Wolf Schneider

Glück!

Eine etwas andere Gebrauchsanweisung

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Was ist das eigentlich – Glück?

1 Den Plan der Schöpfung überlisten

2 Macht Geld glücklich?

ZWISCHENFRAGE: Wie werde ich Lottomillionär – und was hätte ich davon?

3 Was die Leute so reden

4 Mit der Tugend ins Jammertal

5 Der Platzregen und die Liebe

Stichwort: LUCK und HAPPINESS

6 Glück – ohne Scheuklappen

Stichwort: DER FLOW

7 Ist Glück machbar?

Stichwort: GLÜCKSPILLEN und ENDORPHINE

Gute Rezepte, das Glück zu steigern

8 Tu was!

9 Gönn dir was!

ZWISCHENRUF: «Gönn dir nichts!» (Die finsteren Puritaner)

10 Pflege die Kontraste

11 Pflege die Kontakte

12 Pflege die Erinnerung

ZWISCHENFRAGE: Wie entwirre ich meine Familienbande?

Strittige Rezepte, das Glück zu steigern

13 Selbstverwirklichung – ein gemischtes Vergnügen

14 Feste und Räusche

ZWISCHENFRAGE: Lässt sich Alkohol verbieten?

15 Nicht vorsorgen? Nichts vererben?

ZWISCHENFRAGE: Was rät der Prediger Salomo?

16 Das einfache Leben

ZWISCHENSPIEL: «Die Reise um mein Zimmer»

Wo Rezepte wenig helfen

17 Die Wahrheit über die Liebe

ZWISCHENFRAGE: Wie finde ich meinen Traumpartner?

18 Die Macht und das Geld

ZWISCHENFRAGE: Wie werde ich Bundeskanzler?

Wo Glück und Leid sich streiten

19 Hassliebe und Freudentränen

ZWISCHENSPIEL: Angstlust auf dem Eiger-Grat

20 Ist die Ehe noch zu retten?

ZWISCHENFRAGE: Wann findet ein Mann seine Ruhe?

21 Machen Kinder glücklich?

22 Vorfreude und Zukunftsangst

23 Die Arbeit: Last und Lust

ZWISCHENFRAGE: Welcher Beruf ist der abscheulichste?

Das Unglück

24 Die große Langeweile

Stichwort: DER WORTSCHATZ DER SCHWERMUT

25 Enttäuschung, Erniedrigung und Neid

Stichwort: DIE SIEBEN TODSÜNDEN

26 Die Angst

Stichwort: LEXIKON DER ÄNGSTE

27 Der Schmerz und der Tod

ZWISCHENFRAGE: Was bedeutet der Tod für Dietrich Grönemeyer?

28 Machen Religionen glücklich?

29 Der Trost und der Trotz

Was kann – was darf der Staat tun, um das Glück seiner Bürger zu mehren?

30 Das größte Glück der größten Zahl

ZWISCHENFRAGE: Können siamesische Zwillinge glücklich sein?

31 … und einige Bedenken dagegen

32 Unsere lieben Utopisten

33 Marx und das Himmelreich auf Erden

34 Die so genannte Lebensqualität

ZWISCHENFRAGE: Wo sind die Deutschen am zufriedensten?

Ausblick

35 Nimmt das Glück auf Erden zu oder ab?

36 Glück – ein heikles Ideal

Literaturverzeichnis

Namen- und Sachregister

 

Für Lilo

Was ist das eigentlich – Glück?

1

Den Plan der Schöpfung überlisten

Das wird man erstaunlich finden dürfen: dass wir die Freiheit haben, unser Glück zu suchen, ja die Chance, es hie und da zu finden – auf diesem seltsamen Planeten, der mit 107 000 Stundenkilometern elliptisch um eine ferne Sonne rast, einsam in einem Universum aus Milliarden toten Sternen; bebend, feuerspeiend, von Wirbelstürmen überzogen und dennoch von kriechendem Leben bedeckt.

Was für Leben aber! Gefressen zu werden, ist das häufigste Schicksal aller Tiere auf Erden. Millionen Krebse und Tintenfische sind nur auf der Welt, um im Maul eines hungrigen Wals zu verenden. Schwarze Krähen hacken weißen Lämmern die Augen aus und verspeisen sie als Leckerbissen – «die sinnlose Grausamkeit der Natur», Albert Schweitzer hat sie beklagt, und Darwins Fazit hieß: «Über das stümperhafte, niedrige, schrecklich grausame Wirken der Natur» könnte ein Kaplan des Teufels ein Buch schreiben.

Und dann doch plötzlich irgendwo ein Lachen, ein Jubelschrei! Das hat der Mensch hineingetragen in die feindliche Welt. Aber er jubiliert nicht oft. Die meisten unserer Artgenossen waren zu allen Zeiten Arme und Elende, Hungernde und Hinkende, Geschundene und Getretene, und die halbe Menschheit ist es noch heute. «Die Absicht, dass der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten», sagt Sigmund Freud.

Doch uns winkt die Chance, den Plan der Schöpfung – gesetzt, es gäbe ihn – dann und wann zu überlisten: durch Liebe, durch ein gelungenes Werk, durch einen fröhlichen Rausch, durch eine Stimmung des Einsseins mit uns und der Welt; und in den wohlhabenden Ländern sind die Aussichten, dass uns das manchmal gelingt, nicht einmal schlecht.

Da bleibt die Frage: Lässt das Glück sich mehren? Oder sind wir eingemauert einerseits in unsere Umwelt und andrerseits in unsere Erbanlagen? Kann, darf, soll der Staat Institutionen schaffen, die unsere Glückschancen verbessern? Können uns die Ratschläge etwas nützen, die uns aus den vielen schlauen Büchern entgegenschallen?

Zuerst allerdings müsste man sich darauf einigen, was das eigentlich ist, das Glück. Ist es Sex oder Nächstenliebe – das Bewusstsein edler Pflichterfüllung oder ein gelungener Coup? Ist es Romeos Leidenschaft für Julia oder Don Juans Erfolg bei 1003 Frauenzimmern? Wohnt es in der Studierstube oder im Harem? Können wir denn etwas daran ändern, dass der eine Olympiasieger hundertfach Unglück stiftet – unter denen nämlich, die es leidenschaftlich gern geworden wären? Darf man den Satz wagen: «Zwei Glas Wein stiften mehr Glück als zwei Tassen Tee»?

Und macht Geld eigentlich glücklich? Damit fangen wir einfach mal an.

2

Macht Geld glücklich?

Wann sitzt man schon mit einem leibhaftigen deutschen Milliardär an einem Tisch und sieht ihm beim Geldverdienen zu? Ich hatte die Chance vor ein paar Jahren in Madrid, und der Eindruck war nachhaltig.

