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Navid Kermani

Iran
Die Revolution der Kinder

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Iran hat 1979 als erstes Land der islamischen Welt das Experiment des Islamismus unternommen. Heute trägt das Land, in mancher Hinsicht stellvertretend für viele Länder des Nahen und Mittleren Ostens, das für lange Zeit vielleicht letzte große Gefecht aus, um den Irrtum des 20. Jahrhunderts zu korrigieren: den Glauben an das Heil, das aus der politischen Heilslehre erwächst. – Navid Kermani beschreibt höchst anschaulich den dramatischen Umbruch in der iranischen Gesellschaft seit den 1990er Jahren. Künstler, Intellektuelle und auch reformwillige Geistliche tragen zur Formierung einer kritischen Öffentlichkeit und zum fundamentalen Wandel religiöser und moralischer Vorstellungen bei. Kermani stellt die Kontrahenten und Fraktionen vor, die die politische Bühne beherrschen, und erklärt gleichzeitig, warum die Hoffnung auf grundlegende Veränderungen sich weniger auf einzelne Reformpolitiker, als auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung richten sollte. Eindringlich beschreibt er aber auch, mit welcher Brutalität sich die beharrenden Kräfte gegen den Wandel wehren und wie sie die Anwendung von Gewalt religiös rechtfertigen.

„Für alle, die wissen wollen, was im Land des schwarzen Tschadors tatsächlich passiert und wohin es treibt, ist die Lektüre ein Muss – und ein Genuss.“

Elisabeth Kinderlein, Badische Zeitung

Über den Autor

Navid Kermani ist habilitierter Orientalist und lebt als freier Schriftsteller in Köln. Für seine Romane, Reportagen und wissenschaftlichen Werke wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, dem Heinrich-von-Kleist-Preis sowie dem Joseph-Breitbach-Preis. Bei C.H.Beck erschienen von ihm zuletzt „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ (2015), „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt“ (Paperback 2015), „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“ (Paperback 2015) sowie „Zwischen Koran und Kafka“ (3. Auflage 2015).

Pájaro por las alas
Hombre por la tristeza.


Octavio Paz

Inhalt

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Vorbemerkung zur Transkription und Zitierweise

Einleitung

1
Herbst 1996

Der Staat zertritt den aufkeimenden Widerstand

2
Reform der Religion

Die schiitische Geistlichkeit beginnt umzudenken

3
Der Zweite Chordâd

Sejjed Mohammad Chatami wird zum Präsidenten gewählt

4
Ajatollah Fußball

Die Gesellschaft geht der Politik voran

5
Die unüblichen Verdächtigen

Die Verbrechen des iranischen Geheimdienstes kommen zur Sprache

6
Das große iranische Staatstheater

Die Islamische Republik feiert ihr zwanzigjähriges Bestehen

7
Die Kinder entlassen ihre Revolution

Irans Studenten proben den Aufstand

8
Die Angst der Wächter

24 Generäle schreiben einen Brief an Präsident Chatami

9
Die offene Gesellschaft…

Das Unsagbare wird sagbar

10
Der verleugnete Lehrer

Gott ist mit den Geduldigen: Ein Besuch bei den Montazeris in Ghom

11
… und ihre Feinde

Die Revolution richtet sich selbst

12
Der Tod des Dichters

Huschang Golschiri stirbt, als er nicht mehr um sein Leben fürchten muß

Epilog
Der Fluß, der Leben spendet

Isfahan, Ende Oktober 2004

Nachweis der Zitate

Literaturhinweise

Zeittafel

Personenregister

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Ich wünschte, ich hätte das vorliegende Manuskript für die Taschenbuchausgabe erheblich aktualisieren müssen. Leider hat sich an den grundlegenden Konstellationen, die das politische und gesellschaftliche Leben in Iran bestimmen, kaum etwas geändert, seit das Buch vor knapp einem Jahr erschienen ist. Geschrieben habe ich es in einer Phase, in welcher der politische Reformprozeß zum Stillstand gekommen zu sein schien. Obwohl Mohammad Chatami, der die Islamische Republik zu demokratisieren versprochen hat, am 8. Juni 2001 erneut mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt wurde, setzte sich die Repressionswelle den Sommer über fort, kaum bemerkt von der westlichen Öffentlichkeit. Vor allem die Mitglieder der liberal-islamischen Freiheitsbewegung (Nehzat-e âzâd) bekamen den Zorn der konservativen Führer zu spüren. Zu Dutzenden wurden sie, darunter zahlreiche alte Herren, ja Greise wie der achtzigjährige Sejjed Ahmad Sadr Hadsch Sejjed Dschawadi, in den Kerker geworfen, manche von ihnen gefoltert. Getroffen hat es auch Saíd Montazeri, den Sohn des Großajatollahs Hossein Ali Montazeri. Unter dem Vorwurf, Informationen über die politischen Morde des Geheimdienstes in Umlauf gebracht zu haben, ist er seit mehreren Monaten in Haft. Den Besuch bei den Montazeris schildere ich im zehnten Kapitel.

Inzwischen hat sich die Lage ein wenig beruhigt. Zeitungen werden zwar immer noch geschlossen, aber dafür entstehen auch beinah wöchentlich neue. Die Zahl der freigelassenen politischen Häftlinge übertrifft derzeit deutlich diejenige der Verhaftungen – so sehen heutzutage die guten Nachrichten aus. Der Enthusiasmus, der die Reformbewegung beflügelt hat, ist nicht zurückgekehrt. Die verschiedenen Kontrahenten auf der politischen Bühne haben sich immer noch auf eben jene Weise ineinander verkeilt, die ich im vierten Kapitel darstelle. Natürlich setzt sich der gesellschaftliche und geistige Umbruch, den das Buch zum eigentlichen Thema hat, ungeachtet der tagespolitischen Scharmützel fort. Und nach wie vor bin ich davon überzeugt, daß dieser Umbruch langfristig auch tiefgreifende Auswirkungen auf das politische System haben wird. Doch gleichzeitig verstärkt sich die Befürchtung, daß die notwendigen politischen Reformen zu lange blockiert werden, um noch sinnvoll auf die verhängnisvolle Dynamik der ökonomischen und sozialen Verwerfungen reagieren zu können.

Mehr als zwanzig Jahre nach der Islamischen Revolution steht Iran vor Problemen, gegen die die politische Repression vergleichsweise leicht zu überwinden wäre. Vor einigen Tagen las ich in einer iranischen Zeitung, daß allein in Teheran innerhalb von zwei Wochen zweihundertfünfzig Leichen von Drogensüchtigen gefunden worden sind. Zweihundertfünfzig! Und daß die Anzahl allein der offiziell registrierten (!) Prostituierten in der Hauptstadt zweitausend betrage. In der Hauptstadt der Islamischen Republik! Es sind zufällig herausgegriffene Meldungen, und obwohl ich sie in diesem Fall nicht mehr nachprüfen konnte, mögen sie als Hinweis darauf durchgehen, daß das soziale und moralische Gefüge der iranischen Gesellschaft im Begriffe ist zu kollabieren.

