Irmela von der Lühe

Erika Mann

Eine Lebensgeschichte

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

 

KAPITEL I

Kindheit und Jugend in München
«Erste Begegnungen mit Berühmtheiten» (1905–1923)

 

KAPITEL II

Bühne – Schreibtisch – Automobil (1924  1932)

Kindertheater

«Zehntausend Meilen weg von hier» und dann der «Familienfluch»

«Geht die Kunst nach Brot? – Freilich geht sie nach Brot»

Geschichten vom Auto – Geschichten für Kinder

 

KAPITEL III

Spaß am Spiel – Ernst im Spiel
‹Die Pfeffermühle› und das Exil in Europa (1933  1936)

13. Januar 1932: ein Tag und seine Folgen

Die Pfeffermühle

«Ich wäre so eine gute Kraft für große Machenschaften»

«Immer indirekt» und «rein literarisch»

«Sie machen zehnmal mehr gegen die Barbarei als wir alle Schriftsteller zusammen»

«Dies ist mehr als Zeitvertreib, es ist vielleicht schon Zeitgericht»

Familienzwist um Bermann: «Für mich ist es traurig und schrecklich»

 

KAPITEL IV

Neues Heimatland
Die ersten Jahre im amerikanischen Exil (1937  1939)

«I think she will be a success»

«School for Barbarians»

«Wer spricht von siegen? Überstehn ist alles»

«Mein Gott, die Bücher»

 

KAPITEL V

An allen Fronten: Journalistin im Krieg (1940  1951)

«Die Eri muß die Suppe salzen»

«I of All People» – Ausgerechnet ich!

Unterwegs in Deutschland

Der «greise Unhold» und die «Eule»

Als «Stalins fünfte Kolonne» denunziert

 

KAPITEL VI

Rückkehr in die Fremde
«In Arbeit notdürftig geborgen» (1952  1969)

«Warum ist es so kalt?»

«Turbulente Einsamkeit»

«Ich bin nur noch ein bleicher Nachlaßschatten»

«Meine Krankheiten liegen miteinander im Kalten Krieg»

Das letzte Jahr

Abkürzungen

Anmerkungen

Danksagung

Quellen und Literatur

I. Archive und Sammlungen

II. Veröffentlichungen Erika Manns

III. Autobiographien, Korrespondenzen, Memoiren, Tagebücher, Essays

IV. Weitere Literatur

Namenregister

Vorwort

In seinem Buch Thomas Mann und die Seinen hat Walter A. Berendsohn schon 1973 die Ansicht geäußert, für die «Geschichte unseres Zeitalters» seien «Bild, Lebenslauf und Werk» Erika Manns «fesselnd und repräsentativ». Berendsohn hat damals vorgeschlagen, eine «Monographie» über Die Pfeffermühle und ein «Buch» über deren Initiatorin zu schreiben sowie eine «Auswahl ihrer besten Werke in einigen Bänden zu vereinigen».1 Gut zehn Jahre später erwies sich erstmals, wie berechtigt Berendsohns Urteil war, als Anna Zanco Prestel eine Auswahl von Briefen von und an Erika Mann herausgab. Bis dahin kannte man sie «nur» als älteste Tochter Thomas Manns, als Nichte Heinrich Manns, als Schwester des inzwischen wiederentdeckten Klaus Mann.

Die Situation hat sich in den folgenden zwanzig Jahren noch einmal gründlich gewandelt. Auf die erste Ausgabe dieser Biographie Erika Manns im Jahr 1993 folgten zwei umfangreiche Editionen mit Essays und Aufsätzen;2 es folgten Neuausgaben ihrer großen, im Exil entstandenen Bestseller Zehn Millionen Kinder (1938) und Wenn die Lichter ausgehen (1940);3 auch Erika Manns Kinderbücher wurden neu entdeckt und zum Teil wieder gedruckt.4 Zahlreiche Ausstellungs 5 - und Filmprojekte haben in den letzten Jahren das öffentliche Interesse an der Mann-Familie weiter gesteigert; nicht ganz zu Unrecht hat Marcel Reich-Ranicki 1999 geäußert: «Was den Briten ihre Windsors, das sind den Deutschen, jedenfalls den Intellektuellen, die Manns.»6

Erika Mann selbst, in der Reaktion auf Medien und Öffentlichkeit so routiniert wie kaum ein anderes Mitglied der Familie, schrieb 1965 an Albrecht Goes, aus Anlass ihres 60. Geburtstages habe man in einer Zeitung lesen können, «manche Leute in der Bundesrepublik seien bei uns schon fast so zu Hause wie in der Familie Hesselbach»,7 der seinerzeit beliebtesten Fernsehserie. Über die erwähnten Editionen hinaus sind in der Zwischenzeit die Kenntnisse zu Leben und Werk einzelner Familienmitglieder und auch des familialen Umfeldes erheblich gewachsen: die Bücher von Inge und Walter Jens über Hedwig und Katia Pringsheim,8 die biographischen Arbeiten zu Golo Mann, die Auswahlausgabe seiner Briefe bzw. die Erstveröffentlichung von Texten Monika Manns,9 schließlich die intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit Klaus Mann, mit Leben und Werk Annemarie Schwarzenbachs,10 die Veröffentlichung von Texten Erich Ebermayers.11 All dies sowie einige Arbeiten, die direkt Erika Mann galten, haben zu dem Plan der nun vorliegenden überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe der Biographie geführt.

Sie orientiert sich im Aufbau und in der Entfaltung des Materials im Wesentlichen an der Erstausgabe von 1993. Freilich konnten bisher unbekannte und unveröffentlichte Quellen für die Neuausgabe benutzt werden: so zum Beispiel Bruno Walters Briefe an Erika Mann aus den Jahren 1949/​50 und der Bericht über Erika Mann, den ihre Freundin Signe von Scanzoni, eine ausgebildete Schauspielerin und Sängerin, 1969 nach Erika Manns Tod verfasst hat.12

«Sie hat sich selber nie so ganz ernst genommen, andere viel ernster»,13 hat Golo Mann zum 60. Geburtstag seiner älteren Schwester geschrieben. Nicht zuletzt im Umgang mit ihrer eigenen Arbeit im Exil bestätigt sich die Wahrheit dieser Aussage. Während der Bruder Klaus alle Zeugnisse seiner schriftstellerischen Arbeit aufhob und auf diese Weise die Arbeit der Forschung erheblich erleichterte, war Erika Mann an einer solchen Spurensicherung herzlich desinteressiert. Über den Tag hinaus waren ihr die eigenen Manuskripte, Texte und Materialien nicht wichtig, an einem Nachruhm als Schriftstellerin hat sie nicht gearbeitet. Seit 1933 galt ihre alltägliche Arbeit dem satirischen, dem publizistischen Kampf gegen Hitler, nach dem Exil bestimmte die Arbeit für Werk und Nachlass des Bruders und des Vaters ihren Alltag. Von sich selbst erzählte sie gelegentlich in Interviews, ihre Autobiographie blieb Fragment, ein Tagebuch hat sie nicht geführt. Tausende von Briefen an Familienmitglieder und Freunde, Autoren und Lektoren, Kollegen und Rechtsberater zeigen sie nicht nur als engagierte Zeitgenossin, sondern – ähnlich wie Großmutter Hedwig Pringsheim und Mutter Katia – als Meisterin einer Gattung, die zu Unrecht noch immer gern als bloße Privatäußerung abgetan wird. Erika Manns Briefe an Vater und Bruder, an befreundete Autoren wie Hans Habe, Hermann Hesse oder Ludwig Marcuse, an Rudolf Hirsch (S. Fischer Verlag) oder Martin Gregor-Dellin (Nymphenburger Verlagshandlung) sind – mit Signe von Scanzoni gesprochen – «ein Rankenwerk von Spiel und Spott»,14 sofern freundschaftliche Verbundenheit mit ihnen bekräftigt wurde; sie sind epistolarische Giftspritzen, sofern – wie im Falle von Carl Zuckmayer, Alfred Döblin, Theodor W. Adorno, Klaus Schröter oder auch Inge Jens – die Empfänger in Erika Manns gelegentlich einseitiger Sicht abgestraft werden mussten.

