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Nellys Geister

Ursula Meyer

Nellys Geister

Roman

Waxmann

Münster • New York

1. Auflage: September 2015

© Waxmann Verlag GmbH, Münster 2015

Steinfurter Straße 555, 48159 Münster

www.waxmann.com

info@waxmann.com

Umschlaggestaltung: Inna Ponomareva, Jena

Umschlagabbildung: table/photocase.de,

Satz: Sven Solterbeck, Münster

Print-ISBN 978-3-8309-3330-4

E-Book-ISBN 978-3-8309-8330-9

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.

Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für meine Schwester Brigitte

1

Ab Mittag fiel Schnee, feinkörnig wie Grieß und lästiger als ein Mückenschwarm. Von einem strammen Nordwind getrieben, sammelte er sich noch in den hintersten Ecken und bildete in den hochgestellten Mantelkragen der Straßenpassanten, in Mützen und Schalschlaufen kalte, weiße Nester. Auf dem Kopfsteinpflaster am Turm der Lambertikirche rutschte Carolins Fahrrad und hätte sie fast zu Fall gebracht. An der Kreuzkirche schob sie es. Sie war fast am Ziel: Nellys Doppelhaushälfte, die der Notar Konstantin Brönnemann ihr vor einer halben Stunde überschrieben hatte. Die Luisenstraße war schmal, die Autos am Bordstein machten sie noch enger; doch die Häuser wirkten gepflegt mit ihrer adrett gestutzten Vorgartenbepflanzung und den geschmackvoll dekorierten Fenstern. Nelly hatte nie ein Auto besessen, obwohl sie in der Familie als emanzipiert galt. Als Inhaberin einer eigenen Apotheke hatte es ihr an nichts gefehlt, auch wenn sie nicht verheiratet gewesen war.

Eine Woche nach ihrer Beerdigung hatte die gesamte Sippe bei Tee und Wein in der Wohnung von Annegret und Hans-Adolf in der Hoyastraße gesessen. Noch jetzt dachte Carolin an das Schweigen, das sich über der Runde ausbreitete, als bekannt wurde, dass sie Nellys Villa geerbt hatte. Ein Haus in bester Lage, ziemlich heruntergekommen, aber voll möbliert!

Nellys Schmuck erbten Annegret und Helga, die älteren Schwestern von Carolins Vater Max. Die Aktien gingen zu gleichen Teilen an Juliane, die jüngste Schwester, und an Helgas Mann Luis, während das Autograph von Richard Wagner für Annegrets Mann Hans-Adolf bestimmt war. Und selbstverständlich bekam jeder alles zurück, was er Nelly einmal geschenkt hatte. Als hätte sie darüber Buch geführt. Und manch einem stieg die Röte ins Gesicht bei dem Gedanken, welch billigen Krempel man dem Tantchen zugemutet hatte. Warum sie ihrerseits ihr Elternhaus mit den alten Möbeln und Teppichen, den beiden Ahnenporträts in Öl, dem kompletten Besteck und Geschirr ausgerechnet ihrer Großnichte Carolin vermachte, verstand in der Erbengemeinschaft niemand. Gab es keine Verwandten, die eher imstande wären, das „abgewohnte“ Gebäude zu renovieren und seiner vornehmen Nachbarschaft wieder ebenbürtig zu machen? Natürlich kostete das eine Menge, und zwar nicht nur Bares, sondern auch Sachkenntnis und Geduld. Doch selbst wenn sich eine grundlegende Renovierung als zu aufwändig herausstellte, erhob sich die Frage, ob in der Verwandtschaft keine Familie aufzutreiben war, der ein so großzügig geschnittenes Zuhause eher zustand als einer ledigen Jungakademikerin mit zwar bescheidenem, aber regelmäßigem Einkommen. Annegrets Tochter Linda, zum Beispiel, Alleinerziehende von drei Kindern! Möglich, dass Linda bei manchen Familienmitgliedern als Schlampe galt und ihre Gören als schlecht erzogen, trotzdem war eine ordentliche Portion Verbitterung dabei, als Annegret das Testament an Carolin weiterreichte und dabei spitz bemerkte: „Da hat sich dein enger Kontakt zu Nelly ja bestens ausgezahlt.“ Auf ihrer Oberlippe zitterten Schweißtröpfchen, und Carolin dachte: Kann man ein paar Besuchsstunden bei einer alten Tante in Materie verwandeln? In Teller mit Goldrand, böhmische Gläser oder Damastdecken?

Ein Danaergeschenk hatte Lindas jüngerer Bruder Tom das Haus genannt. Ja, wenn man die Immobilie verkaufen dürfte! Dann könne das „Krippchen“ abgerissen und ein Apartmenthaus errichtet werden. Aber Carolin durfte nicht verkaufen, und die Instandhaltung würde mehr Geld verschlingen, als sie jemals verdiente. Und was wollte sie mit sechs Zimmern anfangen? Vielleicht eine Pension eröffnen?

Ein bitterer Kloß hatte Carolin die Kehle eng gemacht, als sie daran dachte, wie aufrichtig ihre Eltern ihr diese Erbschaft gegönnt hätten. Sie starben vor vierzehn Jahren bei einem Autounfall in den Schweizer Alpen. Vier Monate später, nach den Weihnachtsferien, war Carolin in ein Internat am Niederrhein umgeschult worden. Die Ferien und die Wochenenden verbrachte sie bei Annegret und Hans-Adolf, bei Linda und Tom, die eine sechs, der andere vier Jahre älter als sie. Nachmittags, wenn der Familientratsch durchgehechelt und ihre Pflichten im Haushalt erledigt waren, hatte sie oft ihr Fahrrad aus dem Keller geholt, um Nelly zu besuchen.

„Ich vermiete das Haus so, wie es ist“, hatte Carolin verkündet und sich umgehend verabschiedet. Noch lange waren die Blicke der Verwandtschaft in ihrem Rücken zu spüren gewesen, wie Dartpfeile. Und jetzt stand sie im Schneetreiben vor Nellys Gartentor und traute sich nicht hinein. Es sah so kalt und dunkel aus. Keine erwartungsvolle Stimme würde sie hinauf ins Schlafzimmer rufen. Kein suchender Blick sich auf ihre Tasche heften. „Aber, Carolin, du musst mir doch nicht jedes Mal etwas mitbringen!“

In den Nachbarhäusern brannte gedämpftes Licht, das dem Schnee einen fast kitschigen Postkartenglanz verlieh. Auch die Podeste vor den Eingängen waren beleuchtet, die Türen trugen noch die Weihnachtsdekoration, obwohl die erste Januarhälfte schon fast vorbei war. Kränze mit bauschigen roten Taftschleifen, Tannenzweige mit Messingglocken oder dichte Mistelbüsche. Der Gehweg war erst vor kurzem sorgfältig gefegt worden, die Schneedecke nur dünn. Sogar vor Nellys Haushälfte hatte jemand geräumt. Doch die Verwehungen an den Fensterrahmen, auf den Stufen zur Eingangstür und in den kleinen Rhomben des schmiedeeisernen Zauns ließen das Haus vereinsamt aussehen.