Seine Frau, vom verspäteten Flug erschöpft, verlangte nach Champagner. Ihr Mann, auf fünf Milliarden Euro geschätzt, studierte die Weinkarte und sprach die goldenen Sätze: «Champagner kostet fünfmal so viel wie spanischer Sekt. Er kann unmöglich fünfmal so gut sein. Wir nehmen spanischen Sekt.» Zu diesem erstaunlichen Tischgespräch drängen sich vier Gedanken auf:

1. Die Entscheidung des Milliardärs war rechnerisch durchaus vernünftig.

2. Unfehlbar provoziert sie die Großmutter-Weisheit «Seht ihr – so kommt man zu Geld!» Doch eine Weisheit ist das nicht. So bringt man es nämlich allenfalls zu einem Bausparhäuschen. Wenn das beispielsweise 300 000 Euro kosten würde, ließen sich für fünf Milliarden mehr als 16 000 solcher Häuschen errichten; und nicht einmal Großmütter würden behaupten, dass die allesamt aus Champagnerverzicht finanziert werden könnten. Zu Milliarden bringt man es niemals durch Sparsamkeit – sondern durch glückliche Umstände und den Riecher für sie, durch Riskieren und Investieren, durch Habgier und Brutalität.

3. Überdies ist die Korrektheit des Sektvergleichs höchst vordergründig. Denn angenommen, der Milliardär hätte damit 50 Euro eingespart, so hätte es sich um den einhundertmillionsten Teil seines Vermögens gehandelt – so, als packte ihn der Ehrgeiz, den Preis für eine Fünf-Millionen-Villa um fünf Cent zu drücken. Wenn es ihm jedoch gelänge, Tag für Tag bis an sein Lebensende 50 Euro auf die Seite zu legen, so würde er 273 972 Jahre leben müssen, um fünf Milliarden aufzuhäufen. Anders gerechnet: Bei einer Verzinsung mit nur fünf Prozent würden die fünf Milliarden jährlich 250 Millionen erbringen, das hieße 685 000 Euro pro Tag oder 50 Euro in ebenjenen sechs Sekunden, die das Lob des spanischen Sekts ungefähr gedauert hat.

Die 50 Euro sind also das, was man in der Mathematik eine zu vernachlässigende Größe nennt. Sich von einer solchen die Wahrung oder Mehrung eines Milliardenvermögens zu versprechen, ist etwa so sinnvoll, wie es die Absicht wäre, den Bodensee zu süßen, indem man ein Stück Würfelzucker in ihn würfe.

4. Warum dann, um Himmels willen, die Aktion spanischer Sekt, die die Mathematik bis zum Unsinn überreizte, die Ehefrau düpierte und dem Gast die Sprache verschlug? Weil man Milliardär nur wird, wenn man ein Besessener des Geldes ist; wenn man ein irrationales, ein erotisches, ein gefräßiges Verhältnis zu ihm hat; wenn man 50 Euro so wenig missen will wie der Sultan auch nur eine seiner hundert Haremsdamen. Auf ihre Mitmenschen wirken Milliardäre folglich nicht sehr angenehm.

 

Doch fehlt die Antwort auf die Frage: Macht das viele Geld wenigstens sie selber glücklich? Einerseits nein: Beim verweigerten Champagner zahlen sie den Preis für die Zwangsvorstellung, die sie in keiner Sekunde ihres Lebens loslässt: Geld ist Gott! Diese Gesinnung hat sie reich gemacht, und nun siegt sie über alle Lebenskunst, alle Lebensart, allen Sinn für Proportionen und das kleine Einmaleins. Andrerseits ja: Denn Geld demonstriert Lebenserfolg, Geld heißt Macht – und Macht zu haben ist, traurig zu sagen, eines der höchsten Glücksgefühle (Kapitel 18). Deshalb finden Leute wie Rupert Murdoch, George Soros, Bill Gates es so dringend, weitere Milliarden heranzuschaufeln.

Reichtum gleich Macht: Entspricht dies der populären Vorstellung? Die ist eher als mit dem Geldscheffeln mit dem Geldausgeben verbunden – mit der Fähigkeit und mit der Lust, sich Luxus zu leisten, all das, wovon die meisten nur träumen: drei Villen, vier Autos, eine Yacht, Weltreisen erster Klasse und dabei nie ein sorgenvoller Blick aufs Konto. Erst von da an abwärts wird die Frage, ob Geld glücklich macht, wirklich interessant.

Unstrittig unter Psychologen ist nur eine höchst indirekte Art des Glücks am Geld: jene, die in der Abwesenheit von Unglück besteht. Es ist schön, nicht hungern zu müssen, nicht zu frieren, eine saubere, regenfeste Wohnung zu haben und für jede Krankheit einen Arzt zu finden. Aber wer in Mitteleuropa würde solche Grundbefriedigungen als «Glück» einstufen? Er müsste schon zuvor durch die Slums von Kalkutta gestreift sein, um seinen Wohlstand zu genießen – oder sich lebhaft an Phasen der Not im eigenen Leben erinnern. Doch da sind wir mitten in einem Wald von Problemen.

Zum Ersten: Ist es vernünftig, ist es vermittelbar, das Fehlen von Unglück mit dem Etikett «Glück» zu versehen? Empfinden wir irgendetwas dabei? Und doch scheint es, als sei eben dies die häufigste Annäherung ans Wohlbefinden: dass kein Leiden uns plagt.

Dies führt zur zweiten Schlüsselfrage: Haben Menschen mit einer lebendigen Erinnerung an Krankheit, Zwang und Not vielleicht eine höhere Chance, sich des Wohlstands, der Freiheit, der Gesundheit zu erfreuen als solche, denen es immer gut gegangen ist? Kann die Freuden voll nur der ausschöpfen, der die Leiden kennt? Die Butter dick aufs Brot zu streichen und nach Belieben ein heißes Bad zu nehmen ist für viele von der langsam wegsterbenden Generation der Weltkriegsteilnehmer immer noch ein Hochgenuss; Jüngere haben davon keine Vorstellung mehr (wie schön), und als Glücksquell stehen ihnen (wie schade) Bad und Butter einfach nicht mehr zur Verfügung. Oder: Hatte ein Schweizer je die Möglichkeit, seine Freiheit so zu genießen, wie Millionen Bürger der DDR die ihre genossen haben, damals, 1989, in den Tagen nach dem Fall der Mauer?