Schon zu Lebzeiten hat Erika Mann die Gemüter in ihrem Umfeld polarisiert, moderate Positionen hat sie selten eingenommen, und am harmonischen Gleichklang in- und außerhalb der Familie war ihr nie gelegen. Es verwundert daher nicht, dass sich bis heute in der interessierten Öffentlichkeit die Gemüter an ihr scheiden. An der bewunderten Aktivistin gegen Hitler, an der engagierten Kriegskorrespondentin und eigenständigen Publizistin irritiert die anscheinende Selbstaufgabe zugunsten von Vater und Bruder nach dem Ende des Exils; der Verzicht aufs ‹Authentisch-Eigene› zugunsten des ‹Familienunternehmens›. Während man der Arbeit Erika Manns für das väterliche Werk häufig und bisweilen zu Recht den Vorwurf gemacht hat, es habe ihr an kritischer Distanz und philologischer Kompetenz gefehlt, sie habe sich als «Protokollchef» mit wahrer «Nibelungentreue» vor Person und Werk des Vaters gestellt,15 hält sich in der Klaus-Mann-Forschung beharrlich die Behauptung, ihre Arbeit für den Vater habe die Geschwisterbindung bedroht und Klaus weiter in Einsamkeit und Verzweiflung getrieben. Richtet sich der Vorwurf im einen Fall auf die allzu unkritische Verehrung des väterlichen Werkes, so lautet er im anderen Fall auf zu wenig Einfühlung ins Lebensleid des Bruders. So wenig wie im ersten Fall die heftigen Kontroversen berücksichtigt werden, die in politischer Hinsicht zwischen Vater und Tochter während des Exils und danach ausgetragen wurden, so wenig werden im zweiten Fall die tatsächlichen Lebensumstände im Exil und die dafür einschlägigen Passagen aus der Geschwister-Korrespondenz berücksichtigt.16

Aus ganz unterschiedlichen, zum Teil gegensätzlichen Perspektiven wurden Erika Manns berufliche und persönliche Lebensentscheidungen im letzten Jahrzehnt auf den Prüfstand gestellt. Als 1993 die ebenso publikumswirksame wie haltlose Behauptung verbreitet wurde, Erika Mann sei eine Agentin des FBI gewesen und habe nicht nur den Vater, sondern auch die amerikanische Emigrantenszene ausspioniert, und zwar aus «Eitelkeit und Opportunismus»,17 da ließ sich die seinerzeit heftig geführte Debatte um die Stasi-Tätigkeit intellektueller IMs auf selbstentlastende Weise in die Vergangenheit verlagern. Die Behauptungen entbehren jeder Grundlage, das publizistische Strohfeuer erlosch denn auch schnell.

Nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen waren Erika Mann und ihre Geschwister ‹Halbjuden›; dass sie alle – wie schon Katia Mann und ihre Mutter Hedwig Pringsheim – protestantisch getauft waren, war nach diesen Gesetzen ohne Belang. Dennoch hat sich Erika Mann nicht als rassisch verfolgte Gegnerin Hitlers verstanden. Eine Rückbesinnung auf ihre mütterlicherseits jüdische Herkunft hat sie sich durch Hitler nicht aufzwingen lassen. Eine andere Position als jene, die Klaus Mann in seinem 1937 erschienenen Essay Lob der gemischten Rasse18 vertrat, hat sie wohl auch nicht eingenommen. Darin karikiert Klaus Mann den nationalsozialistischen Rassenwahn und seine abwegigen identitären Gewissheiten.

Offenbar hat Erika Mann weder vor noch nach der Shoah Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein19 nachgedacht. Dies hat vor einigen Jahren zu Irritation und zugleich zu der Behauptung geführt, Erika Mann habe ihre jüdische Herkunft verdrängt, ja verleugnet.20 Keinerlei Belege gab und gibt es für solche pathologisierenden Spekulationen, die denn auch eher vom identitätspolitischen Normdenken einer späteren Generation zeugen. Erika Mann retrospektiv eine Verdrängungsschuld anzulasten, ignoriert mehr als nur ihre persönliche Sicht auf sich selbst und ihre Herkunft.

Erika Mann hat – und dafür gibt es viele Zeugnisse – in der Verfolgung und Entrechtung der deutschen und europäischen Juden ein Herzstück der nationalsozialistischen Politik gesehen. Songs aus der Pfeffermühle, die Passagen über die Situation der jüdischen Kinder in Zehn Millionen Kinder, Kapitel aus Wenn die Lichter ausgehen, Erzählungen wie Siebzehn Postkarten aus Deutschland,21 ihre Mitarbeit in verschiedenen Hilfskomitees für jüdische Flüchtlinge, schon ihr erster Auftritt als politische Rednerin bei einer Großdemonstration des American Jewish Congress im März 1937, wo sie die verbrecherische Absurdität der ‹Nürnberger Gesetze› demaskiert;22 all diese und viele weitere publizistische und praktische Aktivitäten sprechen eine deutliche Sprache. Vor Tausenden von Zuhörern, in Vorträgen und Reden hat Erika Mann die sozialpsychologische und die politische Funktion des Antisemitismus als Instrument der Schuldentlastung durch Konstruktion eines kollektiven Sündenbocks illustriert und demontiert. Die empirisch-systematischen Untersuchungen des exilierten Instituts für Sozialforschung in New York zur «autoritären Persönlichkeit» sowie zur Entstehung und Funktion von Vorurteilen haben ab 1944 solche Befunde auf breiter Basis bestätigt.

So ambivalent und zum Teil antisemitisch Thomas Manns Äußerungen über Juden und Judentum vor 1933 gewesen sind, so eindeutig sind sie zum Rassen-Antisemitismus der Nationalsozialisten.23 Als im Jahre 1942 die ersten Nachrichten über die Massenverbrechen an der jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten Osteuropas durchsickerten, hat Thomas Mann in seinen BBC-Reden, die Erika Mann bei ihrem ersten Londoner Aufenthalt 1940 organisatorisch vorbereitet hatte, dazu scharfe Worte gefunden. Schon beim PEN-Kongress 1941 hatte Erika Mann für ein alliiertes Re-Edukationsprogramm plädiert 24 und damit Überlegungen angestellt, die ihren Niederschlag in Thomas Manns Essay Die Lager und im Doktor Faustus finden sollten. Als Kabarettistin und politische Publizistin sah sie sich explizit in aufklärerisch-humanistischer Tradition; deren Fortbestand erschien nicht nur ihr durch die nationalsozialistische Diktatur aufs äußerste gefährdet.

