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Thomas von Steinaecker

Schutzgebiet

Roman

 

 

 

 

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Die Arbeit des Autors am vorliegenden Buch wurde durch den

Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert.

 

 

 

 

 

1. Auflage 2009

 

© Frankfurter Verlagsanstalt GmbH,

Frankfurt am Main 2009

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung und Umschlaggestaltung: Laura J Gerlach

Umschlagmotiv: Neo Rauch

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

 

ISBN: 978-3-627-00160-5

 

 

 

 

Für Stefanie

 

 

 

 

Wir leben in einer Zeit, in der alles möglich ist.

Jules Verne: Das Karpathenschloss, 1892

1. DER ANGRIFF

img.jpg ie Verrückten meinen es ernst. Bei jeder Kugel, die dicht neben ihm im Boden einschlägt und Staub aufwirbelt, zieht Colonel Durand hinter dem Dornbusch den Kopf ein. Durch den Feldstecher späht er die Zinnen der Festung entlang. In Bismarckburg, wo der Stellvertreter des deutschen Bezirksamtmannes, ein Baum von einem Mann, nach kurzen Verhandlungen ohne jede Kampfhandlung kapitulierte, hieß es doch, die Station Benēsi verfüge über keinerlei strategische Bedeutung. Mit Widerstand der noch etwa fünf verbliebenen Bewohner oder der Schutztruppe sei nicht zu rechnen.

Was aber, sacré culot, verteidigen diese Verrückten jetzt in dieser gottverlassenen Gegend? Steppe, wohin das Auge reicht, und gleich hinter den grauen Mauern: eine verkohlte Fläche von der Größe eines Dorfes. Aus dem Aschenfeld ragen vereinzelt Stümpfe und Baumgerippe, ganz so, als sei hier schon einmal eine Schlacht geschlagen worden. Möglich, dass sich im Inneren des mächtigen Gebäudes etwas befindet, das einen Kampf auf Leben und Tod rechtfertigt – möglich, aber unwahrscheinlich. Fest steht: Eine gut vorbereitete Verteidigung sieht anders aus. Wie die Deutschen auf dem Wehrgang in hastigen Bewegungen hin und her irren, das reinste Guignol. Ein Maschinengewehr befindet sich offensichtlich auch nicht in ihrem Besitz, lediglich Kleinfeuerwaffen. In spätestens einer Stunde wird der ganze Spuk vorüber sein.

Ein Knall hallt durch die Steppe. Der Ballon mit der Antenne, der über dem linken der beiden Türme der Festung schwebte, ist zerschossen, flattert in die Tiefe. Gleich darauf, tatsächlich ganz wie im Kasperltheater oder bei einer Spieluhr, schiebt sich eine weiße Fahne zwischen die Zinnen. Nein. Ein fetter Mann, so breit wie ein Laken, hat sich aufs Wehr gestellt und feuert auf die Angreifer – ja ist denn das zu fassen.

Colonel Durand gibt dem Soldaten, der ein paar Meter entfernt von ihm hinter einem Stück Wellblech Deckung sucht, ein Handzeichen: Jetzt! Der Schuss streckt den Mann im weißen Anzug sofort nieder. Rücklings, wie ein mit Steinen gefüllter Sack, liegt er da.

Und die Verrückten –?

Feuern weiter. Ein braungebrannter Dünner, oder ist es ein Eingeborener?, beugt sich über den Getroffenen. Colonel Durand nimmt ihn ins Visier, ein Schuss ins Bein wird ihm eine Lehre sein. Doch da hat die dunkle Gestalt sich schon wieder erhoben, Durand abgedrückt. Der Mann taumelt – Durand reißt den Feldstecher an die Augen –, taumelt zum Rand der Mauer – was tut der? –, hält sich die Seite, macht einen Schritt vor. In die Luft.

2. EIN PLATZ AN DER SONNE

img.jpgenry schlägt die Augen auf, er treibt im Meer. Wasser, in allen Richtungen. Bis zum Horizont.

Er ist verloren.

Die Sturmwolken haben sich verzogen, die Sonne brennt ihm ins Gesicht. Ein stechender Schmerz in seinem rechten Fuß, bei dem Unglück muss er sich verletzt haben. Um ihn schaukeln auf den glitzernden Wellen Setzlinge, Tannen, Fichten, Pappeln, umgestürzt, aufrecht, noch in ihren Töpfen, schaukelt ein Wald, der aufgeblähte weiße Körper eines Pferdes. Daneben, vielleicht eine Armlänge von Henry entfernt, ein Balken, an den sich jemand klammert, ein Mann. Henry will rufen, hat keine Stimme mehr, seine Zunge, ein Stein in seinem Mund. Er greift nach dem Mann und ins Leere, in die über den Balken geworfene Jacke, lässt die Tür los, an der er hängt, es zieht ihn hinab, er schnappt nach Luft, sinkt, warum nicht sinken? Wenn nicht von Haien gefressen, wird er entweder verdursten oder ertrinken. Er sinkt tiefer.

Es ist egal.