Carolin stapfte durch den Vorgarten, schloss die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter, aber Diele und Treppenhaus blieben dunkel. Sie schlich weiter durch das Zwielicht, das vom straßenseitig gelegenen Esszimmer hereinfiel, auch hier funktionierte die Deckenleuchte nicht. Sie überlegte, wo Nelly eine Taschenlampe aufbewahrt haben könnte. In der Küche war es stockfinster, weil sie an der Gartenseite des Hauses lag, die Treppenstufen ins Obergeschoss waren ausgetreten und glatt, und die Vorstellung, im Schlafzimmer herumzutasten, schreckte Carolin ab. Nelly war in ihrem Bett gestorben. Bei dem Gedanken, ihr letzter Atemzug könne in der Gardine hängen wie ein toter Weberknecht, überkam sie eine Gänsehaut. Zu dumm, dass es keinen Strom gibt!, dachte sie verärgert. Sie hatte diesen Nachmittag extra freigenommen, um sich in aller Ruhe im Haus umzusehen, jetzt wo es ihr gehörte und aus einer ganz neuen Perspektive betrachtet werden musste. Ihre Gedanken schweiften kurz zu Benno ab, Toms Schulfreund, der in der Nähe wohnte. Er hätte den Hauptschalter vielleicht gefunden und den Kurzschluss beheben können – falls es einer war. Doch es war erst fünf Uhr, Benno arbeitete noch in seinem Gartencenter an der Warendorfer Straße oder hatte vielleicht einen Außentermin. Kurz entschlossen stiefelte Carolin zurück durch die wirbelnden Schneeschauer und schellte am Gartentor der linken Haushälfte. Die Frau, die zur Eingangstür kam, mochte um die fünfzig sein. „Ich weiß, wer Sie sind“, sagte sie freundlich. „Manchmal, wenn Sie Ihre Großtante besuchten, habe ich Sie gesehen. Kommen Sie doch herein.

Dann sind Sie unsere neue Nachbarin“, fuhr sie fort, nachdem sie Carolin zu der Sitzgruppe am Fenster geführt hatte. Der Raum wirkte wie das Titelblatt eines Einrichtungsmagazins. Zwei Ledersofas in Wollweiß, ein Glastisch, ein großer tibetanischer Teppich, schöne Kirschbaummöbel.

„Haben Sie heute Nachmittag unseren Gehsteig mitgefegt? Dann möchte ich mich sehr herzlich bedanken.“

„Das hat jemand anderer erledigt. Vor einer Stunde, als ich mich selbst ans Werk machte.“

„Wer könnte das gewesen sein?“

„Keine Ahnung. Es dämmerte schon“, gab die Nachbarin zu bedenken.

„Hat diese … Person nicht gegrüßt?“

„Sie war so gut wie fertig. Sie hob gerade die Schaufel über den Gartenzaun und verschwand. Vielleicht jemand aus Ihrer Familie?“

„Ich habe zwei Cousins, doch von denen käme keiner auf die Idee, vor dem Haus unserer Großtante Schnee zu fegen. Aber Nelly beschäftigte gelegentlich einen Gärtner, und ihre Tagespflegerin hat einen Sohn …“

„Das wäre eine Möglichkeit“, versetzte Frau Frenzel. Ein schnell hingeworfenes Lächeln folgte, das ihre Augen nicht erreichte. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“

Ich nerve sie, dachte Carolin. Sie meint, sie muss sich um mich kümmern, weil mir das Nachbarhaus gehört. Es war ein Gedanke, der sie häufig befiel, wenn sie mit fremden Menschen zusammenkam. Jedes Heben der Augenbrauen, jedes müde Lächeln, jeden Blick auf die Uhr münzte sie auf sich selbst und wünschte sich, spurlos zu verschwinden.

„Könnten Sie mir vielleicht eine Taschenlampe leihen? Das Licht drüben funktioniert nicht, und ich müsste im Kühlschrank nach verdorbenen Essensresten sehen.“

Die Nachbarin runzelte die Stirn. „Der Strom ist abgestellt? Ihre Großtante hatte doch sicher einen Dauerauftrag. Das muss ein Missverständnis sein. Beschweren Sie sich bei den Stadtwerken! Gleich morgen, sonst können Sie wochenlang warten, bis man Sie wieder anschließt.“

„Das werde ich tun“, nickte Carolin und umklammerte den Aluminiumschaft der Lampe, die Frau Frenzel geholt hatte. „Wann brauchen Sie sie zurück?“

„Irgendwann demnächst. Und schlafen Sie gut, da drüben!“

Die Eingangstür fiel mit einem satten Plopp ins Schloss, und prompt überkam Carolin bei dem Gedanken, die Nacht in Nellys Haus zu verbringen, wieder jenes Unbehagen, das schon der abgeschaltete Strom geweckt hatte. Natürlich hatte sie nicht vor, dort zu schlafen. Sie beschloss sogar, den Rundgang möglichst schnell hinter sich zu bringen und am nächsten Tag Benno um Begleitung zu bitten. Oder Luca.

Bei ihrer Rückkehr in Nellys Haus fiel ihr auf, wie still es war. Kein knackender Heizkörper, kein Wasserhahn, der tropfte. Die Stille drückte in den Ohren. Im Schein des dünnen Taschenlampenkegels betrat Carolin die Küche. Sie roch abgestanden, mit einer Spur Zigarettenrauch und einem noch leichteren Anflug von Bratfett. Der Nikotingeruch stammte von Frau Brandt, Nellys Tagespflegerin, die in der Küche regelmäßig geraucht hatte. Der Tisch war leer, auf der Spüle stand eine umgedrehte Tasse mit Unterteller, im Kühlschrank lagen schimmelige Orangen, ein Klotz Butter unter einer Glasglocke und ein zusammengefallener Salatkopf. Als Carolin ihn herausnahm, fühlte sie sich an Nellys welke Haut erinnert. Wie ein mürber Wildlederhandschuh!, hatte sie oft gedacht. Die schlappen Salatblätter kamen dem Eindruck von weichem Verfall viel näher.

Auf dem obersten Rost stand ein Suppenteller unter einem metallenen Kochtopfdeckel. Ein Rest von Nellys letzter Mahlzeit? Gemüsesuppe mit Rindfleisch war ihr Lieblingsgericht gewesen. Als Carolin sich das verdorbene Fleisch und die schleimigen Gemüsestücke vorstellte, die sich vielleicht unter dem Deckel verbargen, stieg Ekel in ihr hoch. Selbst kalte Fettaugen würden ihr den Magen umdrehen. Und umgab sie, seitdem sie die Kühlschranktür geöffnet hatte, nicht ein säuerlicher Geruch? Egal wie, das Zeug musste entsorgt werden, am besten in der Toilette. Resolut hob sie den Teller heraus, setzte ihn auf dem Küchentisch ab, und als sie den Deckel hob, bot sich ihr ein Anblick, gegen den eine sauer gewordene Brühe mit ranzigen Fettaugen wie ein appetitliches Kochbuchfoto gewirkt hätte. Jemand hatte auf den Tellerboden ein Kreuz aus Kaffeemehl gestreut und in die vier freien Felder Augäpfel gelegt.

