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Im Mai 1996 nahm der amerikanische Journalist Jon Krakauer an einer Mount-Everest-Expedition teil, die in einer Katastrophe endete. Mehrere Gruppen drängten auf den Gipfel. Darunter die um den erfahrenen neuseeländischen Bergsteiger Rob Hall sowie die »Mountain Madness Expedition« des US-Amerikaners Scott Fischer. Jon Krakauer, Mitglied in Rob Halls Team, stand selbst auf dem Gipfel und erlebte danach hautnah Halls Todeskampf und den seiner Gefährten mit. Am Ende hatten zwölf Menschen ihr Leben verloren.

Krakauers packende, schonungslose Schilderung der dramatischen Ereignisse »In eisige Höhen« (»Into thin Air«) erzählt die wahren Hintergründe zur Tragödie am Mount Everest. Sie wurde zu einem Meilenstein der Bergliteratur und setzte eine Diskussion um die Auswüchse kommerziellen Bergsteigens in Gang, die bis heute anhält.

Das vorliegende Werk sind Auszüge aus Jon Krakauers Weltbestseller. Sie behandeln die entscheidenden Stunden zwischen Leben und Tod am 10. und 11. Mai 1996.

Südostgrat
10. Mai 1996
8400 Meter

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Es reicht wohl, wenn ich sage, daß der [Everest] die steilsten Grate und furchterregendsten Abgründe hat, die ich je gesehen habe, und daß all das Gerede von einem leichten Schneehügel ein Märchen ist 

Liebling, dies ist eine ganz und gar fesselnde Aufgabe, ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr sie von mir Besitz ergriffen hat und wie vielversprechend sie ist. Und die Schönheit von alledem!

GEORGE LEIGH MALLORY,
in einem Brief an seine Frau,
28. Juni 1921

Oberhalb des Südsattels, in der sogenannten Todeszone, ist das Überleben vor allem ein Wettlauf mit der Uhr. Beim Aufbruch von Camp Vier am 10. Mai trugen sämtliche Kunden je zwei drei Kilo schwere Sauerstoffflaschen mit sich; eine dritte würden wir uns später an einem kleinen, von Sherpas angelegten Vorratslager am Südgipfel holen. Bei einem sparsamen Verbrauch von zwei Litern pro Minute reichte jede Flasche fünf bis sechs Stunden. Zwischen vier und fünf Uhr nachmittags hätte also jeder seinen Sauerstoff verbraucht. Je nach Akklimatisierung und physischer Konstitution jedes einzelnen könnten wir zwar auch oberhalb des Südsattels weiter agieren – aber nicht besonders gut und vor allem nicht lange. Wir würden anfälliger für HAPE, HACE, Unterkühlung, geistige Verwirrung und Erfrierungen werden. Das Todesrisiko würde sich vervielfachen.

Hall, der den Everest bereits viermal bestiegen hatte, wußte so gut wie alle anderen, wie wichtig es war, rasch hoch- und wieder runterzukommen. Da er an den bergsteigerischen Fähigkeiten mancher seiner Kunden Zweifel hegte, hatte er geplant, die Route mit Fixseilen zu versehen, um sowohl uns als auch Fischers Gruppe so schnell und sicher wie möglich über die schwierigsten Stellen zu bringen. Die Tatsache, daß es dieses Jahr noch keine Expedition bis zum Gipfel geschafft hatte, bereitete ihm Kopfzerbrechen, da es bedeutete, daß der größere Teil des Terrains nicht mit Seilen gesichert war.

Göran Kropp, der schwedische Alleingänger, war am 3. Mai bis auf 100 Höhenmeter an den Gipfel herangekommen, hatte sich jedoch nicht damit aufgehalten, Seile anzubringen. Die Montenegriner, die sogar noch höher gekommen waren, hatten ein paar Fixseile angebracht. In ihrer Unerfahrenheit verbrauchten sie jedoch alles, was sie an Seilen hatten, auf den ersten 400  500 Metern oberhalb des Sattels – letztlich reine Verschwendung, da das Gelände dort relativ sanft ansteigt und Fixseile praktisch überflüssig waren. Am Morgen unseres Aufstiegs zum Gipfel waren daher die einzigen Seile an den steilen Zacken des oberen Südostgrates ein paar alte, ramponierte Reste früherer Expeditionen, welche sporadisch unter dem Eis auftauchten.