Das Salz in seiner Nase. Der Druck auf seinen Körper. Ein paar Minuten kürzen endlose Stunden sinnlosen Leidens ab. Doch die Vorstellung, tot zu sein, will einfach nicht ihren Schrecken verlieren. Und die Ruhe, von der es heißt, dass sie einen am Ende überkommt: Sie stellt sich nicht ein. Stattdessen arbeitet es weiter in ihm. Wofür hat er all die Strapazen auf sich genommen? Wofür hat er alles aufgegeben? Das soll es nun also gewesen sein, sein Leben?

Unwillkürlich strampelt er mit den Beinen. Steigt höher, noch während sich in seinem Kopf Wörter formen. Ich will nicht.

Und wieder: Ich. Will. Nicht. Sterben.

Da erträgt er es nicht länger, atmet ein, Wasser statt Luft, nach oben muss er, nach oben, sucht Halt, greift nach etwas über sich, irgendetwas, bekommt es zu fassen, zieht sich an die Oberfläche, spuckt, hustet, Rotz rinnt ihm aus der Nase. Erschöpft legt er den Kopf auf das schwankende Stück Holz.

Es ist die Tür, seine Tür.

Er treibt im Meer. Die Sonne scheint.

 

EIN BLITZ ZUCKT AUF, im grellen Licht kniet Natalie am Heck des Beiboots, das vom Sturm hin und her geworfen wird, Gischt spritzt an ihm hoch. Den einen Arm hat sie nach Henry ausgestreckt, den Mund aufgerissen, brüllt, wie auch der Kapitän hinter ihr. Was, das kann Henry wegen des Dröhnens um sich herum nicht verstehen. In der Entfernung ragt der silberne Bug der Brünnhilde senkrecht aus dem Meer. Wie ein Kirchturm. Verzweifelt versucht Henry, die Tür, auf der er liegt, in die Richtung des Beiboots zu lenken. Eine Welle hebt es mit sich, hält es einen Herzschlag lang in der Höhe – dann treibt es mit einem Mal kieloben, ist es in der Schwärze verschwunden.

»Natalie«, flüstert er, er ist wieder bei Stimme, schreit: »Natalie!« Etwas läuft aus seinem Mund, etwas Weiches, Salziges, Wasser, nein, Brei. Henry blickt ins verschwommene Gesicht einer alten Schwarzen, klammert sich an die Tür und merkt, dass er nur einen Sackfetzen in den Händen hält.

»Natalie!«, ruft er der Alten zu, die ihn, wie er meint, immer noch mit ungerührtem Ausdruck ansieht. Mit ihren Fingern füttert sie Henry aus einer Schüssel. Sie murmelt, summt leise dazu, er kann es jetzt hören. Das Dröhnen des ohrenbetäubenden Sturms ist plötzlich verstummt.

Auch als sich Henry – Minuten oder Stunden später – im Traum behaglich auf dem roten Diwan im Salon seiner Eltern in New York ausstreckt, begleitet ihn dieses Murmeln. Und wieder Murmeln, Summen, im Halbschlaf, während er sich in die Hosen macht, es warm an seinen Beinen entlang rinnt – sieht ihm die Alte dabei zu? Ihm ist zu übel, er ist zu schwach, als dass ihn das beschäftigen könnte.

Der unförmige Raum, in dem er schwebt, schrumpft, und er muss, er will hinaus. Als er dann, endlich einigermaßen klar im Kopf, in das Gesicht der Alten schaut, die, das erkennt er auch ohne Brille, keine Zähne mehr hat, weiß er: Das Fieber ist überwunden, er hat das Schiffsunglück überlebt, es ist ausgestanden. Natalie, seine Frau, jedoch ist tot, sie muss tot sein.

Er aber will leben.

Er fühlt den klumpigen Brei, den ihm die Alte einflößt, in seiner Speiseröhre, seine Zunge leckt an ihren Fingern. Es ist ihm, als sitze er in seinem eigenen Magen. Die Wände sind feucht.

 

IRGENDWANN ist er dann stark genug, um aufzustehen. Er spannt sich das Brillengestell, das man neben ihn gelegt hat, um die Ohren. Trotzdem nimmt er alles leicht verschwommen wahr, auch fehlt das rechte Glas. Unter dem ruhigen Blick der in einer Ecke hockenden Alten schwankt er auf den Ausgang zu, das Loch in der düsteren Hütte, stolpert, stürzt, rappelt sich auf. Draußen reißt er die Hand vors Gesicht – ein stechender Schmerz in den Augen – und blinzelt zwischen den Fingern hindurch ins gleißende Licht: Vor sich runde Lehmhütten mit Wellblechdächern. Eine Ziege dreht sich meckernd nach ihm um. Eine Schwarze sitzt im Schatten einer Hütte – er ist einer Ohnmacht nahe. Urplötzlich kommt ihm da ein Kupferstich in den Sinn, ein Kupferstich aus einem Buch, das er in New York abends im Bett als Vorbereitung auf die Reise gelesen hatte: Unser Platz an der Sonne. Lange hatte er damals die Illustrationen auf den Seiten betrachtet. Nun steht er direkt vor ihnen – eine Wirklichkeit, in die er nur einzutreten braucht. Stattdessen torkelt er vor Erschöpfung und Übelkeit zurück, tastet sich an den Wänden der Hütte entlang, weil er in ihrem Innern plötzlich nichts mehr erkennen kann, stößt gegen etwas, die Alte, ein Tier, und erbricht sich mehrmals auf den Boden der Behausung, bevor er auf seinem Lager oder dem, was er dafür hält, in einen tiefen Schlaf fällt. Bei seinem nächsten Ausflug gelangt er bis an den Rand des Dorfes, in das man ihn verschleppt hat. Aber kein Meer, keine Siedlung, nicht einmal ein Weg ist zu sehen. Nur das hohe ausgedorrte Gras und die Dornbüsche der Steppenebene. Einige krüppelige Bäume. Hier und da Kühe und Büffel. Zirpen.

