Wigald Boning

In Rio steht ein Hofbräuhaus

Reisen auf fast allen Kontinenten

Huhu, liebe Leser!

Als Weltreisender bin ich ein Spätentwickler. Ich stamme aus einem bürgerlichen westdeutschen Reihenhaushalt und verbrachte meine Kindheit im Oldenburg der siebziger Jahre. Im Normalfall unternahmen wir Bonings jährlich zwei Reisen: Die Osterferien wurden zumeist für einen Pensionsaufenthalt im Harz, dem Teutoburger Wald oder in der Lüneburger Heide genutzt, den Sommerurlaub verbrachten wir in der ersten Hälfte der Dekade in Großenbrode an der Ostsee und ab 1975, wohl wohlstandswachstumsbedingt, auf Mallorca. Den ersten Aufenthalt auf der Baleareninsel habe ich als ein aufrüttelndes Großereignis in Erinnerung, voller beflügelnder Sinneseindrücke. Palmen! Melonen! Haie! Zumindest war ich, damals satte acht Jahre alt, fest davon überzeugt, mehrfach mächtige Dreiecksflossen unweit des Badestrandes von C’an Picafort gesichtet zu haben. Damals stand Spanien noch unter der Knute Francos, und so waren die Beamten der Guardia Civil allgegenwärtig. Deren Beine steckten in altertümlichen Reiterhosen, was mir in sonderbarer Weise imponierte.

Ein Höhepunkt des Urlaubs war zweifellos der Genuss einer waschechten Paella. Gelbeingefärbter Reis, der Gipfel der Exotik! Ich kam aus dem Staunen nicht mehr raus.

Ferner kann ich mich an eine Hochzeitsfeier im Hotel erinnern, mit einer wunderschönen Braut und einem Bräutigam, der einen weißen Anzug trug, den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend mit rollbrettbreitem Revers und einem Hosenschlag, der auch einem Brückenpfeiler ausreichend Platz geboten hätte.

Soundtrack dieses Sommers war übrigens «La Paloma Blanca» von der George Baker Selection, und wenn ich heutzutage zufällig über dieses Lied im Autoradio stolpere, ertappe ich mich dabei, wie ich unwillkürlich den Horizont nach Haien absuche.

 

Meine Eltern verliebten sich auf der Stelle in Mallorca, und fortan war die Reisezielfindung der Bonings ein für alle Mal geklärt. Als ich im Alter von 18 Jahren zu Hause auszog, war C’an Picafort zwar ein zweites Zuhause geworden, hatte aber seinen irritierend fremdartigen Reiz weitgehend verloren. Dafür unternahm ich als junger Musiker allerhand Tourneen, die mich quer durch Deutschland, aber auch ins europäische Ausland führten, einmal sogar bis in die Türkei; zu dieser spektakulären Reise später mehr.

1991 begann meine Tätigkeit als Dienstleister in Sachen Fernsehhumor, und ab sofort hielt ich mich berufsbedingt vorwiegend in den Gewerbegebieten der bundesdeutschen Medienmetropolen auf. Unregelmäßig auftretende Fernwehschübe versuchte ich zu bekämpfen, indem ich mir als Trost das Leben Immanuel Kants vor Augen hielt, der die Mauern seiner Heimatstadt Königsberg so gut wie nie verlassen haben soll. Die neuere Kantforschung kann jedoch belegen, dass der große Philosoph im Laufe seines Lebens immerhin nachweislich die Orte Judtschen, Großarnsdorf, Goldap, Wohnsdorf, Braunsberg und Pillau besucht hat und somit keineswegs als Heros der Stubenhockerei taugt. Wie es dazu gekommen ist, dass meine Standorttreue in den letzten Jahren durch ausgiebige Fernreisetätigkeit ersetzt worden ist, kann ich mir nicht erklären. Zufall? Notwendigkeit? Ein Kunstgriff des heiligen Neckermann? Die Weltenbummelei begann jedenfalls mit der Teilnahme an einem Sportwettbewerb im Norden Kanadas im Januar 2007, und seitdem habe ich aus unterschiedlichsten Gründen und mit wachsender Begeisterung auch entlegenste Weltwinkel besucht, bisweilen unter durchaus abenteuerlichen Umständen.

Leider konnte ich nicht auf all diesen Reisen meinen kompletten Freundeskreis mitführen. Schade. Um wenigstens meine Eindrücke mit den Daheimgebliebenen teilen zu können, habe ich mir angewöhnt, das Erlebte per Klapprechner zu notieren und als Elektropost zu verschicken. Diese Briefe in die Heimat sind im hiermit vorliegenden Band zusammengefasst. Wundern Sie sich also nicht, liebe Leser, wenn Sie sich von mir auf den nächsten Seiten bisweilen geduzt wähnen. Betrachten Sie die Duzerei bitte nicht als schnöden Versuch der Kumpelei zwischen Autor und Leser, sondern als angenehmes Privileg. Herzlichen Dank.

Am Yukon trinkt man Menschenschnaps

Wetter: –8 Grad Celsius, klar

Körperlicher Zustand: prima

 

Hallo ihr Lieben,

es ist 23 Uhr. Momentan sitze ich im InterCityHotel Airport im ranzigen Frankfurter Speckgürtel auf Zimmer 3095 bei Thunfisch-Pizza und König Pilsener. Die Pizza hat übrigens 15 Euro und 80 Cent gekostet, das ist fast moskowiter Niveau. Rein interessehalber habe ich mal die Maßband-Skala auf dem Rücken meines Taschenkalenders angelegt und stelle verblüfft fest: Der Durchmesser der Pizza beträgt (fast) exakt 15 Zentimeter und 8 Millimeter. Also pro Zentimeter ein Euro. Dies aber nur nebenbei.

Vollmundig nutze ich die Gelegenheit für Tagesbericht Nummer null von der diesjährigen Fulda Challenge. Ein Profisport-Debüt mit 40, das hat man auch nicht alle Tage; und dann auch noch so weit weg! Im Nordwestzipfel Kanadas, am Yukon River. Letztes Jahr soll es bis zu minus 60 Grad kalt gewesen sein – jedenfalls hat mir dies der Vorjahressieger Martin Hollerbach erzählt, der bei mir ums Eck wohnt, mich bei den Veranstaltern empfohlen und mir einige wertvolle Tipps mit auf den Weg gegeben hat.