Sie sackte auf den Stuhl und starrte auf das abscheuliche Stillleben. Die Augen, schmutzig-weiß mit großer, dunkler Iris, starrten zurück. Im kaltweißen Strahl der Taschenlampe warfen sie ovale Schatten auf den Tellerrand, die zitterten, ihre Größe und Richtung veränderten, und einen schrecklichen Moment lang glaubte Carolin, auch die Augen würden sich bewegen. Sie versuchte ihre Panik mit dem Gedanken niederzukämpfen, dass es sich um Tieraugen handelte: Ziege, Hammel oder Lamm, und dass sie aus einer Metzgerei stammten; das Zittern hörte nicht auf. Sollte sie das als makabren Willkommensgruß verstehen? Im Nahen Osten wurden dem Ehrengast gekochte Hammelaugen vorgesetzt, aber dies war nicht der Nahe Osten, und als wessen Ehrengast hätte sie sich fühlen sollen? Welches kranke Hirn besaß Zutritt zu diesem Haus? War Nelly mit diesen Augen zu Tode erschreckt worden? In der Verwandtschaft war man von einem friedlichen Einschlafen ausgegangen, von Altersschwäche, Erlösung und schmerzfreiem Abschied. Jetzt schien es Carolin nicht mehr so sicher, dass Nelly nicht doch in Angst und Schrecken versucht hatte, ihr Bett zu verlassen. Dann war ihr Tod vielleicht kein natürlicher gewesen.

Als sie den Deckel wieder über den Teller stülpen wollte, rutschte er ihr aus der Hand, und sein Scheppern auf dem Fliesenboden hallte durch das Haus wie dämonisches Lachen. Doch dann sagte eine sehr entschiedene Stimme in ihrem Kopf, dass sie diese Augäpfel unbedingt aufbewahren musste. Für den Fall, dass jemand sie, Nellys Erbin, mit aller Gewalt vertreiben wollte. Dann würden die Attacken vielleicht weitergehen. Hastig öffnete sie die Tür zu der geräumigen Vorratskammer, die neben der Küche lag, und ließ den Kegel der Taschenlampe über die dicht gestellte Schwadron aus Einmachgläsern wandern. Unter der Staubschicht leuchteten fahlrote Kirschen auf, wie aufgequollen wirkende Dicke Bohnen und arthritisch gekrümmte Feldgurken. Erst am äußersten Ende, auf der Fensterbank, war noch etwas Platz. Als Carolins Hand von klebrigen Spinnweben gestreift wurde, hätte sie den Teller beinahe fallen lassen. Sie setzte ihn ab, zog die Tür der Kammer fest ins Schloss und stellte sich vor, wie die Tieraugen ihr durch das Schlüsselloch hinterherblickten. Sie hielt schnell die Hand unter den Spülkran, dann floh sie aus der Küche und drehte den Schlüssel um. Sie sackte auf die unterste Treppenstufe, schlang die Arme um ihre Knie und überlegte, wer ihr – oder Nelly – so übel mitspielen konnte, doch sie kam zu keinem Ergebnis. In ihrer Verwandtschaft gab es Neid und Eifersucht, Tratsch und Schadenfreude, doch eine solche Gemeinheit würde niemand fertig bringen. Aber wer wusste schon, wem ihre Großtante in letzter Zeit einen Hausschlüssel überlassen hatte, außer Monika Brandt und der Putzfrau? Die Pflegerin hatte sie morgens um acht gefunden. Nelly hatte auf dem Rücken gelegen, die Augen geschlossen, ein Buch auf der Bettdecke, die rechte Hand flach ausgestreckt, als tastete sie danach. Da sie die Augen nicht öffnete, und ihr Körper steif war, hatte Frau Brandt den Hausarzt angerufen. Am Nachmittag gab Annegret die Neuigkeit von ihrem Tod an die ganze Familie weiter, in jener Mischung aus Sensationslust und geheuchelt klingender Bestürzung, die sie auch bei einer Erkrankung, einem Unfall oder anderen unerfreulichen Ereignissen an den Tag legte, sofern sie sie selbst nicht betrafen.

Sie stand auf, um ihren Rundgang möglichst schnell zu beenden. Auch durch das Gartenzimmer, das zwischen dem Hauseingang und der Küche lag und mit seinen zarten Blumenstichen, den weiß lackierten Korbmöbeln und dem moosgrünen Kachelofen selbst in der schlechten Jahreszeit Wärme und Sommerlaune verströmt hatte, wehte ein Frosthauch, und so schlich Carolin ins Esszimmer. Dort war es wenigstens nicht so dunkel wie im Korridor, wo die Taschenlampe die Schatten huschen ließ, als hausten dort die Ratten. Sofort fielen ihr die Augen in dem Suppenteller wieder ein. Waren sie vielleicht die Zutat für ein geheimnisvolles Ritual? Sie wusste nicht viel über Nellys Putzfrau. Und wenn sie einer okkulten Sekte angehörte und Nellys Tod auf ihre persönliche Art gefeiert hatte?

Im Widerschein des Schnees wirkte selbst das Esszimmer fremd. Das Licht der Straßenlaterne setzte kalte Glanzpunkte auf die Arme des messingfarbenen flandrischen Kronleuchters und spiegelte sich in den Türen der beiden Geschirrschränke. Die Lufteinschlüsse in den flaschengrünen Glaseinsätzen funkelten wie kleine boshafte Augen. Carolins Blick wanderte weiter zu den Ölbildern über der Kredenz, Porträts von Familienmitgliedern aus dem Biedermeier. Das cremefarbene, bauschig gebundene Halstuch des Mannes und die hellen Rüschen am Kleid der Frau leuchteten wie Schaumkronen auf einem dunklen Meer, ihre Augen schienen Carolin streng zu mustern. Das giftige Bleiweiß, mit dem diese Reflexe erzielt worden waren, hatte man im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durch Zinkweiß ersetzt. In diese Phase des Wechsels fiel wohl auch die Entstehungszeit der beiden Porträts. Die exakt aufgesetzten Lichtpunkte an den Perlenohrringen und der Diamantbrosche, mit denen die Frau sich schmückte, kamen nur im Widerschein des nächtlichen Zimmers zur Geltung, während sie tagsüber in dem Gedränge der Spitzen an den malvenfarbenen Ärmeln, dem Kragen und dem Dekolletee untergingen. Die starren Augen verfolgten den Betrachter, ganz gleich, wo er stand. Als Carolin klein war, hatten sie sie erschreckt und gleichzeitig fasziniert. Wenn bei Nelly ein Familienfest gefeiert wurde, und sich die Erwachsenen zu Cognac und Zigaretten ins Gartenzimmer verzogen, war sie im Esszimmer geblieben und hatte sich mit klopfendem Herzen dem Angriff dieser Augen gestellt.

Der Wind hatte gedreht und drückte jetzt gegen die hohen Fenster. Mit leisem Knistern wirbelte der Schnee gegen die Scheiben, wo er in unregelmäßigen Mustern kleben blieb. Die Fahrbahn war hoch verschneit, Schneewehen bildeten sich vor den Reifen der geparkten Autos, füllten die Rhomben von Nellys Gartenzaun bis auf winzige Löcher völlig aus, so dass sie an Tortenspitze erinnerten, und glitzerten im Laternenlicht wie fein zerstoßenes Glas. Die gefrorene Außenwelt hatte die stilisierte Schönheit eines Kalenderblatts angenommen. Doch als sich ein Taxi durch die hohe Schneedecke mahlte, beschloss Carolin, ihr Fahrrad am Haus stehen zu lassen und den Bus zu nehmen. Sie sehnte sich nach dem luftigen, warmen Raum in der Speicherstadt, wo sie und Luca wohnten.