Tage später stiehlt er sich noch einmal davon. Diese trostlose Ansammlung vereinzelter Hütten kann nicht weit entfernt vom Strand gelegen sein, wo ihn die Wilden wohl gefunden haben, und hat er den einmal erreicht, muss er doch unweigerlich auf eine Straße oder eine Stadt stoßen, und von dort wiederum kann es keine zwei Tage dauern, bis er an sein eigentliches Ziel gelangt, die Festung Benēsi. Auf der Landkarte wirkte Tola am westlichen Rand des riesigen Kontinents winzig klein, ein afrikanisches Liechtenstein. Doch als die Mittagszeit vergeht, die Landschaft sich immer noch nicht verändert und er sein Wasser aufgebraucht hat, das er in einem aus der Hütte entwendeten Fellbehältnis aufbewahrt, entschließt er sich zur Umkehr. Fürchterlich ist die drückende Hitze außerhalb der schattigen Hütten, unerträglich Henrys Durst.

Die Schwarzen haben keine Notiz von seinem Fluchtversuch genommen. Abends stellt ihm die zahnlose Alte wie immer eine Holzschüssel mit Brei hin. In weißen Flocken schält sich seine Haut vom Nacken und den Armen. Auf einen weiteren Ausbruch verzichtet er vorerst, da er es für möglich hält, sich in der Steppe zu verlaufen. Ohnehin muss von Benēsi aus Rettung zu ihm unterwegs sein. Die Ahnung, dass er sich für einen Suchtrupp zu weit entfernt vom Unglücksort befindet, unterdrückt er.

Vier Tage nach seinem Ausflug tritt Henry auf dem Marktplatz vor ein Grüppchen von Männern, die ihm die Anführer dieses Eingeborenenhaufens zu sein scheinen, und deutet auf einen Esel.

»I want to go to Benēsi. In order to do so I need this donkey and a certain amount of food. So show me the way to the city and get my things ready – if you will.«

Im grellen Tageslicht klingt der Satz nicht ganz so ehrfurchtgebietend wie Henry noch in der Nacht zuvor erhofft hat. Die Schwarzen wenden die Köpfe nach ihm. Henry kneift das rechte Auge zusammen. Ob die Brille den Wilden Respekt einflößt? Er kann ihren Ausdruck nicht deuten.

»Benēsi. I wish to go to Benēsi.«, wiederholt er, unsicher geworden. Vielleicht kennt man hier die Festung Benēsi nicht, sicher aber doch die Hauptstadt Tolas.

»Loué?«, setzt er fragend hinzu. Ein nackter Junge stellt sich vor ihn, reckt das Kinn hoch und hält sich die Finger wie Ringe an die Augen. »Benēsi. Ai sch tu Benēsi«, äfft er ihn nach.

Einer der Männer baut sich stumm vor Henry auf. Obwohl der Schwarze kleiner ist als er, duckt sich Henry instinktiv. »Please«, versucht er es noch einmal. »Loué ... I will die here ...« Zum ersten Mal seit er hier ist, hat er Angst vor diesen Wilden. Die Eingeborenen seien weitestgehend friedfertig gegenüber dem Weißen eingestellt und kooperativ. So hieß es. Die Schutzherrschaft der Deutschen lasse sie in jeder Hinsicht profitieren, sei es in den Sachen der Hygiene, der Wirtschaft oder der Bildung. Warum hielt man ihn also fest? Warum halfen sie ihm nicht, seinesgleichen zu finden? Und wenn sie ihn ermorden wollten, warum hatten sie es nicht schon längst getan? Wenn der Suchtrupp ihn nicht findet, wird angenommen werden, Henry sei beim Schiffbruch ums Leben gekommen. In diesem Fall wäre er tatsächlich tot. Einen Henry Peters gäbe es dann nicht mehr. Neben seinem Namen in den Akten zu Hause wird ein Kreuz oder der Vermerk vermisst gesetzt, selbst wenn in diesem Dorf, diesem Loch immer noch jemand lebt oder besser vegetiert, ein Weißer, einer, der einmal den Namen Peters trug.