Heute Morgen habe ich einen riesigen Holzkoffer mit einem Dutzend Garnituren langer Unterwäsche gefüllt, alles andere, so las ich im mehrseitigen Merkblatt der Organisatoren, werde vor Ort gestellt. Dann habe ich mir meine Langlaufskier untergeschnallt und bin ein Stündchen über die Hügel gehuscht, betont bedächtig, quasi verausgabungsfrei, denn wer weiß schon, was unterm Polarlicht auf mich wartet? Ich jedenfalls nicht, habe ich doch die meisten Disziplinen bereits wieder erfolgreich verdrängt; zu unangenehm war mein einziger Versuch, mich auf dieses sonderbare Etappenrennen vorzubereiten.

Sich nachts an einem 15 Meter langen Seil über eine tiefe Schlucht hangeln, so lautet eine der diesjährigen Prüfungen. Neugierig besuchte ich noch in der letzten Woche einen Truppenübungsplatz hinterm Nachbardorf, um in einem Seilgarten die Hangelei zu üben. Dem Bundesverteidigungsminister sei Dank gab es auch ein Anfängerseil, nur einen halben Meter überm Boden verspannt, auf dem ich mich vorwärtsbewegte.

«Auf»? Ja, Martin Hollerbach, oder Holli, wie ihn bei uns alle nennen, empfahl mir, mich nicht unten dranzuhängen, sondern mich oben auf das Seil zu legen, ein Bein hinabhängen zu lassen und das andere angewinkelt am Fußgelenk in das Seil einzuhängen. «Das schont die Kräfte», raunte er mir verschwörerisch zu (für die Fallschirmjäger unter euch, liebe Freunde, ist das nix Neues). Als ich nach wenigen Metern mit zittrigen Armen und schmerzendem Solarplexus Luft und Lust verlor, beschloss ich kurzerhand, es bei dieser einzigen Übungseinheit zu belassen; für das Antrainieren von Jean-Claude-Van-Damme-Armen war es eh zu spät.

Nun wird meine Teilnahme am Unterkühlungs-Contest eben ein, äh, ein Sprung ins kalte Wasser.

 

Bei der Fulda Challenge treten Mixed-Teams an, und ich bin in einer Equipe mit Birgit Fischer gelandet, der 245-fachen Goldmedaillengewinnerin im Kajakfahren. Anfang Dezember schickte Frau Fischer mir einen sehr netten Elektro-Gruß, mit farbenfrohen Action-Porträts und dem Hinweis, sie habe «noch ein bisserl Übergewicht», und Weihnachten komme ja erst noch! Zwischen den Zeilen grinste mir ein durch Altersmilde kaum gezügelter Ehrgeiz entgegen, aber vielleicht entspringt diese Interpretation auch nur meinem dekadenten Wessi-Vorurteil.

Ich bin überaus gespannt darauf, diese Paradekapitänin des real existiert habenden Sozialismus kennenzulernen, und bei gemeinsamen Schnatternächten im Zelt ist gründliches Kennenlernen bekanntlich kaum zu verhindern.

 

So. Nachdem ich gestern wetterbedingt erst mit neun Stunden Verspätung von Köln nach München fliegen konnte, bin ich bereits heute nach Frankfurt gereist, um morgen auch auf jeden Fall den Flieger nach Vancouver erreichen zu können.

Auf dem Weg in Hölzenbeins Heimat habe ich ein wenig in jenem Buch geblättert, das mir Christian Röhrig unlängst empfahl: The Know-It-All von A. J. Jacobs, One Man’s Humble Quest to Become the Smartest Person in the World, der Bericht eines Mannes, der die Encyclopaedia Britannica komplett von vorne nach hinten durchgelesen hat. Eigentlich habe ich erst mal nur drin rumgeblättert, um zu ergründen, ob das Buch für den morgigen langen Flug eine ausreichend unterhaltsame Lektüre ist, kann aber diese Frage heute Abend nicht nur mit einem ganz klaren «Ja!» beantworten, sondern den Schmöker auch sogleich an euch alle weiterempfehlen. Dank an Christian für den tollen Tipp!

Sofern ich in Whitehorse einen Internetanschluss auftreiben kann, gibt es bald neue Post. Sonst natürlich nicht.

 

So. Pizza ist alle. Hat super geschmeckt (das Portemonnaie isst bekanntlich mit).

Freitag, irgendwo zwischen den Zeiten

Wetter: über den Wolken, –50 Grad Celsius

Körperliches Befinden: trockenmundig und taubfüßig

 

Liebe Freunde,

ich sitze seit knapp neun Stunden an Bord von Air Canada 9101, und neben mir nuckelt Herr Bremm an seiner Lesebrille. Was haben wir nicht alles an Lesestoff dabei! Ich zähl mal auf:

GQ, Maxi, Bunte, Süddeutsche Zeitung, Art, Fit for Fun, Le Monde, Herald Tribune, das gestern empfohlene Lexikonbuch und L’Écume des jours von Boris Vian. (Les Bienveillantes habe ich zu Hause gelassen, obwohl ich noch nicht ganz durch bin, für den Kloppsklopper hätte ich sicher Übergepäck zahlen müssen.) Einige Reihen hinter uns sitzt Birgit Fischer. Ich warte noch auf eine Gelegenheit, mich bei ihr vorstellen zu können, aber als ich eben zu ihr herüberlinste, turtelte sie innig mit ihrem Nebenmann. Ist das etwa ihr Lover? Möglich wäre das, schließlich zahlt Fulda ja auch den Flug für eine Begleitperson. Mist, hätte ich natürlich auch mal bedenken können, dann hätte ich mir auch jemanden … Hopsala, jetzt schnell den Satz beenden, Herr Bremm (mein Begleiter) schaut auf meinen Bildschirm.

