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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

(Foto: plainpicture/beyond)

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ISBN Printausgabe 978-3-499-24217-5 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-50521-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-50521-6

20. März 1996

Ein Toter bei Feuer in Jugendhaftanstalt
«Mädchenwürger» legte Feuer, bevor er Selbstmord beging

 

Siegburg. Gestern mussten wegen eines Brandes sämtliche Insassen der Justizvollzugsanstalt Siegburg evakuiert werden. Nach Angaben der Polizei gab es ein Todesopfer, drei weitere Personen wurden im Krankenhaus behandelt. Das Feuer, das gegen 17 Uhr im Zellentrakt ausbrach, verbreitete sich ungewöhnlich schnell im gesamten Gebäude und konnte erst nach Stunden gelöscht werden.

Ersten Erkenntnissen zufolge handelt es sich um Brandstiftung. Einer der Insassen legte offenbar in seiner Zelle Feuer, bevor er Selbstmord beging. Nach unbestätigten Angaben handelt es sich bei dem Brandstifter um den sogenannten «Mädchenwürger von Duisburg», dessen Fall im November letzten Jahres für Aufsehen sorgte. Der siebzehnjährige Hendrik Vermeeren wurde wegen dreifachen Mordes verurteilt, es galt als erwiesen, dass er drei Mädchen im Alter zwischen zwölf und vierzehn vergewaltigte und anschließend erwürgte. Vermeeren zeigte während der Gerichtsverhandlung keinerlei Reue, dennoch wurde er aufgrund seines Alters lediglich zu einer Jugendstrafe verurteilt. Möglicherweise empfand Vermeeren inzwischen doch Schuldgefühle, denn der junge Mann soll einen Abschiedsbrief an seine Familie geschrieben haben, bevor er sich das Leben nahm.

Der Sachschaden, der durch das Feuer entstand, wird auf über zwei Millionen Mark geschätzt. Voraussichtlich wird es Monate dauern, bis die JVA Siegburg wieder bezogen werden kann. Die evakuierten jugendlichen Straftäter wurden derweil auf verschiedene andere Anstalten verteilt, wo sie vorerst bleiben sollen. Wie genau es Vermeeren gelingen konnte, das Feuer zu legen, muss noch untersucht werden.

Sechzehn Jahre später

Dienstag, 8. Oktober, 11:00 Uhr

Die Wohngegend galt als exklusiv, die Häuser waren schick, die Limousinen, die in den Einfahrten parkten, schwarz und teuer. Doch der Tod war hier genauso hässlich wie überall. Vielleicht sogar ein bisschen hässlicher. Georg Stadler parkte den Dienstwagen in zweiter Reihe und ging auf den Eingang von Nummer vierzehn zu. Schon im Treppenhaus schlug ihm der bestialische Gestank entgegen. Es war nicht der typische, süßlich-metallische Geruch nach Blut, sondern etwas anderes, etwas absolut Widerwärtiges. Die Ausdünstungen der Hölle. Stadler wappnete sich innerlich für den Anblick, der ihn erwartete, bevor er über die Schwelle in die Wohnung trat.

Linda Franke von der Kriminaltechnik bemerkte ihn als Erste.

«Ich hoffe, dein Magen ist stabil», sagte sie statt einer Begrüßung. Sie war blasser als sonst, ihre Wangen hatten fast die gleiche Farbe wie ihr weißblonder Pferdeschwanz. «Das da drinnen ist echt übel.»

«Wenn du das sagst.» Stadler fischte einen der Schutzanzüge aus einem Karton und stieg hinein.

«Kannste mir glauben», bestätigte Linda. «Olli hat gekotzt, und eins von den Streifenhörnchen musste sogar vom Notarzt behandelt werden.»

«So schlimm?»

Linda versuchte zu lächeln, was gründlich misslang. Gewöhnlich flirtete sie schamlos mit ihm, und er hatte schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, ihr Angebot anzunehmen. Aber er hatte seine eiserne Regel, nichts mit Kolleginnen anzufangen, einmal gebrochen, und das Ergebnis war katastrophal gewesen. Auf einen zweiten Versuch verzichtete er lieber. Auch wenn die süße Linda ihm noch so schöne Augen machte. Außerdem war sie weitaus jünger als die Frauen, die er sonst abschleppte.

Er seufzte. «Was haben wir?»

Linda, die sein Seufzen offenbar fehldeutete, sah ihn mitfühlend an. «Weibliche Leiche. Vermutlich die Wohnungseigentümerin. Sie liegt im Wohnzimmer. Ziemlich übel zugerichtet.» Sie zuckte mit den Schultern. «Man könnte meinen, Jack the Ripper sei von den Toten auferstanden.»

Stadler hob die Augenbrauen. «Jack the Ripper?»

«Schau’s dir selbst an.»

