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Max Brod
Ausgewählte Werke

Herausgegeben von Hans-Gerd Koch
und Hans Dieter Zimmermann
in Zusammenarbeit mit Barbora Šramková
und Norbert Miller

Max Brod

Jüdinnen

Roman

und andere Prosa
aus den Jahren
1906 – 1916

Mit einem Vorwort
von Alena Wagnerová

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Gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung Köln und
unterstützt vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds
sowie dem deutschen Auswärtigen Amt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus Aldus Roman
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-1193-0
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2454-1
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2455-8

Inhalt

Vorwort (Alena Wagnerová)

Jüdinnen. Roman (1909)

1 Irene

2 Hugo

3 Herrenhaus

4 Aufstieg

5 Frau Lucie

6 Tennisplatz

7 Kegelpartie

8 Gretl

9 Schlangentanz

10 Krankenbesuch

11 Volksversammlung

12 Olga

13 Elschen

14 Eichwald

15 Abschied

Prosa aus den Jahren 1906 – 1916

Indifferentismus (1906)

Die erste Stunde nach dem Tode.

Eine Gespenstergeschichte (1916)

Nachwort (Hans Dieter Zimmermann)

Editorische Notiz

Über den Autor

Vorwort

Für meine nach dem Zweiten Weltkrieg heranwachsende Generation war Prag eine tschechische Stadt. Schon immer. Die Kontinuität der historischen Kenntnisse war durch den Krieg, die Teilung Europas, durch all das, was zwischen 1938 und 1948 geschah, abgebrochen. Dass wir eigentlich in vielerlei Hinsicht die Übriggebliebenen waren, kam uns nicht in den Sinn. Das unverschuldete Unwissen hatte uns fest im Griff. Rainer Maria Rilke in Prag geboren? Ein deutscher Dichter in einer tschechischen Stadt?

Wieso?

Wer nicht das Glück hatte, ein Familiengedächtnis zu Hilfe rufen zu können – und das war die Mehrheit –, für den war der Weg zum Wissen außerhalb der offiziellen Linie mühsam, von glücklichen Erkenntniszufällen abhängig. Die Lücken blieben groß. Erst Ende der fünfziger Jahre tauchte zum ersten Male wie aus dem Nichts der Name Franz Kafka auf. Dann kam das große Ereignis: Nein, ich meine nicht die epochale Kafka-Konferenz in Liblice; zu der hatten wir Jungen keinen Zugang. Ich meine ein Buch: Streitbares Leben von Max Brod. Ich werde nie vergessen, wie ich nicht satt werden konnte an dieser Lektüre, in der sich mir ein ganz neues Bild der Stadt erschloss mit einem vorher nicht geahnten Reichtum, der Lebensfülle des Nebeneinander, Gegeneinander und Miteinander von Tschechen, Juden und Deutschen. Es war wie ein Befreiungsschlag. Noch mehr, es war eine Identitätsfindung, eine Standortbestimmung in diesem Mitteleuropa, das in Brods Erinnerungen auferstanden war und dessen Luft man seit der Geburt atmete, ohne es zu wissen. Freilich, auch der Keim der Nostalgie nach dieser kulturell so reichen Zeit war damit gesät, nach der Gegenwart dieser Vergangenheit.

Der Name Max Brod war mir allerdings nicht ganz unbekannt. Die Dankbarkeit, dass er »unserem« Janáček zu Weltruhm verhalf, hatte in meinem Brünner Zuhause den Krieg überlebt.

Kein Wunder, dass auch mein Weg zu Kafka über Brod führte. Seine Interpretation Kafkas als eines Wegweisenden war genau das, was man in dem postmaterialistischen Durst nach dem Höheren brauchte. Der Erlösung in jedem Augenblick würdig zu sein, auch wenn keine kommt? Das gab dem Leben eine ganz andere Dimension.

Nach und nach las ich fast alles, was Brod über Kafka schrieb. Aber von seinem eigenen Werk kannte ich nichts. Der Schriftsteller Brod verschwand im Schatten des Vermittlers und Entdeckers der anderen: Hašek, Janáček, Kafka. Nicht nur für mich. Dabei war Max Brod schon vor dem Ersten Weltkrieg ein bekannter und geschätzter Autor. Sonst hätte er auch Kafka nicht in den Verlagen durchsetzen können, in welchen er selbst publizierte. In den zwanziger und dreißiger Jahren erreichten manche seiner Bücher Auflagen von mehr als dreißigtausend Exemplaren. Heute dagegen sind sie kaum auf dem Buchmarkt zu finden, während die Auflagen der Werke seines engsten Freundes längst Millionenhöhe erreichten. Ohne Brod, man soll sich dies nur vorstellen, würden wir ihn sehr wahrscheinlich kaum kennen. Hoffentlich wird nun die in Angriff genommene Ausgabe der Auswahl seiner Schriften eine nachhaltige Rückkehr des Autors Max Brod bewirken. Nicht zuletzt auch deswegen, weil sein Werk zu dem Franz Kafkas ein interessantes und überraschendes Pendant darstellt.

In ihrem Zugang zur Welt und ihrer Darstellung sind die beiden Autoren höchst unterschiedlich: Wo sich Kafkas Grundthema der Entfremdung des modernen Menschen als individuelles und universelles Problem darstellt, als vertikaler Blick in die Tiefen und Widersprüchlichkeiten der menschlichen Existenz, bleibt Brod in der Horizontalen. Er findet die Tiefen auf der Oberfläche der gelebten Welt und gibt damit Zeugnis über den Zustand des Menschen in seiner Zeit.

Der Roman Jüdinnen, mit dem die Ausgabe von Brods Schriften beginnt, ist ein gutes Beispiel dafür. Eigentlich ist dieser »Bade-Roman« vor allem ein Konversationsroman. In der mal klugen, mal trivialen Unterhaltung der Badegäste entwickeln sich die zwei Erzähllinien des Buches, verbunden mit der Figur der Irene. Während wir in der ersten an den mit Erfolg gekrönten Bemühungen der Mutter, die Tochter unter die Haube zu bringen, teilhaben, sind es dann in der zweiten die Gespräche zwischen Irene und dem Gymnasiasten Hugo über die aktuelle Frage der modernen Frauenexistenz, die Irene brillant, bitter, aber auch launisch reflektiert. In ihrer Figur ist Brod eine meisterhafte Studie einer Frau in der Übergangszeit zwischen Tradition und Moderne gelungen. Wir spüren geradezu, wie viel von seinen eigenen Erfahrungen mit der unfertigen Frauenemanzipation, der Suche nach einer Liebesgefährtin, die auch Gesprächspartnerin sein könnte, in diese Frauengestalt geflossen ist. Es ist nicht nur der noch unreife Hugo, es ist auch Brod selbst, welchen Irene mit ihrer Intellektualität, der Klarheit ihres Denkens fasziniert, mit ihrer Launenhaftigkeit der Unfertigen aber abstößt und in seinen eigenen Vorstellungen vom Wesen der Frau unsicher macht. Irenes Revolte bleibt nur rhetorisch, ihre Seele ist zwar schon wach für das Neue, letztlich aber bleibt sie doch gefangen in den Fesseln der Tradition. Mit dem Abstand der Jahre, die uns von der Welt der »Badegesellschaft« trennen, bekommt der Roman zu seiner literarischen Qualität noch den Wert eines Zeitdokuments.