Ich werde Nellys Haus so vermieten, wie es ist, dachte sie und zog die dunkelblauen Samtvorhänge zu. Eine Art von erster Besitzergreifung. Der Stoff fühlte sich solide an, die Quasten schmiegten sich in ihre Hand. Wer draußen vorbeiging, wusste: Hier hatte sich etwas verändert.

Der Lichtkegel zitterte über die ausgetretenen Eichenstufen. Die Einkerbungen, die bei Tageslicht kaum sichtbar waren, zeichneten sich als schwarze Schatten ab, bildeten kleine Wellenlinien, wie die Höhenmarkierungen auf einer Wanderkarte. Als Carolin die Badezimmertür am Ende des Flurs öffnete, zuckte sie erschrocken zurück. Ein fast stechender Lichtstrahl blendete sie: Jemand, der das leer stehende Haus besetzt hatte? Dann atmete sie erleichtert aus. Sie hatte Nellys Bad lange nicht mehr betreten und vergessen, dass der Waschbeckenspiegel gegenüber der Tür angebracht war. Das Waschbecken besaß schöne Kreuzarmaturen, doch ihre kleinen weißen Porzellanknöpfe erinnerten Carolin sofort wieder an die Tieraugen. Energisch schob sie das Bild beiseite. Bei Tageslicht wäre der Spuk schnell vergessen. In die beiden gartenseitigen Räume im Obergeschoss, die früher Arbeits- und Gästezimmer genannt wurden, warf sie nur einen flüchtigen Blick. Ihre Firmung vor elf Jahren war das letzte Familientreffen in der Villa gewesen. Seitdem hatte wahrscheinlich niemand mehr dort übernachtet. Es waren seelenlose Räume geworden, staubige Abstellkammern, deren Stille in den Ohren drückte, während Mottenpulver und der säuerliche Moder alter Bücher in die Nase stachen. Im Gästezimmer, das über der Küche lag, und dessen Balkon wegen seiner morschen Brüstung für Kinder immer tabu gewesen war, zerrte der unruhige Lampenstrahl einen zerschlissenen Sessel ins Licht, im Arbeitsraum ließ er den ins Riesengroße verzerrten Schatten der alten Stehlampe über die Decke huschen und schickte eine dicke, schwarze Spinne einen halben Meter weiter über die Wand. Zermürbt beschloss Carolin, die Hausbesichtigung abzubrechen, bevor die halluzinatorischen Geschöpfe des Hieronymus Bosch in ihr geweckt wurden. Nachdem sie als Achtjährige die Bilder des Brabanter Malers – zuoberst das Wiener Jüngste Gericht mit seinen schockierenden Details von Tiermonstern und Dämonen – in dem Rollladenschrank ihres Vaters entdeckt hatte, hatte er ihre Alpträume noch drastischer illustriert, als sie bis dahin waren. Und während es bis zu diesem Zeitpunkt für sie selbstverständlich gewesen war, selbst großen pelzigen Motten die Freiheit zurückzugeben, strampelnden Käfern wieder auf die Beine zu helfen und sich dick behaarte Spinnen über den Handrücken krabbeln zu lassen, erschütterte die völlig unvorbereitete Konfrontation mit Boschs Missgeburten ihre Vorstellung von der harmlosen Tierwelt in ihrem Fundament. Die Natur war weder friedlich noch verschwenderisch oder berechenbar. Sie brachte Monstren hervor, die einander zerhackten, zerstückelten, verschlangen, und sie hatten einen geheimen Aufenthaltsort: Den Schubladenschrank, in dem ihr Vater Poster und Kunstdrucke aufbewahrte. Wenn Carolin abends ihre Nachttischlampe gelöscht hatte, saßen sie als geflügeltes Reptil über ihrem Betthaupt, als blubbernde Kröte auf dem Fensterbrett oder als vogelköpfige Ratte hinter der Fußbodenleiste. Sogar den Weg in ihr Zimmer im Studentenheim hatten sie später gefunden. Erst in Lucas Loft hörten diese Heimsuchungen auf. Weil Luca ständig neue Lampen entwarf, die die Geister vertrieben?

Sie floh beinahe aus Nellys Haus, schloss die Eingangstür hastig ab und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Zu Luca!

2

Luca Lunatis Entwürfe gingen bei einer Firma im Ruhrgebiet in Produktion. Er hatte viel Erfolg mit seinen Stehlampen, Tischleuchten, Deckenlustern. Seit neuestem arbeitete er mit marmorartigen Materialien und, nach japanischer Tradition, mit elastischem, stark gefälteltem Papier. Lucas Eltern waren sich Anfang der siebziger Jahre in Padua über den Weg gelaufen, wo die aus dem Münsterland stammende Innenarchitektin Gudrun einen Sprachkurs besuchte. Nach ihrer Heirat eröffneten sie in Münster ein Einrichtungsgeschäft, das auch selbst entworfene Einzelstücke anbot. Als Luca und sein zwei Jahre älterer Bruder Ludger in der Pubertät waren, hatte Gudrun die Familie verlassen, um sich als Malerin selbständig zu machen. Luca verlor nur selten ein Wort über sie. Skywalker hatte sie ihn genannt, doch nach den Sternen gegriffen hatte dann Ludger. Ein Stararchitekt mit entsprechenden Preisvorstellungen, dachte Carolin, während sie mit der Buslinie 9 durch den dichten Abendverkehr stadtauswärts fuhr. Leute wie Ludger hatten ewig einen vollen Terminkalender und zogen schon die Nase kraus, wenn man sie nur zu ihrer Geburtstagsparty einlud. Sie hatte ihn gleich zu Beginn ihrer Beziehung mit Luca kennen gelernt, als dieser unbedingt seinen Bruder um Rat fragen wollte, bevor er den Loft in der Speicherstadt kaufte. Luca besaß viel Ähnlichkeit mit seinem Vater Enzo, während Ludger wohl der Mutter nachschlug, deren Attraktivität – das einzige Foto, das Carolin kannte, zeigte die noch komplette Familie am Strand – sich bei ihm auf den Mund und das dichte schwarze Haar beschränkte. Seine Augen verbreiteten keine Herzlichkeit, sein Lächeln erreichte die Pupillen nicht.

Die roten Bremslichter der Autos links neben dem Bus vermittelten den Eindruck von Wärme, doch die Abgase dampften in der klirrend kalten Luft. Es hatte aufgehört zu schneien, die Schneedecke fror zu einer harten Kruste, die unter den Rädern knirschte, wenn der Bus eine Haltebucht ansteuerte. Fröstelnd dachte Carolin an die zugigen Fenster in Nellys Esszimmer. Würde sie ohne Renovierung überhaupt Mieter finden? Ihr wurde klar, dass die vage Freude, die sie bei der Testamentseröffnung vor einer Woche empfunden hatte, längst von Ernüchterung und Skepsis verdrängt worden war. Sie wandte den Blick zum Fenster und dachte: Ich besitze seit heute ein Haus und weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Danaergeschenk! Konnte man eine Erbschaft nicht sogar ablehnen? Aber was, wenn Tom ihr die Immobilie nur abschwatzen wollte, um sich das Grundstück unter den Nagel zu reißen und zu verkaufen? Die Klausel im Testament konnte man ignorieren, vorausgesetzt, man besaß genügend Skrupellosigkeit.