Er schob sich an ihr vorbei durch die Wohnzimmertür. Der Gestank war hier so intensiv, dass es ihm fast den Atem raubte. Er zwang sich, nicht darauf zu achten und den Tatort in sich aufzunehmen. Zuerst sah er nur die gegenüberliegende Wand. Sie war weiß gestrichen, ein weiß lackiertes Klavier stand davor. Beides war mit braunroten Flecken übersät, die sich wie Fontänen über den hellen Untergrund ergossen. Auch die Decke war braunrot gesprenkelt, ebenso das Bücherregal an der angrenzenden Wand.

Einer der Kollegen, der auf dem Boden kniete, erhob sich und gab den Blick auf die Leiche frei.

Stadler rang nach Luft. «Ach, du Scheiße», murmelte er.

Behutsam trat er näher. Die Frau lag auf dem Rücken, die Beine gespreizt. Sie trug einen offenen Morgenmantel und einen einzelnen Hausschuh, sonst nichts. Der Täter hatte ihr die Halsschlagader durchtrennt. Das erklärte das viele Blut an den Wänden. Doch sein Opfer einfach nur verbluten zu lassen, hatte ihm offensichtlich nicht genügt. Unzählige Male hatte er auf die Frau eingestochen. Stichwunden bedeckten den Brustbereich und die Schultern. Ob er auf den Unterleib ebenfalls eingestochen hatte, war nicht zu erkennen, denn hier klaffte eine riesige offene Wunde. Der Mörder hatte den Bauch seines Opfers mit einem einzigen langen Schnitt aufgeschlitzt. Die Organe lagen bloß, eine Darmschlinge wand sich aus dem Bauchraum und bedeckte die Scham der Frau.

Linda trat neben Stadler. «Was für ein Scheißkerl tut so etwas?», fragte sie leise.

Stadler antwortete nicht. Er kniff die Augen zusammen. Der Anblick der Toten hatte eine Erinnerung in ihm geweckt. Nicht die an Bilder von Jack the Rippers Opfern, die er irgendwann mal bei einer Fortbildung zu Gesicht bekommen hatte. Nein, die Bilder, die er meinte, waren neueren Datums. Und sie sahen denen hier verdammt ähnlich. Doch er konnte sich nicht erinnern, in welchem Zusammenhang das gewesen war.

«Was wissen wir?», fragte er Linda.

«Ihr Name ist Leonore Talmeier. Sie war Rechtsanwältin. Verheiratet. Keine Kinder. Ihr Mann ist im Ausland. Wir haben ihn noch nicht erreicht.»

Stadler wandte sich ab. Er hatte genug gesehen. Im Flur fragte er weiter, während er aus dem Anzug schlüpfte. «Habt ihr mit den Nachbarn gesprochen? Hat jemand was bemerkt?»

Linda zog die Handschuhe aus. «Bisher hat die Befragung nichts ergeben. Die Hausbewohner sind schockiert. Alle mochten Frau Talmeier. Viele meinen, es muss etwas mit ihrem Beruf zu tun haben. Weil sie Kriminelle verteidigt hat.»

«Aha.» Stadler lehnte sich gegen die Wand. Der Gestank machte ihm mehr zu schaffen, als er gedacht hätte. Vielleicht wurde er alt. Dünnhäutig. «Ich fahr dann mal ins Präsidium. Ruf mich an, wenn’s was Neues gibt.»

«Mach ich.» Sie lächelte ihn an. Bestimmt würde sie etwas finden, schon allein, damit sie einen Vorwand hatte, mit ihm zu reden.

Stadler nickte ihr zu und verließ die Wohnung. Auf dem Weg zu seinem Wagen machte es plötzlich klick! in seinem Kopf. Jetzt wusste er, weshalb ihm der Anblick der verstümmelten Leiche so bekannt vorgekommen war.

Donnerstag, 17. Oktober, 15:50 Uhr

«Vergessen Sie CSI, vergessen Sie Das Schweigen der Lämmer, vergessen Sie, was Sie im Fernsehen gesehen oder in einem der zahllosen Bücher zu diesem Thema gelesen haben. Vergessen Sie alles, was Sie glauben, über Serienkiller zu wissen. Denn in Wahrheit wissen Sie nichts. Absolut nichts.»

Liz Montario lehnte sich gegen das Pult und ließ ihren Blick langsam durch den Seminarraum gleiten. Alle Augen waren auf sie gerichtet, niemand sprach, niemand rührte sich auch nur. «Gut», schloss sie ihren Vortrag. «Das war’s für heute. Bis nächste Woche lesen Sie bitte die beiden ersten Texte im Reader und überlegen sich, zu welchem Thema Sie ein Referat halten möchten. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.»

Als Liz um das Pult herum ging, erwachte der Raum wieder zum Leben. Fingerknöchel trommelten Beifall auf die Tische, Stimmengemurmel setzte ein, Stühle wurden quietschend nach hinten geschoben, ein Handy piepste.

Liz stopfte ihre Unterlagen in die Tasche, wandte sich ab und schritt hinaus auf den Korridor. Schnell weg, bevor einer der zahlreichen übereifrigen Studenten sie in ein Fachgespräch verwickelte. Irgendeiner versuchte es immer, egal, wie unnahbar sie sich gab. Und nicht selten steigerte er sich dabei mit einer Leidenschaft in das Thema, die weit über reines Fachinteresse hinausging. Liz packte die Tasche fester und lief auf den Fahrstuhl zu. Wenn man auf Soziopathen spezialisiert war, zog man allerhand merkwürdige Gestalten an. Auch solche, auf die die Täterprofile, die sie mit den Studenten durcharbeitete, erschreckend genau zutrafen.