In der Hütte haust er zusammen mit einer Familie: einem Mann, zwei Frauen, sechs Kindern und der Alten. Sie beachten ihn kaum, sein Essen – Brei, Fladenbrot, selten Fleischabfälle, Datteln – wird kommentarlos in die ihm zugeteilte Ecke geworfen. Bei dem Mann oder den Frauen darf er nicht sitzen. Eines der Kinder hat ihm einen Stecken in die Hand gedrückt. An den Gesten des Kleinen kann er ablesen, dass er auf die Ziegen vor der Hütte aufpassen soll. Also wird er zum Hirten. Zumindest vorläufig. Bis ihm ein Ausweg aus dieser Situation einfällt. Seine Scham darüber, dass er auf eine ihm selbst unerträgliche Weise nach Kot stinkt – er hat noch immer Durchfall – und seine Hose mehr und mehr einem Fetzen gleicht, ist mittlerweile größer als die Trauer um Natalie. Ihre Hochzeitsreise, die zwei Wochen auf dem Schiff, war die längste Periode, die sie zusammen verbracht hatten. In den Monaten davor hatten sie stürmische Liebesbriefe ausgetauscht; sie schrieb ihm nach New York, er ihr in die Fasanenstraße nach Berlin. Wie sehr sie sich auf die Reise freuten, von der keiner wissen durfte. Ihr gemeinsames Geheimnis schweißte sie noch mehr zusammen. Fast jeden Abend war er zu Hause mit ihrem Porträt in der Hand eingeschlafen. Eine der Fotografien hat er auch jetzt noch immer wieder vor Augen, vielleicht weil er sie so oft betrachtet hat. Sich an Natalie selbst zu erinnern, wie sie da in der Kajüte neben ihm lag, an Deck mit ihrem weißen Sonnenschirmchen spazierte, will ihm nicht gelingen.

Nachts liegt er frierend auf dem nackten Boden in der Hütte, zählt die Tage, die er schon im Dorf verbracht hat, und versucht, das aktuelle Datum zu errechnen. Hin und wieder wird er von seinen Gefühlen überwältigt. Verzweiflung, weil keine Veränderung seiner Lage in Sicht ist. Hoffnung, weil es doch nicht sein kann, dass er, der Amerika und Europa kennt, gut kennt, ein wahrer Weltbürger, in einer Hütte im afrikanischen Busch versauert. Und er beschimpft sich: Warum musste er nach Tola fahren und Natalie mit ins Unglück stürzen. Nie hätte er es hier zu irgendetwas gebracht. Als Handlanger Selwins. Der war der Architekt, der hatte das Sagen, nicht er, sein Lehrling. So sinnlos und klein ist all das, für das er bisher gearbeitet hat. Seine Ausbildung in Chicago. Seine Grand Tours durch Europa. Ja, sein ganzes bisheriges Leben. Weibische Weinkrämpfe überkommen ihn, nach denen er sich, wie er zu seiner Verwunderung feststellt, besser fühlt. Anfangs verbirgt er seine Tränen vor den Wilden. Dann kümmert es ihn nicht mehr. Auf Wurzeln kauend, gucken sie ihm mit stumpfen Augen zu. Nach solchen Ausbrüchen lässt er seine Wut darüber, die Beherrschung verloren zu haben, an den Ziegen aus. Mit einem Stock prügelt er auf sie ein. Sie meckern.

Er hört auf, die Tage zu zählen. Noch einmal ist er ausgebrochen, marschiert allein in der prallen Sonne durch die glühende Steppe. Als er etwas hört, das wie das Klappern von Pferdehufen klingt, rennt er los, er will es nicht glauben, Erleichterung und Freude steigen dennoch in ihm auf. Dann steht er fassungslos vor einem an einem Baum aufgehängten rostigen Topf. In der Nacht, unter freiem Himmel, glaubt er, erfrieren zu müssen. Wie kalt es hier wird. Er hat seine Kräfte überschätzt. Am Morgen versucht er, mithilfe des einen Glases seiner Brille ein Feuer zu entfachen. Die kleine Flamme wächst rasch und greift auf einen ausgedorrten Strauch über. Nur mit Glück gelingt es ihm, das Feuer wieder zu löschen. Lange trampelt er auf der rauchenden Asche herum, um ganz sicher zu gehen, dass die Gefahr eines Buschbrands gebannt ist. Endlich taumelt er zurück ins Dorf. Vor einer Hütte tuschelt eine junge Schwarze mit einer anderen und blickt zu ihm hinüber. Jeder Tag ist von da an derselbe. Immer ist es Sommer. Vielleicht September. Die Fragen, was aus den Mitreisenden wurde, was die Schwarzen gegen ihn im Schilde führen und warum der Rettungstrupp immer noch nicht eingetroffen ist, sind vergessen. Es wird für Henry zunehmend wichtiger, dass er regelmäßig seine Mahlzeiten bekommt, vor allem nicht nur Abfälle; dass die Ziegen zum Sonnenuntergang im eingezäunten Bereich vor der Hütte zusammengetrieben sind. Und er empfindet es als eine der größten Freuden seines bisherigen Lebens, als ihn der Mann in der Hütte zu sich winkt. Seitdem essen sie wortlos zusammen. Nur manchmal ertappt er sich dabei, dass er beim Anblick einer Hütte diese automatisch auf ihre Statik hin prüft oder überlegt, wo am besten eine Kanalisation zu platzieren wäre. Das sind die wenigen Gelegenheiten, bei denen er sich noch die Brille kurz vor die Augen hält. Ansonsten spürt er kein Bedürfnis mehr, die Dinge scharf zu sehen.