Dass die Intellektuellen der Weimarer Republik diese Gefahren viel zu spät erkannt und viele von ihnen stattdessen eine ästhetisierende «Sympathie mit dem Tode» kultiviert haben, hat Erika Mann avant la lettre als Verrat der Intellektuellen kritisiert.25

Trotz mancher politischen Differenzen mit dem Vater war Erikas Bindung an ihn konfliktfreier als diejenige an die Mutter. Dies betrifft allerdings nicht politische Fragen. Gemeinsam haben Mutter und Tochter 1957 bei Johannes R. Becher gegen die Inhaftierung und Verurteilung Walter Jankas protestiert; in Übereinstimmung mit Katia Mann schrieb Erika Mann 1967 aus Anlass des Sechs-Tage-Krieges an den israelischen Botschafter in Bern, um ihn ihrer Solidarität zu versichern und die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden im Nahen Osten auszudrücken.26 In solchen Wünschen, die stets mit aktiver, in diesem Falle finanzieller Hilfe verbunden waren, lässt sich gleichsam Erika Manns Lebensthema ausmachen. In einem Artikel für die in London erschienene Zeitung hat sie im Mai 1943 ihre Vision von einer Welt der Zukunft, nach dem Ende von Diktatur und Dummheit, entworfen:

 

«Eine Welt, – eine einzige, mäßig große, die Raum hat für alle, doch nicht für alles. Und wofür nun einmal gewiß nicht? Das Wort ist flach und wir vermieden es lieber. Es ist unvermeidlich. Was hinter ihm steht, hat die Erde in Rauch und Flammen gehüllt und muß verfemt sein, nach den Gesetzen der neuen Welt. Es heißt: Nationalismus!»27

 

In vielen Essays und Interviews, vor allem aber im Vorwort zu ihrer geplanten Autobiographie hat Erika Mann davon berichtet, dass das Interesse an Politik und die Einmischung ins politische Weltgeschehen in ihrem Leben eigentlich nicht vorgesehen waren. Das Theater und die Bühne habe sie für ihre Bestimmung gehalten, das große politische Welttheater aber sei ihr gleichsam aufgezwungen worden. Sechsundzwanzig Jahre später wird Signe von Scanzoni diese Selbstsicht so kommentieren: «Du warst nie ein ‹Theatermensch›. Das Theater war für Dich eine Durchgangsstation, die Schauspielerei diente Dir dazu, Dich zur Darbietung zu schulen, bis Du den Text zu Dir gefunden hattest.»28

Erika Manns Lebenstext, sofern er die Politik und ihre politischpublizistische Arbeit betrifft, variiert ein Leitmotiv. Den Gedanken nämlich, ihr Zugang zur Welt der Politik sei nicht intellektuell und theoriegeleitet, sondern emotional und von einfachen moralischen Grundannahmen bestimmt:

 

«Ich bin weder eine Partisanin, noch würde ich zum Kreuzfahrer taugen. Meine politischen Ansichten und Handlungen sind stets mehr von meinen persönlichen Erfahrungen und Impulsen als von abstrakten Prinzipien bestimmt worden. Das einzige ‹Prinzip›, an das ich mich halte, ist mein hartnäckiger Glaube an einige grundlegende moralische Ideale – Wahrheit, Ehre, Anstand, Freiheit, Toleranz.»29

 

Sie nennt solche Überzeugungen selbst ein «kindisches Credo», aber Kinder hätten bekanntlich ein «klareres ethisches Bewußtsein», wüssten sehr natürlich und sehr spontan zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Erika Manns Kinderbücher illustrieren genau diesen Grundsatz und zeigen zugleich, dass die politische Publizistin und die Kinderbuchautorin so weit nicht voneinander entfernt sind.30 Der elementaren Antithetik von Gut und Böse, Idealismus und Zynismus folgen fast alle politischen Texte Erika Manns, freilich ergänzt um die politisch nicht minder brisante Überzeugung, Zynismus zahle sich nicht aus und Idealismus (zum Beispiel in Gestalt demokratisch-humaner Gesellschaften) müsse resolut, kompromisslos, sogar militant sein. Mit solchen Überzeugungen, die den Kampf gegen Gesinnungs- und Gefühllosigkeit, gegen Diktatur und Barbarei nicht zu einer Frage von Herkunft, Bildungsstand und Parteizugehörigkeit machen, sondern anthropologisch und zivilisatorisch verbürgt sehen, ist die politische Publizistin Erika Mann für die «Geschichte unseres Zeitalters» nicht nur «fesselnd und repräsentativ», wie Walter A. Berendsohn vor 36 Jahren vermutete, sondern höchst aktuell.

KAPITEL I

Kindheit und Jugend in München

«Erste Begegnungen mit Berühmtheiten»

(1905 – 1923)

Über die erste Begegnung zwischen Thomas Mann und Katia Pringsheim, über das alltägliche Leben im Hause der Thomas-Mann-Familie, über Kindheitserlebnisse und jugendliche Abenteuer im München der Weltkriegsjahre haben nicht nur die Thomas-Mann-Biographen viel und häufig ähnlich geschrieben. Klaus Manns Autobiographien, zahlreiche Interviews Erika Manns aus späteren Jahren und auch Katia Manns Ungeschriebene Memoiren haben ein Bild vom Leben in der Poschingerstraße und in Bad Tölz entstehen lassen, das harmonisierende, verklärende Züge trägt; gerade dann, wenn von extravaganten Streichen und verrückten Unternehmungen der Geschwister Erika und Klaus die Rede ist.

Die Biographin steht vor der Schwierigkeit, all diese Geschichten, die Kennern der Mann-Familie bis zum Überdruss geläufig sein mögen, noch einmal zu erzählen. Zur fehlenden Originalität gesellt sich ein zweiter Mangel: Verlässliche Quellen, Aufzeichnungen gar oder zuverlässige mündliche Mitteilungen darüber, wie es im Hause des häufig schweigsamen, stets auf Etikette und bürgerliches Wohlleben bedachten Vaters denn wirklich zuging, finden sich nur selten. Einiges ist den 1931 einsetzenden Tagebüchern Klaus Manns zu entnehmen, der selbst indes durch seine in wissenschaftlichen und populären Darstellungen immer wieder ausgeschriebene Autobiographie Kind dieser Zeit (1932) nicht unerheblich zur Legendenbildung beigetragen hat. Es fällt nicht schwer, sich auch die Gegenseite der im Folgenden wiederholten Schilderungen vorzustellen: familiäre Zwänge, autoritäre Reaktionen, kränkende Erlebnisse und wohl auch bedrückend öde Tage, die vom vornehmen Desinteresse des Vaters an seiner Familie bestimmt waren.