Im zweiten Stock stieg Liz aus. Hier lagen die Büros der Mitarbeiter der Psychologischen Fakultät. Der Gang war dunkel, eine der Türen nur angelehnt, dahinter war leises Gemurmel zu hören, ansonsten herrschte Stille. Es war Donnerstagnachmittag, die meisten Kollegen waren bereits auf dem Heimweg. Liz teilte sich einen Raum mit zwei weiteren Lehrbeauftragten und einer studentischen Hilfskraft. Sie hatte nicht einmal einen eigenen Schreibtisch, doch das störte sie nicht, da sie lediglich einen Tag in der Woche an der Universität verbrachte. Zudem nutzte sie das Büro nur, um ihre Sachen abzustellen, und für die Sprechstunde, die sie am Vormittag abhielt. Wenn sie gewollt hätte, wäre sie längst mit einem eigenen Lehrstuhl an einer renommierten Hochschule vertreten. Schließlich war sie so etwas wie ein Star auf ihrem Gebiet. In ihrer Doktorarbeit über Serienmorde hatte sie einen Täter entlarvt, von dessen Existenz die Polizei bis dahin noch nicht einmal etwas geahnt hatte. Erst nach der Veröffentlichung ihrer Dissertation war eine Mordkommission ihrer Theorie nachgegangen und hatte eine Serie von Verbrechen aufgeklärt, die inzwischen als sogenannte Kanalmorde bekanntgeworden waren. Obwohl manche Kollegen wegen des Rummels, der um sie gemacht wurde, die Nase rümpften und ihre Methode als unwissenschaftlich verunglimpften, hatten ihr mehrere Universitäten in ganz Europa hochdotierte Stellen angeboten. Doch sie hatte abgelehnt. Sie wollte unabhängig bleiben, sich nicht festlegen, und das Geld brauchte sie auch nicht. Verborgene Muster, eine Version ihrer Doktorarbeit, aus der sie sämtliche Fußnoten und Dutzende Fachbegriffe gestrichen hatte, damit sie den normalen Leser nicht überforderte, war ein Bestseller und verkaufte sich auch ein Jahr nach Erscheinen noch immer unglaublich gut. Sie erhielt ständig Anfragen für Vorträge, Lesungen oder Interviews, die sie jedoch alle ablehnte. Das Letzte, was sie wollte, war ihr Bild in der Zeitung. Eigentlich wollte sie auch nicht unterrichten. Den Lehrauftrag hatte sie nur angenommen, damit ihr Ruf als Wissenschaftlerin nicht völlig den Bach hinunterging.

Liz stieß die Bürotür auf und grüßte Ruben, der nur kurz von seinem Bildschirm aufblickte.

«Hallo, Frau Doktor Montario. Sie haben zwei Briefe und eine Telefonnachricht. Liegt alles da drüben.» Er deutete auf den Schreibtisch, den Liz und ihre Kollegen im Wechsel nutzten.

Ruben Keller war Hilfskraft im Institut, ein großer, schlaksiger Junge mit schwarz gerahmter Brille und Strubbelfrisur. Einer, der immer ein wenig übereifrig wirkte, von dem Liz jedoch annahm, dass ihm alles, was an der Uni geschah, letztlich gleichgültig war. Sein wahres Leben verbrachte er in diversen Foren im Netz, seine Freunde waren über die ganze Welt verteilt, auch wenn er sie nur virtuell kannte. Vielleicht mochte sie ihn gerade deswegen, denn er war einer der wenigen Menschen, der sie genauso desinteressiert wie jeden anderen behandelte und nicht mit dieser Mischung aus Ehrfurcht und Argwohn, die ihr sonst so häufig entgegengebracht wurde.

«Danke, Ruben.» Sie trat an den Schreibtisch, griff nach den zwei Umschlägen. An dem oberen klebte ein gelber Haftzettel. Kriminalhauptkommissar Georg Stadler bittet um Rückruf, stand darauf, gefolgt von einer Telefonnummer.

«Was will dieser Kommissar?», fragte Liz betont beiläufig. Das Wort Kriminalhauptkommissar flimmerte vor ihren Augen. Die Polizei hatte in den letzten Monaten ihretwegen eine Menge Spott und Schelte über sich ergehen lassen müssen, viele Beamte reagierten allergisch auf ihren Namen. Einige hatten sie sogar am Telefon beschimpft. Doch das war nicht der Grund, weshalb ihr Magen sich zusammenkrampfte.

«Hat er nicht gesagt», antwortete Ruben, ohne sie anzusehen.