Einmal macht er beim abendlichen Zusammensitzen den Versuch herauszubekommen, wie er in dieses gottverlassene Dorf gekommen ist und was mit ihm geschehen soll.

»Mein Schiff ist gesunken. Haben Sie mich gefunden?« Er probiert es mit Deutsch, obwohl er merkt, dass er etwas aus der Übung ist. Englisch wäre ihm lieber. Doch schnell hat er wieder in seine zweite Muttersprache hineingefunden. Mit den Händen unterstreicht er seine Beschreibung vom Untergang der Brünnhilde.

»Haben Sie mich gefunden?« Er deutet auf die Schwarzen. Sie zeigen ihm ihre weißen Zähne. »Können Sie mir sagen, wo wir hier sind?«, fragt er weiter. Er weiß nicht, was für Gesten er machen soll, deutet auf die Wand der Hütte und auf sich, sagt: »Hier«. Ein Kind kann das Lachen nicht mehr unterdrücken, klopft auf den Boden, »Hier«, auf seinen Bauch, »Hier«. Mit jeder weiteren nutzlosen Frage – das idiotische »Sie« kann er einfach nicht abstellen – wird er zorniger auf die Wilden und auf sich selbst. »Wie lange bin ich schon hier?«,

»Haben Sie noch andere Überlebende gefunden?«, »Haben Sie von der Festung Benēsi gehört?« Plötzlich verstummt das Gelächter.

»Benēsi?«, sagt der Schwarze, den Henry für sich Otto nennt, weil ihn dessen kantige Gesichtszüge und die weißen Schläfen an seinen Großonkel Otto erinnern; eine Frau des Schwarzen, die dickere, heißt für Henry nach seiner Großtante Dixi.

»Holz«, sagt der Schwarze.

Aufgeregt nickt Henry. »Holz.«

Für einen Moment meint er in den Augen des Schwarzen so etwas wie Achtung zu erkennen.

»Benēsi?«, fragt Henry noch einmal, drängender.

»Benēsi, Benēsi«, wiederholt der Schwarze und schaut zu Boden. »Wo – Holz? Wo – Benēsi? Können Sie mich dorthin führen?« Henry erhebt sich. Die Wilden sprechen also Deutsch. Thank God. Aber mehr als »Benēsi« und »Holz« scheinen sie nicht zu verstehen. Oder sie wollen es nicht. Sie haben sich von ihm abgewandt und murmeln sich etwas zu.

Obwohl Henry das nach diesem Abend erwartet hat, ergibt sich keine Änderung seiner Lage. Zu einem weiteren »Gespräch« kommt es nicht mehr. Die Familie verhält sich ganz so, als hätte der kurze Wortwechsel zwischen ihnen und ihrem Gast oder Gefangenen, es macht keinen Unterschied, nie stattgefunden.

Hin und wieder glaubt Henry fest daran, die ganze Reise, sogar Natalie und sein Auftrag, in der Festung Benēsi an der Errichtung einer neuen Siedlung mitzuwirken, sei seiner Einbildung entsprungen, er lebe schon immer hier – nur um sich selbst dann wieder zu ermahnen, jetzt bloß nicht irre zu werden. Natürlich gibt es die Festung Benēsi, natürlich hat es auch Natalie gegeben.

Seine größte Sorge ist es, wieder zu erkranken. Es wäre sein zweiter und diesmal sein richtiger Tod. Um gesund zu bleiben, hat er für sich selbst ein Programm entworfen. Allein es täglich zu befolgen, gibt ihm Kraft. Er geht ins Bett mit dem Gedanken, am nächsten Morgen aufstehen zu müssen, um 20 Liegestütze und 30 Kniebeugen zu machen. Hygiene ist ihm wichtig. Als er sieht, dass sich die Kinder hin und wieder mit den Blättern eines Busches einreiben, Blätter, die würzig riechen und, so folgert Henry, Krankheitserreger abtöten, macht er es ihnen nach. Schon bald wäscht er sich morgens mit den Männern des Dorfes am Tümpelufer. Mit Befriedigung betrachtet er seine Oberarme, die langsam wieder an Umfang gewinnen. Beim Ziegenhüten rechnet er. 1 + 2 + 3 = 6, 3 x 16 = 48, 4 x 16 = 64. Er sagt sich die Namen seiner Urgroßeltern, Großeltern, die bedeutendsten architektonischen Errungenschaften der Menschheit auf, angefangen mit dem Turmbau zu Babel. Taft ist der Präsident der Vereinigten Staaten. 52 vor Christus schrieb Cäsar »De Bello Gallico«. 1863: Königgrätz. 1866: Gettysburg. Nein, umgekehrt. Er ist sich nicht mehr sicher, ob die Zuordnung der Jahreszahl zu einem Ereignis stimmt. 1865 oder 1866? Oder 1867? Er darf nichts vergessen. Er baut Häuser, dann ein ganzes Dorf – aus Ästen, die im Gras vor der Hütte liegen, damit er nicht aus der Übung kommt. Es gibt eine Kirche, ein Rathaus und ein Postamt. In den Straßen unsichtbare Menschen.

