David Bergmann

Der, die, was?

Ein Amerikaner im Sprachlabyrinth

Inhaltsverzeichnis

Widmung

1 Lieber auf den zweiten Blick

2 Deutschland, deine Umlauts

3 Die Vergangenheitsbewältigung

4 Der, die, was?!

5 Sprich dich aus!

6 Die schönen Wörter, die keine sind

7 We would like some Fahrvergnügen, please.

8 Hellseherisch die Zukunftsform bilden

9 Ihrzenslust

10 Unredliche Redewendungen

11 Dudendeutsch – Budendeutsch

12 Im Deutschen wird öfter reflektiert

13 Vorsilben, die Vorliebe verdienen

14 Ein Auto, zwei Äuto?

15 In der Kürze liegt die Würze

16 Gnädige Sprache befehlen?

17 Deutsche Sprache, schöne Sprache

18 Das Rechtschreiben mit links geschafft

19 Von Ami bis Zoni

20 Durch Abkürzungen auf Abwege gekommen

21 How do you «du»?

22 Mit dem R ins Rollen kommen

23 Die deutsche Sprache wird kidnappiert

24 Das CH maCHt miCH schwaCH

25 Von «So la la» bis hin zu «Ooh la la»

26 Auf Wiedergucken

Dank

 

To my parents, Margaret and Otmar: Though you may not understand this book written in German, more than anyone else, you have made it possible.

1 Lieber auf den zweiten Blick

Eine Woche lang kam ich mir «hasenclever» vor. Ich hatte ein neues deutsches Wort gelernt. Fast ein Jahr nach meinem Umzug von Chicago nach Deutschland sah ich eines Tages eine Straße in Hamburg, die Hasencleverstraße hieß. Das Wort «bienenfleißig» war schon vorher eines von meinen Lieblingswörtern, aber «hasenclever» fand ich noch schöner – fast so hübsch wie eine «dufte Biene». In den Tagen danach benutzte ich voller Begeisterung so oft wie möglich mein neues Wort. Alles, was ich mehr als nur clever fand, bezeichnete ich nunmehr als hasenclever. Die Reaktionen meiner einheimischen Mitmenschen darauf waren sehr unterschiedlich: Einige schienen gar nichts Ungewöhnliches zu bemerken, andere haben lediglich leicht irritiert gelächelt und genickt. Nur eine einzige Frau gestand mir etwas skeptisch: «Ich wusste nicht, dass Hasen besonders clever sind.» Aber ich ließ mich davon nicht irritieren; ich hatte das Gefühl, zu den intellektuellen Tieren zu gehören.

Zu der Zeit wohnte ich in einer WG zusammen mit einem Schweizer namens Bodo, der an der Universität Hamburg promovierte. Seine Doktorarbeit drehte sich um eine mittelalterliche Handschrift in lateinischer Sprache. Er schien – im Gegensatz zu mir – mit seinem Latein nie am Ende zu sein. Zum Glück interessierte er sich auch für lebende Sprachen, und hier insbesondere für die deutsche, die ich so eifrig zu erlernen versuchte. In unserem Freundeskreis nannte man ihn zu Recht «den Sprachpfleger». Am nächsten Wochenende tat Bodo irgendetwas, was mich schwer beeindruckte. Daraufhin sagte ich: «Du, Bodo, das war clever! Das war sogar HASEN-clever!» Bodo schaute mich eine Zeitlang schweigend an; dann sagte er: «David, man kann entweder klug, geschickt, raffiniert, gerissen, schlau, gewieft, listig, gewitzt, durchtrieben, pfiffig oder sogar clever sein – aber Hasenclever war ein Schriftsteller.»

Plötzlich hatte ich gar nicht mehr den Eindruck, besonders clever zu sein. Ich war dermaßen enttäuscht, dass ich sogar zu fragen vergaß, ob Herr Hasenclever eher ein hohes Tier oder nur irgendein alter Hase war. Ich fand es schade, dass mein neuentdecktes Wort nicht die Bedeutung hatte, die mich nun schon eine Woche lang so entzückt hatte. Aber wenn man eine Fremdsprache lernt, gibt es eben leider enttäuschende Erlebnisse in Hülle und Fülle. Glücklicherweise passieren einem aber auch jede Menge witzige Sachen – von denen viele jedoch für den Täter erst im Nachhinein witzig sind. Oft erst viel später – und weit vom Tatort entfernt. Zum Glück führe ich seit Jahren ein Tagebuch, sodass auch ich dann mal über so etwas lachen kann.