Solches Glück ist also ein Kontrast-Erlebnis, nur eines von vielen: Denn der Gegensatz und ein frisches Gefühl für ihn gehören zu fast jedem Lebensgenuss, Kapitel 10 wird es demonstrieren. Das Geld macht aus dieser zwiespältigen Einsicht ein hochpolitisches Dilemma: Als reich empfindet sich ja nur, wer entweder mehr davon besitzt als früher – oder mehr als jene Zeitgenossen, an denen jeder sich unwillkürlich und fast unentrinnbar misst: Nachbarn, Freunde, Kollegen, Konkurrenten.

Mehr als früher: Das wiederum wird uns nur dann zum Erlebnis, wenn sich der Aufschwung in Riesenschritten vollzieht. Dem einzelnen Glückskind mag das gelingen; eine ganze Volkswirtschaft kann nur im Extremfall ein Tempo vorlegen, das ein kollektives Wohlgefühl begünstigt: die deutsche in den fünfziger Jahren beispielsweise – aber dieses «Wirtschaftswunder» geschah auf der Basis einer vorangegangenen Katastrophe. Im Abendland hat sich die Kaufkraft des Durchschnittsbürgers seit 1945 verdrei- oder vervierfacht, aber niemand behauptet, damit wäre eine Verdreifachung, ja auch nur eine spürbare Steigerung des durchschnittlichen Glücksempfindens einhergegangen.

Immer präsent dagegen und politisch viel brisanter ist der unvermeidliche horizontale Vergleich: der mit den Nachbarn, den Kollegen. Er ist eine Urtatsache des menschlichen Zusammenlebens, und er setzt einen unheimlichen Mechanismus in Gang: Der steigende Wohlstand aller hebt das Wohlbefinden nicht. Die Cornell-Universität im Staat New York hat dieses Grundgesetz des sozialen Wohlbefindens 2003 in einem Experiment erhärtet: Würden die Testpersonen lieber 100 000 Dollar im Jahr verdienen, wenn alle Vergleichspersonen nur 80 000 bekämen – oder 150 000, also 50 000 mehr, wenn die anderen es auf 200 000 brächten? Die Mehrzahl entschied sich für den ersten Weg: Lieber verzichteten sie auf 50 000 Dollar, als unter Reicheren der Ärmere zu sein.

Da ist es, das «Wohlstandsparadox», die Hedonic Treadmill, wie die amerikanischen Sozialforscher sagen, die Tretmühle der Lebenszufriedenheit: Weil einer sich nur dann wohlfühlt, wenn er mindestens so viel verdient wie die, mit denen er sich vergleicht, muss er umso heftiger in die Mühle treten, je wohlhabender die anderen werden. Das Wirtschaftswachstum, das die meisten Staaten als ihr Lebenselixier betrachten, trägt also zum Ideal des «größten Glücks der größten Zahl» überhaupt nichts bei (mehr über dieses Staatsziel in Kapitel 30).

Wachstum ist willkommen, solange eine Gesellschaft noch unterhalb der Armutsschwelle lebt; Wachstum ist wohl auch nötig, damit eine Volkswirtschaft sich in der globalisierten Welt behaupten kann; mit der Zufriedenheit der Bürger hat weiteres Wachstum in der Wohlstandsgesellschaft nichts zu tun. Doch die Volkswirtschaft, sagt der Harvard-Psychologe Daniel Gilbert, «kann nur dann gedeihen, wenn die Leute fälschlicherweise glauben, dass die Produktion von Wohlstand sie glücklich macht».

Zusätzlich gerät das Hamsterrad dadurch in Bewegung, dass bei fast allen Menschen im Gleichschritt mit der Vermehrung ihres Einkommens ihre Ansprüche steigen – bei vielen bis zu dem Grade, dass sie an eine permanente Ratenzahlung gekettet sind, nur später für eine schönere Couch, ein schickeres Auto als früher. In den fünfziger Jahren, ja: Da fand die deutsche Familie es selbstverständlich, dass sie sich keine Italien-Reise leisten konnte, wenn sie schon für ein Auto bezahlte, und keinen Fernsehapparat, bis der Kühlschrank abgestottert war. Heute lächeln wir darüber. Glücklicher geworden sind wir nicht – so sagen es die Leute, und die Lebenserfahrung spricht dafür, dass man ihnen glauben kann.

Also: Wie viel trägt es zu unserm Glück, zu unserm Unglück bei, das Geld? Zum Unglück ziemlich viel – über die nackte Not hinaus durch das millionenfache Unbehagen der Ärmeren beim Anblick der Reichen, oft bis zum gelben Neid (einem klassischen Unglück, Kapitel 25 handelt davon); durch den Schock, sich finanziell ruiniert zu sehen; durch die Grausamkeit, mit der ein Schüler, der sich die gerade modischen Klamotten nicht leisten kann, heutzutage ausgegrenzt und erniedrigt wird.

Doch für Zufriedenheit mit dem Leben sorgt Geld ebenfalls millionenfach. Der reichen Oberschicht gewährt ihr Wohlstand eine nachhaltige Befriedigung, gespeist aus dem Bewusstsein des sozialen Abstands und der Freiheit zum Luxus. Der exzentrische Hollywoodstar Zsa Zsa Gabor fand dafür die Formel: «In einem Rolls-Royce weint es sich angenehmer als in der Straßenbahn.»

Damit beschrieb sie jenes Glück, von dessen Schmähung die Bibel widerhallt. Die Reichen kommen nicht in den Himmel (Matthäus 19,24), sie sollen alles verkaufen und unter die Armen verteilen (Lukas 18,22) und sie sollen heulen über das Elend, das über sie kommen wird (Jacobus 5,1). «Die Großen dieser Erde mögen den Vorzug vor den Geringen haben, zu schwelgen und zu prassen, alle Güter der Welt mögen sich ihren nach Vergnügen lechzenden Sinnen darbieten … Nur, mein Freund, das Vorrecht, glücklich zu sein, wollen wir ihnen nicht einräumen.» Kleist schrieb das 1799, und sein wollen wir nicht enthüllt das Tragikomische solcher Argumentation: An euerm Reichtum kann ich nichts ändern, aber euch das Prädikat «glücklich» zu missgönnen, dazu fühle ich mich stark genug.

«Traue denen nicht allzu sehr, die so tun, als ob sie den Reichtum verachteten», hatte Francis Bacon schon 1612 gemahnt: «Denn nur die verachten ihn, welche daran verzweifeln, zu ihm zu gelangen, und die sind die schlimmsten, wenn sie ihn einst doch erwerben.»

Unterhalb der Oberschicht machen es sich im Abendland Hunderttausende bequem, die ein sozialer Aufstieg dahin gebracht hat, dass sie den Euro nicht mehr dreimal umdrehen müssen und sich schöne Dinge leisten können. Ihre Freiheit, hie und da Geld auszugeben über den bloßen Bedarf hinaus, bringt ihnen vermutlich mehr Vergnügen, als kleinbürgerliche Sparsamkeit, hortender Geiz oder die Zufriedenheit des Milliardärs über die gesparten 50 Euro es je vermöchten.