Ich habe das Manuskript für die Taschenbuchausgabe überprüft, aber nur an wenigen Stellen geändert. Die meisten dieser Verbesserungen gehen auf Asghar Schirazi in Berlin zurück, dem ich für seine ebenso kritischen wie freundlichen Anmerkungen danke.

Köln, im März 2002

Navid Kermani

Vorbemerkung zur Transkription und Zitierweise

Entsprechend dem Charakter des Buches habe ich auf einen wissenschaftlichen Apparat und eine philologisch korrekte Transkription verzichtet. Nur drei Besonderheiten sind zu beachten:

(1)½ Der Buchstabe „z“ ist in persischen Namen immer als ein stimmhaftes „s“ zu lesen (wie in „Sonne“); der Buchstabe „s“ in persischen Namen zeigt dagegen ein stimmloses „s“ an (wie in „Bus“).

(2)½ Ein accent aigu auf einem Vokal zeigt an, daß vor diesem Vokal ein fester Stimmeinsatz wie in „be-arbeiten“ erfolgt (also „Chameneí“ wie „Chamene-i“).

(3)½ In persischen Begriffen und Titeln habe ich die beiden unterschiedlichen Aussprachen des Buchstabens „a“ gekennzeichnet, die das Persische kennt: „a“ ist wie im Deutschen hell zu sprechen, hingegen ist „â“ ein dunkler Ton, ähnlich dem schwedischen å.

Zeitschriftentitel habe ich bei erstmaliger Nennung übersetzt, sofern sie nicht einen Orts- oder Monatsnamen zum Titel haben.

Einleitung

Gestern besuchte ich Parastou Foruhar in Offenbach. Sie ist Künstlerin und lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Ich wollte mit ihr die Passagen dieses Buches durchgehen, in denen ich die Ermordung ihrer Eltern Dariusch Foruhar und Parwaneh Eskandari schildere, zweier berühmter Oppositioneller. Mitarbeiter des iranischen Geheimdienstes haben sie am 22. November 1998 in Teheran umgebracht. Seither führt Parastou einen kafkaesken Kampf gegen die iranische Justiz, die an der Aufklärung der Verbrechen nicht interessiert ist. Immer wieder fliegt sie nach Iran, läuft Gerichtskorridore auf und ab, wartet vor Amtszimmern, wird abgewiesen und verschafft sich nach Stunden dennoch Zutritt, um in ein anderes Büro, ein anderes Gebäude, ein anderes Viertel geschickt zu werden, wo sie wieder durch Korridore irrt und vor Amtszimmern wartet. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nimmt. Sie hat zwei jugendliche Söhne, sie hat ihre Arbeit und ihre Ausstellungen, sie hat ihr Leben in Deutschland, und doch reist sie mehrmals im Jahr nach Teheran, wo sie im Haus ihrer Eltern wohnt, in dem Haus, in dem sie großgeworden ist. Sie sitzt an dem Schreibtisch, an dem ihr Vater ermordet worden ist, und verschickt Offene Briefe, wendet sich an die verschiedenen Behörden und Zeitungen, sie trifft Unterstützer und pilgert jeden Morgen in ein anderes Justizgebäude, obwohl sie die Hoffnung aufgegeben hat, dort je die Wahrheit zu erfahren.

Parastou ist eine selbstbewußte und liebevolle Frau, man spürt das sofort, wenn man sie trifft. Ihre Trauer verbirgt sie lieber hinter einem Scherz, als mit ihr hausieren zu gehen. Das zähe Drängen auf Aufklärung erklärt sie nicht als Akt des politischen Widerstands, sondern als einzige Möglichkeit, an den Morden nicht zu zerbrechen. Sie sagt das ganz schlicht: Wenn ich aufhöre nachzufragen, tragen die Mörder einen weiteren Sieg davon. Wenn ich resigniere, sterben meine Eltern noch einmal. Ihr Leben verpflichtet mich zur Beharrlichkeit. Sie hat Milchkaffee bereitet, aber auf die persische Art einer teetrinkenden Nation, Nescafé in heißer Milch, und sie hat Croissants auf den Küchentisch gestellt. Im Detail vergegenwärtigen wir jene Nacht, die Uhrzeit, zu der es bei ihren Eltern geklingelt hat, wieviel Männer ihre schon älteren, zerbrechlichen Eltern an welchen Stellen festhielten, wo das Messer in sie eindrang und wieviel Stiche es waren. Sie kennt die Einzelheiten aus den Protokollen der Täter und dem Gutachten des Gerichtsmediziners. Ja, die Täter sind gefaßt worden, aber deren Auftraggeber üben weiter ihre Staatsämter aus. Parastou durfte die Akten für kurze Zeit einsehen. Das Szenario, das sie vorstellen, ist widersprüchlich und blendet den politischen und religiösen Hintergrund aus, aber der eigentliche Tathergang wird doch erkennbar. Tathergang. Das Wort kenne ich aus dem Tatort und aus Pressekonferenzen deutscher Polizeisprecher. Es ist völlig unangemessen für das, was Parastou schildert. Aber weil sie versucht, möglichst sachlich zu sprechen, will auch ich das Wort nicht ersetzen. Ich will jede Einzelheit wissen und frage oft nach, dabei schäme ich mich meiner Fragen. Man will doch von der Tochter einer Ermordeten nicht wissen, worauf die Würgemale am Mund schließen lassen. Aber sie sagt jedesmal, wenn sie meine Scham bemerkt: Nein, nein, Sie sollen das alles hören, es ist gut, daß Sie nachfragen, man soll alles erfahren. Immer wieder kämpft sie mit den Tränen, aber nur ein einziges Mal verliert sie den Kampf, nämlich als sie berichtet, wie ihre Großmutter von den Morden erfuhr: aus den Nachrichten im Fernsehen, da sie gerade zu Abend aß. Ich habe vergessen zu fragen, wie alt die Großmutter und ob sie die Mutter des Vaters oder der Mutter ist. Sie muß schon über neunzig sein, vermute ich. Wieder und wieder stelle ich mir seit gestern die Szene vor, wie die Großmutter vor dem Fernseher zu Abend ißt, und dann teilt dieser verfluchte iranische Staatsrundfunk als eine der letzten Nachrichten ungerührt den Mord mit, den sein Staat selbst begangen hat. Ich weiß nicht, warum Parastou ausgerechnet hier die Tränen kamen und auch mir dieses Bild nicht aus dem Kopf geht, wahrscheinlich weil ich es mir im Unterschied zur eigentlichen Tat vorstellen kann, weil ich selbst iranische Großmütter kenne und wie sich ihr Leben vollständig auf ihre Kinder und Enkel richtet – und sie hatte dieses Kind nun schon sechzig oder siebzig Jahre zu behüten versucht und wegen seiner politischen Aktivitäten viele Stunden der Panik durchlitten –,weil ich weiß, was iranische Großmütter zu Abend essen, wie sie sich vor den Tisch im Wohnzimmer knien, um den Spielfilm nicht zu verpassen.