 

Gut dreieinhalb Jahre zuvor, am 12. Februar 1994, fing ich aus Spaß an, Deutsch zu lernen. Auch heute, nach vielen Jahren, ist mir die Freude daran noch längst nicht verdorben. Während dieser Zeit bin ich zigtausend Mal von Deutschen gefragt worden, wie das bloß sein kann. Meine absolut ernstgemeinte Antwort: weil Deutsch so eine schöne, effiziente, wichtige und vor allem witzige Sprache ist! Wenn ich für jeden darauf erhaltenen skeptischen Blick einen Stein bekommen hätte, wäre ich heute steinreich.

Meiner Meinung nach wissen leider viel zu wenige Deutsche, wie humorvoll ihre Muttersprache eigentlich ist. Ich bin fest der Überzeugung, dass dies ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass Deutschmuttersprachler ihrer Sprache zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Für viele Leute zum Beispiel war das unerwartet schlechte Wahlergebnis von Angela Merkel und der CDU bei der Bundestagswahl im Herbst 2005 eine große Überraschung – nicht jedoch für mich. Obwohl die Ursache an fast jeder Straßenecke zu sehen war, haben es offenbar kaum Deutsche bewusst wahrgenommen. Auf jenen allgegenwärtigen Plakaten sah man ein Bild von einer lächelnden Frau Merkel neben dem CDU-Wahlversprechen: Mehr Arbeit! Dies war eindeutig ein Verstoß gegen ein Prinzip eines der intelligentesten Deutschen aller Zeiten, Albert Einstein: «Alles sollte so einfach wie möglich sein, aber nicht einfacher.» Es hätte natürlich heißen müssen: Mehr Arbeitsplätze! Meine Vermutung ist, dass viele Wähler dies im Unterbewusstsein registriert haben und daher mit einem unerklärlich unbehaglichen Gefühl gegen die CDU gestimmt haben.

Wenn man genauer hinschauen würde, dann sähe man im Deutschen immer wieder ähnliche Formulierungen. Zum Glück haben jedoch nicht alle gravierende Folgen; einige davon sind einfach unabsichtlich lustig, wie zum Beispiel:

  • Der Mann ist ganz schön hässlich.

  • Sie besucht einen Crashkurs gegen Flugangst.

  • Der Bundestag tagte bis in die Nacht.

  • Cäsar kommt immer vor Dora und Emil.

  • Dass er das ganze Geld einsackt, kommt bei mir nicht in die Tüte.

 

Jeder Deutsche kennt den Spruch: «Deutsche Sprache, schwere Sprache.» Aber kaum einer weiß, dass man ebenso angemessen behaupten kann: «Deutsche Sprache, spaßige Sprache!» Das kann nicht angehen, finde ich! Es wird Zeit, dass jemand endlich etwas gegen den schlechten Ruf der deutschen Sprache tut! Vielleicht am besten ein sehr neugieriger Amerikaner deutscher Abstammung.

Und zufälligerweise bin ich eben genau so ein sehr neugieriger Amerikaner deutscher Abstammung. Somit kommt hier nun dieses Buch, in dem in 26 erstaunlich schmerzlosen Kapiteln nicht nur beschrieben wird, wie die deutsche Grammatik durch eine «Ausländerbrille» aussieht, sondern auch wie ein Amerikaner, dessen 32 Ur-ur-ur-Großeltern Mitte des 19. Jahrhunderts von Deutschland in die USA auswanderten, «back to the roots» geht – sowohl körperlich als auch sprachlich.

Diese Sammlung meiner Eindrücke und Erlebnisse ist zum Nachdenken und vor allem Nachlachen gedacht. Es wird sich zeigen, dass der Umgang mit der deutschen Sprache nicht nur zum Heulen ist – wie im 19. Jahrhundert mein Landsmann Mark Twain gänzlich zu Unrecht behauptete –, sondern auch zum Heulen witzig.

***

Wie vieles in den USA, so hat auch diese Geschichte ihren eigentlichen Anfang bei einem englischen Auswandererschiff. Als Junge war ich lange Zeit der festen Überzeugung, dass meine Vorfahren im Jahre 1617 auf dem Segelschiff Mayflower nach Amerika gekommen waren. In Bezug auf meine Familiengeschichte gab es allerdings eine ganze Reihe eher unwissenschaftlicher Annahmen, die ich für selbstverständlich gehalten hatte. So bestand zum Beispiel in meinem Kinderkopf kein Zweifel daran, dass meine Vorfahren unter den Puritanern waren, als diese der religiösen Verfolgung in England entflohen, und anschließend unter den Puritanern waren, als diese in Neuengland Andersreligiöse verfolgten. Ferner unterstützten sie bestimmt George Washington und die Engländer, als diese die Franzosen rausschmissen, und anschließend unterstützten sie George Washington und die Franzosen, als diese die Engländer rausschmissen. Zugegebenermaßen recht eigenartige Vorstellungen – aber zu der Zeit hatte ich ja auch keinen Zweifel daran, dass sich Weihnachtsmann, Osterhase und Zahnfee regelmäßig trafen, um die Geschenkvergabe an mich zu koordinieren.