Hier an Bord herrscht übrigens offenbar Wassermangel, bei gleichzeitigem Schokoladenüberschuss. Wacker versuchen wir, mit Milka-Vollmilch der Dehydration zu begegnen. Da es sich ja aber bei Schokolade um ein eher trockenes Lebensmittel handelt, muss man entsprechend mehr davon verzehren, um der Verdurstung zu entgehen.

 

Direkt mit Abflug habe ich meine Uhr auf Vancouver-Zeit gestellt, um mich frühestmöglich neu zu kalibrieren. Schade, dass es das Dorian Gray nicht mehr gibt, die Disco am Frankfurter Flughafen, «I’ve got the power» von Snap und so, aber der Schuppen hat, so erklärte mir heute Morgen eine Lufthansa-Mitarbeiterin, seit 2000 zu. «Und das ist gut so», fügte sie an, «morgens um vier diese lallenden Jugendlichen, die mich fahnetragend fragten, wo denn hier der McDonald’s sei, das war nicht schön!» Wäre dennoch gerne gestern Nacht zum Durchtanzen gekommen, um mein inneres Uhrwerk zu betrügen. Überhaupt, Dissen an Flughäfen (mit weichem «S», nicht «Pöbeln»): Das wäre nochmal ein schönes Thema für eine weltumspannende Reiseführer-Recherche 

 

Ein Blick aus dem Fenster: Unter uns liegt Schnee. Alles weiß, von Horizont zu Horizont. Zwischendurch sind eingeschneite Wälder auszumachen. Wir befinden uns offenbar just auf der Grenze zwischen Taiga und Tundra. Straßen, Orte, Gullydeckel? Fehlanzeige.

Ich muss jetzt schließen, der Blick aus dem Fenster verlangt nach mir!

Samstag, 8 Uhr 30

Wetter: –8 Grad Celsius

Körperliches Befinden: spitze, aber etwas augenberingt

 

Ich hocke im Hotelzimmer in Whitehorse, der Hauptstadt des Yukon-Territory. Gestern Abend um halb sechs kamen wir hier an. Super Flughafen: zwei Gepäckbänder, ringförmig mit knappen sechs Metern Durchmesser, dekoriert mit einem ausgestopften Grizzlybären. Hintergrund: Hier wohnen ungefähr genauso viele Bären wie Menschen. Wobei man, wenn dies tatsächlich der Grund für die Deko sein sollte, natürlich auch noch einen Menschen ausstopfen und neben den Grizzly stellen müsste 

Die Straßen sind hier allesamt 40 Meter breit und mit einer dicken Lage Pressschnee versehen. Wo nicht geräumt wurde, reicht der Puder bis zum Knie. Kommt mir wenig vor. Die Häuser sind riesig, ein Durchschnitts-Einfamilienhaus ähnelt einer europäischen Feuerwehrzentrale. Alle Zimmer haben riesige Kamine und sind total überheizt; die Gaspreise scheinen hier kein Thema zu sein. Auch fällt die hohe Whirlpooldichte auf; im einsternigen High Country Inn, in dem wir Athleten uns heute erholen dürfen, gehören sie zur Standardausstattung, und jedes zweite Fachgeschäft im Ort bietet Sprudelbäder und dazugehörigen Repairservice an. Das scheint hier Feierabendbeschäftigung Nummer eins zu sein: die Heizung auf Volllast drehen und dann vorm lodernden Riesenkamin im Whirlpool hocken.

Tagsüber sind die 20 000 Whitehorser in der Territorialverwaltung, in den Goldminen – es werden hier immerhin noch zwei Tonnen pro Jahr gefördert – und eben im Whirlpool-Business beschäftigt.

 

Beim Abendessen lerne ich endlich Birgit Fischer kennen (die mitnichten ihren Lover dabeihat, ich hatte sie im Flieger schlichtweg verwechselt; wie peinlich). Wir stellen schnell eine Gemeinsamkeit fest, nämlich dass wir beide in unserer Jugend gerne auf dem blanken Fußboden geschlafen haben, und noch heute, so verrät mir meine Teamkollegin, besitze sie kein Schlafzimmer und kein Bett, sondern lediglich eine Luftmatratze. Oha, jemand, der Betten dekadent findet: Das ist nicht eben häufig.

Herr Bremm hat Mitleid mit mir, und auf dem Weg Richtung Heia schmunzelt er mir zu: «Oweia, das kann hart werden; ich möchte nicht mit Ihnen tauschen.»

Im Zimmer sind unpackbare Klamottenberge drapiert, alle bestickt mit Sponsoren-Logos und hochtrabenden Aufnähern: «Wigald Boning, Germany II» auf schwarz-rot-goldenem Grund. Toll.

 

Um vier Uhr morgens werde ich wach, rufe die Lieben daheim an und werfe mich in eine meiner neuen Uniformen. Dann trabe ich planlos die Avenue One entlang. Neben der Straße verläuft ein Multi Use Trail: klassisch Loipe links, Ski-Doo-Spur, klassisch Loipe rechts. Überall! Das Paradies für Winterfreunde! Sogar Extra-Verkehrsschilder für Ski-Doos gibt es! Innerorts nicht schneller als 30 Stundenkilometer. Ich passiere einen McDonald’s und reibe mir die Augen: 20 Prozent Rabatt für Mitglieder der Yukon Snowmobile Association. Das ist wohl hier der Schlitten-ADAC. Übrigens zähle ich auch drei Ski-Doo-Fachgeschäfte im Autohändler-Format, das ist lustig. Yamaha ist eindeutig Marktführer.

Highlight des Morgens: der Mond! Doppelt so groß wie daheim. Warum, weiß ich nicht. Muss ich sofort recherchieren, hat wohl mit dem Polarkreis zu tun. Zuerst denke ich, es handele sich um eine Jetlag-Halluzination, aber nein, es ist wahr, fühlt sich an, als wenn man 20 Meter vor einem brennenden Heißluftballon steht. Seltsam.

Beim Frühstück der nächste Schock: die nackten Oberarme von Birgit Fischer. Heizungsrohre, ach was sage ich, Grizzlybärenextremitäten, nur mit weniger Haaren dran.

«Kann ich nichts für», verteidigt sie sich, «habe ich geerbt.»