Später finde ich mich in der S-Bahn nach Frankfurt wieder und dann im Zug nach Berlin. Ich habe einen Stapel Bücher zur iranischen Geschichte mitgenommen, die ich noch einmal querlesen möchte. Aber es ist wie verhext: Gleich welches Buch, welche Seite ich aufschlage, treffe ich nur auf hingerichtete Politiker, verhaftete Schriftsteller, gefolterte Geistliche, ermordete Intellektuelle. Und alle haben sie nichts anderes getan, als ein Leben lang, vier, fünf, sechs Jahrzehnte für ihre Freiheit zu streiten. Es gelingt mir nicht mehr, über Nebensätze hinwegzulesen: war jahrelang schwerer Folter ausgesetzt, hat acht oder zwölf oder zwanzig Jahre im Gefängnis verbracht, verbrachte den Rest seines Lebens unter Hausarrest, wurde hinterrücks erdolcht. Jede dieser Angaben erzählt mir eine Geschichte, erzählt von Ehefrauen, Großmüttern, Kindern, von bestialischen Folterern und nicht zu ertragenden Schmerzen, von Einsamkeit, Verzweiflung, Unsicherheit, Angst. Einige dieser traurigen, gequälten, niemals zurückweichenden Helden, den Politiker Mehdi Bazargan, den Theologen Hossein Ali Montazeri, den Schriftsteller Huschang Golschiri durfte ich kennenlernen, die Begegnungen schildere ich in diesem Buch. Parastou Foruhar habe ich soeben getroffen. Vierzehn Jahre war ihr Vater im Gefängnis, bevor die Revolution siegte und er zum Arbeitsminister ernannt wurde, nur um zwei Jahre später wieder im Untergrund zu verschwinden, acht Monate lang, nur um schließlich aufgespürt und für ein weiteres Jahr verhaftet zu werden. Alle glaubten, er würde zusammen mit Sadegh Ghotbzadeh, dem ehemaligen Außenminister, hingerichtet, bis die Mutter einen Anruf von Ahmad Chomeini erhielt. Alles sei überstanden, sagte der Sohn des Revolutionsführers. Eine Woche später kam Foruhar frei. Wahrscheinlich hatte Chomeini sich nicht durchringen können, seine Unterschrift unter das Todesurteil zu setzen, da sein 1977 gestorbener, vielleicht ermordeter Sohn Mostafa im Gefängnis Freundschaft mit Foruhar geschlossen hatte. Kaum aus der Haft entlassen, setzte Foruhar als Führer der liberalen „Iranischen Volkspartei“ seinen friedlichen Einsatz gegen die Diktatur fort, sechzehn Jahre lang, bis zum Tod. Selbst seine Ehe mit Parwaneh Eskandari hatte ihren Ursprung im Widerstand, sie war eine junge Aktivistin, druckte Flugblätter gegen den Schah und sorgte für deren Verteilung im ganzen Land. Bis zum Ende war das gemeinsame Leben von der Politik geprägt, ihr Haus diente als Parteizentrale, Tagungsbüro und Anlaufstelle von Journalisten aus aller Welt. Es ist schwer, sich so ein Leben vorzustellen. Parastou hatte ich gefragt, wovon die Eltern sich und die Kinder ernährten. Die Mutter habe am Anfang noch als Lehrerin gearbeitet, der Vater dagegen seinen Anwaltsberuf insgesamt nur vier Jahre ausüben dürfen, vier von vierzig oder fünfundvierzig Jahren. Ihre Eltern hätten von ihrem Erbe gezehrt, aber am Ende kaum mehr als das Haus besessen.

Ich saß im Zug und fand in allen Büchern nurmehr den gleichen Plot. Die gesamte neuere iranische Geschichte schien sich mir auf ein vergebliches Aufbegehren zu reduzieren, und wann immer für kurze Zeit freudige Erregung das Land erfüllte, weil ein Diktator aufgegeben oder nachgegeben hatte, sollte die Enttäuschung umso unbarmherziger auf dem Fuße folgen. Man liest das so, in ein, zwei Sätzen: Am 12. Juli 1906 schossen die Truppen Mozaffer ed-din Schahs in die Menge der Trauernden, zweiundzwanzig Menschen wurden getötet. Als sich die Demonstranten Mitte Juli 1935 nicht zerstreuten, stellten Reza Schahs Truppen auf den Dächern der umliegenden Gebäude Maschinengewehre auf und eröffneten das Feuer. Uber hundert Menschen wurden getötet, drei Soldaten, die den Schießbefehl verweigerten, hingerichtet. Am 8. September 1978 weigerten sich die Demonstranten auf einem großen Platz in der Nähe des Parlamentsgebäudes, sich zu zerstreuen, ver-mutlich in Unkenntnis des Kriegsrechts. Die Truppen feuerten direkt in die Menge, auch aus Kampfhubschraubern wurde geschossen, Hunderte starben. Allein in den Monaten September und Oktober 1988 wurden mindestens dreitausend, vermutlich deutlich mehr Menschen hingerichtet. Jeder einzelne von ihnen hat eine Biographie. Hinter jedem einzelnen der Sätze verbergen sich Jahre des Widerstands, des schließlichen Triumphes, des geraubten oder verspielten Sieges. Es ist das wiederkehrende Muster der neueren iranischen Geschichte.

Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich in Iran ein Kreis aus Intellektuellen, die rechtsstaatliche Reformen und die Einsetzung eines Parlaments verlangten. Als sich ihnen zahlreiche Geistliche und schließlich auch große Teile der Bevölkerung anschlossen, gelang den Konstitutionalisten nach Monaten des Streiks und gewaltsam niedergeschlagener Demonstrationen am 5. August 1906 die erste demokratische Revolution des Nahen und Mittleren Ostens. Bereits im Oktober trat die neugewählte Nationalversammlung zusammen, im Dezember wurde die Verfassung niedergeschrieben und in aller Eile dem todkranken Kadscharenkönig Mozaffer ed-din vorgelegt. Am 30. Dezember, wenige Tage vor seinem Tod, unterzeichnete der Schah die Verfassung. Formell war Iran nun eine konstitutionelle Monarchie mit einem Parlament, einem Ministerpräsidenten und einer unabhängigen Justiz, doch bald schon versank der neue Rechtsstaat in einem Chaos aus inneren Zerwürfnissen, regionalen Konflikten und den Einwirkungen Großbritanniens und Rußlands, die Iran 1907 in zwei Interessenzonen und eine neutrale Zone aufgeteilt hatten. In den folgenden Jahren lösten sich 64 Kabinette ab, Provinzen erklärten sich für unabhängig und bekundeten wieder ihre Treue, Attentate erschütterten die Hauptstadt. Einmal ließ der neue Schah Mohammad Ali das Parlament bombardieren. Der einflußreiche Theologe Scheich Fazlollah Nuri erklärte alle Anhänger des Parlaments zu Ketzern, woraufhin der ranghöchste Ajatollah jener Zeit, Mohammad Kazem Chorasani, bekanntgab, Nuri selbst sei ein Ketzer. Der reaktionäre Schah wurde gestürzt und Scheich Fazlollah am 31. Juli 1908 öffentlich gehängt. Mit atemberaubender Würde trat er an den Galgen. Unmittelbar vor seiner Hinrichtung sprach er freimütig aus, worum es auch den Rest des Jahrhunderts immer wieder gehen sollte: Weder sei er ein Reaktionär, noch seien die Ajatollahs, die sich für die Verfassung einsetzten, wahre Konstitutionalisten. „Es war einfach so: Sie wollten mich ausstechen und ich sie.“