Ein dritter Weg, sein Lebensglück mit dem Geld zu versöhnen, ist, sich von ihm nicht tyrannisieren zu lassen, ob man es hat oder nicht. Schließlich führen Millionen arme Teufel in der Dritten Welt ein fröhlicheres Leben als bei uns manche Witwe mit Chauffeur, und es fehlt jedes Indiz dafür, dass ein Zehnjähriger von heute inmitten seiner Elektronik eine glücklichere Kindheit hätte als vor hundert Jahren die sieben Kinder eines Einödbauern.

«Wenn ich reich wäre», lässt der Schweizer Schriftsteller Robert Walser seinen Jakob von Gunten sinnieren, «so beginge ich irgendwelche Tollheiten und Torheiten. Zum Beispiel könnte ich ja ein wahnsinnig reiches und lustbeladenes Gastmahl geben und Orgien nie gesehener Art veranstalten … Ganz bestimmt müsste das Geld auf sinnverwirrende Art und Weise verbraucht werden, denn nur das echt vertane Geld wäre ein schönes Geld – gewesen. Und eines Tages würde ich betteln, und da schiene die Sonne, und ich wäre so froh – über was, das würde ich gar nicht zu wissen begehren.»

Bis dahin gilt der alte Satz: «Geld allein macht noch nicht unglücklich.»

Aber fragen wir doch die Leute, was eigentlich sie glücklich macht.

ZWISCHENFRAGE:

Wie werde ich Lottomillionär – und was hätte ich davon?

 

Unter allen Glücksspielen ist das Lotto das einfachste, das harmloseste und sogar das vergleichsweise rationalste. Kein Wunder, dass es auch das populärste ist: Rund 41 Prozent der erwachsenen Deutschen betreiben es, mindestens gelegentlich. Zum Lottospielen braucht man kein Raffinement (wie fürs Pokern), keine Fachkenntnisse (wie für Sportwetten), keine Ortsveränderung (hin zur Spielbank) und keine Mutprobe (wie im Märchen der, der die Prinzessin erobern will). Man kann auch nicht betrogen werden (wie bei Fußball- oder Pferdewetten) und sich nur sehr schwer ruinieren (anders als beim Poker und beim Roulette).

«Lebendiger als im Lotto war die Gleichheit aller nie», resümieren Christoph Lau und Ludwig Kramer in ihrem gescheiten Büchlein über das Lottoglück. Das Glück aber liege nicht so sehr im Riesengewinn (denn der ist unendlich selten, und Zufriedenheit stiftet er auch nicht immer) – sondern in der Hoffnung. Der Lottospieler erhebt das sonst für ihn Unmögliche in den Rang des immerhin Möglichen, wenn auch extrem Unwahrscheinlichen; «das eigentliche Lottoglück erschließt sich vor der Ziehung».

Die fast immer enttäuschte Hoffnung wird leicht verschmerzt, denn schon am Montag blüht sie neu, und der Verlust ist, dramatisch anders als beim Roulette, bescheiden – außer bei jenen etwa fünf Prozent der Spieler, die mehr als 1000 Euro jährlich einsetzen und daher in der Fachwelt Heavy User heißen.

Den anderen 95 Prozent – kann ihnen das Spielen trotzdem Nachteile bringen? Ja, sagen die Autoren: Manche, die im Leben durchaus noch Chancen hätten, werden verleitet, andere Wege zum Glück und zum Erfolg gar nicht mehr zu suchen; und sehr viele spielen zwanghaft weiter – in der irrigen Meinung, nun hätten sie schon so viel investiert, dass das Glück sich endlich einstellen müsse, oder, wenn sie stets dieselben Zahlen setzen, in der panischen Angst, nach dem Aufhören würden gerade die gezogen.

Da gab es auch jenen Buchhalter, der zwischen 1986 und 1988 aus der Firmenkasse 4,5 Millionen Mark entwendete, sie in 300 Lottoscheine pro Woche umsetzte – und immerhin 1,8 Millionen Mark gewann, 40 Prozent seines Einsatzes, ehe das Landgericht Essen ihn zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilte; mit dem mildernden Umstand, dass er «der Verlockung des Lottosystems» erlegen sei.

Und wie glücklich werden die Gewinner? Die Autoren haben 14 deutsche Lottomillionäre gründlich befragt und ihre Ergebnisse mit Statistiken aus Dänemark und Norwegen abgeglichen. Resultat: Keiner drehte so durch wie einer der ersten Großgewinner der Lottogeschichte, ein Hausierer. Der verjubelte seine 800 000 Mark binnen 22 Monaten mit Bardamen und Zechkumpanen; an die Kneipen, in denen er mit seinem Geld um sich warf, hängte er das Schild «Wegen Reichtum geschlossen».

Die meisten Lottomillionäre verhalten sich rational: ein kurzer Schock, dann überschäumende Freude, dann Formulierung der Wünsche (überwiegend in der Reihenfolge Haus – Weltreise – Auto) und meist ein kühles Abwägen: Wen wollen wir in unser jähes Glück einweihen und wen ausdrücklich nicht? Bald der Rückzug ins normale, ein bisschen opulentere Leben. Einig waren sich die Gewinner nur über eine Genugtuung: Am Bankschalter wurden sie deutlich freundlicher bedient.

Die riesige Mehrheit der Spieler bleibt mit der Hoffnung allein. «Die Chancen sind für alle gleich – schlecht», heißt das Fazit der Autoren. Sie betonen wiederholt, dass die meisten Spieler nicht die geringste Vorstellung vom Grad der Unwahrscheinlichkeit besäßen; Beispiele für diese Unwahrscheinlichkeit geben sie nicht. Da wäre also hinzuzufügen: Die Chance, Lottomillionär zu werden, ist geringer als das Risiko, vom Blitz erschlagen zu werden, zu ertrinken oder in einem öffentlichen Verkehrsmittel umzukommen (den Tod im Auto gar nicht erst gerechnet).

Die Chance, auch nur sechs Richtige zu haben, beträgt bekanntlich 1 : 14 Millionen (und mit dem Sechser hat man die Million ja keineswegs sicher). Aber was bedeutet das? Zum Beispiel: Wenn man 14 Millionen Ein-Euro-Münzen (Durchmesser 22 Millimeter) Kante an Kante legte, etwa an einer Autobahn entlang, so würden sie eine Kette von 308 Kilometern Länge bilden; und nun brauchte man während der zwei- bis dreistündigen Fahrt nur an der richtigen Stelle zu halten und aus der Kette die richtige Münze zu greifen, und schon hätte man den Sechser gezogen.