Als «Audienz» hat Hans Sahl einen Besuch im Hause Thomas Manns während des Exils in der Schweiz empfunden und hinzugefügt:

 

«Es schien mir, als ob Thomas Mann Wert darauf legte, sogar ein Gespräch mit seiner Familie wie eine Buchseite zu komponieren. Da wurde nicht durcheinandergeredet, jeder kam an die Reihe zu gegebener Zeit.»1

 

Und Susan Sontag, die 1947 als Vierzehnjährige in Pacific Palisades von Thomas Mann zum Tee empfangen wurde, erinnert sich: «Was mich dunkel zu stören begann, war, daß er (damals hätte ich das nicht so sagen können) redete wie eine Buchbesprechung.»2

Thomas Manns zwanghaftem Form- und Repräsentationsbedürfnis, das Tagebücher, Briefe, öffentliches Auftreten und private Ausstrahlung gleichermaßen bestimmte, entspricht bei seinen ältesten Kindern eine tiefsitzende Neigung zur öffentlichen und privaten Selbstinszenierung, zur literarischen Stilisierung von Kindheitserlebnissen und ausgefallenen Streichen, die für die biographische Rekonstruktion familiärer Lebenswelten nicht weniger hinderlich sein kann. Die folgende Darstellung ist sich der daraus entstehenden Lücken beziehungsweise Leerstellen wohl bewusst.

 

Als er im Frühjahr 1904 Zutritt zu den großen Münchener Salons erhielt, war Thomas Mann mit den Buddenbrooks, mit Tonio Kröger und zahlreichen anderen Novellen schon zu einiger Berühmtheit gelangt. Ein Jahr vor seiner Heirat hatte er erstmals das Haus Arcisstraße 12 des berühmten Münchener Mathematikprofessors und Kunstliebhabers Alfred Pringsheim betreten und war begeistert von der «kaufmännischen Kultureleganz», die ihn umfing.3 Die Atmosphäre des Hauses, die berühmte Majolikasammlung und die Wagner-Verehrung seines künftigen Schwiegervaters hatten es ihm angetan, wie viel mehr noch die einzige Tochter des Hausherrn – Katia, die Mathematik- und Physikstudentin im vierten Semester. Sie war das einzige Mädchen neben vier Brüdern, fühlte sich aber wie die Jungen. Als die fünf Pringsheim-Buben galten sie in München, und durch August von Kaulbachs berühmtes Genre-Bild Kinderkarneval, das die Pringsheim-Kinder als kleine Pierrots porträtierte, waren sie auch über München hinaus schon bekannt. Das einzige Mädchen unter ihnen fiel auf: durch seine strahlenden dunklen Augen, durch seine Schönheit. Die allerdings lag in der Familie, denn schon Hedwig Pringsheim, die Mutter, die vor ihrer Ehe eine erfolgreiche Schauspielerin gewesen war, bezauberte ihre Umwelt durch ihre Schönheit, ihren Charme, ihr Temperament. An beidem fehlte es auch der Großmutter nicht, die wirklich berühmt war. Hedwig Dohm, die Großmutter Katias und die Urgroßmutter Erika Manns, hatte nach einer tristen Kindheit und einer unbefriedigenden, schließlich abgebrochenen Ausbildung im Lehrerinnenseminar den Berliner Satiriker und Kladderadatsch-Chefredakteur Ernst Dohm geheiratet, einen Mann aus dem Geiste der 48er-Bewegung, einen der bedeutendsten politischen Publizisten im Berlin Bismarcks. Sie gehörte neben Fanny Lewald, Lily Braun und Gabriele Reuter zu den Begründerinnen der Frauenbewegung. Ihre journalistischen und literarischen Arbeiten, die sie seit den 1870er Jahren veröffentlichte, zählten zum Scharfsinnigsten, was vor der Jahrhundertwende im Kampf um Frauenwahlrecht und Frauenemanzipation formuliert worden war. Das Temperament, die quirlige, blitzgescheite Energie der Großmutter und der Mutter hatte Katia geerbt, und bei ihrer Tochter Erika sollte man beides wiederfinden.

Der achtundzwanzigjährige Thomas Mann war fasziniert; im Sturm hatte Katia sein Herz gewonnen, ohne es – zunächst – recht zu wollen. Noch bevor er das schöne Haus in der Arcisstraße betreten hatte, war sie ihm in der Straßenbahn begegnet.

 

«Als ich aussteigen wollte, kam der Kontrolleur und sagte: Ihr Billet! Ich sag: Ich steig hier grad aus.

Ihr Billet muß i ham!

Ich sag: Ich sag Ihnen doch, daß ich aussteige. Ich hab’s eben weggeworfen, weil ich hier aussteige.

Ich muß das Billett –. Ihr Billet, hab ich gesagt!

Jetzt lassen Sie mich schon in Ruh! sagte ich und sprang wütend hinunter. Da rief er mir nach: Mach daß d’ weiterkimmst, du Furie!

Das hat meinen Mann so entzückt, daß er gesagt hat, schon immer wollte ich sie kennenlernen, jetzt muß es sein.»

 

Achtzigjährig hat Katia Mann es in ihren Ungeschriebenen Memoiren4 so erzählt und hinzugefügt, dass sie zwar die Buddenbrooks gelesen und zu ihrer Überraschung «eigentlich recht gut gefunden», an der Bekanntschaft mit dem Autor aber kein großes Interesse gehabt habe. Thomas Mann jedoch war entschlossen; er warb um sie – fast ein Jahr lang. Katias Mutter war auf seiner Seite; die Begeisterung für die Musik Richard Wagners, die Thomas Mann mit Alfred Pringsheim teilte,5 mag dazu beigetragen haben, dass der Professor der Mathematik seine Zweifel am Dichter des «Verfalls einer Familie» schließlich überwand. Gemeinsam mit ihren Brüdern spottete Katia über den «leberleidenden Rittmeister», der immer so schrecklich korrekt, aber auch irgendwie rührend ungelenk war.6

Trotzdem sagte die Umworbene eines Tages «Ja», und am 11. Februar 1905 feierte man Hochzeit. Trotz kleiner Gesellschaft im engsten Familienkreis war das Fest in der Arcisstraße ein gesellschaftliches Ereignis. Thomas Mann, der Bürgersohn aus Lübeck, dem das Unstete der Dichterexistenz ein Leben lang Unbehagen bereitete, hatte mit Katia Pringsheim, der Tochter aus Münchens besten Kreisen, nicht nur die «Prinzessin» gefunden; er hatte die Frau gefunden, mit der er verwirklichen konnte, was er als Pflicht empfand: den Willen zum Glück, das «strenge Glück». Der erfolgreiche Dichter und seine acht Jahre jüngere, temperamentvolle, schöne Frau: königliche Hoheiten in gediegener, standesgemäßer Umgebung, aber ohne Standesdünkel.

Eigentlich sollte sie möglichst noch keine Kinder haben, so hatten die Ärzte Katia geraten. Aber es kam anders. Im November wurde Erika geboren, schon ein Jahr später Klaus; Golo und Monika folgten 1909 und 1910 und schließlich 1918 und 1919 die beiden «Kleinen», Elisabeth und Michael.