Im Gegensatz zu Deutschland werden an den Schulen der USA noch heute viele Mythen über die Entstehung des eigenen Heimatlandes erzählt. Alle braven amerikanischen Kinder wissen, dass 1492 der tapfere Christoph Kolumbus die «Neue Welt» entdeckte und dass es seitdem in deren Norden ausschließlich und stetig bergauf gehe. Weniger bekannt ist den meistern Schülern allerdings, dass Kolumbus die Einheimischen ziemlich nervte, indem er sie «Inder» nannte, ständig nach ihren Goldreserven fragte, sie taufen wollte und zudem eindringlich versuchte, sie von den Vorteilen eines Sklavendaseins zu überzeugen. In den USA lernt man schon sehr früh, patriotisch zu sein. Intensiv werden alle schönen Seiten der eigenen Geschichte gelehrt – und dass man als Amerikaner immer irgendwie daran teilgenommen habe. So war es wenigstens bei mir während meiner Kindheit. Aber dann war eines Tages in der dritten Klasse meine Lehrerin eine Woche lang mächtig erkältet, und ich wurde meiner Illusionen beraubt.

 

Nicht nur der christliche Glaube, die Rolle des Rechtsstaates und die Folgen der Aufklärung verbinden die Kulturen der verschiedenen abendländischen Länder; ein ebenso elementares Bindeglied ist der Spaß, den Kinder haben, wenn eine Vertretungslehrerin den Unterricht übernimmt. Denn das bedeutet in der Regel für alle Schüler, egal ob in Amerika oder Deutschland, das Gleiche: keine Hausaufgaben – sowie die Gelegenheit für einige schön aufsässige, unbändige und zügellose Schulstunden. In der Schule meines Dorfes auf dem Lande einige Kilometer (etwa 500) südöstlich von Chicago hatten wir einen weiteren Grund, uns darüber zu freuen. Auch wenn wir die Ursache dafür nicht kannten, so merkten wir doch schnell, dass Vertretungslehrerinnen, die nicht aus der Gegend stammten, große Probleme bei der Aussprache unserer Nachnamen hatten. Beim Aufrufen scheiterten sie regelmäßig an Zungenbrechern wie Goettemoeller, Schwietermann, Thobe oder Knapke. Danach waren sie so demoralisiert, dass sie gerade noch genug Energie hatten, um den Filmprojektor zu holen.

In jener besagten Woche im Herbst 1979 kam jedoch eine neue Vertretungslehrerin von weit her. Zu unserer Verwunderung hatte sie mit unseren Namen überhaupt keine Probleme. Nachdem sie alle aufgerufen hatte, sagte sie etwas, das uns noch mehr verblüffte: «Ach, so viele schöne deutsche Nachnamen!» Wir Kinder waren platt. Bis dahin waren wir felsenfest davon überzeugt, dass wir amerikanische Nachnamen hatten. Zugegeben, bislang hatten wir keinen «Schaeflein» oder «Ronnebaum» im Kreis der amerikanischen Präsidenten gefunden, aber dennoch fühlten wir uns zu hundert Prozent amerikanisch. Nach dieser überraschenden Aussage der Vertretungslehrerin hob nun jedes Kind in der Klasse die Hand, um sie zu fragen, welcher Herkunft sein Nachname sei. Ihre Antwort lautete jedes Mal: «Deutschland!» Wir waren so perplex, dass wir nicht einmal zu jammern vermochten, als wir von ihr Unmengen an Hausaufgaben aufbekamen.

Nach diesen schockierenden Erkenntnissen entschloss ich mich, etwas Ahnenforschung zu betreiben. Wenn man acht Jahre alt ist, heißt Forschung fast immer nur eines: Papa fragen. Mein Vater sagte mir, dass die Vertretungslehrerin wohl ursprünglich aus Deutschland kommen müsse. Und dass sie recht habe, denn in unserem Dorf seien fast alle Einwohner deutscher Abstammung. Dann kam die für mich größte Überraschung: Mein Vater erklärte mir, dass das unverständliche Kauderwelsch, in dem sich meine Oma immer mit den anderen Omas der Nachbarschaft unterhielt, eine europäische Sprache namens «Plattdeutsch» sei, und nicht, wie ich bis dahin vermutet hatte, eine geheime Oma-Sprache.