Liz betrachtete die Umschläge. Der erste war von der Universitätsverwaltung, der zweite ließ ihren Herzschlag kurz aussetzen. Dr. Elisabeth Montario, war mit Schreibmaschine darauf getippt. Schreibmaschine, keine Computerschrift im Schreibmaschinenlook. Vor etwa einer Woche hatte sie genau so einen Umschlag bekommen, und der Inhalt hatte ihr für einen Augenblick den Atem geraubt. Dennoch hatte sie ihn schon fast wieder vergessen. Der Absender schien das geahnt zu haben und deshalb ihr Gedächtnis auffrischen zu wollen. Sie riss den Umschlag auf und entnahm das einzelne Blatt. Die Nachricht war kurz und ebenfalls mit der Schreibmaschine getippt: Finde mich, bevor ich dich finde.

Liz ließ die Worte sacken. Fraglos eine Eskalation. Die erste Nachricht hatte schlicht gelautet: Finde mich.

«Etwas nicht in Ordnung?» Ruben sah sie neugierig an.

«Alles bestens.» Sie schnappte sich ihre Lammfelljacke und verließ das Büro. Auf dem Weg zum Wagen blies ihr der Wind gelbes Herbstlaub vor die Füße, Wolken stoben über den schmutzig grauen Himmel. Sie versuchte, an nichts zu denken, doch der anonyme Briefschreiber ging ihr nicht aus dem Sinn. Er war bei weitem nicht der erste Verrückte, der auf diese Weise Kontakt zu ihr aufnahm. Sie war eine Berühmtheit, eine Art Pop-Profilerin, und es gab eine Menge Spinner, die versuchten, sie zu merkwürdigen Spielchen herauszufordern oder schlicht zu testen, auf was sie so alles hereinfiel. Doch bei diesem Briefschreiber war es anders. Das spürte sie. Diese Worte konnten kein Zufall sein. Auch wenn sie keine Erklärung dafür hatte und nicht die geringste Ahnung, was der Unbekannte von ihr wollte. Sie wusste nur, dass sie ihn ernst nehmen sollte. Und das war mehr als reines Bauchgefühl.

Liz sperrte den Wagen auf, setzte sich hinter das Steuer und schloss für einen Augenblick die Augen. Dann zog sie das Handy aus der Tasche und tippte die Nummer des Kommissars ein.

Donnerstag, 17. Oktober, 16:26 Uhr

Georg Stadler steckte sein Handy zurück in die Tasche und trat wieder zu seiner Kollegin Birgit Clarenberg.

«Irgendetwas Neues?», fragte sie und sah ihn an.

«Nein. War privat.» Er hasste es, sie zu belügen, doch er wollte sie da nicht mit hineinziehen. «Ist die Maschine inzwischen gelandet?»

«Vor ein paar Minuten. Hoffentlich dauert es nicht mehr lange. Ich hasse diese Warterei.»

Sie standen im Ankunftsbereich des Flughafens und warteten auf Oswald Krämer, den Ehemann des Opfers. Leonore Talmeier war seit zehn Tagen tot, doch erst jetzt kehrte der Archäologe aus Peru zurück, wo er eine Ausgrabung leitete.

«Das muss er sein.» Birgit zeigte auf einen hochgewachsenen blonden Mann mit braungebrannter Haut, der eine Umhängetasche über der Schulter trug. «Hat wohl nur Handgepäck.»

«Na, dann mal los.» Stadler marschierte auf den Mann zu, Birgit folgte ihm, so schnell sie konnte. Sie trug einen engen Rock, was ihre Schrittlänge beeinträchtigte. Vermutlich hatte sie nicht damit gerechnet, heute das Büro verlassen zu müssen. Sie erreichten den Mann, und Stadler sprach ihn an.

«Herr Krämer? Oswald Krämer?»

«Wer will das wissen?» Der Mann bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. Er war mindestens einen Meter fünfundneunzig groß, sodass selbst Stadler zu ihm aufblicken musste, was ihm nur selten passierte.

Er zückte seinen Dienstausweis. «Kripo. Georg Stadler. Das ist meine Kollegin Birgit Clarenberg.» Er stopfte den Ausweis zurück in die Tasche und sagte etwas sanfter: «Das mit Ihrer Frau tut mir leid.»

Krämer verzog das Gesicht. «Was wollen Sie?»

«Wir müssen mit Ihnen reden, Herr Krämer», schaltete Birgit sich ein. «Wir haben einige Fragen.»

Als Krämer sich irritiert umblickte, fügte sie rasch hinzu: «Natürlich nicht hier auf dem Flughafen. Vielleicht möchten Sie uns aufs Präsidium begleiten?»

«Habe ich eine Wahl?», blaffte er.

Birgit wollte offenbar etwas erwidern, doch Stadler kam ihr zuvor. «Kommen Sie. Der Dienstwagen steht direkt da vorn.» Er lotste den Mann zwischen den Menschen hindurch zum Ausgang. Als sie losfuhren, sagte er: «Es war schwer, Sie ausfindig zu machen.»

«Das bringt mein Beruf so mit sich. Im Dschungel gibt es kein Handynetz. Nur ein Satellitentelefon. Aber das ist im Basiscamp, und da bin ich nicht immer.»

