auf eine Schlange. Und diese Schlange biß sie in den Fuß, und daran starb Eurydike.

Als Orpheus mit dem leichten Tuch aus der Stadt zurückkam, war seine geliebte Frau bereits tot.

Er wurde von einer ungeheuren Trauer erfaßt, einer Trauer, wie sie die Welt bis dahin nicht für möglich gehalten hatte. Er aß nichts mehr. Er schlief nicht mehr. Er konnte keine Minute ruhig sein. Er komponierte im Gehen die wunderschönsten Trauerlieder, Trauerlieder, wie sie noch nie gehört worden waren. Diese Lieder sind leider alle verlorengegangen, weil er sie dem Wind auf den Straßen zur freien Verfügung überlassen hat, und der hat sie weggetragen. Wohin? The answer is blowin’ in the wind…

Und schließlich machte sich Orpheus auf den Weg ans Ende der Welt. Er wanderte nach Süden, nach Süden, nach Süden, bis er die Südspitze des Peloponnes erreichte, und dort gibt es einen Eingang in das Totenreich, in das Reich des Hades. Vor diesen Eingang stellte sich Orpheus und spielte und sang, eingehüllt in die finstere Wolke der Trauer. Er wußte ja, daß Hermes, der Götterbote, der Gott der Diebe, auch der Führergott ist, der die Seelen sanft in die Unterwelt geleitet; Orpheus wußte, daß Hermes seine geliebte Eurydike durch diesen Eingang in die Unterwelt, in das grausige Reich der Schatten und der Toten, geführt hatte.

Orpheus stand also mit seiner Lyra am Eingang und sang und spielte, und sein Spiel und sein Gesang waren nichts anderes als ein sehnsuchtsvolles Rufen nach Eurydike.

Und es stellte sich heraus, daß sein Gesang und sein Spiel nicht nur Steine erweichen und Bäume und Sträucher zum Gehen und Tiere zum Lauschen und Tanzen und die Berge zum Reißen an ihren Wurzeln zwingen, sondern auch das Herz von Charon bezwingen konnte.

Charon ist der Fährmann, der die Seelen in seinem Boot über den Fluß der Unterwelt, den Styx, hinüberführt. Und Charon, der es eigentlich besser wissen müßte, ihm ist ja aufgetragen, keinen Lebenden über diesen Fluß zu lassen, Charon ließ sich überreden durch diese Musik, ließ sich verführen, er ließ Orpheus, den Lebendigen, auf den Kahn steigen und setzte ihn über auf die andere Seite des Styx.

Dort wartete Zerberus, der Höllenhund, der noch die zweite Sicherung war, damit kein Lebender in den Hades komme. Aber auch dieses vielköpfige Monster ließ sich vom Gesang des Orpheus verzaubern und ließ Orpheus passieren, und so betrat der Sänger die Unterwelt.

Und während er immer tiefer in die absolute Finsternis schritt, spielte er auf seiner Lyra und hörte nicht auf zu singen und im Gesang nach seiner geliebten Eurydike zu rufen.

Und siehe da: In das elende, langweilige, graue, jammervolle Reich der Toten kam so etwas wie Freude, so etwas wie eine vorübergehende Erleichterung. Aus allen Enden der Dunkelheit drängten die Toten, um die Lieder des Orpheus zu hören. – Sisyphos, der im Tartaros verurteilt ist, einen Stein auf einen Fels zu rollen, der immer wieder zurückfällt, der ihn wieder hinaufschieben muß, von wo er wieder hinunterrollt, dieser Zwangsneurotiker Sisyphos hielt in seiner sinnlosen Arbeit inne, setzte sich auf seinen Stein, lauschte auf die Musik. – Tantalos, der verflucht war, im Wasser zu stehen und über sich die leckersten Früchte zu sehen und dennoch vor Hunger und Durst fast umzukommen, er vergaß vorübergehend seine Qualen. – Persephone, die dunkle Königin der Unterwelt, und auch Hades, ihr königlicher Gemahl, sie lauschten dem Gesang des Orpheus, der um Eurydike klagte.