Beim Lesen des ersten Teiles der kurzen Novelle Die erste Stunde nach dem Tod werden wir den Zeitabstand allerdings als gar nicht so groß empfinden. Der Monolog des Barons von Klumm, gerichtet an den Diplomaten Herr von Crudenius, unterwegs von einer Sitzung des Reichstags, kann in seiner Mischung aus genialischer Demagogie und Populismus ihresgleichen suchen. Der Krieg ist für Baron von Klumm der natürliche Zustand der Menschheit; nicht nur im Krieg, auch im Frieden sterben doch Menschen. Der Staatsmann aber »muß sich ganz klar darüber sein, daß seine Maßnahmen niemals Aufhebung des Krieges, überhaupt des menschheitlichen Leidens und Unglücks bezwecken können, sondern nur – wie soll ich es nennen – eine bessere intensivere Organisation des Unglücks«, doziert er. Und wir vermeinen schon, die wohlbekannten Stimmen zu hören.

Aber auch den zarten, kränklichen, aber glücklichen Leo Grottek aus der Erzählung Indifferentismus wird der Leser nicht so schnell vergessen. Es lohnt sich in jedem Fall, Max Brod zu entdecken oder wieder zu lesen.

Alena Wagnerová

Jüdinnen

Roman

Meinen lieben Geschwistern
Otto und Sophie
gewidmet

1 Irene

Mißmutig bog Hugo um die Ecke des Waldweges. Da wurde er durch einen unerwarteten Anblick festgehalten.

Eine weißgekleidete Dame lag auf der Erde, das Gesicht zwischen den Armen und dem Boden zugewendet. Eine andere Dame, dunkel gekleidet, und ein Herr schienen sich um sie zu bemühen. Die Dame lebhafter, besorgter, fächelte mit den Händen der Liegenden Luft ins Gesicht, sprach schnell und unverständlich; der Herr hingegen, ohne Hut und im Frack, allem Anschein nach ein Kellner, zeigte sich bei näherer Betrachtung eher in der Rolle eines Wartenden, als eines Helfers. Und als er nun gleichfalls, nach einer Pause, auf die Liegende losredete, machte es sogar fast den Eindruck einer Drohung. Hugo stand still, ungewiß, ob er eingreifen solle … Da warf sich die alte Dame herum, ohne Besinnung, zufällig, wie in die Ferne gekehrt, und rief mit schwacher, verzweifelter Stimme nach Hilfe, Hilfe … Mit einem Ruck war Hugo an ihrer Seite.

»Was gibt es denn? Kann ich helfen?«

Sofort hob sich das Gesicht der weißgekleideten Dame vom Boden empor. Sie war noch jung, blonde Haare fielen in einem zerrauften Kranz über ihr Gesicht. »Retten Sie mich, schützen Sie uns.« Sie schluchzte, die Hand an ihrer Frisur zitterte.

Hugo sah sie an, wandte sich dann an die ältere, die, glückselig, ein Lebenszeichen erhalten zu haben, und ohne sich weiter um Hugo zu kümmern, den Kopf der jüngeren an sich emporzog und mit Küssen bedeckte.

Von den beiden verlassen, die sich in heftiger Erregung nur miteinander beschäftigten, schritt nun Hugo auf den Kellner los. Nur er konnte Auskunft geben. »Was ist vorgefallen?«

»Oh nichts, bitte … Ich wollte nur … die Rechnung hat um 1 Krone mehr gemacht … Ich habe falsch herausgegeben …«

Aus der Umarmung warf ihm die Tochter einen flehenden Blick zu … Hugo, für den einen Moment lang die Situation verständlich gewesen war, stand nun wieder ratlos. Die Mutter, als hätte sie auf den Augenblick gewartet, begann plötzlich zu weinen, als sie die Tochter wieder fest auf den Beinen sah. Nun war sie wieder hilfsbedürftig, wurde von der Tochter festgehalten … »Schnell, schnell«, riefen die beiden … Hugo, ganz verstört, griff in die Tasche, holte eine Krone aus dem Portemonnaie, die er dem Kellner reichte. Mit einer kleinen, ernsten Verbeugung nahm sie der Kellner und verschwand alsbald hinter den Bäumen.

Den Hut ziehend, jetzt erst, näherte sich der Jüngling höflich den beiden Frauen.

»Er ist weg, Mama, nun, er ist weggegangen … Dank Ihnen, Herr.«

»Aber ich weiß gar nicht …«

»Sie haben mich gerettet …«

»Du Überspannte«, fuhr die Mutter empor und hörte sofort zu weinen auf … »Mit dir weiß man schon nicht … Mein Herr, Sie haben uns in einer Lage gefunden … Alles bist du schuld, Irene … Bitte, entschuldigen Sie doch …«

»Aber, ich bitte schön, es war meine Pflicht …«

Hugo erschrak. Er hatte gerade, wie es ihm im Munde lag, einige offene und bescheidene Worte über seine Tat sagen wollen, da unterbrach ihn ein seltsamer Blick Irenens. Listig und, fast schien es, mit Ironie sah sie ihn an, plötzlich kühl und überlegen. »Nun, unser Ritter, gehen Sie noch ein Stückchen mit uns?« Hugo fühlte sich plötzlich von oben bis unten gemessen, abgeschätzt, überprüft, er spürte die Notwendigkeit, etwas Ernsthafteres zu sagen.

Aber Irene, die nun neben ihm ging, mit kurzen Bewegungen ihren Hut feststeckte, lächelte jetzt: »Wir wollen uns doch zunächst bekannt machen, wie es sich gebührt, nicht wahr … Ich heiße Irene Popper, das ist meine Mama … und Sie, Herr Ritter …«

»Hugo Rosenthal.«

»Gymnasiast, nicht wahr?«

»Ja.« Verwundert blickte er sie an. Nun wohl, seinen Beruf mochte sie an dem Schulbuche erkannt haben, das er in der Hand trug. Aber warum lag in ihrem Ton etwas, als mache sie ihm diesen Beruf zum Vorwurf. Verspottete sie ihn? Sie redete so, als korrigiere sie Fehler, die er gemacht hatte, ohne übrigens besonderen Wert darauf zu legen. Seine ganze Selbstzufriedenheit war mit einem Schlag verschwunden. Im Gegenteil, er glaubte, die Sache irgendwie ungeschickt angefaßt zu haben, vielleicht hätte er sich zuerst vorstellen sollen. Vorhin hatte er noch gemeint, etwas geleistet zu haben. Wer hätte es aber jetzt dieser eleganten Dame angesehen, daß sie sich eben noch im Grase gekrümmt hatte.

»Wir haben uns unter so sonderbaren Verhältnissen kennen gelernt«, fuhr sie, immer ruhig lächelnd, fort, »daß wir wohl über die Förmlichkeiten hinweggehen können. Auch scheinen Sie eine Erklärung zu erwarten …«

Hugo schwieg, gänzlich verschüchtert.