«Sie sind Archäologe?»

«Das wissen Sie doch sicherlich schon.»

Stadler beobachtete Krämer im Rückspiegel. «Dann suchen wir sozusagen beide nach verborgenen Wahrheiten.»

Krämer schnaubte. Es war offensichtlich, dass er keine Gemeinsamkeiten zwischen sich und der Kriminalpolizei sah, doch er erwiderte nichts. Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Krämer machte erst wieder den Mund auf, als sie in einem der Vernehmungszimmer saßen. Birgit hatte Kaffee organisiert. Stadler bediente den Recorder, der die Befragung aufzeichnete.

«Wann genau haben Sie vom Tod Ihrer Frau erfahren?», begann Stadler, nachdem er die einführenden Informationen auf das Band gesprochen hatte. Nicht der einfühlsamste Einstieg, doch er hatte nicht den Eindruck, Oswald Krämer Mitgefühl schuldig zu sein. Er schien vom Tod seiner Frau nicht besonders betroffen.

«Vor fünf Tagen», antwortete Krämer. «Am vergangenen Samstag. Wir waren gerade damit fertig, ein paar Höhlen zu untersuchen.»

«Und da sind Sie erst heute hergekommen?»

Krämer nahm einen Schluck Kaffee. «Ich leite eine größere Ausgrabung. Ich kann nicht einfach so verschwinden, ich muss sicherstellen, dass in meiner Abwesenheit alles glattläuft. Und nach der Beerdigung muss ich sofort wieder zurück.» Er sah auf die Uhr, als wäre es eine Frage von Stunden.

«Entschuldigen Sie», sagte Stadler, «aber ich habe den Eindruck, dass Ihnen der Tod Ihrer Frau nicht sehr nahe geht.»

«Was ich empfinde, geht Sie nichts an.»

«Es geht um Mord, da ist leider nichts privat», konterte Stadler.

«Bin ich etwa verdächtig? Ich habe ja wohl ein Alibi: Ich war am anderen Ende der Welt. Himmel noch mal, ich dachte, das ist Ihr Job! Stellen Sie sich immer so dilettantisch an?»

Stadler warf Birgit einen raschen Blick zu. Sie hob die Brauen, dann beugte sie sich vor. «Herr Krämer, vielleicht möchten Sie uns erzählen, wann Sie das letzte Mal mit Ihrer Frau gesprochen haben?»

Er sah sie an, wirkte mit einem Mal etwas versöhnlicher. «Ich weiß nicht. Vor drei Wochen etwa. Wir haben telefoniert.»

«Hat sie da irgendetwas gesagt, das uns von Nutzen sein könnte? Hatte sie mit jemandem Streit? Wurde sie bedroht? Ihre Frau war Anwältin, vielleicht gab es Ärger mit einem Klienten oder mit einem Prozessgegner.»

Krämer zuckte mit den Schultern. «Nichts, wovon ich wüsste. Aber sie hat mir auch selten von ihren Fällen erzählt. Sie hat sich nicht für meine Mumien interessiert und ich mich nicht für ihre Kleinkriminellen. Wir haben uns gegenseitig so wenig wie möglich mit beruflichen Details behelligt.»

Stadler sah, wie Birgit schluckte, ehe sie fortfuhr. «Hätte Ihre Frau einen Fremden in die Wohnung gelassen?»

«Keine Ahnung. Vermutlich schon. Wenn er sich als potenzieller Klient ausgegeben hätte zum Beispiel. Sie hatte eine Schwäche für die Kerle, die sie verteidigte.»

«Sie waren davon nicht so angetan?», fragte Stadler.

«Na, Sie sehen doch, wohin das geführt hat», gab Krämer zurück.

Stadler verlor allmählich die Geduld. Es hatte den Anschein, als sei der gewaltsame Tod seiner Frau für Krämer lediglich ein lästiger Zwischenfall, so wie ein verspäteter Flug oder eine Reifenpanne. Entweder war er mit der Situation emotional überfordert, oder er empfand tatsächlich nichts. «Es gibt im Augenblick keinen Hinweis darauf, dass es einer ihrer Klienten war.»

«Da kann ich Ihnen auch nicht helfen.» Krämer verschränkte die Arme.

Stadler tat, als schaue er etwas in der Akte nach, bevor er die nächste Frage stellte. «Ich nehme an, Sie wussten von der Operation, der sich Ihre Frau vor acht Jahren unterzogen hat?»

«Operation? Was meinen Sie?» Krämer wirkte ehrlich ahnungslos. «Sie hatte eine Unterleibsoperation, bevor wir zusammengekommen sind. Kann sein, dass das acht Jahre her ist. Wir sind erst seit fünf Jahren verheiratet.»

«Wie haben Sie sich kennengelernt?»

Oswald Krämer schlug mit der Hand auf den Tisch. «Jetzt reicht es aber! Was hat das denn mit dem Tod meiner Frau zu tun?»