Schließlich stimmte Persephone zu und sagte: »Du darfst deine Eurydike mit nach oben nehmen.«

Hades aber knüpfte eine Bedingung daran, er sagte: »Du darfst das, aber du darfst dich nicht ein einziges Mal zu ihr umsehen, bis ihr beide das Licht der Welt wieder erblickt habt, bis ihr beide wieder über die Grenze, über den Styx, auf der anderen Seite seid.«

Es gibt viele Abbildungen von Orpheus in der Unterwelt, bei allen ist eines gleich: Orpheus schaut mit leerem Blick vor sich nieder. Um ihn schweben die Seelen der Toten, stehen Persephone und Hades. Orpheus schaut niemandem ins Gesicht, auch seiner Eurydike nicht. Es ist verboten, den Toten und der Königin der Toten und dem König der Toten ins Gesicht zu blicken.

Orpheus ging voran, Eurydike folgte ihm, so verließen sie den Hades. Orpheus spielte und sang, immer weiter, ohne Unterbrechung, er wußte, wenn er aufhört zu singen, dann fällt dieser Zauber zusammen. Eurydike folgte durch die Finsternis, und sie orientierte sich nach dem Klang seiner Stimme.

Und als sie schon das Licht sahen, da drehte er sich doch nach ihr um. – Wir wissen nicht, warum er sich umgedreht hat. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür. Er tat es. Vielleicht packte ihn der Alp des Perversen, dem Edgar Allan Poe eine seiner scharfsichtigsten Erzählungen gewidmet hat, dieser Ungeist, der die Menschen dazu antreibt, sich selbst zu schaden. Ich weiß es nicht… – Jedenfalls wurde in diesem Augenblick Eurydike für immer von Orpheus genommen. Hermes stand schon bereit und zog sie zurück in die Finsternis. Und nun war auch Charon nicht mehr umzustimmen, und Zerberus jagte Orpheus hinaus aus der Unterwelt, und er hatte seine geliebte Eurydike für immer verloren.

Von nun an zog sich Orpheus aus der Welt zurück. Er liebte die Frauen nicht mehr. Er mied die Frauen, er gründete einen Orden und wurde der vielleicht einzige Mystiker des griechischen Altertums. Die Griechen hatten mit Mystik nichts im Sinn, derlei war ihnen unheimlich. Sie sahen auf die Welt mit den Augen des Mythos. Das muß genau unterschieden werden. Der mythische Blick ist im Grunde ein aufgeklärter Blick, auch wenn im Mythos wunderbare Dinge passieren. Diese wunderbaren, seltsamen Dinge sind ja auch nichts anderes als Erklärungsversuche. Dahinter steckt ein Aufklärungswille. Das Rätsel war den Griechen unheimlich. Sie wollten Rätsel nicht bestehen lassen. Rätsel waren – wie für uns – dazu da, um gelöst zu werden.

Orpheus, den Dunklen, interessierten von nun an nur noch die Geheimnisse. Er gründete einen Männerorden. Dort traf er sich mit seinen Freunden, nachts trafen sie sich, er sang ihnen vor. Erzählte ihnen von seiner großen Liebe Eurydike und erzählte ihnen von seinem Besuch in der Unterwelt. Er erinnert uns an mittelalterliche Mönche. Mir fällt die traurige Liebesgeschichte zwischen Abälard und Heloise ein. Auch Abälard konnte seine Heloise nicht bekommen, und auch er hat sich aus der Welt zurückgezogen…

Orpheus muß aber ein sehr attraktiver, schöner, für die Frauen begehrenswerter Mann gewesen sein. Er pflegte zwar nur noch den Umgang mit Männern, aber viele Frauen folgte ihm nach, lauschten von weitem seiner Stimme. Er ließ nicht zu, daß eine Frau vor sein Angesicht trat.