»Nun, genieren Sie sich nicht … Sie haben ja das Recht dazu.« Sie griff in ihr Täschchen. »Ich glaube auch bemerkt zu haben, daß Sie etwas für uns ausgelegt haben … Ich war so erregt …«

»Nichts war daran«, mischte sich jetzt die Mutter ins Gespräch, die hinter ihnen herging. »Glauben Sie es mir. Der Kellner war uns nachgegangen, um eine Nachzahlung zu verlangen, sonst nichts. Kaum aber sieht ihn Irene, sie war schon den ganzen Nachmittag über so nervös … gleich fällt sie in Ohnmacht …«

»Das Fräulein hat also …«

»Meine Mama ist immer Optimistin«, zog ihn die Tochter mit sich. »Das aber sagst du nicht, Mama«, sie drehte sich wieder um, »warum ich den ganzen Nachmittag über so nervös war. Wahrscheinlich hast du es nicht einmal bemerkt, daß dieser Kellner mich in einem fort fixiert hat, als wir im Schützenhaus saßen, daß er mir die Hand zu drücken suchte, als wir zahlten …«

»Einbildung.«

»Daß er uns nachging und plötzlich an dieser einsamen Stelle mit einem Schrei auf mich losging …«

»Du hast geschrien, nicht er …«

»So sind die Mütter …« Irene sprach nur noch mit Hugo und die Mutter, nun gleichfalls beruhigt und, wie es schien, an diese Vernachlässigung gewöhnt, blieb ein immer beträchtlicheres Stück hinter den beiden zurück. »Sie sehen nichts, sie hören nichts, höchstens, wenn es sich ums Verheiraten ihrer Töchter handelt, da sind sie dabei, da machen sie die Augen auf … Ach Gott.« Sie nahm einen resignierten Ausdruck an.

»Es wird also ewig unklar bleiben …«, suchte Hugo zu vermitteln.

Gleich war sie beleidigt: »Wenn Sie mir nicht glauben …«, aber sofort besann sie sich und lächelte wieder: »Überdies habe ich ja gar keine Ursache, auf diese Eroberung besonders stolz zu sein, nicht wahr …« Ihr Lächeln zog den Mund schief, die eine Hälfte des Mundes ging in die Wange empor, während die andere sich eher herabzusenken schien. Nicht gerade die Miene der Verachtung war von dieser zweiten Wange abzulesen, aber immerhin etwas Zurückhaltendes, eine Reserve, etwas, was über das Lächeln der einen Wange zu lächeln schien. Oder, als ob Irene über etwas ganz anderes lächle, als man nach dem Gange des Gespräches voraussetzen mochte, und als ob sie zugleich mit einem gewissen Stolz andeuten wolle: Ja, wenn ihr wüßtet, worüber ich lächle, das ist nicht so einfach, das ist nicht so was für euch … Eigentümlich war es auch, daß sie den Mund beim Lächeln nicht öffnete, keine Zähne sehen ließ, sondern eher noch die Lippen fester aneinanderpreßte, so daß sie noch schmäler und blässer schienen als sonst … Hugo war ganz gefesselt, indem er sie betrachtete … Sie fuhr fort: »Ein wenig komisch muß ich Ihnen ja vorkommen, wenn Sie meiner Mama zuhören …«

Er wollte zu einer längeren Wiederholung ansetzen. »Sie bringen mich in Verlegenheit …«

»Nein, nein«, unterbrach sie, »Sie haben ganz recht. Ich muß ja allen Menschen sonderbar erscheinen. Ganz einfach; wissen Sie, warum? … Weil ich es bin. Vielmehr: ich bin es nicht. Ich bin vielleicht ganz gewöhnlich. Jedenfalls wäre ich es gerne. Aber mein Schicksal ist so merkwürdig. Ich lebe in Geheimnissen, in Erlebnissen, ich muß jeden Tag etwas erleben. Ich will es ja nicht. Ich habe schon genug davon. Aber da hilft nichts, es kommt zu mir, es drängt sich direkt an mich …«

Noch nie hatte Hugo ein Mädchen so reden gehört. Eine unklare Fülle von neuen Vorstellungen tauchte auf … Mädchen, das waren doch diese weißen dummen Geschöpfe, denen man Blumen in die Tanzsäle bringt, denen man auf den Tennisplätzen Witze erzählt, für deren Bedürfnisse man sich einrichtet, vereinfacht. Und jetzt … Diese redete ja wie ein gescheiter Mann, man konnte mit ihr wirklich vernünftig sprechen, von allem vielleicht, wie man wollte … Er war von Natur aus zur Begeisterung geneigt, jetzt faßte ihn eine heftige Verehrung für die Dame neben ihm; wie weit dieses Zusammentreffen sein Leben beeinflussen konnte, schien ihm noch gar nicht absehbar. Jedenfalls fühlte er eines: Was ihm vorhin an ihren Reden beinahe arrogant erschienen war, fand er jetzt ganz berechtigt. So ein hervorragendes Wesen … Am liebsten hätte er es gleich gesagt, doch scheute er sich, das Wort »arrogant« herauszubringen und in der Eile fand er kein milderes … Eine Erregung beherrschte ihn, sein Herz öffnete sich: »O, ich verstehe Sie … Wenn man von Geheimnissen spricht … Ich weiß, was das bedeutet, ein Geheimnis.«

»Bei mir gibt es schon gar nichts Normales mehr in meinem Leben«, fuhr sie mit schmerzlichem Zucken ihrer Mundwinkel fort, und nun schien dieses Zucken etwas vom vorigen Lächeln zu haben, wie auch das vorige Lächeln vom Zucken. »Und das Schrecklichste dabei: Alles ist von dem einen Geheimnis beherrscht, alles geht darauf zurück … Auch wenn ich den Zusammenhang nicht gleich einsehe, bin ich jetzt schon immer im voraus überzeugt, daß es wieder mit derselben Sache irgendwie zusammenhängt … Mein ganzes Leben hat eben seinen Charakter, seinen phantastischen Anstrich von dieser einen Sache … So zum Beispiel, heute, diese blödsinnige Geschichte mit dem verliebten Kellner, glauben Sie, ich würde mich nur einen Moment wundern, wenn auch diese Geschichte wieder von meinem Geheimnis herkäme … Was, wundern? Ich bin davon überzeugt.«

»Wie sehr haben Sie recht, Fräulein«, sagte Hugo mit ehrlicher Bewunderung. »Ich kann Ihnen das nachfühlen … Wenn ich auch bisher mein Gefühl noch nicht in Worte gekleidet habe … Ich habe nämlich auch ein Geheimnis.« Er hoffte, daß sie ihn näher danach fragen würde.

Sie aber schaute ihn mit eigentümlichem Blick ihrer hellgrauen Augen an: »Sie auch? …« Sie war etwa um einen Kopf größer als er, und, so sagte er sich, vielleicht kam die eigentlich unangenehme hochmütige Art ihres Schauens nur von dieser Größenverschiedenheit. »Sie sind noch sehr jung, nicht wahr?«

»Septimaner.«

»Wie ich gut raten kann.«

»Nun, es ist nicht so arg.« Er versuchte, ihren abweisenden Ton nachzuahmen … »Ich bin nämlich nicht Gymnasiast, wie Sie vorhin rieten, sondern Realgymnasiast …«

»So … Wie ist das eigentlich?« Sie hörte ihm aufmerksam zu, während er ihr erklärte. Sofort schwoll seine Freude wieder, welch ein treffliches Mädchen! Nie hatte er mit Mädchen so ernst sprechen können … Er beeilte sich, um ihr nicht lästig zu fallen, faßte in drei Sätzen alles zusammen, seine Erziehung, seine Neigungen, sein Ideal …

»Das ist sonderbar«, sagte sie, gleichsam anerkennend.