Da Hall und Fischer mit dieser Möglichkeit gerechnet hatten, beriefen sie noch vor Aufbruch aus dem Basislager ein Treffen der Bergführer beider Teams ein. Man verständigte sich darauf, daß man dem Haupttroß von Camp Vier aus je zwei Sherpas 90 Minuten vorausschickte – einschließlich der Sirdars Ang Dorje und Lopsang. Die Sherpas hätten damit genügend Zeit, an den exponiertesten Passagen im Gipfelbereich noch vor Eintreffen der zahlenden Kunden Fixseile anzubringen. »Rob hat keinen Zweifel daran gelassen, wie wichtig das ist«, weiß Beidleman noch. »Er wollte um jeden Preis einen zeitraubenden Stau vermeiden.«

Aus irgendeinem unbekannten Grund brachen jedoch in der Nacht des 9. Mai keine Sherpas vor uns vom Südsattel auf. Vielleicht hinderte sie der wütende Sturm, der sich erst um 19 Uhr 30 legte, so früh wie geplant loszuziehen. Lopsang behauptete nach der Expedition beharrlich, daß Hall und Fischer die Sache schlicht abgeblasen hätten, da sie die falsche Information erhalten hatten, daß die Montenegriner die Route bis zum Südgipfel komplett mit Seilen versehen hätten.

Aber falls Lopsangs Behauptung zutrifft, dann wurde weder Beidleman noch Groom, noch Boukreev – den drei überlebenden Bergführern – von dem geänderten Plan etwas gesagt. Und falls das Vorhaben, Seile anzubringen, absichtlich fallengelassen worden wäre, dann hätten Lopsang und Ang Dorje keinen Grund gehabt, mit den 100 Meter Seil loszuziehen, die sie beide mit sich trugen, als sie an der Spitze ihrer jeweiligen Teams von Camp Vier aufbrachen.

Wie dem auch sei, oberhalb von 8350 Meter war die Route nicht mit Seilen gesichert worden. Als Ang Dorje und ich um 5 Uhr 30 als erste auf dem Balkon ankamen, hatten wir über eine Stunde Vorsprung vor dem Rest von Halls Gruppe. Es wäre für uns also kein Problem gewesen, vorauszugehen und Seile anzubringen. Aber Rob hatte mir ausdrücklich verboten weiterzugehen, und da Lopsang immer noch weit zurück war, mit Pittman am Seil, gab es weit und breit niemanden, der Ang Dorje begleiten konnte.

Ang Dorje, der ein stilles, launisches Wesen hatte, schien besonders düsterer Stimmung, als wir so zusammen dahockten und den Sonnenaufgang betrachteten. Alle meine Versuche, ihn in eine Unterhaltung zu verwickeln, schlugen fehl. Seine schlechte Laune, sagte ich mir, rührte wahrscheinlich von dem vereiterten Zahn her, der ihm schon seit Wochen zusetzte. Oder vielleicht grübelte er über jene verstörende Vision nach, die er vor vier Tagen gehabt hatte: Zusammen mit einigen anderen Sherpas hatte er an ihrem letzten Abend im Basislager den bevorstehenden Gipfelaufstieg gefeiert und jede Menge Chang gebechert – ein dickflüssiges, süßliches Bier, aus Reis und Hirse gebraut. Am nächsten Morgen war er schwer verkatert und ganz aufgewühlt; und noch vor dem Anstieg durch den Gletscherbruch vertraute er einem Freund an, daß ihm in der Nacht Gespenster erschienen waren. Ang Dorje, ein tief religiöser junger Mann, war nicht der Typ, der derartige Omen auf die leichte Schulter nahm.

Es war jedoch auch möglich, daß er einfach sauer auf Lopsang war, den er für einen Schaumschläger hielt. 1995 hatte Hall für seine Everest-Expedition sowohl Lopsang als auch Dorje engagiert, und die Zusammenarbeit der beiden Sherpas war alles andere als optimal verlaufen.

Am Gipfeltag jenes Jahres hatte Halls Team den Südgipfel erst recht spät, gegen 13 Uhr 30, erreicht und war dort auf tiefen, labilen Schnee gestoßen, der den letzten Abschnitt des Gipfelgrates bedeckte. Hall schickte einen neuseeländischen Bergführer namens Guy Cotter mit Lopsang, und nicht mit Ang Dorje, voraus, um festzustellen, inwieweit es sinnvoll war, weiterzugehen – und Ang Dorje, der bei der Besteigung der Sirdar war, fühlte sich dadurch herabgesetzt. Wenig später, als Lopsang sich bis an den Fuß des Hillary-Step vorgearbeitet hatte, entschied Hall, den Gipfel sausenzulassen, und gab Cotter und Lopsang das Zeichen, umzukehren. Lopsang ignorierte jedoch den Befehl, trennte sich von Cotter und stieg allein Richtung Gipfel weiter. Hall war über Lopsangs Ungehorsam in eine Stinkwut geraten, und Dorje hatte den Verdruß seines Chefs geteilt.