 

Das erste Kind hatte eigentlich ein Junge werden sollen; an seinen Bruder Heinrich schrieb Thomas Mann nach Erikas Geburt:

 

«Es ist also ein Mädchen: eine Enttäuschung für mich, wie ich unter uns zugeben will, denn ich hatte mir sehr einen Sohn gewünscht und höre nicht auf, es zu thun. Warum? ist schwer zu sagen. Ich empfinde einen Sohn als poesievoller, mehr als Fortsetzung und Wiederbeginn meinerselbst unter neuen Bedingungen.»7

 

In anderen Briefen zeigte sich der Vater weniger enttäuscht, dafür erschüttert vom Wunder der Geburt. An Paul Ehrenberg heißt es am 11. November 1905 gar: «Ich habe das Vergnügen, mich dir als Vater und Papa vorzustellen. Ein wohlgestaltetes Mädchen hat den Weg ins Räumlich-Zeitlich-Causalitätliche gefunden. Möge es sie nicht gereuen.»8 Unübersehbar ist der Stolz des Vaters, der sich mit der einjährigen Erika auf dem Arm dem Fotografen stellt: Ein strahlender Held, immer aber akkurat und streng gekleidet, blickt der Vater mit seinem damals schon verschmitzt lächelnden Töchterchen ins Auge der Kamera. Unersetzlich sollte sie, das älteste seiner sechs Kinder, dem Vater Thomas Mann insbesondere ab den dreißiger Jahren und bis zu seinem Lebensende werden. Nur zur jüngsten Tochter, der 1918 geborenen Elisabeth, empfand Thomas Mann eine ähnliche Nähe.

Ob beide Töchter freilich bewirkten, was sich bei aller Enttäuschung der Vater bei Erikas Geburt erhofft hatte, muss offen bleiben: «Und vielleicht bringt mich die Tochter innerlich in ein näheres Verhältnis zum ‹anderen› Geschlecht, von dem ich eigentlich, obgleich nun Ehemann, noch immer nichts weiß.»9

Nach der Hochzeit hatte das Ehepaar Mann zunächst eine Wohnung ganz in der Nähe der Arcisstraße bezogen: Franz-Joseph-Straße 2, dritter Stock, sieben Zimmer und ein Bad. Der kunstliebende Schwiegervater hatte es sich nicht nehmen lassen, seiner einzigen Tochter das erste Heim mit ausgewählten alten Stücken aus dem Münchener Antiquitätenhaus Bernheimer einzurichten, selbst an das Interieur des Arbeitszimmers, an einen neuen Schreibtisch und einen mit gold-rosa Samt bezogenen Lehnstuhl hatte er gedacht. Auch der Stutzflügel für den Salon fehlte nicht, und die Bibliothek in Thomas Manns Arbeitszimmer enthielt Klassikerausgaben und bibliophile Kostbarkeiten in Fülle; ein besonderes Regal fand sich in bequemer, greifbarer Nähe über dem Sofa: für die eigenen Werke und für die des Bruders.

Die Einrichtung der Zimmer und die Anordnung der Gegenstände auf seinem Schreibtisch – nichts sollte sich in den Häusern, die Thomas Mann und seine Familie bewohnten, je ändern. Immer hing im Arbeitszimmer des Schriftstellers Franz von Lenbachs Porträt der achtjährigen Katia Pringsheim, und immer stand auf Katias Schreibtisch eine kleine Bronzeplastik. Sie war ein Geschenk Thomas Manns zu Katias Geburtstag und stellte ein Reh dar; eine Anspielung darauf, dass in frühen Jahren Katia ihren Gatten «ein rehartiges Gebilde von großer Sänfte» genannt hatte. Thomas Mann hatte deswegen seinem Geschenk ein Kärtchen beigelegt: «Unfähig, eine Überraschung zu ersinnen, bringt das Reh sich selbst zum Opfer dar.»10

Nur geräumiger, großzügiger wurde das Ambiente über die Jahre. Schon 1910 musste sich die inzwischen sechsköpfige Familie nach etwas Größerem umsehen, in der Mauerkircherstraße 13 mietete man zwei Vierzimmerwohnungen, die miteinander verbunden wurden. Immerhin gab es auf diese Weise zwei Küchen und zwei Badezimmer. Zum Haushalt gehörten schließlich Kindermädchen und Dienstboten.

Aber bereits gute drei Jahre später, Anfang 1914, war es wieder so weit. Jetzt bezogen die Manns die «Poschi», das «Kinderhaus» in der Poschingerstraße, eine große herrschaftliche Villa mit drei Etagen, die Thomas Mann sich nach Plänen des Architekten Ludwig hatte bauen lassen. Hier lebte die Familie bis zur Emigration im Jahr 1933, in Bogenhausen, direkt an der Isar. In einer Gegend Münchens, die damals gerade erst erschlossen, die vornehm, aber einsam war, wuchsen sie auf: Erika und Klaus, die anderen Geschwister, die Freunde aus der Nachbarschaft.11 Es war ein Paradies für Kinder: der wilde Herzogpark in der Nähe des Hauses, das Flussufer, die stillen Straßen in Bogenhausen. Aber es gab noch mehr: den großen Garten rund um die «Poschi» und das «Tölzhaus»; ein Landhaus oberhalb des alten Dorfes von Bad Tölz, mit Blick auf das Karwendelgebirge. 1908 hatte Thomas Mann es bauen lassen. Wie das spätere Münchener Haus war es großzügig geschnitten, hatte Erker, versteckte Winkel und dunkle Ecken, die zum Spielen geradezu aufforderten. In Tölz gab es den großen Park mit seinen hohen Bäumen, es gab den in der Nähe gelegenen Klammerweiher, in dem Erika sehr schnell, Klaus dagegen ängstlich und mühsam schwimmen lernte.

Bis 1917, als die Eltern das Tölzhaus für Kriegsanleihen verkauften, verbrachte man jeden Sommer, bisweilen auch den verschneiten Winter hier draußen.

«Immer, wenn ich ‹Kindheit› denke, denke ich zuerst ‹Tölz›», hat Klaus später in seiner Autobiographie geschrieben,12 und immer wenn Erika und er später an ihre Kindheit zurückdachten, von ihr erzählten, über sie schrieben, dann erscheinen das «Tölzhaus» und die «Poschi» als Orte einer behüteten, wenngleich aufregenden Kindheit, als Stätten einer heilen Welt, die vor dem Weltkrieg nur kindliche Katastrophen, aber noch keine Schicksalsschläge kannte.