Es wird von dionysischen Festen erzählt, die nachts zu seinen Ehren gefeiert wurden, und irgendwann war es den Frauen vielleicht zuviel geworden, daß Orpheus die Liebe ihrer Männer abgezogen hatte, oder aber sie begehrten ihn selbst so sehr, jedenfalls kam es zur Katastrophe. Die Frauen schlossen sich zusammen, überwältigten die Männer, stürzten sich auf Orpheus und zerrissen ihn. Sie warfen die Teile seines Körpers in den Wald, in den Fluß und hackten ihm zum Schluß den Kopf ab, damit er endlich mit dem Singen aufhöre. – Aber der Kopf des Orpheus sang weiter. – Sie nagelten den Kopf an die heilige Lyra und warfen dieses ganze Singwerk in den Fluß.

Und so trieb der Kopf des Orpheus, genagelt an die Lyra, den Fluß hinunter, Orpheus immer noch singend, nach seiner Eurydike rufend, dazu klang die Lyra des Apoll. Und der Fluß brachte seine Gabe ins Meer, und Lyra und Kopf wurden auf der Insel Lesbos angespült.

Auf Lesbos wurde dem Orpheus ein Tempel errichtet, unaufhörlich sang er weiter, sang weiter, weissagte in seinem Gesang, machte sogar dem Orakel in Delphi Konkurrenz, bis es schließlich seinem Vater, dem Gott Apoll, zuviel wurde, und er sagte, er solle still sein. – Nun schwieg Orpheus endlich.

Aber es gibt da noch eine kleine, sehr schöne Sage: Nämlich an der Stelle, an der Orpheus von den aufgebrachten Frauen erschlagen und zerrissen wurde, soll später einmal ein Hirtenknabe gesessen haben und eingeschlafen sein, und im Traum soll dieser Hirtenknabe zu singen begonnen haben, und zwar so bezaubernd schön, daß die Hirten der Umgebung und die Tiere und vielleicht sogar die Bäume herangekommen seien, um zuzuhören. Und als der Knabe erwachte, sah er all diese Leute und Tiere und Pflanzen um sich, und er hörte nicht auf, mit seiner traumwandlerischen Stimme zu singen, und es heißt, er habe gesungen, als wäre es die unsterbliche Stimme des Orpheus gewesen, der aus dem Totenreich herüberriefe.

Manche behaupten, daß an eben demselben Fluß der erste, der große Dichter des Abendlandes geboren wurde, nämlich Homer. Die Sage behauptet es; genauer muß man sein: eine Sage behauptet das. Mir behagt diese Sage. Homer, denke ich mir, wird von der Wiege aus in den Himmel geblickt und dort die Lyra des Orpheus gesehen haben. Denn Zeus selbst soll die Lyra des großes Sängers als Sternbild an den Himmel geheftet haben, und vielleicht hat Homer von dort die Eingebung zu seinen großen Gesängen empfangen…

Europa und ihr Bruder Kadmos

Von Europa und dem Stier – Von Kadmos und einer Kuh mit Fleck – Von gesäten Schlangenzähnen – Von der Errichtung der Stadt Theben – Von einer herrlichen Hochzeit

In der Gegend von Palästina, vielleicht siebzig Kilometer südwestlich von Beirut, lag die Stadt Tyros. In Tyros herrschte der König Agenor. Er war ein Sohn des Poseidon, des Meeresgottes. Die ganze Welt, samt Himmel und Unterwelt, wurde ja von den drei Brüdern Zeus, Hades und Poseidon beherrscht. Zeus herrschte über den Himmel und die Erde, Poseidon über die Gewässer und Hades über die Unterwelt.

Agenor war ein Sohn des Poseidon, und er hatte eine lieblich anzusehende, zarte, vielleicht etwas naive Tochter, und diese Tochter hieß Europa. Sie mochte es, mit ihren Freundinnen am Meer zu spielen. Dort wurde sie eines Tages von Zeus beobachtet.