Gunda Niemann-Stirnemann gesellt sich zu uns, das frühere Eisschnelllauf-Wunder aus Erfurt. Auch so ein Fall; ihre Oberschenkel passen nicht in die Uniform. Ob es die Hosen wohl noch etwas größer gäbe?

Übrigens besteht für uns aufgrund der überaus milden Temperaturen (nicht kälter als ‒20 Grad) ab morgen Abend Zeltpflicht. Kann sein, dass die Tagesberichterstattung nichts wird. Ich trage dann nach.

Sonntag, 4 Uhr 45

Wetter: –10 Grad Celsius

Körperliches Befinden: zu gut.

Es muss endlich etwas passieren

 

O Gott, wie ich mich schäme 

Isolde Holderied aus Bad Bayersoien, zweifache Rallyeweltmeisterin, zeigt uns die Strecke des Autorennens, ein Einzelzeitfahren bergauf. Sie lenkt, Birgit und ich halten uns blassgesichtig fest.

Ich frage: «Darf ich das gleich auch mal alleine probieren?»

«Nein, das wäre unfair gegenüber den anderen Teilnehmern, die dürfen das auch nicht.» Soso.

Trainingsende. Alle fahren weg. Ich sitze im RAV 4, neben mir Herr Bremm. Nur ein weiteres Auto steht noch auf dem Parkplatz. «Haben Sie keine Lust, die Strecke nochmal alleine auszuprobieren?», raunt mir Herr Bremm zu.

«Nun ja», hüstele ich, «ist an und für sich verboten, und wenn überhaupt, dann wohl besser, wenn der andere Wagen auch noch weggefahren ist.» Die Minuten vergehen. Wer sitzt denn überhaupt in der anderen Karre? Ein verstohlener Schulterblick. Gunda Niemann-Stirnemann und der Zehnkämpfer a. D. Frank Busemann, das Team Germany III. Die beiden linsen ebenso verstohlen zurück. Wir kurbeln die Scheibe runter.

«Was macht ihr denn noch hier?»

«Ja, was macht ihr denn noch hier?», flöten die beiden zurück.

Ein zutiefst unsportliches Kopfnicken, dann drückt Frank Busemann aufs Gaspedal und heizt die Wettkampfstrecke bergauf. Wir hinterher. 1, 2, 3 sind wir oben, wenden und huschen wieder Richtung Startplatz. Stopp, Gegenverkehr. Wer ist das denn? Scheiße, die Wettbewerbsleitung mit Rallye-Isolde auf dem Beifahrersitz. Wir stammeln etwas von «Wollten eigentlich zurück in die Stadt und haben uns verfahren …» Dududu-Finger.

«Beim nächsten Mal gibt’s Punktabzug!», droht der Chef. Noch vor Rennbeginn als Betrüger geoutet … Ich will nach Hause!

Dass diese Veranstaltung nicht zu mir passt, wurde bereits am frühen Morgen klar: Autoeinweisung. RAV 4 Automatik in Rallye-Version, mit den ganzen Konsumgüter-Aufklebern, wie man sie von Paris – Dakar kennt. Dann nahm ich, weil es früh und kalt war, den Eiskratzer und kratzte an den Scheiben herum, unterhielt mich hierbei jedoch mit dem Toyota-Fritzen. Was mir entging: Ein paar Aufkleber kratzte ich gleich mit runter, weil ich meinen Gesprächspartner anguckte und nicht die Kfz-Scheibe. Große Aufregung, denn hier sind die Aufkleber zweifellos wichtiger als der Rest. Weiland in den Achtzigern gab’s doch die Camel-Trophy; das hier ist so ähnlich. Nur eben in kalt, und dass man Fulda-Reifen nicht so gut rauchen kann.

Nachmittags noch mehr Aufregung: Stirne- und Busemann haben nochmal heimlich die Autostrecke geübt und sind im Schnee steckengeblieben. Da Handys hier wegen Mastenmangel nicht funktionieren, musste Busemann in dünnen Slippers durch den Tiefschnee ins Tal laufen und Hilfe anfordern. Busemann ist schon mal Witzfigur Nummer eins, das hätten wir geklärt.

 

Hoffentlich bleibt es nicht so warm, denn die obligatorische Kleidung ist für ‒10 Grad deutlich zu dick, und wer sie auszieht, wird sofort erschossen – wegen der Sponsoren-Logos.

Immerhin hätten wir in diesen Doppeldaunenkokons eine interessante Herausforderung: Hitzerennen am Polarkreis. Ist überhaupt schon mal jemand in dieser Gegend an Hitzschlag verendet? Vielleicht ist es ja in den nächsten Tagen so weit!

Montag, 7 Uhr

Wetter: –9 Grad Celsius

Körperliches Befinden: ausgeschlafen

 

Sieg! Sieg! Sieg! Der erste Wettbewerb hieß «Car Handling». Mit einem ganz normalen Toyota Camry über einen vereisten Hütchen-Parcours, möglichst schnell, und bei Fehlern gibt’s Zeitstrafe. Wer mich kennt, weiß ja, dass mein Selbstbewusstsein als Autofahrer zu vernachlässigen ist, aber was passiert? Ich mache null Fehler und fahre die zweitschnellste Zeit. Birgit ist schnellste Frau. In der Teamwertung ein klarer erster Platz. Verstört blicken wir uns an. Rennleiter Hans-Joachim Stuck erklärt: «Gell, du wohnst doch bei Füssen, gell, dann kennst ja den Schnee. Und die Birgit kann sich halt gut konzentrieren …»

Mit stolzem Toreroblick fahren wir zum Zeltplatz, einem malerischen Plateau mit Blick auf die Zweitausender der Umgegend.

Zweite Disziplin: Zeltaufbau auf Zeit. Hüstel, hüstel. Zwei-, dreimal die Stangen verwechselt, ein Hering versinkt im Schnee, und schon sind wir unseren Spitzenplatz wieder los. Es gewinnt das Team aus Holland, die in ihrem Leben nichts anderes gemacht zu haben scheinen, als Zelte auf- und abzubauen. Vielleicht kommen die beiden aus einer Zirkusfamilie? Ich werde nachher mal fragen.