Oder so: Wer fünfzig Jahre lang jede Woche einen Tipp abgäbe, hätte seine Chancen natürlich verbessert – auf 1 : 5385. Wer den Sechser gar ertrotzen wollte und allwöchentlich zehnmal tippte, müsste nach statistischer Wahrscheinlichkeit 26 900 Jahre lang spielen, hat die Zeitschrift Geo ausgerechnet – und bekäme dann halb so viel heraus, wie er einbezahlt hat.

Im Oktober 2006 lobte das Deutsche Lotto den höchsten Jackpot seiner Geschichte aus, 35 Millionen Euro – nur zusammen mit der Superzahl, also für sieben Richtige. Die Wahrscheinlichkeit des Gewinns wurde dadurch noch einmal um das Zehnfache vermindert, auf 1 : 140 Millionen; das entspräche einer mehr als 3000 Kilometer langen Kette von Ein-Euro-Münzen, von Barcelona nach Moskau ungefähr.

Unter diesen Umständen überhaupt zu spielen, war also irrational in besonders hohem Grade. Ergebnis: Die Einsätze stiegen um 50 Prozent, im Durchschnitt auf zwei Euro von jedem Deutschen.

3

Was die Leute so reden

Die Antwort auf die Frage, mit der das vorige Kapitel schloss (Was eigentlich macht uns glücklich?), ist enttäuschend. Ob ein Mensch glücklich ist: dies zu entscheiden brauchen wir bessere Indizien als das, was er uns darüber erzählt. Ja, es lässt sich der Satz wagen: Ihm zuzuhören lohnt sich nicht.

Gewiss, Angela Merkel konnte man glauben, als sie am 23. November 2005, dem Tag, nachdem sie Bundeskanzlerin geworden war, den Fernsehmikrofonen den Satz «Ich bin glücklich» anvertraute. Dies aber in einer Ausnahmesituation: Mehr als ihre Worte sprachen die Umstände dafür, dass sie sich glücklich fühlte (es war also nicht dringend, sie überhaupt zu fragen); und vor allem artikulierte sie offensichtlich ihre augenblickliche Gemütsverfassung – sie zog nicht etwa eine Lebensbilanz.

Eben eine solche aber ist es, der die Meinungsforscher, die Psychologen, die Fernsehmoderatoren mit Vorliebe nachspüren, neuerdings sogar Sozialwissenschaftler und Neurobiologen: «Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden?», wollen sie wissen. «Sind Sie ein glücklicher Mensch?» Da werden rasche Antworten eingefordert, zu Statistiken summiert und zu Vergleichen mit anderen Völkern oder Gesellschaftsschichten herangezogen. Was daraus hervorgeht, ist für Laien ein Stoff zum Schmunzeln oder Staunen; viele Soziologen indessen neigen dazu, ihre treuherzig ermittelten Ergebnisse als «Sozial-Indikatoren» auszugeben, aus denen im Grenzfall sogar politische Schlüsse gezogen werden sollen.

Das aber ist töricht. Denn es geschieht etwas Merkwürdiges und Unkontrollierbares in jedem, der mit einer Frage nach seinem Lebensglück konfrontiert wird, zumal wenn nicht Freunde, sondern gleichsam Amtspersonen sie stellen. Zunächst, weil es nur selten sein klarer Wille ist, neugierigen Mitmenschen seine innerste Wahrheit preiszugeben. Aber kennt er eine solche Wahrheit überhaupt? Es ist nicht üblich und dem Individuum kaum möglich, zu einem vorgegebenen Zeitpunkt sein Leben redlich zu resümieren – zu viele Einflüsse spielen da hinein: Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit, Gedächtnislücken, der Gesundheitszustand, das Prestige, sozialer Druck und die Laune des Augenblicks; ja selbst das Wetter und sogar der Umstand, dass der Interviewer dem Befragten sympathisch ist.

Das Wetter? Psychologen wissen es, seriöse Meinungsforscher auch: Umfragen bei Sonnenschein ergeben mehr positive Gesamturteile über die eigene Zufriedenheit als solche bei Regen. Die deutschen Soziologen Norbert Schwarz und Fritz Strack haben das bewiesen in ihrer fulminanten Studie «Die Bewertung des eigenen Wohlbefindens» («A Judgment Model of Subjective Well-being», Oxford 1991); ihre Ergebnisse werden nicht etwa bestritten, sondern von der Öffentlichkeit und den Autoren der meisten Glücks-Ratgeber noch immer ignoriert. Die Haare können einem zu Berge stehen, wenn man liest, was alles die Aussagen über das Lebensglück beeinflussen und folglich die Statistik verfälschen kann.

Schon beim Regen: Ein Institut, das seinem Auftraggeber möglichst glückliche Kunden, Bürger, Untertanen präsentieren möchte, fragt eben nur bei Sonnenschein, oder die Befrager neutralisieren den negativen Einfluss des Regens durch die statistisch abgesicherte Wirkung eines Begrüßungssatzes von der Art: «Was für ein Sauwetter! Ich mag das genauso wenig wie Sie.»

Ohnehin gehen aus einem persönlichen Gespräch, noch dazu in einem behaglichen Raum geführt, mehr günstige Bewertungen des eigenen Lebens hervor als aus einem Fragebogen oder einer Unterhaltung in einem schlecht geheizten Büro; werden Männer gar von hübschen Frauen befragt, so entdecken sie mehr Sonnenschein in ihrem Leben als gegenüber einem Mann und heben so das angebliche Durchschnittsglück. Sitzt der Interviewer aber im Rollstuhl, so zögern manche Testpersonen, sich allzu zufrieden zu äußern, und drücken damit die Statistik. Als Deutschland 1990 Fußballweltmeister geworden war, da behaupteten besonders viele Deutsche, glückliche Menschen zu sein – und zwar nicht nur in jenen Tagen, wohlgemerkt, danach waren sie nicht gefragt worden: sondern seit Jahrzehnten, gleichsam rückwirkend.

Wir sind eben außerstande, beim Rückblick auf unsere dreißig, sechzig Lebensjahre von den Umständen und den Stimmungen des Tages abzusehen. Es wäre übermenschlich, im Licht einer gestern gewonnenen Lottomillion dieselbe Lebensbilanz zu ziehen wie in Erwartung der nächsten Nierenkolik.