Anders als in New York die Neger-Hausmädchen, fand er anfangs die schwarzen Weiber nur hässlich. Nach einiger Zeit bleiben seine Blicke jedoch immer wieder an ihren nackten Brüsten hängen. Er hat sich abgewandt und geschämt und daran denken müssen, dass die Weiber hier ja nicht einmal wie zu Hause der Rasse der Nigger zuzurechnen sind, sondern nur Wilde sind, und dass er sich deshalb auch nicht schämen muss.

Eine Schwarze gefällt ihm besonders. Er nennt sie insgeheim Johanna, nach der Schauspielerin Johanna Brom, die er oft im Theater gesehen hat und der halb Berlin zu Füßen lag. Die ersten Male versteckt, dann mehr und mehr ohne auf den Mann in der Hütte zu achten, der fast täglich mit einer seiner Frauen schläft, befriedigt Henry sich in seiner Ecke, das Bild der Schwarzen vor Augen, Johanna.

Einen verstauchten Fuß hält er vor den anderen geheim. Unter großen Schmerzen tut er so, als könne er ohne Probleme laufen. Möglicherweise würde er als arbeitsuntauglicher Krüppel in die Steppe getrieben werden. Die Entzündungen an seinen Zehen will er dann nicht wahrhaben. Er ertappt sich dabei, wie er sich selbst beruhigt, ganz so, als erkläre er die Lage einem Fremden: »No problem at all. It was worse yesterday.« Es sind diese Sätze, die er vor sich hinlallt, als er eines Tages wieder der Alten ins Gesicht sieht, die ihn füttert. »Ich hab’ kein Fieber, kein Fieber, ich hab’ doch kein Fieber!«

Es kann sein, denkt er plötzlich und verwirft den Gedanken sofort wieder, dass er schon die ganze Zeit hier lag, seit dem Untergang der Brünnhilde, und dass er die Zwischenzeit nur zusammenfantasiert hat. Als er wieder bei Sinnen ist, das Fieber sinkt, glaubt er für eine Schrecksekunde, er müsse auf der Stelle seiner Pflicht nachgehen, Ziegen hüten, sonst hätten die Wilden das Recht, ihn zu bestrafen.

Morgens macht er seine Liegestütze, wäscht sich, reibt sich mit den Blättern des Busches ein, dessen Namen er nicht kennt und den er dog rose nennt, weil ihn die hellroten Beeren an die Hagebutten zu Hause erinnern. Mit einem Schwarzen sitzt er im Schatten einer Hütte. Einmal sieht er, wie ein Bewohner des Dorfes mit einem aufgespannten Regenschirm in die von der Hitze brütende Steppe hinaus spaziert. Aber Henry ist zu sehr mit dem Backen von Fladen, der neuen Aufgabe, die ihm übertragen wurde, beschäftigt, als dass ihn das wirklich kümmern könnte. Er möchte auch gar nicht darüber nachdenken, was dieses Bild bedeutet.

Es ist ein Bild mehr.

 

ER TRITT AUS DER HÜTTE und alles ist anders. Die Wege zwischen den Hütten sind gefüllt mit Pferden und Gestalten in langen weißen Gewändern und Turbanen, nur ihr Gesicht ist unverhüllt. Inmitten der Hühner und Ziegen liegen bunte Tücher auf dem Boden ausgebreitet, darauf Waren, Schmuck, Textilien, auch Früchte. Jemand schlägt eine Trommel, es wird gerufen und laut gelacht. Das Dorf hat sich in einen Basar verwandelt. Von dem Mann, bei dessen Familie er in der Zeit ohne Tage, Wochen und Monate gelebt hat, wird er auf ein Pferd ohne Sattel gehoben. Um nicht mit dem Oberkörper nach hinten zu kippen, muss er sich am Reiter festhalten, der, das sieht er jetzt, den Karabiner einer deutschen Marke umhängen hat. Mauser. Schon ist die Karawane aufgebrochen. Nahezu lautlos zieht sie auf einem Pfad durch die Steppe. Nur einmal noch dreht sich Henry um, nach seiner monatelangen Leidenszeit, da ist das Dorf bereits nicht mehr zu sehen gewesen.