«Das wissen wir nicht», gab Stadler ehrlich zu. «Aber wir müssen uns ein so genaues Bild wie möglich von ihr und ihrem Umfeld machen.» Er zog ein Blatt aus der Akte. «Das hier haben wir in den Unterlagen Ihrer Frau gefunden. Sie haben sich über eine Agentur im Internet kennengelernt, ist das richtig? Eine Firma, die speziell Kunden mit gehobenen Ansprüchen bedient.»

«Und? Geht Sie das was an?»

«Sie haben eine kultivierte, finanziell unabhängige Frau gesucht, die Sie nicht zu sehr vereinnahmt. Stimmt das?»

«Worauf wollen Sie hinaus? Halten Sie mich für einen Heiratsschwindler? Ich bin selbst vermögend. Ich wollte lediglich eine Partnerin, die mich bei gesellschaftlichen Anlässen begleitet, die mit mir ins Theater geht, die da ist, wenn ich von einer mehrmonatigen Reise aus Südamerika zurückkehre. Das ist ja wohl nicht verboten, oder?»

«Dann komme ich noch einmal auf meine Frage zurück: Wussten Sie von der Operation?»

«Was für eine Operation, verdammt?»

Stadler ließ den Archäologen nicht aus den Augen, während er antwortete. «Ihre Frau wurde am 25. März 1971 geboren, als Franz Talmeier.»

Oswald Krämer starrte ihn fassungslos an, doch er sagte nichts.

Stadler fuhr fort. «Vor acht Jahren unterzog sich Franz Talmeier einer Geschlechtsumwandlung. Seither lebte er offiziell als Leonore Talmeier.»

«Blödsinn!», brüllte Krämer. «Das ist totaler Blödsinn, Sie wollen mich verarschen! Was soll der Scheiß?»

«Sie wussten also nichts davon?»

«Natürlich nicht, weil es nicht stimmt.» Krämers braungebranntes Gesicht war rot angelaufen. «Wer hat Ihnen denn diesen Mist erzählt?»

Stadler räusperte sich. «Wir haben die entsprechenden Papiere ebenfalls bei den Unterlagen Ihrer Frau gefunden. Und der Rechtsmediziner hat es bestätigt.» Er sah Krämer scharf an. «Der Mörder muss es ebenfalls gewusst haben.»

Krämer kniff die Augen zusammen. «Wie kommen Sie darauf?»

Stadler warf Birgit einen Blick zu. Normalerweise verschonten sie Angehörige mit grausigen Details, doch sie nickte kaum merklich.

«Sie können es ruhig sagen», beharrte Krämer. «Ich musste mir in den letzten Minuten so viele Ungeheuerlichkeiten anhören, Sie können mich nicht mehr schocken.»

Stadler holte Luft. «Der Täter hat Ihrer Frau den Unterleib aufgeschlitzt und darin herumgewühlt, so als hätte er etwas gesucht. Doch anstatt etwas zu entnehmen, tat er etwas hinein: eine winzige nackte Puppe. Sie steckte dort, wo sich bei anderen Frauen die Gebärmutter befindet. Es war fast so, als hätte er aus Leonore Talmeier eine richtige Frau machen wollen.»

Freitag, 18. Oktober, 9:30 Uhr

Es regnete in Strömen, als Liz aus dem Haus trat. Sie überlegte einen Moment, ob sie wieder hineingehen sollte. Ihr Vorhaben war ohnehin unsinnig, doch dann rannte sie kurzentschlossen über die Straße zu ihrem Auto. Immerhin lag irgendwo im Kofferraum ein Schirm, sodass sie nicht tropfnass im Büro eintreffen würde. Zwanzig Minuten später fuhr sie in die Parkhauseinfahrt, die unter dem Gebäude der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät lag. Sie fand eine Lücke, fischte ihren Schirm aus dem Kofferraum und ging auf das nächstgelegene Treppenhaus zu. Das Parkhaus war menschenleer. Sie war kein ängstlicher Typ, doch ihre Beschäftigung mit Serienkillern hatte ihr bewusstgemacht, dass es Orte gab, die für Frauen besonders gefährlich waren. Einsame Parkhäuser befanden sich definitiv unter den Top Ten. Hier konnte ein Täter unauffällig seinem Opfer auflauern und es in Sekundenschnelle überwältigen, ohne dass irgendwer etwas mitbekam – zumindest wenn es keine Kameraüberwachung gab.

Liz erreichte den Treppenabsatz, trat hinaus in den Regen und atmete erleichtert auf. Normalerweise hatte sie sich besser unter Kontrolle, doch dieser Briefschreiber hatte ihren Schutzwall durchbrochen. So sehr, dass sie gestern Abend lieber auf der Straße geparkt hatte, als in die Tiefgarage zu fahren, die zu ihrem Wohnkomplex gehörte. Liz schob den Gedanken beiseite, spannte den Schirm auf und lief auf das Gebäude der Philosophischen Fakultät zu.

Als sie die Tür zum Büro aufstieß, registrierte sie, dass außer Ruben niemand da war. Gut so.

«Morgen», sagte sie.

Ruben blickte erschrocken auf, offenbar hatte er die Tür nicht gehört. «O, Morgen. Ist heute Donnerstag?» Er blinzelte verunsichert.