Die meisten Sozialforscher durchschauen das, und die Vernünftigen unter ihnen warnen davor, erfragte Aussagen über das Lebensglück für aussagekräftig zu halten. Eigentlich, betonen Schwarz und Strack, werden die Befragten maßlos überfordert: Da sollen sie binnen Minuten Jahrzehnte überblicken, schöne Erinnerungen gegen schmerzliche abwägen, Geld gegen Gesundheit, das Privatleben gegen den Berufserfolg!

Und was heißt das überhaupt: Erinnerung! Ist sie nicht immer selektiv? Wird da nicht das Peinliche verdrängt, das Schöne vergoldet, das Erlittene durch den Vorgang des Erinnerns wundersam gelindert? (Kapitel 12 wird es zeigen.) Und dann soll der Befragte auch noch die Gehaltserhöhung von gestern ausblenden zusammen mit dem Badewetter von heute, einfach weil zwei Tage im Saldo fürs Leben zu dürftige Posten sind.

Falls ihm aber entgegen aller Wahrscheinlichkeit all dies einmal gelänge, so stünden die Interviewer immer noch vor zwei Problemen: Wie viel Selbstinszenierung wünscht der Befragte mir aufzutischen? Und kapituliert er vielleicht, wie so viele, vor einer vermuteten Mehrheitsmeinung, weil er sich nicht isolieren möchte? Warum denn nennen sich regelmäßig mehr US-Bürger als Deutsche «glücklich» – weil sie es wären? Wohl eher deshalb, weil zum Selbstbild des Amerikaners der Optimismus gehört; Deutsche dürfen jammern, ja in intellektuellen Zirkeln den Weltschmerz kultivieren. Solche Umwelteinflüsse bieten sich als Interpretationsvorgaben an, und die werden gern zu Hilfe genommen im Gewoge der Erinnerungen.

Bis zu welchem Grade sich ein Unglück in ein vorgebliches Glück umlügen lässt, wenn eine bestimmte Gesellschaftsschicht einen hohen Erwartungsdruck ausübt – dafür ein groteskes Beispiel aus versunkener Zeit: «Durch Gottes Gnade war es mir vergönnt, im Schrapnellfeuer für unser geliebtes Vaterland verwundet zu werden», schrieb Prinz Joachim von Preußen im September 1914 an die Großherzogin von Baden. «Das Eiserne Kreuz wird mich stets an diesen schönsten Tag meines Lebens erinnern.»

Die subjektive Wahrheit derart zu verbiegen, mag ein Grenzfall sein. Die objektive Wahrheit bleibt: Ob und inwieweit unsere Mitmenschen mit ihrem Leben zufrieden sind, das werden wir nie erfahren – jedenfalls nicht durch das, was sie darüber sagen. Es mag unterhaltsam sein, was sie erzählen, und vielleicht lässt ein leuchtenden Auges verkündetes Lebensglück durchaus einen Rückschluss zu; nur eben nicht auf das, was da behauptet wird, sondern beispielsweise auf einen gerade aufgeblühten Liebesfrühling.

Sogar wenn wir uns selber die Frage stellen, ob wir mit unserem Leben zufrieden sein können – selbst von unserer eigenen Antwort sollten wir nicht allzu beeindruckt sein. Übermorgen, bei einer Wurzelhautentzündung oder nach einem überraschenden Berufserfolg, könnte sie ganz anders ausfallen, ja sogar nach dem Kinobesuch vorhin; da die Glücksforscher wissen: Ein schönes Leben zu haben und optimistisch in die Zukunft zu blicken behaupten nach einer feurigen Komödie mehr Kinogänger als nach einem blutrünstigen Action-Film.

Vergessen wir also alle pauschalen Würdigungen, unsere eigenen eingeschlossen! Wenn sie sich gar zu einer Statistik verdichten, so sind wir bei einem bloßen Gesellschaftsspiel angelangt. Da nennen sich Städter im Durchschnitt glücklicher als Bauern – aber könnte das nicht einfach aus der altbekannten Neigung des Bauernstandes folgen, Klagelieder anzustimmen? «Die deutsche Landwirtschaft», schrieb Kurt Tucholsky 1931, «wohnt seit 25 Jahren am Rande des Abgrunds und fühlt sich dort ziemlich wohl.»

Schön und gut – nur: Was soll es dann sein, das Glück, wenn es all das nicht ist, was die Leute uns erzählen, ja nicht einmal das, was wir, in den Zufall guter oder schlechter Laune eingebettet, uns selber auf die Fahne schreiben? Die folgenden Kapitel werden versuchen, dieser Frage auf den Grund zu gehen.

4

Mit der Tugend ins Jammertal

Zunächst vergessen wir am besten so ziemlich alles, was Philosophen, Ideologen, Kirchenväter über das Glück geschrieben haben: Sie beraten uns nicht – belehren wollen sie uns, und ihre Lehren sind überwiegend anmaßend, weltfremd und lächerlich. Zwischen Tugend, Pflicht und Solidarität, zwischen Gottesgelahrtheit, Selbstversenkung und Seelenfrieden lassen sie keinen Raum für simples Vergnügen, für fröhliche Schurken und einen schönen Rausch. Die meisten Prediger des Glücks haben sich darauf geeinigt, nahezu alles, was trist, aber edel ist, mit dem Schild «glückselig» zu versehen, dagegen fast alles, was Spaß macht, zu ignorieren oder zu verdammen.

So zum Beispiel: Auf Glück hätten wir keinen Anspruch, und wenn doch, dann keine Chance, glücklich zu sein. Die Weltgeschichte, heißt das vielzitierte Hegel-Wort, «ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.» Nietzsche, Jacob Burckhardt, Oswald Spengler folgten Hegel darin. Krank könne man werden «von unseren ekelerregenden Versuchen, glücklich zu sein», schrieb der französische Schriftsteller und Armenarzt Louis-Ferdinand Céline in seiner berühmten «Reise ans Ende der Nacht». «Das Glück existiert nicht, und das Glück des Menschen existiert noch weniger», sprach der französische Modephilosoph Michel Foucault.

Doch für wen es auch sei: Das Glück ist nur ein Traum – allein der Schmerz ist eine Realität! So sahen es Platon, Aristoteles und die Zyniker, Rousseau, Voltaire, Tolstoi und am strengsten Schopenhauer: Nie könne der Mensch mehr erreichen, als dass er «von irgendeinem Leiden oder einem Wunsche befreit ist, folglich nur sich so befindet wie vor dessen Eintritt»; das Leben sei nicht nach genossenen Freuden abzumessen, sondern nach den Übeln, denen wir entgangen sind. Ach ja: Die Erde ist ein Tal des Jammers und der Tränen! (Psalm 87,4).