Zu den Katastrophen der Kindheit gehörten die «Fräuleins», die Gouvernanten oder Kinderschwestern, die im Hause lebten und vor allem in den Jahren, da Katia Mann an Lungentuberkulose erkrankte und viele Monate in Arosa oder Davos im Sanatorium verbringen musste, ein schreckliches, gleichsam uneingeschränktes Regiment führten. Ob sie Amalie, Hermine oder einfach Betty hießen, ob sie aus Düsseldorf oder aus dem Schwäbischen kamen, immer schildern die Geschwister sie als verbiestert und humorlos, kreischend um ihre Autorität bemüht und davon überzeugt, dass sie niemals vorher mit derart verzogenen und unmöglichen Kindern zu tun gehabt hatten. Immer waren die Herrschaften, deren Kinder sie zuvor betreut hatten, ungleich liebenswürdiger, die Kinder wohlerzogener gewesen. Wenn Erika und Klaus daraufhin fragten, wieso sie dann nicht in dieser so viel angenehmeren Stellung geblieben seien, gerieten die Fräuleins vollends außer sich.13

Auch ihren späteren Lehrern sollte es ähnlich ergehen: Erika und Klaus waren ungebärdige Kinder. Beide mimten Arroganz mit Bravour, fanden die Schule öde und lästig, und was man von ihnen verlangte, war meist schrecklich komisch, aber niemals ernsthaft zu befolgen. Nachdem sie zunächst ein Jahr lang Privatunterricht erhalten hatten, besuchten sie das «herrschaftliche Extraschülchen» der Schwestern Ebermayer in Schwabing. Auch die anderen Herzogparkkinder gingen dort zur Schule: Bruno Walters Töchter Gretel und Lotte, Ricki Hallgarten, der jüngere Sohn des Germanisten Robert Hallgarten und seiner Frau Constanze, der Vorsitzenden der Münchener Pazifistischen Liga. Die Schule von Fräulein Ebermayer war wie der Zwicker, den sie trug: vornehm, aber altmodisch und unerträglich langweilig.

Wenn es überhaupt etwas gab, was an der Schule Spaß machte, so waren es die skurrilen Gestalten der Lehrer, die man nachäffen und ärgern, deren Lächerlichkeiten man vor den Eltern zu Hause imitieren konnte. Vor allem Erika konnte es; so gut wie sie – als Einzige der Familie – Bayerisch sprach, so lebendig machte sie die Leute nach.14

Vor allem vom Vater – so hat sie später erzählt – habe sie die theatralischen Fähigkeiten geerbt, außerdem waren sowohl des Vaters jüngere Schwester, die Tante Carla, als auch die Großmutter mütterlicherseits Schauspielerinnen gewesen. Es lag also in der Familie, und Erika sollte für Bühnenauftritte aller Art eine wahre Leidenschaft entwickeln. Sie lernte schnell und hatte ein gutes Gedächtnis. Schon als knapp Zweijährige habe sie der Vater auf dem Arm durch seine Bibliothek getragen und versucht, sie mit Hilfe der Bücher das Sprechen und das Unterscheiden zu lehren. Betont langsam und deutlich artikulierend habe er auf den einen oder anderen Titel gezeigt und gesagt: «Das ist das grüne Buch, und das ist das rote Buch», und dann habe sie wiederholen und nachsprechen müssen: «Grünes Buch – rotes Buch.»15

Früh haben Erika und Klaus nachgeahmt und auf kindliche Weise fortgeführt, was sie bei den Eltern beobachten und hören konnten. Die Eltern nämlich sprachen beide «sehr komisch», sie pflegten eine ähnliche Art skeptischen Humors. Sie liebten es, «hochgestochen» ironisierend miteinander zu plaudern.16 Ironie und Sprachspiel gehörten zur Lebensform der Poschingerstraße. Die Kinder sogen es auf. Erika guckte und hörte sich das alles ab und verblüffte und belustigte ihre Umgebung.

Einmal allerdings, es war während des Sommers in Tölz, schlug die Verblüffung in Ungläubigkeit um, aus der beabsichtigten Belustigung wurde für Erika eine schwere Enttäuschung. Man saß beim sonntäglichen Mittagessen, zu Gast war Erikas erklärter Lieblingsonkel, Peter Pringsheim, Katia Manns älterer Bruder, ein Physiker. Onkel Peter konnte beim Mittagessen Goethes Gedicht Als ich noch ein Knabe war vollständig auswendig und so eindrucksvoll vortragen, dass die siebenjährige Erika sich anschließend während der Mittagsruhe den gesamten Wortlaut aus der Erinnerung heraus zu wiederholen versuchte. Mit einigem Erfolg, denn beim Kaffeetrinken trug sie der versammelten Familie den Text frei vor, nur zwei Zeilen fehlten. Der stolzen Deklamation folgte eine herbe Enttäuschung, denn alle waren überzeugt, Erika habe sich heimlich einen Gedichtband besorgt und daraus gelernt. Nur Onkel Peter glaubte ihren trotzigen Beteuerungen; alle anderen, vor allem die Eltern, hatten ihre Erfahrungen.17

Erika log nämlich, und zwar so beharrlich und erbarmungslos, dass man sich Sorgen zu machen begann und eines Tages eine ernste Ansprache des Vaters erforderlich wurde. Sie selbst erzählte später, wie der «Zauberer» ihr ins Gewissen redete:

 

«‹Eri, du bist ja jetzt schon sieben. Du bist ja kein kleines Kind mehr. Und du weißt ja im Grunde, was du tust. Jetzt lügst du die ganze Zeit. Schau! Stell dir bitte einmal vor, was passieren würde, wenn wir alle immerzu lögen. Wir könnten uns ja gegenseitig gar nichts mehr glauben! Wir würden uns gegenseitig gar nicht mehr zuhören, weil es zu langweilig wäre! Ich bin überzeugt davon, daß du das einsiehst und daß du dieses blödsinnige Lügen jetzt läßt.› Ich sagte gar nichts, sondern ging, da er nicht fortfuhr zu sprechen, hinaus. Und dachte mir zunächst: ‹Ach, was der da redet! Lügen ist eine sehr gute Sache, und ich mache das auch so weiter.› Ich habe es aber nicht weitergemacht! Es hat mir den größten Eindruck gemacht, und ich habe von Stund an – zunächst – nicht mehr gelogen! Als wir größer waren, mit vierzehn oder fünfzehn, logen wir wieder lustig […]»18

 

Das Arbeitszimmer des Vaters war ein heiliger Ort; abends durften sich die Kinder dort versammeln, wenn der Vater vorlas. Es roch nach Zigarren, nach Bücherstaub und Geheimnis. Wenn dann noch die blauen Samtportieren zugezogen wurden und das Vorlesezeremoniell begann, war das Kinderglück vollkommen. Fast war es, als würden unter den Worten des Vaters die Märchenfiguren der Brüder Grimm oder Andersens Kleine Seejungfrau lebendig und als säßen Dostojewskis Dämonen oder Tolstois Heilige den Kindern leibhaftig gegenüber. Niemand konnte so gut vorlesen wie der Vater, dabei war es keineswegs das Einzige, was er konnte. Er zeichnete und dachte sich Spiele für sie aus, er mimte den zerstreuten Professor, der sich freudig erregt seinem bequemen Stuhl und seinem weichen Kissen näherte, um scheinbar ahnungslos auf eines seiner Kinder zu geraten, das den Platz bereits okkupiert hatte. Jauchzendes Kindergeschrei und vergebliches, umständlich formuliertes Erstaunen waren die Folge, alles musste von vorne beginnen und nahm einen ähnlichen Verlauf.19