Am 21. Februar 1921 putschte die Armee unter Führung von Reza Pahlawi gegen die Zivilregierung. Vier Jahre später ließ er sich zum neuen Schah proklamieren. Reza Schah war ein entschlossener Modernist und entschiedener Diktator. Weil er sich während des Weltkriegs auf die Seite der Achsenmächte stellte, zwangen ihn die Alliierten 1941, zugunsten seines Sohnes Mohammad Reza abzudanken. Der neue Monarch war noch zu jung und unerfahren, um sich als Alleinherrscher durchzusetzen, die rivalisierenden Großmächte schwächten sich gegenseitig, und so gewannen die demokratischen Kräfte allmählich wieder die Oberhand. Der 1951 gewählte Ministerpräsident Mohammad Mossadegh zwang den Schah, das Land zu verlassen, und wandte sich gegen den ruinösen Einfluß der ausländischen Staaten. In den folgenden zwei Jahren kam das Land seiner Freiheit näher, als es jemals in seiner Geschichte kommen sollte. Mossadegh, ein Jurist aus aristokratischer Familie, war ein Charismatiker, ein durch und durch republikanischer Volkstribun, er war „der Löwe“,wie er bis heute genannt wird. Hochgewachsen, kahlköpfig, mit scharf geschnittenen Gesichtszügen und immer leicht nach vorne gebeugt, hat er den verhaßten Kolonialmächten die Stirn geboten. Durch sein Photo in den Wochenschauen und auf den Titelseiten der Zeitungen wurde er in seiner Zeit zum bekanntesten Führer der Dritten Welt. Dabei klagte er unaufhörlich über seine schlechte Gesundheit und empfing Gäste, auch ausländische Minister, vorzugsweise im grauwollenen Pyjama neben seinem schlichten eisernen Bett. Sein politisches Wirken stellte er als einen ständigen Sieg seiner Willenskraft und Vaterlandsliebe über seine Krankheiten dar. Mossadegh weinte in der Öffentlichkeit, wenn er tief bewegt war, er hatte Ohnmachtsanfälle; doch fehlte es ihm niemals an Kraft, seine Gegner im Parlament in Grund und Boden zu reden und notfalls von seinem Stuhl die Armlehne abzureißen, um damit drohend in ihre Richtung zu fuchteln. Indem er das iranische Öl, das bis dahin die Briten kontrolliert hatten, verstaatlichte, gewann Iran als eines der ersten Länder der Dritten Welt, noch vor dem Ägypten Abdelnassers, seinen natürlichen Reichtum zurück. Aber Mossadegh konnte sich nicht halten. Am 18. August 1953 putschte ihn der CIA aus dem Amt und setzte den geflüchteten Schah wieder auf den Pfauenthron. Die Aufnahmen des Schauprozesses, die den gestürzten Ministerpräsidenten zeigen, wie er sich – alt geworden und noch gebeugter – erhebt und auf ein Holzgeländer gestützt flammende Reden auf die Unabhängigkeit und gegen den Despotismus hält, gehören zu den bewegendsten, bestürzendsten Bildern, die Iran im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Mossadegh kam ins Gefängnis und wurde später auf seinem Landgut in Ahmadabad unter Arrest gestellt, wo er 1967 im Alter von fünfundachtzig Jahren starb.

Am 16. Januar 1979 floh Mohammad Reza Pahlawi zum zweiten Mal aus Iran. Zwei Wochen später kehrte Ruhollah Mussawi Chomeini nach vierzehn Jahren des Exils zurück. Die Islamische Revolution hatte gesiegt. Ich war gerade elf geworden. Alle in unserer Familie, in unserem iranischen Bekanntenkreis waren glücklich, die meisten euphorisch. Den Sommer verbrachten wir in Teheran und Isfahan. Es hatte Hinrichtungen gegeben, manche witterten schon das aufziehende Unheil, meine Tante sah es bereits vor Augen. Ihr Schwager Mehdi Nurbachsch, ein allseits geachteter Polizeichef in Choramabad, war hingerichtet worden, einen Tag, nachdem der Revolutionsführer persönlich ihn amnestiert hatte. Es stellte sich heraus, daß der Gefängnischef die Begnadigung wegen einer alten Privatfehde in seiner Jackentasche hatte verschwinden lassen. Daß er deswegen entlassen und der Schwager im Radio nachträglich zum „Märtyrer“ erklärt wurde, beruhigte niemanden. Aber noch immer waren wir (auch ich, der Elfjährige) zuversichtlich und vertrauten auf Mehdi Bazargan, den liberalen Ministerpräsidenten. Überall auf den Straßen bildeten sich Menschentrauben, in denen diskutiert wurde, die Zensur war aufgehoben, alle Gruppierungen und Parteien, die die Revolution unterstützt hatten, beteiligten sich am politischen Geschehen. Außer meiner Tante konnte sich niemand in unserer Familie vorstellen, wie schnell die Freiheit zerrinnen sollte.