Immer wieder langweilige Briefings und verstörender Small Talk mit Reifenmanagern. Zutiefst schizophren, man glorifiziert das Outdoor-Leben und lässt morgens zwei Stunden die Karre laufen, damit man sich das Eiskratzen spart. Oder: Eine Frau aus dem Begleittross schwärmt mir vor: «Herrlich hier, oder?» Ich nicke ihr beipflichtend zu. Dann spezifiziert sie: «Diese breiten Straßen hier – einfach herrlich!»

 

Abends gucke ich mit Birgit Fotos aufm Laptop. Meine Teamkollegin ist eine sehr anständige Fotografin: Ehrliche Landschaftsbilder in bunt, und das sage ich ganz ohne Häme. Am Morgen nach muckeliger Nacht stehe ich vorm Zelt und blicke gen Himmel. Rotes Lichtwabern hinter den Wolken. Polarlichter! Dass ich das noch erleben darf. Lieber Gott, danke!

Nach einigen Momenten euphorisierter Träumerei gesellt sich Birgit zu mir: «Polarlicht? Quatsch. Dass ist Whitehorse, die Stadt hat nachts immer Festbeleuchtung. Wir haben Vollmond, da gibt’s kein Polarlicht.»

Irgendein Tag, welcher, weiß ich schon nicht mehr, das Zeitgefühl ist weg.

Wetter: –19 Grad Celsius

Körperliches Befinden: abends doch recht matt

 

Absurdissimo. Man fährt noch im Dunkeln los, zum Halbmarathon im Nachbarort, nach Atlee. Das Kaff ist allerdings 180 Kilometer weit weg, und man erreicht es auf einer Straße ohne einen einzigen Abzweig, ohne Gegenverkehr, ohne alles. Ich lenke, Birgit Fischer erläutert mir die Weltlage, dass es in Kuba wunderschön sei und es doch noch etwas anderes geben müsse als den Raubtierkapitalismus, dass man dort ganz toll alte Straßenkreuzer angucken könne und so weiter. Natürlich. Übrigens war sie die einzige Majorin in der Sportgruppe der Nationalen Volksarmee, Henry Maske habe es nur bis zum Oberleutnant gebracht. Wenn ich den Gentleman von der Oder das nächste Mal treffe, werde ich ihn damit aufziehen, hurra, ich freu mich schon!

Als wir in Atlee ankommen, bin ich bereits fix und fertig.

Das Kaff hat 300 Einwohner, liegt knapp hinter der Grenze nach British Columbia, ist an einen verstörend schönen riesigen Bergsee gebettet. Die Häuschen sind bunt angepinselt, und die Infrastruktur ist erstaunlich vielseitig – es gibt sogar ein Theater, das Globe Theatre, in dem von der lokalen Laiengruppe alles Denkbare gegeben wird, von Shakespeare bis Impro, wie mir der Lokalmatador vom kanadischen Team erläutert. Schade, dass wir keine Zeit haben, den Smoking anzuziehen und eine Premiere zu besuchen, denn in knapp fünf Minuten ist Startschuss.

Da es ja nur eine große Straße gibt, und zwar die, auf der wir gekommen sind, laufen wir einfach wieder aus dem Ort raus, bis zum Wendepunkt und wieder rein. Hügeliger Kurs, vierspuriger Pressschnee. Von meinem Vorhaben, doch mal abzuchecken, ob ich mich an die Führungsgruppe hängen kann, muss ich mich bereits am Ortsausgang wieder verabschieden (der Pole läuft Marathon in zwei Stunden und 30 Minuten), und so hoppeln Busemann und ich zusammen, bis dieser blaugesichtig zurückfällt und ich alleine den Vormittag beende. Ich werde Fünfter, meine Teamkollegin Letzte, aber immerhin kommt sie ins Ziel.

«Ich hasse joggen», hatte sie mir schon auf der Hinfahrt eröffnet, «wahrscheinlich gebe ich schon nach fünf Kilometern auf.»

Da dies aber null Punkte in der Teamwertung bedeuten würde, beuge ich vor und erzähle ihr an der Startlinie, ich habe unseren Autoschlüssel in meiner Hosentasche, sie könne also nicht einfach aufgeben, sich in ein Begleitauto setzen und zurückfahren lassen – in Atlee stehe ihr nämlich ohne Zugang zum Auto keine warme Wechselkleidung zur Verfügung und sie müsse jämmerlich erfrieren.

 

Während des Laufes fahren ständig Autos neben mir her, aus deren Fenstern Journalisten fragen, ob ich denn bei solchen Temperaturen schon einmal gelaufen sei? Ich sage «Ja!», korrigiere mich dann aber sogleich, denn hier bin ich ja als Profi angestellt, und das Motto der Veranstaltung lautet ja: «Extreme Arctic Adventure». Also gucke ich leidend und stöhne über eingefrorene Zehen, Hosenfrost et cetera.

Hopphopphopp rein ins Auto, wieder zurück nach Whitehorse. Jetzt kommt die Disziplin, vor der ich ganz schön Bammel habe: die Schluchtenüberquerung per Seil. Beim Anblick der Szenerie winsele ich leise «Mama!» beziehungsweise verfluche mein Management, das mir diesen Job schmackhaft gemacht hat.

Herr Bremm steht neben mir und schmunzelt unschuldig.

Von Yukon-Hochufer zu Yukon-Hochufer (15 Meter über der Wasseroberfläche) ist ein Seil gespannt, das 40 Meter lang ist (und nicht 15, wie ich vorher dachte). Alles ist von Scheinwerfern kameragerecht ausgeleuchtet. Immerhin sind wir per Hüftgurt gesichert.

Als Erste ist die Österreicherin dran, eine drahtige Meisterkletterin. Bereits nach fünf Metern verliert sie die Balance, hängt unten, kämpft heroisch, schafft es sogar, wieder auf das Seil zu kommen, hat dadurch aber so viel Kraft gelassen, dass es ihr nicht gelingt, im Fünf-Minuten-Zeitlimit zu bleiben. So lässt sie sich in die Sicherung fallen und weint bitterlich. Schluck.