Vielleicht sollte ich hier ein paar Hintergrundinformationen bezüglich meiner falschen Vorstellungen geben: Als ich drei Jahre alt war, starb mein Großvater. Kurz danach kauften meine Eltern von den übrigen Erben die Farm, auf der mein Vater aufgewachsen war. Hierzu gehörte das Farmhaus, welches unter anderem auch meine Oma enthielt. Mit uns sprach Oma nur Englisch, aber sobald eine andere Oma vorbeikam, fand eine phantastische Verwandlung statt: Sie hörte sofort mit dem auf, was sie gerade tat (wie zum Beispiel Arbeit für faulenzende Enkelkinder zu finden), und wechselte die Sprache. In einem Moment verstanden wir alles, im nächsten gar nichts mehr. In meiner Naivität glaubte ich, dass es sich dabei um eine geheime Oma-Sprache handelte, die alle Omas weltweit sprechen, damit kleine Enkelkinder nichts von ihrer Unterhaltung mitbekommen.

Für meine Theorie hatte ich sogar schriftliche Beweisstücke. Es gab zwei Orte im Dorf, an denen sich die Omas oft in großen Scharen versammelten: auf dem Friedhof und in der Kirche. Und an beiden Stellen fand sich eine unverständliche Sprache in einer schleierhaften Schrift mit merkwürdigen Buchstaben. (Erst Jahre später würde ich erfahren, dass die Texte auf den Grabsteinen nicht Oma-Lebensläufe und diejenigen an den Kirchenwänden nicht die Oma-Gebote waren – es waren einfach gewöhnliche kirchliche Angelegenheiten, nur eben in der alten deutschen Frakturschrift.)

Mit acht Jahren kommt man mit seinen Forschungsprojekten oft nicht sonderlich weit, da man noch nicht so forsch forschen kann. Aber anstatt aufzugeben, pausierte ich nur einige Jahrzehnte lang. Später stellte ich fest, dass die meisten Einwohner in meinem Dorf tatsächlich deutsche Vorfahren hatten, die in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts aus der Gegend zwischen Osnabrück und Bremen in die USA gekommen waren.

Seit Jahrhunderten wird Amerika als Schmelztiegel bezeichnet, und daran ist viel Wahres. In den Städten mischten sich die Volksgruppen meistens relativ schnell. Die Gruppen der ersten Generation neigten zwar noch dazu, in den jeweiligen Stadtteilen unter sich zu bleiben, aber bereits in der zweiten Generation kam es nicht selten vor, dass Männlein und Weiblein aus verschiedenen Einwanderungsgruppen zusammenfanden. Wie bei vielen Dingen, so war es bei uns auf dem Lande etwas anders: Der sogenannte Schmelztiegel köchelte hier lange Zeit nur auf Sparflamme. Nur wenige Nichtdeutschsprechende wagten es damals, in ein Dorf zu ziehen, wo jeder jeden kannte, allen Außenseitern erst mal misstraut wurde und jeder Dorfbewohner Plattdeutsch redete (damals nicht nur die Omas, wie Generationen später). Aufgrund dieser Isolation blieb die inoffizielle Amtssprache meiner Heimatgegend einige Generationen lang Plattdeutsch. Erst durch den Einfluss von Radio, Fernsehen und zwei für Deutschland unglücklich gelaufene Weltkriege musste das Platt schließlich dem Englischen Platz machen.

Und nicht einmal die Omas konnten das aufhalten.

2 Deutschland, deine Umlauts

Es war einmal in den USA. Plötzlich erschien ein neues, mysteriöses Speiseeis der hochpreisigen Kategorie. Niemand wusste genau, wo dieses Eis herkam. Allerlei wurde gemunkelt. Vielleicht Dänemark? Vielleicht Holland? Vielleicht Island? (Letzteres wäre wohl am passendsten, da Island im Englischen Iceland heißt – somit ein heißer Kandidat als Heimatland der Ice cream).

Die Ursache für diese Munkeleien war die Eismarke Häagen Dazs. Erst später kam die Wahrheit über die Herkunft des Speiseeises langsam an die Öffentlichkeit: Zur Enttäuschung vieler amerikanischer Eis-Connoisseure wurde bekannt, dass der Hersteller ein stinknormaler Amerikaner aus New York war. Der Name war keiner europäischen Sprache entliehen, sondern einfach ein Kunstbegriff. Er sollte für die amerikanischen Konsumenten europäisch aussehen und klingen und mit europäischer Tradition und Handwerkskunst assoziiert werden. Aber zu diesem Zeitpunkt war es schon zu spät. Der Hauch des Exotischen war der Eismarke nicht mehr zu entreißen.