Auch lässt sich, bei leidlichem Talent, alles Glück kaputtphilosophieren. Die französische Feministin Simone de Beauvoir bedauerte «die Frauen, die das Unglück haben, Sexualität mit Männern so beglückend zu finden, dass sie mehr oder weniger abhängig von Männern werden»; der neomarxistische Philosoph Herbert Marcuse (ein Säulenheiliger der 68er) fühlte sich stark genug, «auch das faktische, wirklich empfundene Glück in den bisherigen Daseinsverhältnissen als unwahr zu bezeichnen», das Individuum könne «nicht Richter» über sein Glück sein; und Schopenhauer proklamiert: «Die Genüsse sind und bleiben negativ: Dass sie beglücken, ist ein Wahn.»

Wenn ein bis dahin unbescholtener Genießer größerer und kleinerer Freuden die Flucht vor solchem Geschrei ergreift, schallt ihm alsbald anderer Lärm entgegen – der Posaunenchor jener Theologen und Ideologen, die mit dem Unglück dasselbe machen, was Schopenhauer mit dem Glück versuchte: Sie philosophieren es hinweg. Es gibt gar kein Unglück, dagegen unfehlbare Wege zur wahren Seligkeit. Für den Frommen liegt sie im rechten Glauben: «Wer Gott hat, ist glückselig!», rief der Kirchenvater Augustinus. Der französische Philosoph und Theologe Teilhard de Chardin ging so weit, «ein unbestreitbares und objektives Kriterium» für Glück anzubieten: das Glück, mit der Menschheit zu wachsen; sie stehe im Begriff, ein Leib zu werden, «zur gleichen Zeit dasselbe wie mit einem einzigen Herzen zu begehren». So laute «die vollständige Lösung für das Problem des Glücks: … ein im Verlauf seiner Evolution mit Liebe aufgeladenes Universum innig zu lieben». (Wer’s schafft!)

Man sieht: das Glück lässt sich erknobeln, es ist ein Denktrick, ein Vorgang der Namensverleihung. Was schert mich euer Wohlbehagen – was Glück ist, entscheide ich, und zwar zum Wohle aller Menschen, selbstverständlich ohne sie gefragt zu haben. Wie Aldous Huxley es in seiner Utopie von der «Schönen neuen Welt» beschrieben hat: «‹Jeder ist heutzutage glücklich.› Diese Worte waren ihnen zwölf Jahre lang allnächtlich hundertfünfzigmal wiederholt worden.»

Die häufigste Art, sich die Deutungshoheit über alle Glücksgefühle anzumaßen, war die kühne Gleichsetzung von Glück und Tugend; Aristoteles fing damit an. «Dass jedem Menschen an Glückseligkeit so viel zukommt, wie er an Tugend und Verstand besitzt …, darüber sollte Einigkeit herrschen», schrieb er. Darin könnte noch eine Konzession an die Wahrheit liegen, indem der Böse eben glücklicher wäre, als ihm zukäme. Doch sogleich wird die bloße Forderung mit einer vorgeblichen Beschreibung vermischt: «Wohl ergehen kann es unmöglich denen, die nicht das moralisch Gute tun» und «Es gibt keine Glückseligkeit außerhalb der Tugend».

Laut schallt diese falsche Stimme seither durch die Weltgeschichte. Bei Kleist: «Ich nenne nämlich Glück nur die vollen und überschwenglichen Genüsse, die in dem erfreulichen Anschauen der moralischen Schönheit unseres eigenen Wesens liegen» (er nennt!). Dann darf also ein Hochstapler auf seiner Yacht in Saint-Tropez nicht glücklich sein – glücklich fühlen aber muss sich ein Missionar, während ihn die Kannibalen fressen?, fragt der Harvard-Psychologe Daniel Gilbert.

Schon 1710 hat Gottfried Wilhelm Leibniz Zweifel angemeldet. «Gott aber bewirkt, dass es, um glücklich zu sein, genügt, tugendhaft zu werden», schrieb der große Philosoph – doch fügte er hinzu: «… obzwar man es in diesem Leben nicht genügend oft anzutreffen vermag». Eine überaus einsichtige Formulierung, obzwar nicht von jener Präzision, die man von einem Berufsdenker erwarten möchte. Es war Kant, der die scheinheilige Ehe zwischen Glück und Tugend wieder schied – wobei er allerdings zu der harschen Folgerung gelangte, dass es gut sei, wenn sich die erhabene Pflicht nicht mit dem Glück vermähle. Die Moral sei nicht die Lehre, wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir der Glückseligkeit würdig werden sollen. In Gottes Hand also liege es, ob zu unserer Sittlichkeit und Pflichterfüllung «seine herrliche Anstalt dazukommt, eine solche schöne Ordnung mit angemessener Glückseligkeit zu krönen».

Ja, so ließ das offenkundige Auseinanderklaffen von Glück und Tugend sich korrekt beschreiben und zugleich durch Hoffnung überbrücken. Doch Kant war noch rigoroser: Zwar könne man dem Menschen nicht zumuten, seinem natürlichen Zweck, der Glückseligkeit, zu entsagen; doch nicht zur Bedingung der Pflichterfüllung dürfe er sie machen, umgekehrt: Er habe sich vorzustellen, dass die Tugend «mit Aufopferung verbunden» sei. Die falsche Einheit von Glück und Tugend war damit auf eindrucksvolle, freilich auch überaus traurige Weise zerschmettert, die Weiche für ein ebenso edles wie unfrohes Leben gestellt – ein «Verrat der Freude», schrieb 1921 der Philosoph Max Scheler.

Die Freuden gerade zu suchen und sie auszuleuchten, hat dieses Buch sich vorgenommen – unbefangen wie Friedrich Nietzsche, der empfahl, reden solle man auch «von den Bösen, die glücklich sind – eine Spezies, welche von den Moralisten verschwiegen wird».

5

Der Platzregen und die Liebe

Höchste Zeit nun, dass wir die deutsche Sprache zur Ordnung rufen: Törichterweise bietet sie uns ja dasselbe Wort an für das Glück, zu lieben und geliebt zu werden, und das Glück, in letzter Sekunde vor dem Platzregen das rettende Dach erreicht zu haben. Engländer und Franzosen sind besser dran: Das bloße Glückhaben (das Dach, den Lotteriegewinn) nennen sie luck und fortune, das Glücklichsein aber (die Lust, die Liebe) happiness und bonheur.

Nichts ist wichtiger als diese Unterscheidung, wenn wir der Frage nachgehen wollen, was uns glücklich macht, ob und wie wir unser Glück oder das Glück auf Erden mehren können. Wohl hängt ein großer Teil unserer Glücksempfindungen eng mit Glückszufällen und Glücksgütern zusammen, aber eben nur ein Teil. Glücksgefühle kann ein Frühlingsmorgen dem Bettler spenden, während umgekehrt solche Umstände, die zumeist als glücklich gelten, nicht zwangsläufig ein Glücksgefühl nach sich ziehen: nicht der Lotteriegewinn bei einem, der von Eifersucht zerrissen ist; nicht eine Silbermedaille bei dem Sportler, der die goldene wollte.