Sie musste wieder an Benno Wersing denken. Toms Schulfreund hatte fünf Semester Architektur studiert. In der Frühphase der Fassaden- und Grundrisszeichnungen hatte er Carolin manchmal zu sich nach Hause eingeladen, um ihr seine Ideen am Reißbrett vorzuführen. Als er sie zu küssen versuchte, hatte Carolin ihm erklärt, mehr als eine platonische Freundschaft sei nicht möglich. Danach war er so lange abgetaucht, dass sie sich Sorgen um ihn machte. Bis er zu Toms Geburtstagsfete Rieke mitbrachte. Sie war groß, blass und so dünn, dass Bennos Freunde witzelten, sie brauche ein Spalier. Sie arbeitete als Floristin in einer Blumenhandlung und hatte Benno davon überzeugt, dass Moorerde und Dünger besser zu ihm passten als Statik, Materialkunde und Chemie. Er sattelte auf Gartenbau um und wurde glücklich mit Rieke und seiner Arbeit in einem Gartencenter.

Carolin hatte Luca durch Enzo kennen gelernt, vor eineinhalb Jahren anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „Die Goldmalerei in den mittelalterlichen Schulen Italiens“, bei der sie Professor Kannengießer vom Institut für Vergleichende Kunstwissenschaften vertreten musste. Nach ihrer kurzen Begrüßungsansprache hatte sich auf dem Weg vom Podest hinunter ihr Fuß in einem Kabel verheddert, sie war Enzo direkt in die Arme gefallen. Seine breite Schulter verbarg sie vor den neugierigen Blicken, die sich schon vorher auf sie eingeschossen hatten. Das wohlwollende Gelächter nahm ihr die Verlegenheit, und als am nächsten Morgen die Zeitungen witzelten: „Sie flog wie ein Rauschgoldengel“, hatte sie es locker weggesteckt.

Die Linie 9 endete an der Speicherstadt. Es waren nur noch ein halbes Dutzend Fahrgäste, die den Bus verließen. Fast hätte Carolin sich vom Fahrer verabschiedet, so einsam und müde wirkte der Mann hinter seinem Lenkrad, während auf sie selbst Luca wartete, voll verrückter Ideen für diesen Abend. Sein Loft lag im obersten Stockwerk eines der ehemaligen Speicher, die die in Münster stationierte britische Armee bis in die neunziger Jahre als Verpflegungslager benutzt hatte. Der Rest der Etage stand noch leer, auf den tieferen Stockwerken waren Büros untergebracht. Carolin tippte den Zahlencode ein, und das Türschloss schnappte auf. Drinnen brannte kein Licht, nur der Widerschein der Straßenbeleuchtung fiel durch die großen Fenster in den lang gestreckten Raum. Das milchige Laternenlicht drang durch den zweiflügeligen Paravent, der den Loft quer halbierte. Tor des himmlischen Friedens nannte Carolin ihn, weil die ovalen Öffnungen mit chinesischem Reispapier ausgefüllt waren. In der Dunkelheit erinnerten sie an einen Raster aus blinden Augen. Hinter Lucas Arbeitstisch und dem Dreimeterbett lag die Kochnische. Dort brodelte spätabends oft die Espressomaschine, wenn Aladin die Ideen ausgingen. Das Bad befand sich gleich beim Wohnungseingang, an der linken Stirnseite. Geradeaus stand der Esstisch; das exakte Gegenstück zu Lucas massiver Arbeitsplatte, so dass man beide für eine große Gästerunde aneinander schieben konnte. Luca war nicht nur ein kreativer Designer, sondern auch ein perfekter Koch.

Auf der Küchentheke lag ein Zettel: Bin ab sechs Uhr bei Massimos Geschäftseröffnung. See you later. Erst jetzt fiel Carolin ein, dass sie am Morgen darüber geredet hatten. Massimo, Sohn reicher Geschäftsleute in Mailand, betrieb seit heute ein Herrenbekleidungsgeschäft am Spiekerhof, Begrüßungssekt und Polaroidfotos der Kunden vor dem großen Standspiegel inklusive; eine persönliche Modenschau, und doch kein Gag. Massimo war ein Angeber, der seine Ideen anpries wie Solitärsteine. Wenn sie Lucas Lampenentwürfe dagegen hielt, kam er Carolin armselig vor.

Auf der Theke stand, wie immer, eine Glasschale mit Früchten und ihren Miniaturnachbildungen aus Marzipan. Die optische Umsetzung des einen Materials durch ein anderes wandte Luca auch gern bei seinen Entwürfen an. Arktisches Himmelblau ließ ihn zur Fallschirmseide greifen, Eiszapfen inspirierten zu konischen Glasschirmen, die aussahen wie mit einer engen Feile bearbeitet, eine mit Flechten überzogene Mauer diente als Vorbild für einen Stoffschirm. Und hier nun die saftige Zellulose des Fruchtfleisches wiedergegeben in der stabilen Zusammensetzung von Mandeln, Zucker und Rosenwasser. In der Kühlschrankinnentür stand eine entkorkte Sektflasche. Der Sekt schmeckte schal. Bestimmt hatte Luca die Flasche schon um fünf Uhr geöffnet, bevor er sich auf den Weg zu Massimo machte. Aber vielleicht wirkte der Sekt auch nur abgestanden, weil Carolin an Massimo denken musste. Sie wurde den Gedanken nicht los, dass er heftig um Luca warb. Wie es um Luca stand, war nicht klar. Mitunter gab er sich ihr gegenüber so spröde, als dächte er durchaus auch an einen männlichen Partner.