Unfassbar ist für Englischmuttersprachler jedoch die Tatsache, dass die Umlaute in den Sprachen, wo sie vorkommen, offenbar nicht angemessen geschätzt werden. Zum Beispiel wollte eine schwedische Freundin von mir in Hamburg mit Nachnamen Källner ihren Umlaut weglassen, da sie meinte, dass er mit Umlaut nicht international wirke.

Die Cöölness der Umlauts haben amerikanische und englische Hardrockbands jedoch schon längst erkannt. Umlaute geben dem Bandnamen ein fremdartiges Erscheinungsbild. Man spricht sogar hier von einer «mythischen germanischen Härte». Der willkürliche Umlaut in der Rockmusik wurde 1970 durch Blue Öyster Cult eingeführt. Motörhead und Mötley Crüe folgten. Der Umlaut in Motörhead war eine Schöpfung des Grafikers, der das Cover für ihr erstes Album anfertigte. «Wir taten es, weil es einfach böse aussieht», meinte der Sänger. Angeblich stammen die Umlaute bei Mötley Crüe von ihrem Lieblingsgetränk Löwenbräu.

Mit all diesen Beispielen kann man beinahe nicht anders, als den Englischmuttersprachlern einen gewissen Umlautneid vorzuwerfen. Schließlich hat die englische Sprache diese niedlichen Buchstaben Ä, Ö und Ü nicht. Wir hatten im Englischen zunächst nicht einmal einen Namen dafür, sodass wir uns des deutschen Namens «Umlaut» bedienen mussten. Ansonsten würden sie wohl wie etwas in der Art von «die zwei niedlichen alphabetischen Pünktchen» oder «Vogelfüßchen» heißen. Im Englischen hat das Wort Umlaut allerdings eine andere Mehrzahl bekommen: Umlauts.

Deutsch ist bekanntlich nicht die einzige Sprache der Welt, in der die Powerpunkte heutzutage vorkommen. Die Umlaute findet man auch in Sprachen wie Norwegisch, Finnisch, Schwedisch und Türkisch. Aber Deutsch ist die Mutter der Umlaute. Im Mittelalter fing man in den deutschen Ländern aus Vereinfachungsgründen an, das E beispielsweise in der Buchstabenkombination UE über das U zu schreiben. Im Laufe der Zeit wurde das E immer kleiner, bis es letztendlich zu zwei Punkten wurde. Diese Entwicklung blieb in anderen nord- und mitteleuropäischen Ländern natürlich nicht unbemerkt und wurde in mehreren Sprachen übernommen. Zu der Zeit benutzte man im expandierenden Osmanischen Reich noch die arabische Schrift. Ich vermute, dass der wahre Grund, weswegen die Türken im 17. Jahrhundert so fanatisch bis an die Tore von Wien kämpften, war, dass sie auf der Suche nach den Geheimnissen der Umlaute waren. Da sie aber von den Österreichern zurückgeworfen wurden, blieb die türkische Schriftsprache noch einige weitere Jahrhunderte umlautlos. Erst kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde bei den Türken die lateinische Schrift samt Umlauten eingeführt. (Ich vermute, dass die Türken, als Gegenleistung für ihre Unterstützung im Krieg, in Verhandlungen mit den deutschen und österreichischen Kaiserreichen Umlautgeheimnisse forderten – und bekamen.)

Für Englischmuttersprachler gibt es bei den Umlauten allerdings zwei große, grundsätzliche Fragen: Erstens, wie spricht man sie aus? Und zweitens, wann treten sie auf? Diese Fragen müssen beantwortet werden, denn schließlich können die Pünktchen zu großen Bedeutungsunterschieden führen, wie die folgenden Sätze zeigen:

  • Ich zähle, während du zahlst.

  • In der Wohnung gab es viel Stückarbeit, aber keine Stuckarbeit.

  • Manche Leute werden geachtet, andere geächtet.

  • Der Bischof redete von schwülen Tagen, der Bürgermeister hingegen von Schwulen.

 

Durch die Andersartigkeit der Umlaute werden Englischmuttersprachler beim Deutschlernen nicht gefördert, sondern eher gefordert. In dieser Hinsicht sind die Umlaute für Englischmuttersprachler sozusagen die Stinktiere der Sprachenwelt: aus der Ferne niedlich anzuschauen, aber aus der Nähe möglicherweise etwas problematisch.