Ich bin als Sechster dran, lege mich aufs Seil und robbe betont langsam vorwärts. Die erste Hälfte ist leicht, da die Leine durchhängt und es gleichsam bergab geht, aber in der zweiten Hälfte herrscht Milchsäurealarm. Auf der Fußgänger-Hängebrücke, die parallel zum Seil verläuft, stehen allerlei Schaulustige und feuern an, billige Durchhalteparolen wie «Sieht gut aus!».

«Schnauze!», zische ich und eile nach drei Minuten und neun Sekunden ans andere Ufer, vor allem, um endlich nicht mehr die bekloppten Anfeuerungen ertragen zu müssen. Yeah! Drüben. Ein gutes Gefühl. Mittelfeld, wie meistens im Leben.

Als Birgit dran ist, startet eine gaaanz große Show. Wie zu erwarten, sind Ofenrohrarme bei dieser Disziplin von Vorteil, und so erreicht sie das andere Ufer eine satte Minute schneller als ich. Meine Majorin! Ich bin ja so stolz auf sie! Wir sind tatsächlich ein starkes Team: Schultergürtel/​Oberschenkel, Ausdauer/​Maximalkraft, Zivi/​NVA – wir ergänzen uns vortrefflich und sind uns mittlerweile sogar richtig sympathisch! Abends im Zelt verrät sie mir sogar ein kleines Geheimnis: Sie kann keine Eskimorolle! Aber das wolle sie jetzt unbedingt ändern.

Dann lauschen wir noch ein Weilchen den Wölfen: «Huuuuuuuuuuhhhhh!»

Dienstag, 18 Uhr 35

Wetter: –20 Grad Celsius

Körperliches Befinden: seit zwei Tagen ohne Körperpflege.

Leichter Muskelkater in den Armen

 

Von Kamera geweckt. Ich blicke in gleißendes Kopflicht.

«Und? Wie war die Nacht? Kalt?»

«Nein, ganz prima», stammele ich schlaftrunken. Dann fällt mir ein, worum’s hier geht, und ich bitte um einen zweiten Take: «Boah, hab ich gefroren, ich weiß nicht, ob ich das hier durchhalte!»

 

Erstes Event (so werden die Wettbewerbe hier genannt): Hundeschlittenrennen. Knappe neun Kilometer, sechs Hunde, bezaubernder Hochwald. Bergauf muss man helfen und neben dem Schlitten hersprinten, bergab so bremsen, dass man den Tölen nicht in die Haxen rutscht.

Ich versuche, zu beschleunigen, indem ich die Tiere lautestmöglich antreibe: «Go, go, go», rufe ich. Keine merkliche Geschwindigkeitsveränderung. Der Leithund namens Tyson schaut sich locker trabend zu mir um. Ich schreie wie am Spieß: «Run, Tyson, run!» Selbes Tempo. Tyson muss mal pinkeln, der Schlitten steht. «NO, Tyson, GO, FUCK, RUN, COME ON!»

Tyson setzt einen mitleidigen Dackelblick auf. Als er fertig gepinkelt hat, setzt sich der Tross bummelzügig wieder in Gang. Völlig durchgeschwitzt erreiche ich nach 24 Minuten das Ziel, und die Hunde gähnen herzhaft. Birgit ist genauso lahm wie ich. Tja, Pech mit den Hunden. Die Holländer legen Protest ein, denn deren Gespann «habe nicht richtig laufen wollen». Wir lachen uns kaputt.

 

Beim nachmittäglichen Bergaufautozeitfahren brillieren wir wiederum: Birgit fährt die zweitschnellste, ich die drittschnellste Zeit. Sieg in der Teamwertung. Ist das nicht lustig? Man kommt als jemand, der seine Stärken im Ausdauerbereich wähnt, und geht als Brumm-Brumm-Begabung (okay, dass ich die Strecke kannte, wollen wir mal ganz dezent unter den Tiefschnee kehren …).

So, jetzt muss ich schnell mal in Herrn Bremms Zimmer duschen, ich stinke nach Zelt, Benzin, verschmorter Kupplung und Schlittenhund und will den Teamgeist nicht gefährden.

Mittwochabend

Wetter: –20 Grad Celsius, schön

Körperliches Befinden: im Eimer

 

Morgens um sechs ist die Welt noch in Ordnung: Neben mir schnurchelt drollig Frau Majorin, und der erste Gedanke, der mir in die Birne schießt, ist: Wir sind Zweite! Hurra! Erster Tagesordnungspunkt: das große Ski-Doo-Rennen, mit Motorschlitten um die Wette. Müsste ja mein Fachgebiet sein, immerhin dürfte ich der einzige Teilnehmer sein, der in seiner Garage so’n Ding stehen hat.

Beim Frühstück ist augenfällig, dass Birgit und ich ab sofort völlig anders wahrgenommen werden: nicht mehr als lahmarschige Promis, sondern als Favoriten auf den Gesamtsieg. Immerhin geht es um den blöden Nugget, und der kostet angeblich 10 000 Dollar. Aus taktischen Gründen erzähle ich erst mal allen, was für schwere Verletzungen ein Ski-Doo hervorrufen kann, wenn man mit ihm zu schnell fährt. Alleine in meiner näheren Umgebung kenne ich zwei Fahrer, denen je ein Bein amputiert werden musste, weil der Schlitten auf sie draufgefallen sei. Ich blicke in blasse Gesichter, Birgit zwinkert mir verstohlen zu und reckt dezent ihren Daumen empor.

Zum Rennen geht es in die (sommers) sandige Carcross Desert, «the smallest desert of the world». Jaja, in der Neuen Welt liebt man die Superlative.