Dann, es kann keine Viertelstunde vergangen sein, stoßen sie auf eine Straße, eine breite Chaussee, auf der von Eingeborenen gezogene Karren rollen und an deren Ende zu Mittag etwas Mächtiges, Graues aus dem Horizont wächst, ein Felsen, vom Wind und Regen geglättete Türme, Zinnen, eine Festung, in deren Mauern Schiefer glitzert: Benēsi. Henry kann es kaum fassen. All die Monate, in denen er immer wieder von der Festung geträumt, sich nach ihr gesehnt, Fluchtpläne wegen mangelnder Orientierung als irrsinnig verworfen hat, lag sein Ziel nur wenige Stunden zu Pferd, höchstens zwei Tagesmärsche vom Dorf entfernt.

Im Innenhof der Festung sieht Henry, der die Schmerzen in seinen Hoden und dem Rücken kaum länger ertragen hätte – mit Sattel zu Hause war er ein guter Reiter –, einen fleischigen, mittelgroßen Weißen, vielleicht 40 Jahre alt, mit angegrautem Kaiserbart und Spazierstock in einem cremefarbenen Anzug und grüner Krawatte, sehr elegant, wie aus einer Zeitschrift ausgeschnitten, mit dem Schwarzen, der der Anführer der Karawane sein muss, verhandeln und dabei auf ihn, Henry, deuten. Kläffend drängen sich zwei Wolfshunde um ihre Beine. Jetzt sagt der Weiße etwas zu ihm, Henry kann seine – wie ihm beim ersten Hören scheint – muhenden Laute nicht verstehen.

»I beg your pardon, Sir.«

Plötzlich die Angst, dass man vielleicht auch hier weder Deutsch noch Englisch spricht.

»Ludwig Gerber. Der Verwalter Benēsis. Habe Sie schon erwartet. Verzeihen Sie, dass wir Sie erst jetzt auslösen konnten, Herr ...«, wiederholt der Dicke. Der starke bayerische Einschlag der Sätze klingt in Henrys Ohren seltsam unwirklich und fehl am Platz in dieser Umgebung.

Man wusste die ganze Zeit über, dass er in diesem Loch gefangen gehalten wurde. Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, während er mit der Hand die rutschende Hose hält. Er war nur das Pfand in einem Geschäft zwischen zwei Parteien, hier die Schwarzen, da die Weißen. Henry Peters aber hat er in diesem Dorf oder sogar schon am Strand, wo vielleicht auch einmal Natalie und die Überreste seiner Habe angespült würden, zurückgelassen. Für immer. Henry Peters, den Assistenten von Gustav Selwin, dem in jener fürchterlichen Nacht ein von einem Mast herabstürzendes Segel den Schädel zertrümmerte. Ungläubig hatte Selwin, dem das Blut sofort aus Mund und Nase schoss, in Henrys schreckgeweitete Augen geschaut, solange bis er auf die Knie ging und vornüber kippte; als habe er seinem Schüler noch etwas sagen wollen. Henry mag mit seinen 27 Jahren erheblich jünger sein als Selwin; wer aber soll das in seinem momentanen Zustand schon so genau erkennen. Unvergleichlich angenehm, für einen erfahrenen Architekten gehalten zu werden. Ungeahnte Befugnisse. Außerdem, das fühlt er: Die Monate im Dorf der Eingeborenen, sie haben ihn reifen lassen. Jede Katastrophe birgt auch die Möglichkeit eines Neubeginns in sich.

Er stellt sich vor: »Gustav Selwin, Architekt. Überlebender der Brünnhilde. Zu Ihren Diensten.«

Unmittelbar nachdem Henry von Gerber das erfahren hat, was er ohnehin schon zu wissen glaubte, dass es sich nämlich bei ihm, Selwin, um den einzigen bekannten Überlebenden des Schiffbruchs handelt, wird er von einem Schwarzen in dunkelblauer Livree durch schier endlose Gänge, über knarzende Holztreppen, an ausgestopften Papageien, Geweihen und Köpfen seltsamer Tiere vorbei, in ein Zimmer geführt.

Ein Waschtisch, ein Sekretär, ein Holzparavent, der den Schlaf- vom Wohnbereich trennt, ein Himmelbett.

Ein Fenster im zweiten Stock mit Blick auf die Steppe.

Hinter ihm schließt sich die Tür. Gerber in seinem gelben Anzug vorhin, die frischen, stark süßlich duftenden Früchte in einer Schale auf dem Tisch, dann das vollbärtige Gesicht mit der kaputten Brille und den schulterlangen fettigen Haaren im Spiegel, das seine Augen besitzt. Wie eine Fata Morgana.

 

DIE POSTEN IN DEN GÄNGEN sind für den Komfort und zur Sicherung der Festung unabdingbar. In Situationen wie diesen kommt Gerber sich jedoch wie ein Gefangener vor, dessen Bewegungen hier im Zimmer die Schwarzen draußen mit großen Ohren verfolgen. Kaum hörbar, aber für Gerber viel zu laut, quietscht die Tür, als er sie einen Spalt öffnet, gerade so weit, dass er den Kopf hindurchstecken kann, um vorsichtig nach dem Boy Ausschau zu halten. Die Gänge sind leer. Eine gescheckte Katze läuft davon, dreht sich nach ihm um, läuft weiter. Eigentlich ist das ein Regelverstoß: die Nichtbesetzung eines Postens. Für heute soll es ihm recht sein.