Obwohl sie dieses Jahr für verschiedene Teams arbeiteten, war Ang Dorje wiederum gebeten worden, am Gipfeltag mit Lopsang zusammenzuarbeiten – und wieder schien Lopsang aus dem Ruder zu laufen. Ang Dorje hatte sechs lange Wochen über seine Pflichten hinaus hervorragende Arbeit geleistet. Nun jedoch hatte er es allem Anschein nach satt, mehr als das Seine zu tun. Er hockte mit mürrischem Gesicht neben mir im Schnee und wartete auf Lopsang – und die Seile wurden nicht angebracht.

Folglich geriet ich, anderthalb Stunden nachdem ich vom Balkon aufgebrochen war, mitten in den ersten Stau, auf 8500 Metern, an einer Stelle, an der die kunterbunt miteinander vermischten Teams auf eine Reihe wuchtiger Felsstufen stießen, die nur mit Seilen sicher zu passieren waren. Während die Kunden sich am Felssockel fast eine Stunde lang die Beine in den Bauch standen, rackerte Beidleman – in Vertretung eines abwesenden Lopsangs – sich damit ab, das Seil zu fixieren.

Hier hätte die Ungeduld und technische Unerfahrenheit von Halls Kundin Yasuko Namba beinahe eine Katastrophe verursacht. Yasuko, eine erstklassige Geschäftsfrau, die für Federal Express, Tokio, arbeitete, paßte nicht in das Klischee der sanftmütig lächelnden, rücksichtsvollen japanischen Frau mittleren Alters. Zu Hause, wie sie mir mit einem Lachen erzählte, kochte und putzte ihr Mann. Ihr Streben nach dem Gipfel des Everest war in Japan zu einer kleinen Cause célèbre geworden. Am Anfang der Expedition war sie noch eine langsame, unsichere Kletterin gewesen, aber heute, den Gipfel im Fadenkreuz, war sie so energiegeladen wie nie zuvor. »Von dem Augenblick an, als wir am Südsattel ankamen«, erzählte John Taske, der mit ihr auf Camp Vier das Zelt geteilt hatte, »war Yasuko total auf den Gipfel fixiert – beinahe als wäre sie in Trance.« Seitdem wir den Sattel verlassen hatten, hatte sie sich mächtig ins Zeug gelegt und sich nach und nach an die Spitze der Schlange gedrängelt.

Und jetzt, als sich Beidleman ohne wirklich festen Halt an einen Felsen über 30 Meter über den Kunden klammerte, hängte die übereifrige Yasuko ihren Jümar in das herabhängende Seil ein, bevor der Bergführer dessen Ende fixiert hatte. Als sie sich mit ihrem vollen Gewicht ins Seil hängen wollte – was Beidleman aus dem Stand gerissen hätte –, konnte Mike Groom gerade noch rechtzeitig dazwischengehen. Anschließend rügte er sie sanft dafür, daß sie so ungeduldig war.

Der Stau an den Seilen wuchs mit jedem ankommenden Bergsteiger, so daß jene am Ende des Gedränges immer weiter zurückfielen. Am Vormittag fingen drei von Halls Kunden – Stuart Hutchison, John Taske und Lou Kasischke – an, sich ernsthaft Sorgen über die Verzögerungen zu machen.

Direkt vor ihnen war das taiwanesische Team, das ein besonders lahmes Tempo ging. »Die haben wirklich einen eigenartigen Aufstiegsstil draufgehabt, ganz nah beieinander«, erzählte Hutchison, »beinahe wie Brotscheiben im Brotlaib, einer hinter dem anderen. War fast unmöglich, sie zu überholen. Wir haben ganz schön lange warten müssen, bis sie an den Seilen aufgestiegen waren.«

Vor unserem Aufbruch zum Gipfel hatte Hall im Basislager zwei mögliche Umkehrzeiten erwogen – entweder 13 Uhr oder 14 Uhr. Er gab jedoch nie bekannt, an welche von diesen Zeiten wir uns nun zu halten hätten – was seltsam war, wenn man bedenkt, welche Vorträge er uns über die Bedeutung einer vorher bestimmten, unbedingt einzuhaltenden Umkehrzeit gehalten hatte. Alles, was wir hatten, war eine vage ausgesprochene Vereinbarung, daß Hall eine endgültige Entscheidung erst am Gipfeltag treffen würde, nachdem er das Wetter und andere Faktoren eingeschätzt hatte. Dann würde er persönlich die Verantwortung dafür übernehmen, alle zum richtigen Zeitpunkt umkehren zu lassen.

Am frühen Vormittag des 10. Mai hatte Hall unsere genaue Umkehrzeit immer noch nicht bekanntgegeben. Hutchison, von Natur aus konservativ, ging davon aus, daß es 13 Uhr sein würde. Gegen 11