Wenn Englischmuttersprachler mit dem Deutschlernen anfangen, wissen die meisten gar nicht, wie ein Umlaut eigentlich klingen sollte. Deswegen fließen bei den Rockmusikbands die Umlauts gar nicht mit in die Aussprache des Namens ein. In einem meiner Deutschgrammatikbücher hieß es: «Die Aussprache der Umlauts kann nicht genau schriftlich beschrieben werden; diese müssen einfach im Sprachlabor gelernt werden.» Es wurde außerdem lediglich erklärt, dass es Folgendes gebe: ein langes Ä wie in «Hähne», ein kurzes Ä wie in «Hände», ein langes Ö wie in «Öfen», ein kurzes Ö wie in «Öffnen», ein langes Ü wie in «Grün» und ein kurzes Ü wie in «Gründe». Die Zungenbrechersätze, die wir zur Übung stetig wiederholen sollten, waren sehr unterhaltsam, zum Beispiel: «Tut die gute Pute in die Blütentüte!» oder «Eine Kuh macht Muh, viele Kühe machen Mühe». Anfangs war ich allerdings unsicher, ob meine Sprachfähigkeiten blühten oder bluteten. Bei den langen Umlauten habe ich es zumindest irgendwann einigermaßen hingekriegt, nicht so bei den kurzen Umlauten. Sosehr ich mich auch anstrengte, schaffte ich es einfach nicht, den Unterschied zwischen «drücken» und «drucken» auszudrücken. Meistens versuchte ich mich einfach um das Problem herumzudrücken, was schon ganz schön schwer sein kann.

Das zweite Hauptproblem bei den Umlauts ist zu wissen, wann man sie im Deutschen einsetzen sollte. Eine Frage, die ich mir oft gestellt habe, war beispielsweise: Heißt es «Glückwunsch», «Gluckwünsch» oder «Glückwünsch»? Lange vergab ich deswegen einfach «Glückwünsche». Ich war auch unsicher, ob ich meine «Wäsche wasche» oder meine «Wasche wäsche». Der folgende Satz verdeutlicht, wie willkürlich das Auftreten der Umlaute im Deutschen manchmal wirken kann: «Der Franzose hat keinen Umlaut, spricht dafür Französisch fröhlich mit seiner Frau – einer Französin froher Natur, natürlich – aber wenn er dies mit dem Telefon macht, wird trotzdem nicht teleföniert!»

Trotz alledem kann ich den Umlauten selten lange böse sein, weil sie einfach zu niedlich aussehen. Am sympathischsten sind das kleine «ü», das wie ein Smiley aussieht, und das kleine «ö», das einem singenden Smiley ähnelt! Ein englischer Komiker erklärte die Beliebtheit der Umlaute unter den Englischmuttersprachlern wie folgt: «Es ist, als hätten sie zwei Augen. Man schaut sich den Umlaut an, und der Umlaut schaut zurück!» Ich glaube, dass wegen der Umlaute eine enge Freundschaft zwischen dem Leser und dem Gelesenen entsteht.

***

Als ich im Januar 1994 in die Großstadt Chicago zog, um nach dem Studium in die Arbeitswelt einzusteigen, dachte ich zwar hin und wieder an die Umlauts, aber nicht mehr als die meisten Amerikaner. In den ersten Wochen dort war ich vielmehr mit der Tatsache beschäftigt, dass ich nur wenige Freunde und noch weniger Möbelstücke hatte. Letztere zu finden war eindeutig die leichtere Aufgabe: An einem kalten Februarabend 1994 hatte ich in meiner Wäscherei auf einem Flugblatt gelesen, dass am darauffolgenden Wochenende eine Wohnungsauflösung in der Nähe stattfinden würde.