»Warum sonderbar? Finden Sie das wirklich …«

»Nun, Realgymnasium ist etwas Sonderbares. Jedenfalls ist es nicht so gewöhnlich wie Realschule oder Gymnasium …« Dieser Gedanke war ihm, dem stets sachlich von seiner Beschäftigung Erfüllten, nie gekommen. Er erschien ihm auch jetzt äußerlich und wenig wichtig, wenn auch ganz interessant. Und diesen kleinen Tadel wagte er auch, ihr auszudrücken. Nicht aber aus eigener Neigung, denn er hätte am liebsten immer nur gelobt, sondern nur gleichsam, um sich ihrer Gesprächsweise anzugleichen. Zu seinem Erstaunen überhörte sie fast ganz, was er sagte: »Wir passen also zusammen. Jeder von uns hat etwas Sonderbares … Und Sie haben also auch ein Geheimnis?«

Er lächelte: »Es fällt einem schwer, auf so eine Frage ja zu sagen – nicht wahr –? Etwas anderes, wenn man das in der eigenen Rede aus eigenem Antrieb vorbringt.« Eine ihm ganz ungewohnte Lust, zu kritisieren und ins Feinste zu gehen, war plötzlich erwacht.

»Bei Ihnen ist halt alles kompliziert und nicht so einfach zu sagen … Sie Realgymnasiast.«

Jäh schaute er ihr ins Gesicht. War das Hohn? Aber nein, sie blickte ihn wohlwollend an, mit einer gewissen Freude: »Ich werde Sie so nennen … bei mir … Realgymnasiast … Das ist hübsch. Es drückt alles aus, alles Sonderbare an Ihnen …«

»Aber ich finde es, wie gesagt, gar nicht so besonders sonderbar, ein Realgymnasiast zu sein.« Er lachte heraus, da ihm das Folgende einfiel: »Ich habe so viele Mitschüler …«

»Ganz egal. Verstehen Sie das nicht? … Für mich klingt es sonderbar. Es handelt sich doch nur um meine Impression … Ich habe so die Gewohnheit, meine eigenen Schlagworte zu bilden. Neue Münzen zu prägen«, setzte sie im Ton des Zitates hinzu … Aber plötzlich streckte sie ihre Hand aus: »Ich bin froh, daß ich Sie gefunden habe …«

Sein Gesicht erglühte. Verwirrt reichte er ihr die Hand: »Noch dazu auf so sonderbare Art …« Aber da stieß sie seine Hand weg: »Pfui, was für ein häßliches Wort – dieses: sonderbar … Wie ich das hasse!« Mit einem Male verlangte sie tyrannisch Herzlichkeit von ihm, indem sie seine herabgefallene Hand an sich nahm: »Muß man denn immer dieses Wort im Munde führen … immer darauf stoßen … Seien wir doch einfach froh, was …« Und jetzt öffnete sie auch beim Lächeln ihren Mund, ein freundlicher Glanz erschien in ihren Augen. Vor Glück drückte er ihre Finger zusammen. Schnell entglitt ihm die Hand, kühl und schmal wie ein Fisch. –

»Aber wohin kommen wir da eigentlich?« mischte sich die Mutter ein, indem sie einige schnellere Schritte machte.

Die beiden blieben stehen und sahen vom Rand der Königshöhe, an den sie jetzt gelangt waren, ins Tal. »Ich weiß gar nicht, wohin die Herrschaften wollen!« entschuldigte sich Hugo.

»Nach Teplitz zurück natürlich. Wir wohnen im Herrenhaus. Kennen Sie das? …«

»Ich bin Teplitzer.«

»Wie? Sie sind nicht Kurgast? … Ich dachte bestimmt.« Sie lachte laut auf, mit einem heftigen Vorbeugen ihrer schmalen Brust, als huste sie. »Also Realgymnasiast und Teplitzer …«

»Ist das auch so etwas Besonderes?« fragte Hugo mißtrauisch.

»Könnten Sie die Liebenswürdigkeit haben«, bat die Mutter ernst, »uns auf dem kürzesten Weg hinunterzubringen? Man erwartet uns ja, Irene.«

Hugo wandte sich der Mutter zu, es schien ihm wie eine Erholung, wieder einmal ganz ungezwungen reden zu können, und er faßte sich deshalb nicht zu kurz: »Da haben wir uns aber schön verirrt. Da haben wir einen schönen Umweg gemacht. Da hinunter geht’s gar nicht, das ist genau die entgegengesetzte Richtung – nach Prasseditz …«

»Nach Prasseditz«, jauchzte Irene beinahe. »Genug, genug … Sie sind als Teplitzer dokumentiert … Gehn wir also …«

»Ist das so was Arges? …« Hugo sah sie ärgerlich an.

»Wie redest du wieder, Irene?« ermahnte die Mutter, die aber nur widerwillig, gleichsam einer Pflicht gehorchend, da sie nun einmal zufällig dabei stand, ins Gespräch eingriff.

Irene hörte sie gar nicht. Lustig spottete sie weiter: »Da kennen Sie ja am Ende auch die Weils und die Kapperischen, das sind nämlich meine Verwandten, lauter Teplitzer …«

»Flüchtig kenne ich allerdings …«

»Vielleicht sind wir am Ende auch noch verwandt? Wissen Sie, so: unsere Kuh hat auf eurer Wiese geweidet … Wenn zwei Juden einander treffen, so sind sie doch bekanntlich nach zehn Minuten schon miteinander verwandt.« Und sie begann die Art solcher Gespräche nachzuahmen: »Also meine Mutter ist eine geborene Bondy …«

»Ist nicht vielleicht … Sie heißen doch Rosenthal – der Rosenthal in Laun, was das große Hopfengeschäft hat, Ihr Herr Bruder …« wurde die Mutter sofort eifrig, wie von diesem Ton ins Innerste getroffen.

»Mein Bruder ist schon lange tot …«

»Pardon …«

»Nein, wirklich«, schwenkte Irene schnell ab, »diese Teplitzer sind unausstehlich. Namentlich die Frauen, meine Cousinen zum Beispiel … Gegen die Männer will ich ja vorläufig nichts gesagt haben … Wissen Sie, die Frauen haben Toiletten aus Wien, aus Paris. Hier ist alles à la Großstadt, ganz Teplitz ist à la Großstadt. Das ist das Wort, das ich mir darüber gemacht habe. Gut, nicht wahr? Das Theatercafé zum Beispiel, diese Pracht. Oder die Telephonverbindungen, die Autos, das Theater … à la Großstadt. Dabei sagen die Frauen einander durchs Telephon, was sie zu Mittag kochen. Mit dem Auto fährt man um ein Buch zur Leihbibliothek. Es geht eben doch nicht recht mit der Großstadt …« Sie wackelte mit dem Kopfe vor Ironie.