Nur die letzen Jahre des iranischen zwanzigsten Jahrhunderts habe ich bewußt und aus der Nähe verfolgt. 1993 reiste ich nach zwölf Jahren zum ersten Mal wieder nach Iran. 1994 begann ich, über das Land zu schreiben, zunächst für die Frankfurter Rundschau, von 1995 an für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Das Buch ist aus dieser Arbeit hervorgegangen. Die Jahre, die es beschreibt, sind die Jahre, die ich als Berichterstatter erlebt habe. Ich habe in dieser Zeit nicht nur über Iran geschrieben, und meine Artikel über Iran bezogen sich nicht nur auf den Reformprozeß. Aber dieses Buch behandelt ausschließlich den gesellschaftlichen und geistigen Umbruch des heutigen Irans, nicht die Schönheit Isfahans, nicht das lebendige Erbe der klassischen persischen Poesie oder einen der vielen anderen Aspekte des Landes, die es lohnen, vorgestellt zu werden. Der zeitliche Bogen spannt sich, um zwei Daten zu nennen, vom 15. Oktober 1994, als 134 iranische Schriftsteller in einer weltweit beachteten Erklärung das Recht auf freie Meinungsäußerung einforderten, bis zum 8. Juni 2000, als Huschang Golschiri, einer der Initiatoren der Erklärung, in Teheran begraben wurde. Kurze Zeit später beendete ich meine Tätigkeit für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Verfaßt habe ich das Buch im darauffolgenden Spätsommer und Herbst. In dieser Zeit hat sich die Entwicklung in Iran natürlich fortgesetzt, doch habe ich darauf verzichtet, sie im einzelnen nachzutragen. Zum einen habe ich gemerkt, daß ich mir beim Schreiben gedanklich einen Schlußpunkt setzen mußte, zum anderen ist seit Juli nichts geschehen, das meine grundlegenden Einschätzungen verändert hat. Auch wenn ich auf einzelne tagespolitische Ereignisse eingehe, so besteht doch mein Versuch ohnehin darin, über den Tag hinaus gültige Analysen und Beschreibungen zu geben. Dazu gehören auch die Beiträge jener Iraner, die als Gastautoren für das Feuilleton schrieben. In meiner Berichterstattung über Iran empfand ich es von Anfang an als notwendig, Originalstimmen zu Wort kommen zu lassen. Es ist etwas anderes, über die Intellektuellen, Studenten, Journalisten oder Geistlichen zu schreiben, oder sie in ihren eigenen Worten, Metaphern, Gedankenfolgen kennenzulernen, in ihrem eigenen sprachlichen Gestus. Weil diese Artikel und Essays ein Teil des Bildes waren, das meine Leser sich von Iran gemacht haben, füge ich Ausschnitte aus ihnen auch in dieses Buch ein.

Die Menschen, die ich näher vorstelle, sind jene, mit denen ich Bekanntschaft schließen durfte. Das bedeutet nicht, daß andere Protagonisten des Reformprozesses, auf die ich nur kurz oder gar nicht verweise, deswegen weniger wichtig wären. Nur habe ich sie eben nicht selbst aus der Nähe erlebt. Das gleiche gilt für einzelne Themen, etwa die wirtschaftliche Entwicklung, die Situation der Frauen oder der ethnischen und religiösen Minderheiten, die ich nur streife. Als ein Augenzeuge schreibe ich über Iran, nicht als ein Islamwissenschaftler oder Iranist, der alle Aspekte sorgsam abzuwägen und ein ausgewogenes Gesamtbild zu geben hat. Ein Augenzeuge sieht nicht alles, aber er sieht manches genauer. Ob das Buch diesen Anspruch einlöst, möge der Leser beurteilen.

Nach dieser Bemerkung mag es überraschen, daß der Text mit Ausnahme der Einleitung in weiten Strecken eher sachlich gehalten ist. Ich sehe darin keinen Widerspruch: Daß ich Ereignisse und Entwicklungen aus der Nähe verfolgt habe, schließt nicht aus, sie mir und meinen Lesern verstehbar zu machen und also sie zu analysieren. Die Empathie gehört zu meiner Ausgangsposition (deshalb stelle ich sie in der Einleitung heraus),aber sie muß nicht jede Zeile beherrschen. Die Zurückhaltung hat einen Grund auch im – womöglich übertriebenen – Grauen vor einem Typus des Reporters, der sich selbst wichtiger nimmt als das Land, über das er berichtet. Gleichwohl wird man wohl und soll man durchaus spüren, daß viele der Menschen, die ich vorstelle, Freunde sind.

So vielen habe ich zu danken. Leider kann ich, aus naheliegenden Gründen, nicht die Namen aller Iraner nennen, die mir im Laufe der sechs Jahre geholfen haben. Bei manchen Menschen weiß ich, daß sie nicht erwähnt werden wollen, bei anderen bin ich mir nicht sicher. Ich habe auch keine Vorstellung, wie dieses Buch in Iran aufgenommen wird, ob es womöglich jemanden in Gefahr bringen könnte, von dem ich es nicht ahne. Gleichzeitig wäre mir unwohl dabei, mich bei einzelnen Personen in Iran zu bedanken, die große und selbstlose Unterstützung zahlreicher anderer hingegen zu verschweigen. Ich bitte daher meine iranischen Freunde, Verwandten und Kollegen um Verzeihung, wenn ich mich bei keinem von ihnen namentlich bedanke. Wenn in diesem Buch etwas richtig und klug ist, entspringt es ihrem Scharfsinn, ihrem Mut.

Ohne Scheu bedanken kann und muß ich mich bei denen, die mir in Deutschland zur Seite gestanden haben. Das ist als erstes meine Frau Katajun Amirpur, die als gelernte Iranistin selbst viel über Iran gearbeitet hat, aber auch meine Eltern Dr. Djavad Kermani und Sakineh Schafizadeh-Kermani. Das sind die Redakteure, die meine Texte betreut haben, allen voran Dr. Paul Ingendaay, Hubert Spiegel und Dr. Lorenz Jäger vom Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie der Leiter ihrer Redaktion, Dr. Ulrich Raulff, aber auch Thomas Assheuer, der 1994 noch für die Frankfurter Rundschau gearbeitet hat und inzwischen Die Zeit bereichert. Ich habe mich bei meinem Lektor, Dr. Ulrich Nolte, zu bedanken, der sich um dieses Buch wie um sein eigenes gekümmert hat, und auch beim Wissenschaftskolleg zu Berlin, das mir durch die Einladung die Muße verschafft hat, es zu verfassen. Unter denen, mit denen ich mich in all den Jahren immer wieder über die Situation in Iran ausgetauscht habe, möchte ich Mahmud Rafi und Dr. Johannes Reissner dankend hervorheben. Für Informationen zu einzelnen Themen danke ich Abbas Maroufi, Almut Sh. Bruckstein und Parastou Foruhar.

Der Blick, den das Buch am Ende in die Zukunft wagt, ist besorgt und dennoch voller Hoffnung. Die Nachrichten, die mich seit Monaten erreichen, rechtfertigen die Hoffnung nicht, wenige Statistiken erhärten, kaum ein Expertenwissen stützt sie. Es ist eher ein Instinkt, ein Gefühl, eine Ahnung. Ich würde ihnen nicht mehr vertrauen, wenn sie mir nicht in der Vergangenheit schon mehrfach zur gewagten, aber richtigen Prognosen verholfen hätten. Es sind die Menschen, die mich hoffen lassen, ihre Ausstrahlung, ihr Bewußtsein, ihr Wille. Es sind vor allem die jungen Leute in Iran. Ich bin froh, daß ausgerechnet Parastou Foruhar mich gestern in meiner Zuversicht bestärkt hat, bevor das Manuskript nächste Woche in den Satz geht.