Als Allererster klopfte ich pünktlich zu Beginn der Auflösung an die Wohnungstür. Eine hübsche junge Amerikanerin machte die Tür auf und begrüßte mich mit den Worten: «Hallo, ich heiße Kerry.» Sie fragte mich, wonach ich suche, worauf ich ihr antwortete, dass ich so gut wie nichts habe, da ich neu in der Stadt sei. Und dann sagte sie etwas, was mein Leben veränderte: «Ach, dann bist du aber bestimmt einsam. Komm doch heute Abend einfach mit auf die Piste mit mir und meinen Freundinnen!» Im Nachhinein muss ich gestehen, dass dies eine sehr effektive Marketingtaktik war, denn danach kaufte ich alles, was sie mir vor die Nase stellte. In nur wenigen Minuten sah ich aus wie ein Packesel. Nur bei einem Textbuch für die deutsche Sprache zögerte ich ein wenig. Kerry lächelte weiter, aber ausnahmsweise reichte dies allein nicht aus, um mich von der Kaufwürdigkeit dieses Artikels zu überzeugen. Ich sagte ihr, dass ich mit 22 Jahren bestimmt schon zu alt sei, um eine Fremdsprache zu erlernen. Ihr Lächeln wurde immer breiter, als sie darauf entgegnete: «David, die Deutschen haben ein passendes Wort für fast alles. Eins davon passt perfekt zu deiner Aussage, und zwar das Wort Quatsch.» Als eine Art Mengenrabatt schenkte sie mir dann das Buch, und ich schleppte mich mitsamt allen Sachen nach Hause.

Wie vereinbart ging ich am Abend mit Kerry und ihren Freundinnen auf die Piste. Da fragte ich eine der Freundinnen über Kerry aus. Sie erklärte mir, dass Kerry ein Jahr in Deutschland gelebt hätte, wo sie einen Mann kennenlernte, den sie nächstes Jahr in Deutschland heiraten würde. Zuerst war ich enttäuscht, dass diese reizende Frau schon in festen deutschen Händen war, aber das währte nicht allzu lange, denn schließlich hatte mir Kerry an diesem Abend noch ein verlockendes Angebot gemacht: «David, wenn du das Textbuch zügig durcharbeitest, dann kannst du nächstes Jahr auf meiner Hochzeit in Leipzig tanzen!» Auch wenn ich zu der Zeit noch ein leidenschaftlicher Nichttänzer war, weckte dieses Angebot doch meinen Ehrgeiz. Ich entschloss mich also, meiner unfreiwilligen Errungenschaft eine Chance zu geben, und schon am nächsten Morgen schlug ich zuerst die Augen und dann das Buch auf. Nachdem ich die ersten Seiten durchgearbeitet hatte, wurde mir klar, dass ich diesen Stoff tatsächlich lernen konnte. Das war für mich zuvor keine Selbstverständlichkeit gewesen.

In der Highschool hatte ich Mitte der achtziger Jahre zwar schon zwei Jahre Deutschunterricht genossen, aber irgendwie haben wir Schüler es nicht so wirklich weit damit gebracht. Es kam uns damals so schwierig und unwichtig vor, auch wenn es Umlauts in Hülle und Fülle gab. Und zu allem Überfluss waren unsere Deutschbücher auch noch absolut lächerlich, nämlich aus den siebziger Jahren, und die Themen hatten eindeutig die 68er-Generation als Zielgruppe. Nach zwei Jahren mit diesem Machwerk waren wir alle überzeugt davon, dass die gesamte deutsche Jugend ausgesprochen lange Haare hatte und nur an Partys dachte. In vier Semestern schaffte ich es also lediglich, einen aktiven Wortschatz von circa hundert Wörtern aufzubauen. Peinlicher noch, er bestand überwiegend aus Partyfloskeln wie: «Ich heiße David. Bist du auch neu hier?» Oder: «Ja, ich mag Bier auch sehr.»

Beim Durcharbeiten der ersten Kapitel in Chicago wurde mir nun jedoch klar, dass ich an der Universität gelernt hatte, wie man effektiv lernt. Die Aufgaben in Kerrys Textbuch machten mir zwar noch zu schaffen, aber wenigstens waren sie zu schaffen. Und zudem hatte ich in den Jahren seit meinem ersten Fehlversuch einen ganz anderen Eindruck von der deutschen Sprache bekommen.

 

1987 machte ich den Führerschein und erfuhr in meiner frischerwachten Autoneugier, dass VW, BMW, Audi, Mercedes Benz UND Porsche alle aus EINEM Land kamen – was dieses in meiner Achtung extrem steigen ließ. Vielleicht kam mir damals sogar schon der erste Verdacht, dass es toll wäre, Deutsch zu können.

1988 kam dann der Film Stirb langsam ins Kino. Seitdem Berlin für Hollywood keine harte Konkurrenz mehr darstellt, sind viele der besten Bösewichte in amerikanischen Filmen Deutsche: In Stirb langsam, Jäger des verlorenen Schatzes, Goldfinger und vielen anderen tollen Filmen meiner Jugend verkörperten sie die Fieslinge. Sie waren für uns amerikanische Burschen nicht nur böse und kühl, sie waren auch böse und cool – eine weitere Bestätigung für mich, dass es bombig wäre, Deutsch zu können.