»Ich bin nur über die Ferien zu Hause«, verteidigte sich Hugo mit einer gewissen Ängstlichkeit, die ihn selbst wundernahm. »Ich studiere in Prag. In Teplitz gibt es kein Realgymnasium …«

»Sehn Sie, Ihr Gutes hängt doch mit dem Realgymnasium zusammen. Ich habe es gleich gewußt …« Hugo fand, daß Selbstbewußtsein ihr sehr gut stand. Sie richtete sich dabei auf, während ihre schwache Gestalt sonst die Neigung hatte, sich irgendwie zu krümmen, wie aus allen Gelenken gekegelt … Da die Mutter sich wieder diskret zurückgezogen hatte, sowie die Unterhaltung vom Gewohnten abwich, konnte er sie unauffällig von der Seite betrachten. Sie schien nicht mehr jung, an die fünfundzwanzig Jahre konnte man sie schätzen. Ihr Gesicht war klein, der Teint, obwohl man keinen Fehler an ihm bemerken konnte, machte keinen schönen Eindruck. Er war zart, faltenlos, auch rosig, aber wie von einem schwachen bräunlichen Gesamtton gedeckt, so daß in dem Rosa keine Übergänge, keine Schattierungen sichtbar wurden. Zu gleichmäßig war dieser Teint … Die untergehende Sonne zwischen den Waldbäumen hervor ließ ihr Haar rötlich glänzen, und die Frisur im Ausstrahlen erschien noch umfangreicher, als sie ohnedies war … »Sie haben wunderschönes Haar«, bemerkte er leise.

Traurig senkte sie den Kopf: »Das ist schon das Letzte, wenn man von einem Mädchen sagt: sie ist lieb … oder: sie hat schönes Haar … Da ist sie gewiß häßlich … Das hätten Sie nicht sagen sollen, Herr Hugo …«

»Aber ich meinte ja gar nicht …« Er erschrak über ihre Offenheit.

»Einerlei. An solchen Abenden ist jedes Wort gefährlich. Und wie das Erinnerungen weckt. Schmerzliche Sehnsucht liegt in dieser Luft, die einen anhaucht, man muß die eigene Sehnsucht tief einsperren, sonst antwortet sie …«

Von neuem war er überrascht. Sie ging jetzt mit kleinen Schritten, huschte, sprang über Wurzeln, so daß er Mühe hatte, ihr zu folgen. Ihre Wangen, an deren Rändern eine sanfte Blässe erschien, sahen runder und mädchenhafter aus. Selbst ihre sonst lang hervortretende magere Nase fügte sich unter dem zärtlichen Sprühen ihrer Augen milder an die Stirne, die Haare zitterten, und wenn man näher hinsah, zitterte die ganze Gestalt wie unter dem Druck unsichtbarer Küsse. Die blauen Adern zeichneten sich an den Schläfen ab, ein paar Blitze. Irgend jemandem lief sie entgegen, sie umarmte einen Schatten, mit einem seligen Stammeln der Lippen hauchte sie leise Seufzer vor sich hin. Als sei jetzt ihr tieferes Wesen an den Tag gekommen, lächelte sie glückselig, beruhigt, ohne eine Spur von Eitelkeit … Hugo fühlte, wie sie ihn allein ließ. »Sie sind wohl sehr verliebt«, suchte er sie festzuhalten.

Sie nickte. Es schien sie nicht zu stören. Sie versank noch tiefer in ihr Schwelgen. Sie ging noch schneller, elfengleich flog sie an seiner Seite.

Er kam sich einfältig vor, dennoch konnte er es nicht zurückhalten: »Ganz wie ich. Ich bin auch so verliebt …«

Gefühlvoll sah sie ihn an. Keine Spur von schroffer Erwiderung. Sie blieben im Schatten einer Kiefer stehen, sie lehnte sich heftig atmend an eine Bank. »Das ist arg, nicht wahr«, winkte sie ihm zu.

»Arg und schön zugleich.«

»Nicht wahr, auch sehr schön …« Eine Träne trat in ihr Auge. »Es ist wirklich gut, daß ich Sie gefunden habe. Wir werden Freunde werden …«

»Wir sind es schon«, sagte er, mit edlem Ton. »Sagen Sie, finden Sie es denn nicht eigenartig, daß wir schon so intim zueinander reden? Wir haben uns doch vor einer halben Stunde noch gar nicht gekannt, haben nichts gewußt einer von des andern Existenz.«

»Nein, sehen Sie, ich finde es nicht einmal mehr auffallend …« sagte sie zartsinnig.

»Nein, ich auch nicht«, beeilte er sich, überzeugt. »So meinte ich’s nicht … Es gibt ja so wenig Menschen auf der Welt …«

»Und die wenigen gehören zusammen …« Er stellte sich vor sie, das Knie auf die Bank gezogen, und hörte zu, wie sie wohlklingend fortfuhr. »Es gibt wirklich wenig Menschen auf der Welt … Wenige, mit denen man reden könnte … Sie haben recht.« Es kam ihm wie eine Schmeichelei vor, daß sie ihm so zustimmte, zum erstenmal.

»Merkwürdig ist das Leben«, sagte er und es erschien ihm wirklich äußerst rätselhaft, wie er hier vor dieser fremden und doch so nahgefühlten Dame stand, das Knie auf den Banksitz gehoben, während der Abendwind hoch oben die Bäume bewegte, den schmalen Streifen des Himmels, der über dem Weg erschien, bald enger machte, bald verbreiterte, je nach der Richtung, die er den Bäumen gab, und wie dieser gleiche Abendwind ihm in die heißen Wangen griff, dort wieder eine blonde Strähne sanft an Irenens Ohr schlug und wieder aufrichtete. Dazu der dunkle Durchblick an Baumstämmen vorbei, in andere Stämme, in schuppige Rinde, in das Holz der Zweige, in Nadeln, abgefallene Zapfen und Erde, bis alles im Hintergrund zu einer undurchsichtigen Wand verschwamm … »Merkwürdig …« wiederholte er. »Da muß ich gerade des Weges kommen … und Sie diesen Zwischenfall haben … Wäre ich nur fünf Minuten früher oder später aus dem Hause gegangen …«

»Wissen Sie … so zu reden, das hat wenig Sinn … Wir wollen auf die Mama warten.« Sie setzte sich auf die Bank.

»Werden Sie sich nicht verkühlen …« Aber während er das sagte, scheinbar gleichgültig, und sein Knie zurückzog, zitterte er vor Ehrfurcht. Was hatte sie da gesagt! »Das hat wenig Sinn.« In diesen einfachen Worten lag irgend etwas verborgen, was er in seinen geheimsten Gedanken irgendwie ungewiß hie und da gefühlt hatte … Er verstand sie, o so gut! Und mit einer Wollust, die er nie vorher gefühlt hatte, fragte er leise: »Was heißt das, was wollen Sie damit sagen, daß es keinen Sinn hat …« Es schien ihm ganz unwahrscheinlich, daß jemand auf dieselben Ideen verfallen konnte, die er als letzte Grenze seines Nachdenkens kaum mehr faßbar in sich trug. Ängstlich, er mußte das prüfen …