«Ich habe gestern was vergessen», erklärte Liz und trat an den Schreibtisch. Sie griff nach einem Buch, das sie absichtlich dort gelassen hatte, weil sie es zu Hause nicht brauchte. Jetzt diente es als Vorwand. Langsam ging sie zurück zur Tür. Als sie die Klinke schon in der Hand hatte, fragte sie, als wäre es ihr gerade eingefallen: «Dieser Brief gestern, woher kam der eigentlich?»

Ruben sah sie an. «Welcher Brief?»

«Der Umschlag, auf dem die Anschrift mit Schreibmaschine getippt war.»

«Ach der. Hab mich auch gewundert, dass jemand noch so ein antiquiertes Gerät benutzt. Ich dachte, der sei vielleicht von irgendeinem alten Professor, der keinen Computer besitzt.»

Liz nickte ungeduldig. «Und?»

«Ich weiß nicht. Er war in der Poststelle, wie die anderen Briefe auch. Gab es denn keinen Absender?»

«Nein. Und keinen Poststempel.»

«Dann muss ihn jemand persönlich in Ihr Fach gelegt haben.»

«Wird wohl so sein. Danke.» Sie öffnete die Tür. Ein Gedanke kam ihr, und sie schloss sie wieder. «Ruben?»

«Ja, Frau Montario?»

«Sie kennen sich doch ganz gut damit aus, wie man im Internet an Informationen kommt. Auch solche, die nicht so leicht zugänglich sind.»

Jetzt schien sein Interesse geweckt. «Um was geht es denn?»

Sie zögerte. «Es geht um eine Person. Ich müsste wissen, wo sie wohnt und was sie macht.»

«Dürfte nicht so schwer sein. Falls Sie einen Namen haben. Und am besten auch das Geburtsdatum, zumindest so ungefähr.»

«Jan Schneider», sagte sie. «Ein genaues Geburtsdatum habe ich leider nicht, aber er müsste so Mitte dreißig sein.»

«Hm. Schneider ist nicht gerade ein seltener Name. Irgendetwas, das mir die Suche erleichtern könnte?»

«Soviel ich weiß, hat er bis vor wenigen Monaten im Gefängnis gesessen. Wo, kann ich nicht sagen, aber als Jugendlicher war er einige Monate in der JVA Siegburg.»

Freitag, 18. Oktober, 19:03 Uhr

Georg Stadler warf seine Lederjacke auf das Sofa und ging ins Bad. Eine halbe Stunde blieb ihm bis zu seiner Verabredung mit der Psychologin, gerade genug Zeit für eine Dusche und ein kaltes Bier. Er ließ erst heißes, dann eiskaltes Wasser über seinen Körper laufen und summte dabei vor sich hin. Er hätte nicht gedacht, dass diese Elisabeth Montario sich so rasch zu einem Treffen bereit erklären würde. Jetzt hing es von seiner Überredungskunst ab, ob er es schaffte, sie für sein Problem zu erwärmen. Und von seinem Charme. Er trat aus der Dusche, trocknete sich kurz ab und betrachtete sich im Spiegel. Nicht schlecht für einen Mann Ende vierzig, dachte er zufrieden. Zahlte sich doch aus, regelmäßig Sport zu treiben. Er trat ins Schlafzimmer und registrierte, dass die Putzfrau ganze Arbeit geleistet hatte. Das Bett war frisch bezogen, keine Spuren mehr übrig von der letzten Nacht. Diese Regine, Regula oder wie sie hieß war allerdings eine ziemliche Pleite gewesen. Erst hatte sie ihn angebaggert und sich dann im Bett plötzlich steif gemacht wie ein Brett. Er gehörte nicht zu den Männern, die so taten, als würden sie es nicht merken. Also hatten sie stattdessen geredet. Nicht gerade seine Vorstellung von einem befriedigenden Feierabend, zumal Regine oder Regula zwar gut aussah, aber nur über ein sehr eingeschränktes Repertoire an Gesprächsthemen verfügte. Na ja, meistens hatte er mehr Glück. Er nahm ein frisches Hemd aus dem Schrank und zog sich an. Vielleicht war diese Psychotante einen Versuch wert. Nein, eher nicht. Schließlich wollte er beruflich etwas von ihr. Also fiel sie in die Kategorie Kollegin. Regel war Regel.

Stadler ging in die Küche, fischte eine Flasche Alt aus dem Kühlschrank, öffnete sie und nahm einen großen Schluck. Er stellte sich ans Fenster und überlegte, welche Strategie er bei Frau Dr. Montario anwenden sollte. Die Bewunderungsmasche, die Unter-Kollegen-hilft-man-sich-Tour? Oder sollte er an ihr Mitgefühl appellieren? Er trank das Bier leer und stellte die Flasche weg. Er würde spontan entscheiden, wenn er die Frau vor sich hatte.