1989 hatten wir in meiner Highschool einen Monat lang vier phantastische Fräuleins aus Bonn zu Besuch. Da wurde mir klar, dass viele der hinreißendsten Frauen der Welt Deutsche sind. Die vier Austauschschülerinnen hinterließen bei mir einen bleibenden Eindruck. Ich fand sie unwiderstehlich kultiviert, elegant und modisch. Diese Bonn-Girls waren für mich sogar besser als die Bond-Girls. Ich wollte sie ansprechen, aber sie verschlugen mir glatt die Sprache. Erst nach einigen Wochen wagte ich es, und da ich sie beeindrucken wollte, versuchte ich, mich auf Deutsch vorzustellen: «Ich heißer David. Wie heiß sind Sie?» Knapp daneben mag auch vorbei sein, aber in diesem Moment lag ich wohl eher voll daneben. Es war sicherlich besser, dass ich ihre Antwort dann nicht verstand – die Gelegenheit für eine zweite Frage bekam ich jedenfalls nie. Bis dahin war für mich die deutsche Sprache eigentlich nur ein abstraktes Fach gewesen, so ähnlich wie Philosophie, Geschichte oder Mathematik. Nun aber hatte ich einen handfesten Grund dafür zu glauben, dass es prima wäre, Deutsch zu können.

1990 wurde das Lied Wind of Change von der deutschen Rockband Scorpions zu einem internationalen Erfolg. Im tollsten Rockmusik-Radiosender meiner Heimatgegend wurden schon seit Jahren viele Lieder von den Scorpions gespielt, aber fortan machte Scorpions-Sänger Klaus Meine sogar Werbespots für den Sender. Auf uns amerikanische Jungs machte er mit seinem rockigen deutschen Akzent jedes Mal, wenn seine Stimme aus dem Radio stürmte («WTUE – der Sender, wo die Scorpions euch wie ein HURRIKAN rocken!»), einen richtig starken Eindruck. Ein weiteres Argument dafür, dass es super wäre, Deutsch zu können.

1991 lief bei uns eine Fernsehreportage über das kleine Land der großen Berge, Ordnung, Käselöcher und Bankgeheimnisse. Darin wurde berichtet, dass die dortige Hauptsprache nicht etwa «Schweizisch» ist, wie viele Amerikaner vermuten, sondern Deutsch. Und noch ein Anhaltspunkt zu meinen, dass es spitze wäre, Deutsch zu können.

1992 fing ich an, als Nebenfach Geschichte zu studieren. Dabei fiel mir auf, wie viele der interessanteren Figuren der Weltgeschichte Deutsche gewesen waren. Darüber hinaus befanden sich in meinen Geschichtskursen einige Studenten, die mir gegenüber sehr im Vorteil waren, da sie vorher Fremdsprachen gebüffelt hatten. Ich kam nun immer mehr zu der Überzeugung, dass es richtig klasse wäre, Deutsch zu können.

1993 las ich die Novelle Flowers for Algernon, welche von einem geistig behinderten Mann namens Charlie handelt, der sich einer revolutionären Operation unterzieht, die ihn zu einem Genie macht. Leider ist die Verwandlung nicht nachhaltig, und am Ende der Geschichte ist er zum Leidwesen aller Beteiligten wieder genauso wenig intelligent wie am Anfang. Auf dem Zenit seiner intellektuellen Leistungsfähigkeit aber kann Charlie deutsche wissenschaftliche Texte lesen! Als er dann schließlich merkt, dass er seine Fähigkeiten schnell verliert, versucht er vergeblich, die deutschen Bücher zu lesen, die er noch kurz zuvor so nützlich fand. Ich wurde mir immer sicherer, dass es irre wäre, Deutsch zu können.

1994 zog ich nach Chicago. Bis dahin hatte ich meinem Vater seine Erzählungen über die deutschen Vorfahren meiner Heimatgegend nicht uneingeschränkt abgenommen. Erst in Chicago, wo ich merkte, dass im Gegensatz zu meiner Heimatgegend große weiße, blonde Menschen mit deutschen Nachnamen eindeutig in der Minderheit waren, wirkten diese Erzählungen mehr als nur theoretisch plausibel. Nun war ich felsenfest der Überzeugung, dass es riesig wäre, Deutsch zu können!

Nach einem Vormittag mit dem Textbuch im Februar 1994 hatte ich eine neue Leidenschaft entwickelt: die deutsche Sprache. Oder wie ich es zu sagen pflege: Deutsch, die Sprache mit Umlauten und so vielem mehr!