Parastou ist erst vor ein paar Tagen aus Teheran zurückgekehrt, wo sie an der Gedenkfeier für ihre Eltern teilgenommen hat. Zehntausende hatten sich vor der Moschee versammelt, die meisten von ihnen kaum älter als zwanzig, fünfundzwanzig Jahre. Parastou schilderte mir die Entschlossenheit, den Enthusiasmus dieser Menschen. Immer wieder ließen sie Mossadegh hochleben, den ihre Schulbücher und Vorlesungen doch als areligiösen Schwächling herabwürdigen. Sie hielten große Photos von Parastous Eltern in die Höhe, obwohl sie als öffentliche Personen in Iran Jahrzehnte verfemt waren, und riefen bissige, zum Teil aberwitzige Parolen gegen die Tyrannei. Ständig sei jemand zu ihr gekommen und habe Hilfe angeboten, habe ihr eine Telefonnummer zugesteckt und gesagt, sie solle anrufen, wenn sie etwas brauche, Handwerker, Buchhändler, alte Mütter, junge Mädchen, sie solle sich melden, egal zu welcher Uhrzeit, bitte bitte bitte. Sie sei nicht allein. Eine Schülerin habe sie zu Hause angerufen und um Erlaubnis gebeten, sie zu besuchen. Sie brachte ein großes Ölgemälde mit, das sie von Parastous Eltern gemalt hatte. Zum Glück habe ihr Vater diesen Kaiser-Wilhem-Bart getragen, sonst hätte sie ihn auf dem Bild nicht wiedererkannt, lachte sie. Ja, wir lachten und tranken heiße Milch mit Nescafé und erinnerten uns der Croissants auf dem Küchentisch. Es wurde uns etwas leichter ums Herz. Es sei doch schlicht undenkbar, sagte Parastou, daß dieser Schülerin, diesen jungen Menschen in Iran die Freiheit versagt bleibt. Dieser Generation werde gelingen, wofür ihre Eltern gestorben seien, schloß ich mich ihrer Hoffnung an.

Berlin, am 1. Dezember 2000

Navid Kermani

1

Herbst 1996

Der Staat zertritt den aufkeimenden Widerstand

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Zwei Frauen in Täbris ziehen ihren Tschador noch etwas enger zusammen, um sich vor dem ersten Schnee zu schützen. Im Herbst 1996 spitzte sich die Situation der kritischen Intellektuellen dramatisch zu. Das Regime setzte auf nackte Gewalt, um seine Macht zu wahren. Gleichzeitig war es nur eine Frage der Zeit, bis der ökonomische und gesellschaftliche Druck sich entlädt – und es gab allen Grund, eine solche Explosion zu fürchten. (Photo: Thomas Kern/Lookat)

 

 

 

Als ich den Dichter Mohammad Ali Sepanlu Ende September 1996 besuchte, sagte er nichts. Er begrüßte mich, wir wechselten die üblichen Floskeln, er trug mir Tee auf, aber als er sich mir gegenüber in einen Sessel setzte und ich, wie ich es gewohnt war, wartete, damit er das Wort ergreife und von den Zuständen erzähle, den seinen und denen im Land, starrte er auf den Teppich und sagte nichts. Ich wartete, und er schwieg.

„Erzähl’ du“, seufzte er schließlich, ohne aufzuschauen. „Ich bin gekommen, um von Ihnen zu hören“, erwiderte ich.

„Ich habe nichts mehr zu erzählen. Ich kann nichts mehr erzählen. Erzähl’ du.“

Mohammad Ali Sepanlu ist ein schon älterer, immer noch gut aussehender Herr von heiterem Charme, leiser Ironie und unangestrengter Würde. Die feinen Gesichtszüge, die grauen, nach hinten gekämmten Haare und der sorgsam geschnittene Schnurrbart komplementieren die Weltläufigkeit seines Geistes. Für die Freiheit des Wortes und die Gründung eines unabhängigen Schriftstellerverbandes hatte er sich in erster Reihe engagiert und doch die Berichte, wonach der Geheimdienst speziell die Schriftsteller systematisch verfolge, als Verschwörungstheorien abgetan. Und dieser große und berühmte Dichter, der Ubersetzer von Camus und Autor zahlreicher literaturkritischer Schriften, den ich für seine furchtlosen, aber immer nüchternen Einschätzungen bewunderte, saß mir nun in dem geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer eines frankophilen Intellektuellen gegenüber und schwieg mit gesenktem Kopf. Sein Schriftstellerkollege Mahmud Doulatabadi hat einmal gesagt, die iranische Dichtung „verkündet mit tausend Stimmen des Schweigens: Ich bin stumm“. Das war ihre Kraft und ihre Tragödie. Aber im Herbst des Jahres 1996 schienen die Stimmen, eine nach der anderen, nicht einmal mehr von ihrer Stummheit künden zu können.

Ein paar Wochen zuvor, am Abend des 5. August 1996, hatte Sepanlu gemeinsam mit zwanzig anderen Schriftstellern einen Bus nach Eriwan bestiegen, um auf Einladung der armenischen Regierung an einem Kongreß teilzunehmen. Der Bus war nicht ganz gefüllt. Die Gruppe Teheraner Journalisten, die ursprünglich die Schriftsteller begleiten wollte, hatte unmittelbar vor der Abreise ihre Teilnahme abgesagt, offenbar nicht ohne die Einwirkung staatlicher Kräfte, wie sich später herausstellte. Morgens gegen fünf Uhr, draußen war es noch dunkel, erreichte die Reisegruppe den Paß von Heiran in den Bergen nahe der Grenze zu Armenien. Plötzlich hielt der Fahrer geradewegs auf den Abhang am Straßenrand zu, öffnete die Fahrertür und wollte aus dem fahrenden Bus springen. Der Versuch mißlang, weil einer der Schriftsteller, zufällig wach, Alarm schlug, als er bemerkte, daß der Bus im Begriff war, von der Straße abzukommen. Der Fahrer gab vor, eingeschlafen zu sein, und entschuldigte sich bei den Passagieren.

Nach einigen Minuten der Diskussion auf seiten der Reisegruppe und der Beteuerungen auf seiten des Fahrers beschloßman, die Fahrt wieder aufzunehmen. Der Fahrer setzte zurück, aber anstatt den Bus auf die Straße und in Richtung Armenien zu lenken, beschleunigte er heftig und hielt erneut auf den Abhang zu. Dieses Mal gelang es ihm, aus dem Bus zu springen. Gerade noch rechtzeitig sprang einer der Fahrgäste nach vorne ans Lenkrad und brachte den Bus, unmittelbar vor dem Abgrund, zum Stehen. Die beiden Vorderreifen schwebten bereits in der Luft. Wenige Minuten später traf, angeblich zufällig auf der menschenleeren Straße, ein Fahrzeug mit uniformierten Sicherheitskräften ein. Die Schriftsteller wurden in die Wache des nahegelegenen Städtchens Astara gefahren, wo sich die Verhöre und Befragungen noch bis in die darauffolgende Nacht hinzogen. Einige erhielten die Auskunft, der Busfahrer habe aus eigener Initiative und in verbrecherischer Absicht gehandelt, um Schmuggelware über die Grenze zu bringen. Anderen Insassen wurde vorgeworfen, sie selbst hätten, als Teil einer Verschwörung gegen die Islamische Republik, das scheinbare Attentat ausgeheckt, um die Regierung in Mißkredit zu bringen. Allen Schriftstellern wurde unter Androhung schlimmster Konsequenzen eingeschärft, Stillschweigen über den Vorfall zu wahren. In den iranischen Medien blieb er unerwähnt.