Sie lachte, aber nichts Verletzendes lag diesmal in dem Schall: »Wissen Sie, ich habe dafür ein Wort … antiefen … Man soll einander nicht antiefen. Es gibt eben gewisse Dinge, die letzten meinetwegen, wenn man über die redet, selbst im besten Glauben, so kommt nur Banalität heraus. Tod, Schicksal, Menschheit, Leben, Gott, das sind solche Dinge … Und da wohnt im Herrenhaus ein Mensch, Sie werden ihn noch kennen lernen, Nußbaum heißt er, der tieft mich immerfort an, – das ist so ähnlich, als sagte ich: er ekelt mich an … Ein Lustspieldichter ist er überdies …«

Es war genau das, was ihm vorschwebte. Es schien ihm wenigstens einen Augenblick lang so. In dem Moment, da er zu reden begann, verschob sich aber schon das Einverständnis. Er fühlte gleichsam, daß er seinen eigenen Gedanken, der ihm bisher als letztes Ende gegolten hatte, nebelhaft fortentwickelte: »Unter Freunden darf man einander aber vielleicht antiefen.«

Sie sah ihn voll Klugheit an: »Ein neuer Einfall … Ja, vielleicht …«

»Wenn man es mit Gefühl tut, nicht bloß mit dem Verstand … so verliert es alle Widerwärtigkeit.«

»Ja, unter Freunden darf man einander antiefen … Das sei das Resultat unseres ersten Spaziergangs, nicht … Wir werden noch viel Philosophie treiben.« Sie regte sich gleichsam, sie schien eine neue Lebensmöglichkeit zu gewahren, man sah erst jetzt, daß sie bisher immer ganz niedergeschlagen geredet hatte. Jetzt erst schien sie wirklich fröhlich, bewußt. »Ja, ein Freund ist kein Lustspieldichter …«

»Man könnte sogar sagen«, schnellte er auf, »Freund und Lustspieldichter sind das genaue Gegenteil …«

»Oder Lustspieldichter und Realgymnasiast sind das genaue Gegenteil«, bestätigte sie lustig. »Oder Philosoph und Antiefer mit bloßem Verstand.«

»Wir haben schon eine ganze Geheimsprache miteinander … Das ist großartig.« Er grinste und sein Knabentemperament kam zum Vorschein, indem er den nächsten Ast abriß und wie mit einer Peitsche in die Luft klatschte.

»Eine Geheimsprache für Geheimnisse – ist’s so nicht in der Ordnung.«

»Sagen Sie mir«, er hielt mit dem Peitschen ein, und eine maßlose Freude und Begierde erfüllte ihn, jetzt sofort ihr gegenseitiges Einverständnis noch mehr zu vertiefen, ganz einzudringen, auszukosten: »Wollen Sie von Ihrem Geheimnis immer nur so reden als von einem Geheimnis … oder wollen Sie mir es anvertrauen … einmal vielleicht …« Er schob die Hand weit von sich, er sah sich fast mit grauen Haaren und sie eine Greisin, und beide immer noch Freunde und jetzt erst im Begriffe, ihre beiderseitigen Geheimnisse einander auszusprechen.

»Ich will Sie lieber etwas anderes fragen«, lächelte sie scharfsinnig, und auch ihre Listigkeit hatte jetzt etwas Liebevolles, mit diesen zu einem Spalt verengerten Augen, als schaue sie wie in grelles Licht in ihr eigenes leuchtendes Nachdenken: »Ich will raten, darf ich? … Ihre Liebe, Ihre Verliebtheit, von der Sie vorhin sprachen, das ist Ihr Geheimnis …«

Er erschrak beinahe: »Aber nein … Etwas ganz anderes …«

»Nun auch bei mir …« zögerte sie, von ihrem Mißerfolg peinlich berührt. »Das heißt … es ist nicht etwas ganz anderes. Es hängt zusammen. Immerhin sind es zwei verschiedene Dinge …« Er hatte den Eindruck, daß sich ihr Geheimnis doch mit ihrer Liebe decke. Nur wollte sie sich nicht verraten, ehe er mehr gesagt hatte.

»Ich werde es Ihnen gern erzählen«, sagte er rasch …

Die Mutter erschien in der Öffnung des Weges. Er fühlte, daß die Zeit drängte, daß er heute nicht mehr zum Erzählen kommen würde. Also suchte er geschwind noch die Situation zu erleichtern: »Nein, eigentlich hängt es auch bei mir zusammen.« Und jetzt, ausgesprochen, schien ihm das sogar richtig. »Im Grunde hängt ja alles zusammen, nicht wahr?« schloß er.

Die Mutter hatte sie erreicht: »Wie du läufst, Irene … Sind wir nicht bald da, Herr Rosenthal …«

Jetzt erst sah er sich um: »Ja, da kommen schon die Stiegen … Gleich sind wir am Stephansplatz.«

Sie traten, nach wenigen Schritten, aus dem Wald auf eine gemauerte Plattform.

»An diesen Spaziergang werde ich denken«, atmete die Mutter auf und sah mit sanft rollenden, verstörten Augen Irene an, dann in die Stadt hinunter. Hugo blieb stehn, er erwartete in diesem Zusammenhang noch ein Dankeswort. Es kam nicht. Aber hatte man ihm schließlich nicht schon gedankt? Er machte einen Schritt von den Frauen weg, der ihm ungeheuer bedeutungsvoll erschien, wie ein Abschluß, denn jetzt erst, nach diesem Schritt, tauchten vor seinem Blick über die Stiegenbrüstung hinweg die dunklen Massen der reihenweise gestellten Häuser auf, der Platz, der jenseitige Himmel, zu dem wie ein Hügel die Stadt sich emporwölbte, mit zwei oder drei hervorragenden Türmen, die gegen die unermeßliche Fläche des Firmaments zu klein erschienen …

Endlich sagte die Mutter: »Eine herrliche Aussicht!« und seufzte nochmals auf.

Man wandte sich zum Abstieg. Die Laternen an der Stiege brannten schon.

Ohne jeden Übergang besprach Irene mit der Mutter einige Besorgungen … wo konnte man am besten Nachtmahl kaufen … oder sollte man im Rathaus essen? … Betrübt ging Hugo ein paar Stufen voraus, er fühlte sich überflüssig, doch zugleich auch unentbehrlich, mit Irene schon fest verbunden, und trotzdem hatte er das Bedürfnis, durch freiwilliges Beiseitebleiben dieses Entbehren, die Empfindung des Zusammengehörens in ihr zu steigern, für jetzt, für alle Zukunft. Er schwebte gleichsam lockend ihr voraus, durch einen Ruf konnte sie ihn an sich ziehen … Er wartete. Nichts. Er wandte sich um, die beiden Frauen blieben geschäftig beisammen. Irene hinter ihm überragte ihn so weit, daß sein Blick nur ihre Gürtelschnalle traf.

»Erkennen Sie nun schon die Gegend?« Nur ungern zwang er sich zu einem solchen Thema. Aber hätte er überhaupt schweigen sollen! … »Da ist der Kursalon, da die Post …«

»Ja, die Post … ob ich die kenne!« Seufzend schwang sich Irene zu ihm herab.

»Das Geheimnis?« flüsterte er ihr zu, brennend vor Neugierde und Teilnahme.

Sie brach ab: »Nein, lassen wir das. Es interessiert mich nicht. Reden wir von etwas anderem …«

»Kann man das kommandieren?« Er sah sie vorwurfsvoll an.