Rasch schließt er die Tür wieder, hastet nur im Beinkleid durchs Zimmer zur Truhe, hebt den Deckel und holt den Schurz heraus.

Gerber ist erst vor einer Woche wieder dieses Heidengerede vom schwarzen Elefanten als Ahnherr des Negervolkes in den Sinn gekommen und zugleich dieser Tanz der Schwarzen in Loué, als er vor knapp zwei Jahren mit seiner Schwester Käthe gerade in der Hauptstadt eingetroffen war. Auf einer Straße hatte sich damals ein Mob gebildet. Gerber war mit Zachary Pike, dem Landvermesser, den er während der Überfahrt auf dem Schiff kennen gelernt hatte, auf die Veranda des Verwaltungsgebäudes getreten, in dem sie residierten, und konnte von dort den Menschenauflauf überblicken. In dessen Mitte standen drei Eingeborene. Nur mit einem Schurz bekleidet, bewegten sie sich, eigentlich waren es nur sehr kleine Bewegungen mit dem Kopf, den Beinen und dem Gesäß gewesen; diese vollführten sie aber mit so viel Grazie und Kraft, dass ihr Schauspiel Gerber unmittelbar und gewaltig beeindruckte. Ihre Ketten scharrten.

»Der Chief des wichtigsten Stammes in Tola zusammen mit seinen Söhnen«, hatte Zachary Pike Gerber zugeraunt. Und weiter: »Das ist der Elefantentanz.«

Wie Gerber damals erfuhr, ging die Legende, dass der Chief eben dieses Stammes von einem gewaltigen Elefanten namens Mnaba, schwarz wie die Nacht, abstamme, der von allen anderen Tieren in der Steppe und im Dschungel gleichermaßen geachtet wie gefürchtet wurde. Schrecklich sein Zorn. Groß seine Güte. Zu ihm flohen sie, wenn der Löwe nach Beute jagte; ihm beugten sie sich, wenn er einen seiner Untertanen, der einem anderen ein Leid zugefügt hatte, mit seinen Stoßzähnen aus dem Dschungel trieb. Einmal im Jahr, nach der ersten Regenzeit, feierte man ihn. Und wenn sich am Ende vor Mnaba und seiner Gemahlin die Geschenke aus Früchten, Gold und Edelsteinen türmten, so die Legende, dann war es an ihm, seinen Getreuen zu danken. Er erhob den Rüssel, begann ihn zu schwenken, nach links und nach rechts, die Beine dazu, bald bebte der gesamte Dschungel von Mnaba-Di, dem Elefantentanz, den die Stammeshäuptlinge, die Elefantenabkömmlinge, bis heute aufführen. Sie spenden ihrem Volk Dank. Umgekehrt fließen ihnen Kräfte, magische Kräfte, zu.

Als ihm vor einer Woche die Geschichte wieder einfiel und er diesen elenden Schurz nicht vergessen konnte, war Gerber schließlich zu Hoki, der Schneiderin, gegangen, um einen neuen Anzug in Auftrag zu geben – nur um am Ende noch wie beiläufig hinzuzufügen, dass Hoki ihm außerdem noch ein Lendengewand anzufertigen und einige Ketten nach der Sitte der Chiefs der Umgebung zu besorgen habe, zu Studienzwecken, sie wisse schon, der Schurz solle seine Größe besitzen. Und kein Wort zu irgendjemandem, sonst ... er machte mit der Faust das Zeichen für eine herabschnellende Peitsche.

Seit gestern Abend liegt das Bestellte nun in seiner Truhe.

Sein Beinkleid möchte er doch anlassen. Dann die erste Schwierigkeit: Wie legt man so ein Ding an, wo befindet sich hier ein Knopf, eine Schnur? Zumindest scheint Gerber der Schurz zu passen; mit den Händen gehalten, spannt sich das Lederstück um seinen Bauch. Und jetzt – es bereitet ihm mit einem Mal unbändiges Vergnügen, eine Freude wie seit Kindertagen nicht mehr – macht er einen Schritt nach vorne, links, rechts, beugt den Oberkörper, und dann, gleich dem Elefanten, der mit seinem Hinterteil grazil und doch mächtig die Stämme des Dschungels beiseite schiebt: ein Hüftschwung.

 

AUF DEM GRUND DES OZEANS liegt sie, Natalie Peters, geborene Treibel, zwischen Algen, ihre Kette, das Medaillon mit der Fotografie ihres Mannes schwebt an ihrem Hals, die Arme hat sie erhoben, als balanciere sie, die Augen weit geöffnet, schaut sie auf die Schwärme von Fischen, die an ihr vorbeiziehen, rot, schwarz, gelb, die sie streicheln, an ihr knabbern, da ist der Finger ab, nach Tagen, Wochen, die Nase, das Ohr, ihr weggenascht und fortstibitzt, reißt die Strömung ihr das Kleid in Fetzen, nackt liegt sie da, ohne Bein und Arm und Gesicht, werden die Algen zu ihrem Mund, ihren Augen, grün.