Doch unsere Ahnen haben sie uns schwer gemacht, die Unterscheidung zwischen dem Glückszufall und dem Wohlbehagen. Die griechische Göttin Tyche war, wie ihre römische Schwester Fortuna, die Göttin des zugeteilten Glücks, des Ruhms, des Reichtums und der Fruchtbarkeit; aber sie gewährte auch das Glücksempfinden, das aus solchen Glücksgütern folgen konnte; und dazu den Zufall, selbst wenn er ein unglücklicher war. Noch der italienische Dichter Francesco Petrarca (1304  1374) versprach Abhilfe «gegen beide Arten der Fortuna» (De remediis utriusque fortunae). Wir lesen es verwundert und gebrauchen das Wort doch ähnlich, wenn wir von Glücksspielen reden, die in Wahrheit Zufallsspiele sind und dem Unglück die gleiche, wenn nicht eine höhere Chance geben. Die Göttin Fortuna, schrieb der englische Schriftsteller Henry Fielding, «ist eines der hässlichsten Weibsbilder, das ich jemals gesehen habe».

Einigen Menschen scheint das Glück des Gelingens treu zu bleiben: Wir nennen sie Glückspilze, Sonntagskinder, Lieblinge der Götter. Viele Staatsmänner und Heerführer, Manager und Multimillionäre stehen in diesem Ruf; manche von ihnen mögen sogar mitweben an einer solchen Legende, weil dies die Leute beeindruckt und damit weitere Erfolge wahrscheinlicher macht. Vielleicht auch umgekehrt: Die subjektive Überzeugung, man sei ein Schoßkind des Schicksals, könnte im Gerangel um den Erfolg eine nützliche Rüstung sein. «Du fährst Cäsar und sein Glück!», rief der große Römer dem Steuermann im Sturme zu.

Ganz unverdient jedenfalls scheinen die Schoßkinder der Fortuna nicht zu ihrem Glück zu kommen; mindestens Behutsamkeit im Umgang mit den Göttergaben ist ihr Teil an dem Geschäft. Denn die Götter würde es ärgern, wenn einer ihre widerrufliche Gunst als ein dauerndes Anrecht missverstünde. Mit seinem Glück brüstet man sich nicht. Man versucht es nicht wie in Ludwig Uhlands Ballade der Lord von Edenhall, der den glückspendenden Kelch seiner Ahnen mutwillig so stark an andere Gläser stößt, bis mit dem Kristall zusammen das ganze Schloss zerbirst. An eben solche Zusammenhänge glauben wir, sooft wir uns des Sprichworts «Hochmut kommt vor dem Fall» bedienen.

Doch statt das Schicksal herauszufordern, kann man versuchen, ihm seine Geheimnisse abzulauschen und sein Glück zu machen; und hier geht (ähnlich wie bei der Überzeugung, man sei ein Sonntagskind) der Glaube an die Laune der höheren Mächte in eine psychologische Wahrheit über. Glück könnte eine Art «Talent für das Schicksal» sein, wie es Novalis in Anlehnung an antike Vorbilder formulierte; das will der Satz Jeder ist seines Glückes Schmied besagen, den der römische Konsul Appius Claudius um 300 v. Chr. schrieb. Wenn man Gottes Schritt durch die Weltgeschichte hört, heißt es zuspringen und einen Zipfel seines Mantels fassen – Bismarcks berühmtes Wort macht anschaulich, dass große Männer darum groß sein könnten, weil sie ein Gespür für den Lauf der Welt besitzen; sie wissen den Moment des Handelns im Voraus, «während wir die Sachen erst hernach aus den Zeitungen lernen» (Jacob Burckhardt).

Glück als blinder Zufall, oder als eine Art ständiger Bevorzugung, oder gar als ein Verdienst, weil man dem Schicksal in die Hand zu arbeiten versteht: Diese drei Bedeutungen des Wortes sind allesamt historisch bedingt und weiterhin gebräuchlich. Dieses Buch aber lässt die Gaben der Fortuna, die Glückszufälle, luck und bonne chance nunmehr hinter sich und wendet sich dem viel größeren, bunter schillernden Reich des Glücksempfindens zu: dem, was die Glücksgüter in uns bewirken, was sich aber ebenso häufig abseits aller Glückszufälle in uns abspielt – so, wenn Hans im Glück (im Grimm’schen Märchen) Gott mit Tränen dankt: «So glücklich wie ich gibt es keinen Menschen unter der Sonne», nachdem er sein Gold gegen ein Pferd, dieses gegen eine Kuh, ein Schwein, eine Gans, einen Wetzstein eingetauscht hat, der in den Brunnen fällt, sodass er ihn nicht mehr zu schleppen braucht.

Das Wort Glück wird von hier an also all das ausschließen, was der Zufall uns zuteilt – es sei denn, die Glückszuteilung (luck) schlüge sich nieder in einer Glücksempfindung (happiness).

Freilich: Mit solcher Rangordnung wird eine moralische Entscheidung gefällt. Dürfen wir denn die schreckliche Menge von unluckyness auf Erden ignorieren, uns abkoppeln von so viel Leid und Not? Wenn wir handeln, sicher nicht. Aber wer sich, nach Nietzsches Worten, alles Elend der Welt «ins Gewissen schieben» wollte, der würde sich übernehmen. Es ist nicht vorstellbar und schon gar nicht zumutbar, dass ein Durstiger, der ein Bier herunterstürzt, sich den Genuss durch eine gleichzeitige Ausschweifung der Phantasie zu den Dürstenden im Sahel trüben ließe.

Politisch ist die Entscheidung, den Glückszufall nur noch am Rande zu behandeln, ebenfalls brisant: Jedem Sozialisten ist sie verdächtig. Denn luck: das ist eben nicht nur die Zuteilung von Glückszufällen, sondern auch die von Glücksgütern, und die wiederum werden uns nicht nur von den Göttern zugewiesen, sondern auch vom Staat. Wer immer die Glücksgüter dem Glücksempfinden unterordnet, der verewigt in marxistischer Sicht die Ungerechtigkeit in der Verteilung der irdischen Güter und besorgt die Geschäfte der Reichen. (Über Karl Marx Kapitel 33.)

Man sieht: Wer «das Glück» sucht, hat das Pech, von Menschen umringt zu sein, die nicht mögen, dass man es findet. Finden werden wir’s trotzdem.