»Sie können das nicht verstehen. Sie können das nicht ahnen … Es ist so viel. Wie ich Ihnen schon sagte, ich bin von Mystik ganz umhüllt …« Er dachte nach. Sollte er das überhört haben? Aber vielleicht meinte sie es gar nicht so. »Und dann, meine Cousinen warten. Wir sind schon in der Stadt. Die Zeit ist zu kurz … Es ist überdies sehr gut, daß Sie meine Cousinen kennen. Da werden wir einander ja öfter in Gesellschaft treffen … Herr Nußbaum; da sind sie schon! …«

Eine Gruppe von mehreren Herren und Damen kam ihnen entgegen.

»Schöne Sachen«, rief eine schrille Stimme, nicht sehr freundlich. »Jetzt kommt man? Seit 7 Uhr stehen wir da …« Es war das älteste Fräulein Kapper. Hugo grüßte sie flüchtig und trat zur Seite.

»Also die Versammlung findet nächste Woche statt!« Mit diesen Worten bahnte sich ein großer Herr mit geteiltem Vollbart seinen Weg durch den Knäuel der vielen schwatzenden Mädchen … Irene, plötzlich aus ihrer träumerischen langsamen Redeweise in ein lebhaftes Schnattern umschlagend, mit den andern, kam ihm entgegen, nahm auch andrer Grüße und Händedrücke entgegen, neigte sich beflissen. Die Mädchen erzählten ihr eiligst, als hätten sich die wichtigsten weltumstürzenden Ereignisse während ihrer Abwesenheit zugetragen. Alle brachen plötzlich in Gelächter aus. Ein andrer Herr überschrie sie: »Man kommt doch heute auf die Kegelbahn?« Eine der Cousinen – Hugo erkannte aus der Entfernung Alice Weil – entfaltete einen Brief. Sofort trat Irene mit ihr aus dem Haufen, ihr eben noch lachendes Gesicht erstarrte.

Hugo machte noch ein paar Schritte, zum Weggehen entschlossen, da sich niemand mehr um ihn kümmerte.

Da hörte er Irene hinter sich: »Herr Rosenthal …«

Er drehte sich um.

»Meine Schuld – ich habe ganz vergessen.«

Er mußte sie wild angesehen haben, denn sie fuhr schnell fort: »Beleidigt … Warum? … Nach allem, was heute vorgefallen ist, könnten Sie uns ja immer noch für Hochstapler halten, nicht? Für Zechpreller … Ich wäre überdies sehr geehrt, wenn Sie mich für so etwas hielten …«

»Es hat ja keine Eile«, stotterte er.

»Das ist wahr … Also auf Revanche.« Hastig wandte sie sich schon wieder ab. »Wir sehen uns ja jetzt öfter, nicht wahr. Kommen Sie nicht morgen früh am Herrenhaus vorbei?«

2 Hugo

Zu Hause im Vorzimmer erwartete ihn seine Mutter mit einem kleinen Vorwurf: »Olga ist schon angekommen. Du warst nicht auf dem Bahnhof …«

»Ich habe mich geirrt … Es war ein andrer Zug.«

Die Mutter nahm ihn sofort in Schutz: »Liegt nichts daran. Ich hab sie allein abgeholt … Hast dich tüchtig ausspaziert? So ist’s recht. Heut siehst du doch schon ein bißchen besser aus.«

»Ich war im Wald.«

»Komm nur, da wird dir das Essen schmecken. Tun dir die Beine nicht weh? … Armer Kerl.« Sie streichelte sein Haar. Obwohl er klein war, mußte er sich doch noch bücken, sonst hätte die winzige Frau nicht hinlangen können. Dann küßte er ihr die Wange und das dünne, weiße, knochige Händchen, drehte sich um, um geschickt sein Buch aus dem Rock, wo er es vor der Haustüre versteckt hatte, auf einen Sessel gleiten zu lassen … Nun wurde auch seine zweite Hand frei, mit der umschlang er das Frauerl und führte sie sanft angepreßt ins Speisezimmer …

Sein Vater, Beamter in Kolin, war vor mehreren Jahren gestorben. Die kleine Pension hätte für die Witwe und zwei Kinder nicht hingereicht, wenn die Mutter nicht einiges Vermögen besessen hätte. Nach dem Tode ihrer Eltern erbte sie noch das Haus in Teplitz, wohin sie schon nach dem Tode des Gatten übersiedelt war. Es war Hugos Gedanke gewesen, den auf die Gasse gehenden Teil des Hauses im Sommer an Kurgäste zu vermieten, und mit seiner angeborenen technischen Geschicklichkeit (er pflegte auch sonst immer stehngebliebene Uhren zu reparieren, den Kindern kleine elektrische Lampen einzurichten usf.) hatte er einen Adaptierungsplan entworfen, den er mit Hilfe eines einfachen Maurers ausführte. Das waren schöne Tage gewesen. Frau Lucie zeigte sich nicht wenig stolz auf ihren »kleinen Ingenieur«. Sie half mit, sie beriet, sie war ganz bei der Sache, es zeigte sich, wie schon bei vielen Anlässen, wie unglaublich viel Gefühl und Beweglichkeit in ihrem zierlichen Körperchen steckte. Im Sommer allerdings wußte sie sich mit den vielen Gästen des Vorderhauses kaum mehr Rat. Doch auch diese Schwierigkeit war bald überwunden. Die Tochter der früheren Nachbarn in Kolin, Olga Großlicht, wurde eingeladen, die Saison in Teplitz zu verbringen. Das liebenswürdige frische Mädchen folgte gern, die Freundschaft der beiden Familien ließ es ganz selbstverständlich erscheinen, daß Olga bei Rosenthals wohnte, lebte und dafür in der Wirtschaft tüchtig mithalf. Sie war dankbar, das Badeleben mitgenießen zu dürfen, sie machte sich bei allen beliebt und man trauerte, wenn sie im Herbst wieder abreisen mußte, um so mehr als bald darauf der Schulbeginn auch Mutter und Sohn auseinander riß. Diese Verhältnisse des Hauswesens (das trauliche Leben zudritt im Sommer, die Vereinsamung der Mutter im Herbst) hatten sich so natürlich entwickelt, waren durch drei Jahre so regelmäßig aufeinander gefolgt, daß sich die Beteiligten eine andre Einteilung des Lebens gar nicht mehr vorstellen konnten …

»Hugo, da bist du ja«, rief Olga, als die beiden eintraten, und unterbrach sich im Tischdecken. »Wie geht’s alleweil?«

»Du bist aber gewachsen.« Hugo sah sie erstaunt an.

»Und gar wenn ich mich aufstelle.« Sie wandte sich ihm ganz zu und richtete sich empor. »Was, das habt ihr euch nicht gedacht?«

»Ja, Olga«, meinte die Mutter, »jetzt bist du ein richtiger Backfisch, voriges Jahr warst du noch ein Fratz …«

»Nein, voriges Jahr war ich ein Backfisch und heuer bin ich schon ein Fräulein.«

Hugo lachte: »Weißt du, was? Voriges Jahr warst du ein Fratz. Und heuer bist du ein Fräulein. Den Backfisch hast du ganz übersprungen –.«

Sie setzten sich zu Tisch. Frau Lucie hatte, um Olgas Ankunft zu feiern, das silberne Eßzeug und das alte bemalte Porzellan herausgegeben. Nun schienen die Bilder, mit denen der Grund der Teller geschmückt war, kleine Rosen und Engelsköpfe, auf der Oberfläche der klaren Suppe zu schweben.