Der Catering-Service im Erdgeschoss des gegenüberliegenden Speichers richtete einen Event aus. Durch den in warmes, gelbliches Licht getauchten alten Backsteingang mit den Öfen der ehemaligen Heeresverpflegung huschten Gestalten. Die Szene erinnerte Carolin wieder an den Abend, als sie Luca und seinem Vater begegnet war. Enzo war achtundfünfzig, wirkte jedoch in seiner ruhigen, leicht ans Überhebliche grenzenden Selbstsicherheit, in die sich manchmal prickelnder Zynismus mischte, anziehender als so mancher junge Langeweiler. Er hatte krauses, graues Haar und die gleichen braunen Augen wie Luca. Seine scharf geschnittene Nase und das energische Kinn verliehen seinem Gesicht etwas Entschlossenes und gleichzeitig sehr Robustes. Manchmal fragte sie sich, ob ihre Zuneigung zu ihm vielleicht mit dem frühen Unfalltod ihres Vaters zu tun hatte. Dann wieder versuchte sie einzuschätzen, wie sich ihre erste Begegnung weiterentwickelt hätte, wäre nicht schon nach ein paar Minuten Luca neben seinem Vater aufgetaucht. Und wenn sie nun zuerst Luca und dann erst seinem charismatischen Vater gegenübergestanden hätte? Hatte sie vielleicht beschlossen, sich in Luca zu verlieben, um Enzo nahe zu bleiben? Wenn sie solchen Gedanken nachhing, fühlte sie sich schuldig. Trotzdem stellten sich diese Fragen immer wieder ein. Sie verjagte die Grübeleien, setzte sich an Lucas Arbeitstisch und schloss die Augen, um sich in die verblichenen, morbiden Farben in Nellys Haus zu versetzen. Doch ihr virtueller Rundgang brach ab, als sie sich ihren Aladin in dem Haus vorstellte – so fehl am Platz wie ein Papagei auf einem Friedhof. Er hatte sich mit der Ausgestaltung seines Lofts viel Mühe gemacht. Hatte die große Estrichfläche mit Wasserglas behandelt, um den Charakter der alten Speicherhalle zu erhalten, und die Wände in einer Lasurtechnik gestrichen, wie sie im Mittelmeerraum üblich war. Der Wechsel von Zimtrot und hellem Ocker, die sich in der blanken Bodenfläche spiegelten, zauberte Wärme und Lebendigkeit in den großen Raum. Nellys Tapeten trugen verschossenes Graugelb, stumpf gewordenes Efeugrün und kränkliches Taubenblau, und während Luca jede Fensterverkleidung strikt ablehnte, hatte Nelly sich mit opulenten Vorhängen umgeben, deren Dunkelblau, Eisgrün oder Altrosa seit langem verblichen waren, während der Stoff in den Falten brüchig wurde. Unbehagen keimte in Carolin auf, als sie sich Lucas ablehnende Miene und sein trotziges Schweigen auf ihre Frage vorstellte, ob sie nicht gemeinsam Nellys Erbe nutzen könnten. Sie versuchte ihre sentimentalen Erinnerungen an die Villa auszuknipsen und Lucas Maßstäbe wie einen Raster darüber zu legen. Ob es sinnvoll war, einen Grundriss zu zeichnen? Wenn man ein Zimmer nie mit dem Hintergedanken betreten hatte, es irgendwann selbst zu bewohnen, achtete man nicht auf den Zuschnitt. Dazu kam das verfremdende Spiel von Dämmerlicht und Dunkelheit, das an diesem Spätnachmittag geherrscht hatte, und das Carolin jetzt ebenso an einem spontanen Entwurf hinderte wie die Mischung aus vagem Besitzerstolz und Skepsis. Sie hatte das Erdgeschoss nicht so still und kalt und mit so vielen düsteren Möbeln voll gestopft in Erinnerung gehabt. Es fehlten die Wärme, das Licht, das Stimmengewirr der Familienfeste, die man jahrelang bei Nelly gefeiert hatte, weil sie die Bewirtung übernahm. Sie begann das erste Stockwerk aufzuzeichnen, wo Nelly die letzten Jahre in ihrem Schlafzimmer verbracht hatte. Sie arbeitete mit fliegenden Bleistiftstrichen, als befürchtete sie, im nächsten Augenblick ein Blackout zu haben, doch dann ließ sie den Stift sinken, weil die Erinnerung an einen Abend im vergangenen September zurückkehrte. Die Sonne war schon untergegangen, doch ein Rest Sommerwärme hing noch in der Luft. Als nur dann und wann ein Auto durch die dämmrige Straße fuhr, hatte Nelly gesagt: „An solchen Abenden sind wir früher die ganze Promenade entlang gezogen. Wir haben uns untergehakt und gesungen.“

„Wer waren wir?“

„Die Kinder aus der Nachbarschaft. Alle längst weggezogen, wegverheiratet, im Krieg gefallen.“

Warst du denn nie in einen der Nachbarjungen verliebt?, hätte Carolin gerne gefragt. Gab es keine heimlichen Verabredungen? Kein Prickeln im Bauch, weil jemand dicht neben dir ging? Keinen ersten Kuss an der Kreuzschanze? Und wenn schon nicht in deiner Schulzeit in Münster, dann auch nie während des Studiums in Leipzig? Doch wie konnte eine alte Frau mit welken Händen, müden Schlupflidern und einem Mund, der so faltig wirkte wie ein geraffter Bühnenvorhang, eine Vorstellung von Sinnlichkeit wecken, die nichts mit Polanskis Tanz der Vampire zu tun hatte? Vor allem, da es nirgendwo im Haus ein Foto der verliebten Nelly gab. Keine Widmung mit verblassten Vergissmeinnichtblüten oder gepressten Veilchen. Keine Tanzkarte vom ersten Ball. Selbst in ihrer Familienchronik fanden sich keinerlei Hinweise. Nur die Hochzeiten von Nellys Eltern, ihrer Cousine Norma und deren Eltern waren dokumentiert.

Norma heiratete 1940 den Zahnarzt Hugo Wehrmann. Es war eine typische Kriegsehe, überstürzt anberaumt und von der Hoffnung der Braut überschattet, möglichst schnell schwanger zu werden, falls der junge Ehemann von der Front nicht zurückkehrte. Hugo war zurückgekehrt und Norma viermal schwanger geworden: 1941 mit Annegret, 1943 mit Helga, 1945 mit Carolins Vater Max, 1947 mit Juliane. Nellys Vater, der Apotheker Justus Fromberg, und seine Schwester Margret hätten im April 1913 in der Stadtkirche Sankt Lamberti in einer Doppelhochzeit getraut werden sollen; Margret mit dem Juwelier Theodor Vandamme, Justus mit Theodors Schwester Aline. Doch das gesellschaftliche Großereignis scheiterte an der Tatsache, dass die Bräute zufällig dieselbe Schneiderin beauftragt hatten und nun fanden, dass sich ihre Kleider zu stark ähnelten. Da man befürchtete, die beiden würden sich vor dem Traualtar gegenseitig zerfleddern, heirateten nur Justus und Aline zum festgesetzten Termin in Lamberti, Margret und Theodor dagegen ein halbes Jahr später in der Überwasserkirche. Da war das Kleid kein Thema mehr, und Margret genoss die ungeteilte Bewunderung der Hochzeitsgäste, weil Theodor ihr ein kostbares Saphircollier geschenkt hatte. Auch die Töchter der beiden Ehepaare kamen im Abstand von sechs Monaten zur Welt: Cornelia Elisabeth Sophia im Juni 1914, Norma Adele Katharina im Dezember. Drei Jahre später starb Aline bei der Geburt ihres zweiten Kindes, auch das Kind überlebte nicht, doch Justus heiratete nie wieder. 1933 machte Nelly an der Annetteschule das Abitur und studierte in Leipzig Pharmazie, um die Apotheke an der Ludgeri­straße zu übernehmen, die schon ihrem Großvater gehört hatte. Warum hatte sie nicht in Münster studiert, wo ihr Vater ganz allein in dem großen Haus in der Luisenstraße lebte? Hatte er sich mit dem Leben als Witwer doch nicht abgefunden oder eine Ersatzmutter für Nelly gesucht, gegen die die Tochter dann rebellierte? Aus Leipzig zurückgekehrt, mietete sie eine Wohnung nicht weit von der Apotheke. Erst 1955, als ihr Vater starb, zog sie wieder in ihr Elternhaus. Da war sie einundvierzig.