Rundkurs. Ein paarmal im Kreis. Je vier Teilnehmer starten gegeneinander. Ich bin mir meiner Sache relativ sicher, nachdem meine Teamkollegin bereits für einen schönen Mittelplatz bei den Damen gesorgt hat. Aber Hochmut kommt vor dem Fall. Unter meinem obligatorischen Integralhelm beschlagen meine Brillengläser, und ich bin nach 100 Metern praktisch blind. Mist, zu Hause fahre ich immer ohne Helm. Nur schwarze Punkte sind noch zu erahnen, wobei völlig unklar ist, ob es sich um Bäume, Telegraphenmasten oder Kameraleute handelt. Ich irre über den Kurs wie ein Luftballon, den man aufbläst und in die Luft sausen lässt, völlig außer Rand und Band. Um ein Haar fahre ich Hans-Joachim Stuck tot, versuche daraufhin, meine Brille zu putzen, ziehe meinen Handschuh aus, kriege ihn nicht mehr an, will ihn mit den Zähnen greifen, scheiße, ich trage ja einen Integralhelm, die Konkurrenz lacht sich einen Ast, und dann ist das Rennen auch schon rum. Letzter Platz.

Birgit säuselt: «Na, das war wohl nix, wie? So’n richtiger Wettkampf-Typ bist du nicht, oder?» Innerlich koche ich, aber ich weise Frau Majorin auf das Resultat ihres Halbmarathons hin, dann ist Ruhe.

Mittag in der Stadthalle von Carcross, 130 Einwohner. So nette Leute, diese Yukoner, und sie kochen so leckeres Essen.

Umziehen fürs Radrennen. «Sag mal, was für Schuhe trägst denn du?», frage ich sportsfreundlich den führenden Österreicher. Keine Antwort. Wie komme ich drauf, dass er seinem ärgsten Rivalen hilft? Sensationelle Erfahrung, dabei weiß ich, dass ich gerade auf dem Rad gegen Leute wie ihn keine Chancen habe («Du hast halt nicht die notwendigen ‹Körpernormativen›», erläutert mir meine Teamkollegin). Trotzdem versuche ich vom Start weg, mich an die Führungsgruppe dranzuhängen. Nachdem mein Versuch, hier eine Geige zu spielen, bereits nach wenigen Kilometern scheitert und hinter mir niemand zu sehen ist, fahre ich die 40 Kilometer alleine. Vierspurige Landstraße mit Buckel-Pressschnee, Wendepunktstrecke, saftig auf und ab. So ähnlich wie die Lechtal-Bundesstraße, nur natürlich ohne Kennzeichen der Zivilisation. Links und rechts schöne Skiberge in gleißendem Licht. ‒20 Grad. Für eine Radtour eigentlich zu kalt, und nachdem ich bis Kilometer 20 das Rennen wie überhaupt diese ganze Woche für einen aufgebohrten Kindergeburtstag halte, lustig, lustig, tralala, breche ich auf dem Rückweg körperlich ein wie selten. Die Kälte, das viel zu hohe Anfangstempo, der dürre Zeltschlaf, die Po-unfreundliche Buckelpiste: Allerlei Zutaten verrühren sich zu einer Mixtur, die mich Kilometer für Kilometer weiter ins körperliche Tiefgeschoss führt. Ich trinke viel zu wenig, habe an Energieriegel gar nicht erst gedacht, mein Ehrgeiz ist plötzlich völlig überzogen, und meiner Majorin habe ich dumm- und dreisterweise satte fünf Punkte aus diesem Rennen versprochen, nachdem ich das Ski-Dooing versaut habe (ich glaube, es sind nur drei; die abendliche Ergebnisliste muss ich erst noch angucken). Am Ende bekomme ich sogar Krämpfe! Beruhigende Einsicht im Ziel: Ausnahmslos alle Athleten sind völlig im Eimer. Gunda Niemann-Stirnemann lacht wie im Wahn, von einer dicken Eiskruste überzogen, schafft es nicht, fünf Meter zum Auto zu gehen, und muss von zwei Helfern getragen werden. Auch ich brauche Hilfe beim Umziehen, und Herr Bremm klopft mir beherzt die Eiszapfen von den Augenlidern. Einen Zentimeter lang. Mal was Neues. Birgit und Frank Busemann kommen als Letzte ins Ziel, 20 Sekunden vor Ablauf der Sollzeit, gerade so, um als Nicht-Finisher keine null Punkte zu riskieren.

Unseren zweiten Platz sind wir los. Schade, war schön da oben. Jetzt muss ich als Erstes Herrn Bremm zum Einkaufen schicken; ich kann keinen Meter mehr laufen. Anti-Beschlag-Spray. Ein Sechziger-Jahre-Helm ohne Kinnschutz. Eine Schachtel Zigaretten. Dass ich Rauchsportler bin, hat Frau Majorin mittlerweile rausgekriegt, mich aber nicht zum Strafappell antreten lassen – «Jetzt machst du mal alles schön weiter wie sonst auch, sonst wirst du mir noch unlocker; für uns ist noch alles drin!», lächelte mir Birgit zu. «Aber ich möchte dich nicht rauchen sehen und schon gar nicht riechen; sonst werde ich verdammt aggressiv!»

Vielleicht sollte Herr Bremm auch noch ein paar Kaugummis mitbringen 

Freitag, oder ist Donnerstag? Verdammt, mein innerer Kalender ist eingefroren.

Wetter: –27 Grad Celsius

Körperliches Befinden: komplett dehydriert,

leichter Muskelkater

 

Die Kälte nervt. Alles ist sofort schockgefrostet. Wenn man nachts im Zelt mal muss und am Reißverschluss nestelt, rieseln Zapfen und Flocken von der Decke in Birgits Gesicht, was sie ärgert; zudem ist jeder Gang nach draußen wie ein Handgriff in die Häckselmaschine. Also übe ich mich in Blasendehnung und versuche abends weniger zu saufen. Meine Majorin trinkt hingegen tagsüber praktisch gar nichts. «Wussten wir in der DDR nicht, dass man immer Wasser trinken soll. Ich hau mir abends ein paar Bier rein, und fertig ist die Laube.» Ach ja: Das Einzige, was nicht gefriert, ist meine Zahnpasta! War mir unbekannt, dass da Frostschutzmittel drin ist.

Wo bin ich hier eigentlich? Sportveranstaltung? Wintercamping? Reifenmesse? Ringelpiez mit Anfrieren? Seltsame Hybridveranstaltung.