Olga hatte Grüße zu berichten, von ihren Angehörigen, andern alten Bekannten in Kolin. Sonst hatte sich nicht viel verändert. Die Stadt wuchs, ein neues Viertel mit schönen Gärten werde angelegt, von denen leider keiner ihr gehöre … Und die Freunde in Teplitz? Als Hugo meinte: ja ja, Herrn Klein gehe es sehr gut, errötete sie. Schnell fragte sie nach andern. Hugo lachte. »Nun, du antwortest nicht? Ich habe doch nicht gerade nach dem einen gefragt …« Und sie gab ihm einen leichten Klaps über den Arm. Er wollte zurückschlagen. Doch traute er sich nicht, ihren runden funkelnden Unterarm, der auf dem Tisch neben ihm lag, zu berühren.

»Prügelt euch nur«, riet die Mutter. »Jetzt wird’s wieder lustig hergehn, wenn Olga hier ist.«

Wirklich fühlte Hugo das leichte Kopfweh nicht mehr, das ihn heimbegleitet hatte. Diese Entdeckung machte ihn übermütig … Und da Olga eben aufstand, um den Braten zu holen, packte er sie um die Hüfte. Das starke Mädchen entwand sich schnell; aber noch schneller hatte er losgelassen, bestürzt von dem weichen duftenden Gefühl an seinen Fingern. Nein, das war seine Spielkameradin nicht mehr … Bewundernd maß er sie, wie sie nun eifrig zur Türe sprang, ins Zimmer wieder herein, immer freundlich lächelnd, mit wechselnden Schatten auf ihren vollen dunkelroten Backen, deren Rot eigentlich aus einigen roten Flecken bestand. Ihre schwarzen Augen waren groß offen, blitzend und gesund, die einzigen Dunkelheiten in diesem unbegreiflich zarten Verschwimmen, das trotz all der heftigen Farben über dem Gesicht lag.

»Ja, nun wird’s hübsch werden«, plauschte Frau Lucie, indem sie sich erhob und jedem eine Portion auf den hingehaltenen Teller legte. Jetzt im Stehn war sie genau so groß wie die sitzende Olga. »Am Vormittag machen wir beide unsere Arbeit fertig und Nachmittag gehn wir mit Hugo spazieren. Ja, nun hört das Herumstrabanzen auf, lieber Junge … Ich konnte bisher«, wandte sie sich an Olga allein, »nie fertig werden. Und da mußte ich ihn unbehütet herumlaufen lassen.«

»Was mache ich denn in Prag? Da bewachst du mich ja auch nicht.«

»Gott weiß, ob es aber zum Guten ist«, seufzte die Mutter.

Hugo dachte an Gretl. Hatte die Mutter nicht recht? An all sein Unglück … Ja, wohl war es besser, zu Hause behütet von den Lieben seinen engbestimmten Weg zu gehn. Eine Rührung überkam ihn. Ob es nur noch möglich war, zurückzukehren? War er nicht schon endgültig verloren? … Er sah sich um, kroch ganz zusammen und fühlte sich wie angerührt von all den nah aneinander gerückten Möbeln, der braunen Grundfarbe des Zimmers, von der Festlichkeit der weißen Tischdecke, dicht an der tief gezogenen Hängelampe. In dieser festen Umgebung fühlte er sich sicher, konnte ihn irgend etwas hier herausreißen? Er streichelte die Schulter seiner Mutter und fiel dann ganz an ihren Hals, den er küßte. Ihre blaue Hausjacke, die lose ohne Gürtel herabfiel, ihre Wärme, ihre zitternde Hand in seiner … alles schien ihm verehrungswürdig, balsamisch, heilig.

»Das ist eine Liebe«, billigte Olga scherzhaft die Szene, indem sie herantrat. »Da freut sich der liebe Gott im Himmel.« Der heitre Ernst verschönte noch ihr Gesicht.

»Du bist wie mein zweites Kind«, beteuerte ihr die Mutter.

»Ja, ja, ich werde noch eifersüchtig«, rief Hugo, indes Olga sich von der andern Seite an die alte Frau schmiegte, die bewegt und nachdenklich ihren Kopf neigte … Was hatte sie nicht schon alles erlebt! Ihre Wangen waren grau und eingefallen, die weißen Haare zu einem kleinen festen Knoten an den Scheitel geschnürt. »Also Kinder«, ermunterte sie sich plötzlich. »Ich muß noch nachschaun, was unsre Baronin für die Nacht braucht.

Diese russischen Sitten kennt man ja nicht.« Eine neue Mietpartei war heute eingezogen und Frau Lucie sorgte stets mit großer Gewissenhaftigkeit für das Wohl ihrer Gäste …

Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, als Hugo mit plötzlichem Entschluß aufsprang: »Du mußt mir raten, Olga … Willst du?« Er hatte seit jeher alle Sorgen mit ihr geteilt, niemand flößte ihm soviel Vertrauen ein wie sie. Aus dem Dunkel ihrer schwarzen Haare schien es hervorzutreten, an sein Herz, an seine Lippen …

Sie sah ihn still an, bereitwillig. Es war ihm, als empfinde er schon Erleichterung durch den bloßen Gedanken, daß er nun endlich alles sagen wolle: »Also kurz – – ich bin heuer durchgefallen …« Das war sein großes Geheimnis, das ihn immerfort drückte.

»Durchgefallen! … In der Schule?«

»Ja, so ist’s … Eigentlich nein …«

»Durchgefallen!« Sie rang die Hände. »Sitzen geblieben!«

»Es ist noch nicht ganz fertig, Olga. Ich habe Reparatur …«

Sie sah ihn fragend an.

»Das heißt: nach den Ferien mache ich noch eine Prüfung …«

»Und wenn du die nicht bestehst …«

»Ja, aus dem einen Gegenstand. Wenn ich die bestehe, ist alles noch gut.«

»Wirklich …«

Daß seine Lage, seine Geständnisse ihr so fremd kamen, störte ihn gar nicht. Im Gegenteil, es bestärkte ihn in seinem Zutrauen. Er fühlte es so deutlich, daß an Olga kein Falsch war, nur lauter guter Wille. Und wie sie aufmerksam zuhörte, wie sie von ihrer entfernten Lage aus seine Angelegenheit zu überblicken, zu ordnen suchte! »Weiß es die Mutter?« fragte sie gleich.

»Noch kein Wort«, fuhr er fort, gegen Tränen ankämpfend. »Das wär schrecklich. Es darf nicht herauskommen … Ich schäm’ mich so. Und kränken würde es sie.«

Sie sprach sofort noch leiser, wie um jeden Verrat auszuschließen: »Und wie denn? Aus welchem Gegenstand? Wie war das möglich?«

Er hatte sich nicht getäuscht. Es beruhigte ihn so, daß sie die Sache ernst nahm. Jemand anderer hätte ihn vielleicht zu trösten gesucht, indem er so eine Schulangelegenheit verspottete. Das fiel ihr gar nicht ein. Sie machte ein ganz erschrockenes Gesicht, aufrichtig, wie sie eben war: »Aus welchem Gegenstand?«