Wenn man auf die feinen Untertöne achtete, ging aus ihrer Chronik hervor, dass ihre Selbständigkeit und ihre finanziellen Freiheiten in der Verwandtschaft nicht gut ankamen, auch wenn ihr das Schicksal einer Halbwaisen anfangs viel Mitleid beschert hatte, materialisiert in Geschenken oder Ausflügen und Picknicks, die extra für sie ausgerichtet wurden. Unabhängig von fremden Meinungen, materiell auf eigene Füße gestellt und, wie manche fanden, eigenwillig und arrogant, erntete sie Unverständnis, wenn nicht sogar Neid. Ihre exotischen Urlaubsreisen brachten das Gerede erst recht in Fahrt. Reisen dieses Ausmaßes leistete man sich in der Nachkriegszeit nicht oft, wobei in Nellys Fall nicht so sehr die Kosten Anstoß erregten als vielmehr die Gefahren, denen sich eine augenscheinlich wohlhabende Frau in fremden Ländern aussetzte. Manchmal musste sich die Verwandtschaft die Reiseziele aus wortkargen Ansichtskarten zusammenrätseln und mühsam im Atlas suchen, was Nellys Aureole im Familienkreis auch nicht unbedingt vergoldete. Sie blieb eine rätselhafte, äußerlich eher blasse Erscheinung, die gelegentlich, wenn in ihrer Abwesenheit Familienfotos herumgezeigt wurden, den geflüsterten Verdacht provozierte, sie sei womöglich lesbisch.

Nach mühsamen Anfängen – das Haus, in dem die Apotheke untergebracht gewesen war, zerbombt, die Villa in der Luisenstraße von den Briten konfisziert –, entwickelte sich Nellys „Pillenladen“ schnell zur Goldgrube. Seine Inhaberin galt als kompetent und freundlich, keine makellose Schönheit zwar, aber auch nicht unattraktiv. Und nur sich selbst verantwortlich, da sie weder Eltern noch Kinder zu versorgen hatte.

So viel zu Nelly.

Kurzerhand faltete Carolin ihre unfertige Zeichnung zusammen, schob sie unter den Fuß von Lucas Arbeitsleuchte und beschloss, sich am folgenden Morgen die Anordnung der Zimmer noch einmal in Natura anzusehen. Sobald sie bei den Stadtwerken die Stromsperre reklamiert hatte.

Das Fest bei der Catering-Firma gegenüber ging zu Ende. Das Gemurmel der aufbrechenden Gäste drang über den verschneiten Platz wie das Plätschern von Wellen. Jetzt einschlafen, dachte sie, bevor es da unten dunkel und still wird, und die Schatten aus Nellys Haus den Weg hierher finden. Ohne Luca schien ihr der Loft groß und einsam. Nach Büroschluss hielt sich niemand mehr in dem Gebäude auf, und das würde auch so bleiben, solange die Nachbarwohnung nicht bezogen wurde.

Als Carolin aufwachte, war es halb drei, und Luca atmete tief und gleichmäßig neben ihr, den Kopf ins Kissen vergraben, nur in schwarzen Boxershorts, die Decke weit zurückgeschoben. Es war warm im Loft, und die Heizkörper knackten noch lauter als am vergangenen Abend. Carolins vorsichtige Bewegung ging auf Luca über, er begann leise zu schnarchen, woraus sie folgerte, dass er getrunken oder, schlimmer noch, gekifft hatte. Sie traute Massimo auch in diesem Punkt nicht über den Weg. Als sie noch näher rückte, erkannte sie den typischen Geruch. Sekundenlang kämpfte sie mit ihrer Wut. Natürlich hatte Massimo seine Geschäftseröffnung dazu missbraucht, seinen miesen Stoff loszuwerden. Wahrscheinlich hatten sie im Hinterzimmer der Boutique geraucht, nachdem die Gäste weg waren. Nur ein Wort von Massimo, ein spöttisches Lächeln, und Luca ging diesem Muttersöhnchen auf den Leim! Hatte Massimo bisher irgendetwas zustande gebracht, das nicht vom Konto seines Vaters abgepolstert wurde? Sie starrte an die Zimmerdecke, auf die der Lichtschein von draußen ein scheckiges Muster zeichnete, und überlegte, wie schön es jetzt wäre, Enzo anzurufen und sich an seine breite Schulter zu lehnen … Enzo, der Glücksfall, der immer alles verstand und mit seinem Lächeln selbst die hartnäckigsten Zweifel zerstreute. Wie hatte Gudrun es nur fertig gebracht, ein solches Goldstück zu verlassen? Von ihren beiden Kindern ganz zu schweigen. War der Verlust der eigenen Mutter leichter zu ertragen, wenn sie spurlos verschwand oder wenn sie auf dem Friedhof lag? Max und Karen hatten mitunter gestritten, doch niemals hätten sie ihre Tochter im Stich gelassen. Oder hatten sie etwa den Unfall provoziert, um sich nicht einer Scheidung stellen zu müssen? Wenn Carolin ihr Grab besuchte, sorgte sie stets für frischen Blumenschmuck, erneuerte die Kerze und rief sich die eine oder andere Episode ihrer Kindheit ins Gedächtnis, nur mit Gebeten tat sie sich schwer. An wen sollte sie sie adressieren? An die beiden Urnen unter den Bodendeckern aus Immergrün und Johanniskraut? An einen Gott, der für Carolin weder einen Großvater-Bart hatte noch ein gütiges Lächeln?

„Hey“, flüsterte Luca, „ich dachte schon, du hättest den ganzen Sekt gekillt. So fest, wie du geschlafen hast!“ Sie lehnten sich mit dem Nacken an die Kopfleiste, und Massimos Marihuana war kein Thema mehr. Carolin spürte einen angenehm kitzelnden Reiz bei der Vorstellung, das Dach höbe ab und schickte sie auf eine Wolke. Nie war es völlig dunkel und still in der Speicherstadt. Späte Passanten durchquerten den Innenhof, aber meistens so dezent, dass man sich behaglich im Bett umdrehte und dachte: Es gibt noch andere Menschen auf dieser Nordhalbkugel.

Lucas Zuhause bestimmten nicht nur natürliche Materialien wie Holz, Schiefer oder Kork, er ließ auch keinen einzigen überflüssigen Gegenstand gelten. Jede Tasse hatte ihren Stellplatz, jeder Moccalöffel seine Einbuchtung in der Besteckschublade, jedes Möbelstück seine klare Bestimmung. Nicht mal ein Sofa gab es. Nellys Haus beherbergte alles Mögliche an „Plüsch und Plumm“, wie Tom es gerne definierte, und war voll gestopft mit Dingen von schwer einschätzbarem Wert, fragwürdigem Erinnerungsbonus und zweifelhaftem Nutzen. Ein Haus, das dunkel, still und kalt bleiben würde wie eine Bärenhöhle, solange die Stadtwerke den Strom nicht wieder anstellten.

Sie holte tief Luft. „Ich war gestern Nachmittag in Nellys Haus. Den Inhalt des Kühlschranks entsorgen.“ Lucas Mimik signalisierte: Ich habe kein Problem damit!

„Es ist jemand vor mir da gewesen.“

Na und?