Als ich auf meiner Reise im September 1996 unter meinen Bekannten und Verwandten in Iran von der abgebrochenen Reise der Schriftsteller nach Armenien berichtete, deren Einzelheiten mir mehrere der Teilnehmer unabhängig voneinander geschildert hatten, wollten mir selbst eingefleischte Regimegegner kaum glauben. Das Szenario schien zu konstruiert, um wahr zu sein. Mittlerweile weiß man – und konnte es ausführlich in der iranischen Presse nachlesen –, daß in Iran nichts so unglaublich wie die Wirklichkeit ist und der Geheimdienst tatsächlich versucht hat, auf einen Schlag einundzwanzig iranische Schriftsteller in eine Schlucht zu stürzen. Zu den Dingen, die man nicht für möglich hält, bis man sie nicht selbst erlebt hat, gehört aber auch dies: Die zwei Beamten des Geheimdienstes, die mich seinerzeit in einer Suite des Hotels Kousar in Isfahan verhört hatten, ließen mir drei Jahre später durch einen Mittelsmann etwas ausrichten: Sie baten mich, „sie vor Gott zu entschuldigen“, weil sie im Verhör meine Schilderung der abgebrochenen Reise nach Armenien und andere meiner Darstellungen zurückgewiesen hatten; sie hätten das Ausmaß der Verfolgung selbst nicht für möglich gehalten, ließen sie mich wissen.

Die Situation der kritischen iranischen Schriftsteller und Intellektuellen hatte sich in jenem Herbst dramatisch zugespitzt. Mit Verhören, Drohungen, Verurteilungen und Überfällen mußten sie ständig rechnen; fast wöchentlich folgten neue Katastrophenmeldungen. Mal wurde der Chefredakteur der Literaturzeitschrift Âdineh („Freitag“), Faradsch Sarkuhi, vom Geheimdient zu ominösen Lockvogeltätigkeiten gezwungen und anschließend drei Tage lang verhaftet, mal wurden zwölf Schriftsteller, die über die Wiederbelebung ihres Verbandes debattierten, von Sicherheitskräften aufgegriffen, bis zum nächsten Morgen verhört und vor jeglichen weiteren Treffen gewarnt – wenn sie sich nicht daran halten wollten, sollten sie doch gefälligst auswandern. Die zuvor noch beachtlich vielfältige Presselandschaft war dezimiert worden, die verbliebenen unabhängigen Redaktionen starkem Druck ausgesetzt. Die Zensur hatte ein Ausmaß angenommen, daß die literarische Produktion fast zum Stillstand gekommen war und nicht einmal die Klassiker der persischen Literatur wie Saadi und Hafis unversehrt blieben. Seit jeher achten die Zensoren der Islamischen Republik auf politisch brisante Inhalte weniger streng als auf alles, was ihren strengen Vorstellungen von Moral und Sitte widerspricht. Mitte der neunziger Jahre kam es dahin, daß sie einzelne Begriffe aus der iranischen Literatur vollständig verbannten: Wer etwa „Busen“ schreiben wollte, wurde gezwungen, „Brustkorb“ zu verwenden. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine äußerte sich der Schriftsteller Huschang Golschiri über die Politik des damaligen Kulturministers Ahmad Mir-Salim in drastischen Worten:

Immer wenn er wieder mal die zeitgenössische Kultur oder gar das klassische Kulturerbe in den Schlachthof seines Ministeriums gezerrt hat, ließen ihn Keyhân („Welt“) und ähnliche Blätter hochleben. Er hat uns sagen lassen: Schreibt nicht, daß die Blätter tänzelnd auf den Boden hinabsanken. Vermeidet das Wort „tanzen“! Er hat uns sagen lassen: Macht es bei der Übersetzung der ausländischen Geschichten wie die Synchronsprecher der ausländischen Filme, die für Wein und Whisky und überhaupt alle Alkoholika das Wort „Getränk“ verwenden, oder besser noch, benutzt den Ausdruck „Gleichgültigkeit und Zügellosigkeit“. Wenn wir lasen: „Trinkt den Becher Wein!“, dann wurde in der Übersetzung daraus: „Soundso hat dazu aufgefordert, einen Becher voller Zügellosigkeit und Gleichgültigkeit zu sich zu nehmen.“ Man möchte lachen, aber es ist nicht komisch. Es ist zum Heulen, dieses Unheil, das in den letzten Monaten über die reiche Kultur meines Landes hereingebrochen ist.

Die Unterdrückung, zu der die Herrschenden Zuflucht nahmen, entsprang ihrer Angst, nicht ihrer Stärke. Die wirtschaftliche Misere drohte außer Kontrolle zu geraten, immer wieder kam es zu spontanen Aufständen, die sich an lokalen Mißständen oder der existentiellen Notlage der einfachen Bevölkerung entzündeten. Zudem erschütterten Bombenexplosionen das Land; innerhalb von sechs Monaten kamen bei vierzig Anschlägen in zwanzig iranischen Städten mehr als hundert Menschen ums Leben, so daß der damalige Geheimdienstminister Ali Fallahian, kraft seines Amtes selbst ein Experte für die Ausübung politisch motivierter Gewalt, schon von einer „konzertierten Terrorkampagne“ sprach. Vor allem aber hatte sich Mitte der neunziger Jahre eine breite, obwohl kaum konturierte und politisch noch nicht handlungsfähige Bewegung in der Gesellschaft, in den Schulen und Universitäten, in den Theologischen Hochschulen, unter den Frauen und Intellektuellen abgezeichnet, vielleicht nicht einmal eine Bewegung, eher eine Strömung, eine Tendenz, die Herrschaft der Ideologie über die Wirklichkeit zu einem Ende bringen zu wollen. In den Hochschulen und Theologischen Seminaren wurde zunehmend an den geistigen Grundfesten des Staates gerüttelt, in der Politik bildete sich um den damaligen Teheraner Bürgermeister Gholamreza Karbastschi und den späteren Kulturminister Ataóllah Mohadscherani ein Lager reformwilliger Technokraten, eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften wie Bahâr („Frühling“), Bahman oder Payâm-e Dâneschdschu („Die Botschaft des Studenten“) gründete sich, die mit unverhohlener Kritik an den herrschenden Zuständen überraschten, und schließlich taten sich die Schriftsteller und Intellektuellen nach Jahren der erzwungenen Passivität zusammen, um sich für die Freiheit des Wortes einzusetzen. Im Frühjahr 1994 veröffentlichten sie erstmals wieder eine Protesterklärung. Sie betraf den verhafteten Literaten Saídi Sirdschani, der einige Monate später im Gefängnis starb, angeblich an Herzversagen. Im Oktober desselben Jahres gingen die Intellektuellen noch einen Schritt weiter und verfaßten den „Text der 134“, der weltweit Aufsehen erregte. Darin forderten 134 iranische Schriftsteller, unter ihnen alle namhaften Autoren des Landes, die Abschaffung der Zensur und die Erlaubnis zur Gründung eines unabhängigen Schriftstellerverbandes.