 

Der Tross (bestehend aus 25 RAV 4 und diversen Trucks) heizt für das anstehende Rhino-Rennen in den Nachbarort, nach Haines Junction. Das Nest hat 300 Einwohner und liegt 159 Kilometer entfernt. Die Schönheit der Landschaft wird von uns bereits nicht mehr wahrgenommen; zu eintönig sind die Bildbestandteile: schroffe Schneeberge, dazwischen weite Gletschertäler, gefüllt mit einer dürren Tannenart, Birken und Erlen. Alles eisgepanzert und ganzjährig ungenutzt. Wenige Tierspuren; selbst die Fauna scheint mit dieser Tiefkühltruhe nichts anfangen zu können. Einer der mitreisenden Ärzte behauptet, einen Elch gesehen zu haben, aber das war wahrscheinlich nur Wichtigtuerei oder eine Kältehalluzination. Jedes Mal, wenn wir einen Fluss überqueren, blickt meine Beifahrerin sehnsüchtig aus dem Fenster und interpretiert das Gewässer aus Kanufahrersicht. So kann man die Welt auch begreifen (um hier keine Unklarheiten entstehen zu lassen: Inzwischen finde ich Birgit klasse – blitzgescheit und mit Humor. Und abends ziemlich durstig. War mir vorher keineswegs klar).

In Haines Junction (einer Siedlung, die entstand, als 1942 der Alaska-Highway gebaut wurde, um einer drohenden japanischen Invasion begegnen zu können) befindet sich ein Flugplatz, auf dem das Rhino-Rennen stattfindet. Was zum Teufel, werdet ihr, liebe Freunde, fragen, ist ein Rhino? Nun ja, so eine Art Gartentraktor in schnell, mit Allradantrieb und Überrollbügel. Slalom. Ich fahre schön defensiv und werde Vorletzter, Birgit brilliert. Tja, irgendwo müssen unsere Punkte ja herkommen. Die einzige Spezialistin im Feld, Motorradpilotin Olga aus den Niederlanden, bringt in einer scharfen Kurve die Kiste zum Umkippen, woraufhin sich ihr Kopilot den Fuß verquetscht. Große Freude bei den Veranstaltern: endlich dramatische Bilder!

«Toll, wie langsam das Ding umgekippt ist, und das schmerzverzerrte Gesicht des Holländers: ein Gedicht!», schwärmen die Kameraleute. Birgit und ich werden immer weiter durchgereicht; jetzt sind wir schon Sechste! Ich muss mir dringend etwas einfallen lassen.

Nächster Wettkampfort: ein See, wieder 90 Kilometer weit weg. Lebensfeindlicher Eiswind. Ich ziehe alle verfügbaren Klamotten übereinander und stapfe zum Sportgerät, einem Luftkissenboot. Zweitakter, fünf Meter lang. Am ersten Tag saß ich einmal drin, um kurzerhand festzustellen, dass die Kiste unlenkbar ist. Jedenfalls für mich. Ein weiterer Rundkurs über den See wird mit Verkehrshütchen markiert. Da muss man rum, um dann möglichst schnell in einer ebenfalls aus Verkehrshütchen bestehenden Parkbucht zum Stehen zu kommen. Wer ein Hütchen umwirft, kriegt Strafsekunden. Ich komme als 14. an die Reihe, heize mit Vollgas rum, fahre mit Höchstgeschwindigkeit in die Parkbucht, reiße den Gashebel herunter, die Bremse nach oben und komme nach knappen zwölf Zentimeter Bremsweg eine Handbreit vor dem finalen Hütchen zum Stehen. Alle klatschen, der örtliche Vehikel-Verleih-Schnulli nimmt mich in den Arm und schreit: «Good job, man!» Eine Fabelzeit. Erster Platz. Geht doch. Noch in 50 Jahren werde ich meinen Enkeln erzählen können, Opa habe auch mal in Kanada ein Luftkissenboot-Rennen gewonnen; ist das nicht schön?

 

In Haines Junction schlagen wir unsere Zelte auf dem Parkplatz hinter dem Recreation Center auf, einer Halle, in der wir fürstlich bewirtet werden. Einzige Zeitvertreibe der, äh, wie sagt man? Haines-Junctioner? Saufen und Curling. Hier wird gesoffen und gecurlt, bis die Bude qualmt, und in der Vitrine stehen Pokale, die vom Ruhm der Haines Junctioner Culer künden; 1970 hat man sogar mal ein Turnier in Anchorage gewonnen! Dass man sich hier am äußersten Rand der Zivilisation befindet, ist auch daran zu erkennen, dass man hier, unglaublich, in der Kneipe rauchen darf! Bei Coors light lerne ich einen bulligen Fachjournalisten kennen, der für eine Zeitschrift schreibt, die sich Die Gummibereifung nennt. Früher hat er für Abschleppen und Bergen geschrieben, Auflage immerhin 2500. Auch nicht schlecht, oder?

 

Der Zeltplatz ist offenbar von einem bekennenden Nicht-Camper gewählt worden; wir nächtigen unter einer äußerst hellen Straßenlaterne. Schade, dass ich keine Zeitung dabeihabe, hier drin könnte man lesen.

Morgen ist der große Tag, der alles entscheidende Berglauf. Kein Wunder, dass auf unserem Zeltplatz die merkwürdigsten Dinge passieren. Kaum sind wir eingeschlafen, lässt der Holländer neben uns seinen Wagen an, mit dem Auspuff direkt auf unseren Zelteingang gerichtet. Hä? Was macht der denn? Birgit winkt ab: «Lass ihn doch, der ist doch nur sauer, weil sein Fuß kaputt ist. Wir können auch so schlafen. Reg dich nicht auf, genau das ist ja sein Ziel.» Auch Kälte kann albern machen, und so ersinnen wir allerlei Pläne, wie wir uns revanchieren. Inzwischen wissen wir, dass beide Niederländer bei der Feuerwehr arbeiten. Ob’s in diesem Kaff wohl eine Sirene gibt, die man einschalten könnte? Lustige Vorstellung, wie die beiden aus dem Zelt stürmen, um den Brand zu löschen