„Es gab keinen Strom. Vielleicht wurde er abgestellt?“

„Unmöglich“, protestierte er, auch jetzt nur mäßig interessiert. „Nicht, solange die Einzugsermächtigung deiner Großtante gilt!“

„Woran liegt es dann?“

„Was weiß ich? Mitten in der Nacht erzählst du mir diesen Stuss? Unter mangelndem Strom stelle ich mir etwas anderes vor.“

„Aber wer ist dieser Jemand?“

„Warum kramst du da überhaupt herum? Sollen doch deine Tanten den Kühlschrank ausräumen! Ich wette, deine Verwandtschaft ist ohnehin der große Abzocker im Testament.“

Sie rollte sich an ihn heran und entschied: Dies war der Moment, um über ihre Erbschaft zu reden. Das würde das drängende Prickeln in ihrem Bauch abstellen. Es war viel zu spät für Sex, schon früher Morgen! Sie würde danach nicht wieder einschlafen können. „Luca? Der große Abzocker bin ich. Das Haus, das Grundstück, alles Drum und Dran, gehört mir.“

In der Ferne jaulte ein Martinshorn, und Carolin dachte kurz an amerikanische Krimis, in denen die Sirenen ganz anders klangen als in Deutschland, auf- und abschwellend wie die Heultouren eines hysterischen Dreijährigen. Trotzig klang auch Lucas Stimme an ihr Ohr. „Und was machst du mit all dem geerbten Krempel?“ Er begann an ihrem Ohrläppchen zu knabbern, sein Atem war heiß. „Was machen wir beide damit?“, flüsterte sie und versuchte, den Gedanken an gezückte Pistolen und heulende Sireneneinsätze aufrecht zu halten. Wenn sie seinem Begehren jetzt nachgab … Schlagartig wurde ihr bewusst, welche Sprengkraft seine Frage nach dem Krempel besaß. Er meinte es ernst, und er hatte Recht. Wo in dieser verschachtelten Sechs-Zimmer-Villa gäbe es einen angemessenen Arbeitsplatz für ihn? Ihr wurde schwül, als sie an die Möglichkeit dachte, diese Erbschaft, wenn sie schon derart fischäugig von den Verwandten betrachtet wurde, dass man einen dauerhaften Familienkrach befürchten musste, könne auch einen Keil in ihre Beziehung zu Luca treiben.

„Du könntest Nellys Schlafzimmer im ersten Stock übernehmen“, schlug sie hastig vor, „es ist das schönste Zimmer im ganzen Haus!“ Dass Nelly dort gestorben war, würde Luca nicht stören. Ein paar sarkastische Sekunden lang traute sie ihm sogar zu, dass er dort ein neues Modell entwickelte. Lampenschirme aus roten Glaszylindern und Fassungen aus Messing wie bei Grablichtern. Würde er sie Hades nennen? Oder Cerberus? „Wie groß?“ Er ließ ihr Ohrläppchen los und kniff die Augen zusammen.

„Fast dreißig Quadratmeter, zur Straße gelegen. Das heißt, nach Süden raus, also gutes Licht, aber keine direkte Sonneneinstrahlung, weil das Dach ein wenig vorkragt. Und drei Meter Raumhöhe.“ Es war eine sehr optimistische Schätzung. Aber hätte sie den Raum abschreiten sollen, wenn sie die Großtante besuchte? Sie war nun mal nicht wie Annegret gebaut, die längst den Stempel unter Nellys Geschirr geprüft und ihre weitsichtigen Augen mit der Silberprägung des Bestecks überstrapaziert hatte.

Luca hatte den Nacken wieder gegen das graue Kopfteil gelehnt. „Ich könnte in solch einer Mottenbude niemals arbeiten. Mir würden die Ideen ausgehen. Das ist so, als wenn andere nicht mehr rauchen dürften oder keinen Stoff mehr bekämen.“

„Aber dort schlafen könntest du.“ Ihre Hände flimmerten über seine nackte Brust, erkundeten die warme, glatte Haut und stellten zufrieden fest, dass sich sein Herzschlag beschleunigte und die Brustwarzen sich lustvoll aufstellten. Er befreite sich nicht aus ihrer Umarmung, doch er erwiderte sie auch nicht. Und wenn Carolin die Beschreibung von Nellys Haus eben noch gekitzelt hatte bis in die große Zehe, fror sie beim Warten auf Lucas Antwort. Panik überschwemmte sie; die animalische Angst eines Kindes, das gewohnte Einschlaflicht am Bett würde ihm weggenommen. Das Gefühl hatte bestürzende Ähnlichkeit mit jenem Frösteln, das sie gepackt hatte, als Brigitte Frenzel Schlafen Sie gut, da drüben! zu ihr sagte, in der Annahme, dass sie gleich dort bleiben würde. In diesem kalten, dunklen Haus voller Schatten zu schlafen – das hätte sie nicht nur in dieser einen Nacht nicht geschafft, es würde niemals klappen; nicht ohne Luca.

„Ich kann das Haus nicht so vermieten, wie es ist“, flüsterte sie, den Mund sanft auf seinen Lippen. Er antwortete, indem er ihren Kuss hart erwiderte, wie eine Forderung, sich seinem unausgesprochenen Wunsch zu fügen, der lautete: Bleib bei mir! Vergiss die verdammte Erbschaft. Seine stummen Worte sickerten durch ihr Hirn wie flüssiges Blei, sie taten weh.

„Ich habe heute Abend versucht“, entgegnete sie trotzig, „eine komplette Bestandsaufnahme zu machen. Wegen der Miete, die ich verlangen könnte. Ich fürchte, das ist nicht viel, verglichen mit der Toplage und der großen Wohnfläche.“ Es kam selten vor, dass sie Luca nicht die Wahrheit sagte, doch sie musste ihm verschweigen, dass sie sich das Haus so genau gar nicht angesehen hatte. Es war die Angst, die ihr die Worte in den Mund legte. Wenn er nicht mit ihr gehen wollte, bedeutete das dann Trennung? Kannte sie Luca und seine Liebe zur Unabhängigkeit so schlecht?

Seine Stimme klang auch jetzt unbeteiligt. „Dann vermietest du es eben für ein Butterbrot. Du wohnst umsonst bei mir, was bedeutet da schon die heruntergekommene Bude einer alten Frau?“

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie bei der Nachricht, sie habe das Haus geerbt, wie selbstverständlich angenommen hatte, Luca würde mit ihr dort einziehen. In Nellys Räumen könnte sie ihre ganze Kindheit vor ihm ausbreiten wie ein buntes Leporello. Warum nicht gemeinsam lachen über die albernen Streiche, die Pleiten und Pannen der Familienfeiern? Auch durch Lucas Kindheit verlief ein tiefer Riss. Ihre Erzählungen würden ihn vielleicht aus seiner ewigen Reserve herausholen.

„Auch für ein Butterbrot geht dieses Haus nicht weg, weil selbst der größte Depp kapiert, dass die Betriebskosten ein Wahnsinn sind. Nelly hat in den letzten Jahre kaum mehr geheizt, weil sie nur noch im Bett lag, und die Küche …“, sie unterbrach sich abrupt. Wenn sie Luca von dem Suppenteller im Kühlschrank erzählte, würde er sie auslachen; sogar ihr kam die Sache inzwischen albern vor. Die toten Tieraugen waren eine Attacke auf ihr Nervenkostüm, aber keine Bedrohung. Hier in Lucas Bett konnte sie sich darüber amüsieren.