Wir haben ein natürliches, gesellschaftliches und bürgerliches Recht, unsere Schriften – sowohl Gedichte wie Romane, Theaterstücke wie Drehbücher, recherchierte Fakten wie Kritiken und auch die Übersetzungen von Schriftstellern aus der ganzen Welt – frei und ohne jegliche Behinderung an unsere Adressaten bringen zu dürfen. Weder einem einzelnen noch einer Institution darf es gestattet sein, die Veröffentlichung dieser Werke – unter welchem Vorwand auch immer – zu verhindern. Selbstverständlich steht es nach der Veröffentlichung jedem frei, diese Werke zu beurteilen und zu kritisieren. Da die Kraft des einzelnen nicht ausreicht, der derzeitigen Einschränkung des Denkens und des Schreibens wirksam zu begegnen, sehen wir uns gezwungen, diesem Druck gemeinsam entgegenzutreten. Wir wollen uns gemeinsam für die Verwirklichung der Gedanken- und Meinungsfreiheit, für das Recht auf Veröffentlichung und für die Aufhebung der Zensur einsetzen.

Aber schon kurz nach der Veröffentlichung setzte eine Welle der Repression ein, wie sie Iran seit den Säuberungen der achtziger Jahre nicht mehr erlebt hatte. Ihr erstes Opfer war Ahmad Miralai. Der Übersetzer von Borges und Paz wurde am 24. Oktober 1995 gegen elf Uhr nachts in einer Seitenstraße von Isfahan tot aufgefunden, nahe der Haustür eines armenischen Freundes. Die Leiche lehnte sitzend an einer Wand, neben sich zwei Flaschen Wodka. Sein Hemd war mit Alkohol durchtränkt. Offenbar wollten die Mörder suggerieren, daß Miralaí sich bei seinem armenischen Freund zu Tode betrunken habe. Ein Arzt gab der Familie jedoch heimlich zu verstehen, daß die Leiche Nadelstiche aufgewiesen und man dem Übersetzer offenbar Alkohol in die Adern gespritzt hätte. Miralai hatte ebenso wie der später ermordete Ghafar Hosseini den „Text der 134“ unterzeichnet. Andere Unterzeichner wurden vom Geheimdienst gezwungen, ihre Unterschriften zurückzunehmen, oder emigrierten wie der Dichter Kamran Bozorgnia oder der Schriftsteller Abbas Maroufi, der als Herausgeber der einflußreichen Literaturzeitschrift Gardun („Himmelsgewölbe“) zu einer sechsmonatigen Haftstrafe und zwanzig Peitschenhieben verurteilt wurde. Das iranische Fernsehen richtete eigens am Freitagabend eine wöchentliche Sendung namens Howiyat („Identität“) ein, um unliebsame Schriftsteller, kritische Zeitschriften und liberale Oppositionelle zu verhöhnen und zu schmähen. Beispielsweise strahlte es ein 1989 im Gefängnis mit geheimer Kamera aufgenommenes Geständnis aus und mißbrauchte es zu satirischen Zwecken. Die Aufnahmen zeigten den von der Folter sichtlich gezeichneten Ezzatollah Sahabi, einen prominenten Sympathisanten der bürgerlich-islamischen „Iranischen Freiheitsbewegung“ (Nehzat-e âzadi-ye Irân) und Herausgeber der Zeitschrift Irân-e fardâ („Das zukünftige Iran“), der sich halb lallend über alte Mitstreiter ausließ. Nicht einmal vor diplomatischen Verwicklungen schreckten die Sicherheitskräfte zurück, wenn es galt, mißliebigen Schriftstellern nachzustellen, wie ihr Eindringen in das Haus des deutschen Kulturattachés Jens Gust zeigte. Der engagierte Diplomat hatte sechs iranische Schriftsteller, unter anderem Sepanlu und Golschiri, zum Abendessen in sein Haus eingeladen, das noch nicht als Diplomatenwohnung angemeldet war. Der Geheimdienst nutzte diesen Umstand gezielt aus und sperrte Gust mitsamt seiner Frau in einem Nebenzimmer ein, während er die Schriftsteller zusammen mit eigens mitgeführten, auf dem Eßtisch ausgebreiteten Dokumenten filmte. Dann wurden sie abgeführt und in den sich anschließenden Verhören der Spionage für Deutschand beschuldigt. Rang sich das iranische Außenministerium gegenüber der deutschen Regierung zu einer Entschuldigung durch, um den politischen Schaden zu begrenzen, mußten die Schriftsteller fortan damit rechnen, jederzeit als Agenten der Bundesregierung angeklagt zu werden, sollten sie ihr Engagement für die Meinungsfreiheit und einen unabhängigen Verband fortsetzen. „Wir Schriftsteller könnten in einen Dialog treten mit den Verantwortlichen des Landes“, sagte mir während meiner Reise im Herbst 1996 Huschang Golschiri, einer der wenigen Schriftsteller, die noch einwilligten, namentlich zitiert zu werden, und der gleichwohl darauf achtete, daß während unseres Gespräches die Musik laut genug aufgedreht war, um die Wanzen des Geheimdienstes zu stören. „Wir könnten mit Vertretern des Innen- oder des Kulturministeriums zusammenkommen, um mit ihnen über die kulturellen Belange des Landes zu reden. Aber der Dialog sieht im Augenblick so aus, daß wir nachts in einen Raum geführt werden und auf eine Wand blickend von hinten verhört und beschimpft werden.“ Ich habe Golschiri vor Augen, wie er ins Leere starrt, den fünften oder siebten Tee auf dem Tisch, die vierzehnte oder sechzehnte Zigarette in der Hand, ich habe die persische Schlagermusik aus den siebziger Jahren im Ohr, die in absurder Lautstärke verzerrt aus dem kleinen Radiorekorder erklang, und vielleicht darf ich jetzt sagen, was Berichterstatter gewöhnlich verschweigen: Ich bekam es mit der Angst zu tun.

Besonders empfindlich reagierte das Regime auf die religiös motivierte und argumentierende Opposition, die sich zu formieren begonnen hatte. „Die Diskussion um die Trennung von Staat und Religion“, beklagte der oberste Richter des Landes, Ajatollah Mohammad Yazdi, „ist nichts als eine Verschwörung, welche die Feinde des Islams angezettelt haben.“ Zunächst richtete sich der Zorn auf den führenden islamischen Reformdenker, Abdolkarim Sorusch, dem westliche Journalisten das Etikett eines „Luther des Islams“ angeheftet haben, ein irreführender und von seinen Gegnern weidlich ausgeschlachteter Vergleich. Nach einer Kampagne in der konservativen Presse wurde er im Herbst 1995 in Isfahan erstmals tätlich angegriffen. Wenig später in Teheran konnte Sorusch den Knüppeln der Ansâr-e hezbollâh