Im Grunde lebte der Vater natürlich in einer anderen Welt. Ihn, der so berühmt war, durfte man während der Vormittagsstunden und zu bestimmten Nachmittagszeiten unter gar keinen Umständen stören. War er unsichtbar, wusste jeder im Haus, dass er nun arbeitete und Lärm absolut verboten war. Ein bedrohliches Räuspern aus dem Arbeitszimmer war sicheres Indiz eines unmittelbar bevorstehenden Zornesausbruchs, der folgen würde, wenn nicht sofort Ruhe einkehrte.20

Zutritt zum Allerheiligsten gab es erst nach Aufforderung; nur folgerichtig also, dass man sich einst heimlich einschlich, als der Vater aus dem Hause war. Klaus war es, der das Verbotene tat, aber Erika war mit dabei. Heimlich lasen sie im Tonio Kröger, was ganz besonders streng verboten war. Über das erste Kapitel kam Erika nicht hinaus, aber auch Klaus, der behauptete, auch das Folgende sei ganz einfach «prachtvoll», konnte der fragenden Schwester den Inhalt nicht recht erzählen.

Später lasen sie alles, was der Vater schrieb; er selbst las im Familienkreise auch aus den eigenen Werken, und als sie noch größer wurden, schenkte er ihnen Widmungsexemplare. In keines seiner Bücher, die er seinen Ältesten verehrte, schrieb er aber je, was die Tochter Monika 1947 in ihrer Ausgabe des Doktor Faustus lesen musste: «Für Mönchen, sie wird es schon verstehen.»21

Erika und Klaus verstanden nur allzu schnell und allzu gut, und Erika verstand überdies noch etwas anderes: wie man den Vater nehmen, wie man ihn um den Finger wickeln, vor allem aber, wie man ihn zum Lachen bringen konnte. Sie war es auch, die irgendwann den Namen «Zauberer» für ihn erfand,22 und der «Z.» ist er für Katia und für seine Kinder immer geblieben.

Klaus, sensibler und vor allem durch Bemerkungen des Vaters leicht verletzbar, hatte es schwerer. Umso besser, dass er die robuste, temperamentvolle große Schwester hatte. Sie erschien ihm «wie ein magerer, dunkel hübscher Zigeunerjunge». Sie turnte und raufte wie ein Junge, und wie eine Amazone warf sie sich bisweilen in die kindlichen Schlachten, um ihren «Eissi», Klaus, zu retten.23

Erika hatte meist zerzauste schwarze Haare, heftig zerkratzte Knie und eine unbändige Lust auf das Leben. Klaus wollte schreiben und Schriftsteller werden. Er wollte berühmt werden. Er wurde beides, und er begann früh. Sechsundzwanzigjährig veröffentlichte er seine erste Autobiographie Kind dieser Zeit. Treuherzig erzählt er darin, dass er schon als Zwölfjähriger serienweise Theaterstücke, Erzählungen, Gedichte geschrieben habe. Seit er es gelernt, habe er eigentlich immer geschrieben, einem «Instinkte», nicht etwa einem Thema folgend. Aber angefangen habe er mit Erika gemeinsam; zusammen hätten sie ihre ersten Gedichte verfertigt und dem Vater morgens zum Frühstück unter die Serviette geschoben. Bei Tee und Ei durfte Thomas Mann dann lesen:

 

«Der böse Mörder Gulehuh,

Der jagte eine bunte Kuh.

Die bunte Kuh, die sträubt sich sehr,

Der Gulehuh kriegt das Messer her.

Er haut der Kuh das Köpfchen ab,

Der Bauer kommt daher im Trab,

Er hat den Gulehuh eingefangen,

In drei Tagen soll er am Galgen hangen.

Da weint der Mörder Gulehuh,

Da weint er sehr und schreit huhu –

Ich will’s gewiß nicht wieder tun,

Um Gottes will’n, verzeiht mir nun!»24

 

Es blieb nicht bei blutrünstigen Kinderreimen, es blieb auch nicht bei verbotener Lektüre, und Erikas gute Vorsätze, das Lügen betreffend, hielten erst recht nicht lange vor. Sie hat es selbst erzählt, und auch Klaus hat wohl aus gutem Grund das Kapitel seiner Autobiographie, das die Erinnerungen an das Jahr 1921/​22 festhält, mit der Überschrift Triumph der Bösheit versehen.25

«Vorsicht, die Mannkinder», soll es bisweilen in Bogenhausens stillen Straßen geheißen haben, wenn Erika und Klaus, mit den Walter-Töchtern und Ricki Hallgarten im Gefolge, erschienen und Bürgerschreck spielten. Die begabten, aber verzogenen Halbwüchsigen, die früher ihre jüngeren Geschwister herumkommandiert hatten, waren um Einfälle nicht verlegen.

Erika spielte Bürgerschreck und Bohemienne, sie log wie gedruckt und imitierte die Leute so, dass der Vater Tränen lachte. Während der Kriegsjahre lief sie bis spät in den Herbst am liebsten barfuß; zerlumpt, aber vital erregte sie den Neid und die Bewunderung ihrer Mitschülerinnen.

«Sie war ein leibhaftiger kleiner Teufel», erzählt Friederike Schmitt-Breuninger, die Freundin und Schulkameradin, mit der sie zur Tanzstunde und ins Lyzeum ging.26 Ihr Lachen war ansteckend, ein wieherndes, nicht enden wollendes Lachen war es – viel haben sie gelacht, damals in München, trotz Krieg und Inflation; so gut war Erika im Erfinden, im Ausdenken von Späßen. Und wenn sie es nachts zu lange und zu toll getrieben hatte, ließ sie sich auch schon mal mit dem Taxi vorfahren, um wenigstens annähernd pünktlich in die verhasste Schule zu gelangen.

Die Mutter, Katia Mann, für alles Praktische, für Haushalt, Erziehung und die täglichen Belange zuständig, war stets die Erste, die die Schreckensnachrichten über die ausgefallenen Streiche ihrer Kinder erhielt. Bei ihr beklagte man sich, und sie war es auch, die eines Tages meinte, etwas müsse geschehen. Dass Erika bisweilen während des Unterrichts auf die Idee kam, die Ohnmächtige zu spielen, indem sie sich plötzlich aus der Bank fallen ließ, sodass der Rest der grässlichen Lateinstunde ihr erspart blieb, mochte noch angehen. Und wenn sie über den Schulkorridor lief und mit Gretel Walter plötzlich vor einer besonders frommen und verklemmten Junglehrerin die Hände gefaltet in tiefstem Knicks versank, sodass die Gegrüßte sich gar nicht genug erstaunen konnte über so viel Wohlerzogenheit, dann wird wohl auch Mutter Katia sich ausgeschüttet haben vor Lachen, wie die Mädchen es hinter dem Rücken der Lehrerin getan hatten.27

Als die «Herzogparkbande» aber auf Ladendiebstahl und Telefonterror verfiel, kamen die Eltern überein, dass das zu weit gehe. Denn offenbar kannten diese Kinder weder Maß noch Ziel, und vor allem Erikas hemmungslose Nachahmungssucht machte vor keinem Tabu halt:

 

«Auch wie Delia Reinhardt konnte Erika sprechen, das ist die wundervolle Sängerin, für die damals alle Backfische Münchens schwärmten. So bat Erika, mit Delia-Stimme, verschiedene Backfische ans Telephon, um sie sanft und würdevoll zu einem Tee einzuladen, den sie für alle ihre jungen Freundinnen zu geben gedächte. Sämtlich sagten sie zu, mit Stimmen, die vor Freude zitterten. Es muß gräßlich für die arme Delia Reinhardt gewesen sein.»28

 

Fünfundzwanzig Jahre später wird Delia Reinhardt wieder in Erika Manns Leben auftauchen, dann werden die Rollen ganz anders verteilt sein.

Fürs Erste blieben kein Pralinengeschäft und keine Berühmtheit verschont. Frei nach Frank Wedekinds Erdgeist-Lied  29

«Wir waren eine böse und einfallsreiche Horde damals, die Kinder unserer Kolonie, alle bis aufs Blut befreundet miteinander, alle ein bißchen verwahrlost, wie die Zeit es mit sich brachte, alle begeistert für diese Zeit, in der es täglich Neues und Gefährliches zu bestehen gab. Wir mystifizierten, logen, täuschten mit Glanz und mit einer Leichtigkeit, die beneidenswert war, wir waren eingespielt aufeinander, ein tolldreistes Ensemble, nie klaffte ein Riß in unseren Netzen, unsere Scherze hatten hochpolitischen Charakter, wir meldeten Maximilian Harden beim Rektor der Universität zum Tee an und entschuldigten ihn bald darauf mit einem von der Trambahn überfahrenen Arm; um alles auszuhecken, trafen wir uns, aus Gründen der Keßheit, in den Hall’s der großen Hotels. Komisch ausgeschaut muß es haben: Viele Kinder in wilden Lodenmänteln, so intensiv diskutierend, in so erwachseneleganter Umgebung.»30

Auch wenn die Zeiten stürmisch waren, empfanden Erika, Klaus und ihre Freunde das Geschehen doch nicht wirklich als politisches. In dieser Hinsicht seien sie ziemlich ahnungslos gewesen, schrieb Klaus 1931, aber dass sich etwas zutrug, hätten sie sehr wohl gespürt.

«Was ich aber an dieser Stelle betonen will, ist: daß man keinesfalls glauben darf, der Mangel an Interesse oder das oberflächliche Interesse, welches wir den politischen Zuständen und Begebenheiten widmeten, ließe darauf schließen, diese Zustände hätten uns unberührt und unverändert gelassen. Mir scheint eher, dass sie in einer tieferen Schicht unseres Wesens ihre Spuren ließen, als in der, wo das intellektuelle Interesse entsteht.»31

Mit Beginn des Ersten Weltkriegs hatte sich der Lebensstil im Hause Mann gewaltig geändert, der Kohlrübenwinter 1917, der Ausfall der Zentralheizung in der Poschingerstraße, das Margarinebrot mit Kunsthonig, all das prägte sich den Kindern ein. Es gab wenig und schlecht zu essen, bisweilen fiel der Schulunterricht aus, weil Hindenburg und Tannenberg gefeiert wurden oder weil man das Gebäude nicht mehr heizen konnte.

Gedanken im KriegeFriedrich und die große KoalitionBetrachtungen eines Unpolitischen

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«Aus purer Liebe zu [meiner Mutter] habe ich das Abitur ‹gebaut› und mit einem Zeugnis bestanden, das in der Welt einzig sein dürfte: es ist so miserabel, daß ich es mir eingerahmt habe, und jeder, der mich besucht, kann es in der Diele lesen.»35

Vom «Kampf um das Nicht-Durchfallen» ist in zahlreichen Briefen Erika Manns an Lotte Walter aus dem Jahre 1923 die Rede. In einem Brief an Gretel und Lotte Walter 1924 heißt es:

«Und ich bin also in Berlin. Das Sau Sau Sau Sau-Kotz-Abitur […] habe ich glücklich hinter mir, und jetzt lebe ich hier wie ein Halbgott. Ich studiere, filme und bin zum Herbst am deutschen Theater engagiert – für garstige kleine Röllülein –, aber immerhin. Es ist ja so komisch! Der Kontrakt ist so herrlich feierlich, und wenn ich in meinem Zimmer sitze und ganz allein frühstücke und ab und an meine Miete bezahle und mir Spirituskocher kaufe, denke ich doch manchmal mich laust der Affe.»36

Klaus hingegen besuchte noch für ein Jahr die Odenwaldschule Paul Geheebs; auch hier herrschte der Geist der Reformpädagogik, vor allem aber derjenige des Schulleiters, der in Klaus den außergewöhnlich begabten Jungen erkannte, dem er alle erdenklichen Freiheiten ließ. Klaus wurde zeitweilig vom Pflichtunterricht freigestellt und «durfte den ganzen Tag spazierengehen, lesen, dichten und sinnen».37 Nach München zurückgekehrt, sollte er durch Privatunterricht Anschluss an die Oberprima finden. Der Versuch misslang, Klaus hatte andere Pläne; nach München zurück hatte ihn nicht etwa die Aussicht auf ein staatlich anerkanntes Abitur, sondern die Clique um Erika gezogen.

Mimikbund  Laienbund deutscher Mimiker38 Mimikbuch

Schon die erste Aufführung, die am 12. Januar 1919 auf der Diele im Mann’schen Hause stattfand, wurde vermerkt. Man gab Theodor Körners Gouvernante, und kein Geringerer als Thomas Mann selbst schrieb den Premierenbericht:

«Die Gouvernante wurde von Fräulein Titi [Erika] mit verständiger Distinktion verkörpert. Nur dem großen Monolog erwies sich die Gestaltungskraft der achtbaren Künstlerin, welche übrigens die in ihrer Rolle enthaltenen französischen Redewendungen mit Exaktheit zu Gehör brachte, als noch nicht völlig gewachsen. Als Luise bewies Herr Klaus viel Biedersinn, doch bleibt der hoffnungsvolle Darsteller aufmerksam zu machen, daß das Sprechen gegen den Hintergrund in Kennerkreisen mit Recht als Unsitte gilt, da es das Verständnis der Dichterworte, von denen ein jedes dem Gebildeten teuer ist, erschwert. Die Rolle der Franziska lag bei Herrn R. Hallgarten in den besten Händen. Der Künstler bewies gute Haltung und fand zu Herzen gehende Betonungen.»39

Im Laufe dieses Jahres und der folgenden Jahre gastierte man auch im Hause der Nachbarn, und immer mussten die Hausherrn oder deren Freunde – Bruno Walter oder Josef Ponten – fürs Mimikbuch die Kritiken schreiben. Die Kinder kannten keine Furcht, und Ehrfurcht vor den Klassikern schon gar nicht. Also spielten und inszenierten sie lustig drauflos: Lessings Minna von Barnhelm, Molières Der Arzt wider Willen und schließlich zum Neujahrstag 1921 Shakespeares Was ihr wollt.

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