Zehn Minuten später suchte er einen Parkplatz in den vollgestopften Wohnstraßen von Oberkassel. Er fragte sich, warum sie sich ausgerechnet hier mit ihm hatte treffen wollen. Sie wohnte nicht in der Nähe, sondern im Süden der Stadt. Sollte das eine kleine Demonstration ihrer Fähigkeiten sein? Wollte sie zeigen, dass sie wusste, weshalb er mit ihr sprechen wollte? Gerade als er aufgeben und vor einer Einfahrt parken wollte, löste sich vor ihm ein Geländewagen vom Straßenrand. Er lenkte den Mustang in die Lücke und stellte den Motor ab. Mit langen Schritten lief er auf die Gaststätte zu, in der er mit Dr. Elisabeth Montario verabredet war.

Er sah sie sofort. In natura wirkte sie viel jünger als auf dem schlecht belichteten Schwarzweißfoto, das er auf der Verlagshomepage gesehen hatte. Fast wie ein junges Mädchen. Dabei musste sie über dreißig sein. Lange rote Locken, von einem Gummi nur notdürftige zusammengehalten, leuchtend grüne Augen, ein enges schwarzes Kleid, das mehr zeigte, als es verhüllte. Stadler hielt für einen Augenblick den Atem an, dann trat er auf sie zu.

«Frau Dr. Montario?»

Sie wandte den Blick vom Fenster ab und sah ihn an. «Herr Stadler?»

«Ja.» Er streckte die Hand aus. «Es freut mich, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit mir zu sprechen.»

Sie antwortete nicht, erwiderte stumm seinen Händedruck. Etwas an ihrem Blick beunruhigte ihn. Das intensive Grün ihrer Augen, die fast schon unhöfliche Eindringlichkeit, mit der sie ihn musterte, vielleicht auch einfach das Wissen, dass sie Psychologin war und vermutlich alles Mögliche an seiner äußeren Erscheinung ablas.

Sie hatte ein Glas Weißwein vor sich stehen. Nach kurzem Zögern bestellte er ein Bier. Als das Glas vor ihm stand, brach er das Schweigen. «Ich weiß nicht, ob Sie ahnen, worum es geht …»

Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte ihre Lippen. «Sagen Sie es mir doch einfach.»

«Also gut.» Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, fest entschlossen, sich nicht weiter von ihrer irritierenden Gelassenheit aus dem Konzept bringen zu lassen. Sollte sie doch die Unnahbare spielen, er hatte schon ganz andere Frauen geknackt. Abgesehen davon war sein Interesse rein beruflich. Es gab also keinen Grund, nervös zu sein. «Sie haben vielleicht in der Zeitung davon gelesen: Vor zehn Tagen wurde eine Frau ermordet, übrigens hier ganz in der Nähe, in der Dominikanerstraße. Der Täter ist in ihre Wohnung eingedrungen und hat ihr die Kehle aufgeschlitzt. Während sie verblutete, stach er zweiunddreißigmal auf ihren Oberkörper ein. Zum Schluss schlitzte er ihr den Unterleib auf und manipulierte ihre Bauchhöhle.» Er hielt inne, sah sie an.

«Ich habe davon in der Zeitung gelesen», sagte Elisabeth Montario. «Allerdings fehlten die Details. Soweit ich mich erinnere, hieß es einfach, die Frau sei erstochen worden.»

«Das ist richtig. Aus ermittlungstechnischen Gründen haben wir die Einzelheiten vor der Presse zurückgehalten.»

«Aha. Und was genau wollen Sie von mir?»

Stadler holte tief Luft. «Es gibt einen zweiten Mord.»

Dr. Montarios Augen weiteten sich. «Der Täter hat ein zweites Mal getötet? Nach zehn Tagen?»

Er schüttelte den Kopf. «Nein. Zwischen den beiden Taten liegt etwa ein halbes Jahr.»

Sie runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts.

Er fuhr fort. «Am 8. April wurde in der Nähe des Hauptbahnhofs eine Leiche gefunden. Ein Transvestit, der in der Gegend auf den Strich ging. Als er gefunden wurde, in einem Gebüsch in der Nähe einer Unterführung, war er nackt. Der Täter hatte ihm die Halsschlagader durchtrennt und mehrfach auf ihn eingestochen. Danach hat er seinem Opfer den Bauch aufgeschlitzt und ihn verstümmelt.»

«Verstümmelt?»

«Er entfernte die Geschlechtsteile. Sie sind bis heute verschwunden.»

Montario wirkte nicht schockiert, eher konzentriert. «Und Sie gehen davon aus, dass es derselbe Täter war?»

«Es gibt eine weitere Gemeinsamkeit zwischen beiden Fällen. Eine, die über die Art der Tötung hinausgeht: Auch das zweite Opfer war keine Frau. Oder vielleicht sollte ich besser sagen, sie ist nicht immer eine Frau gewesen. Sie hatte vor acht Jahren eine Geschlechtsumwandlung.»

Montario nickte. «Interessant.»

«Finde ich auch. Ich bin überzeugt, dass das kein Zufall ist. Erst ein Transvestit, dann ein Transsexueller. Beide auf ähnliche Weise getötet. Da draußen läuft irgendwer herum, der etwas gegen falsche Frauen hat.»

Montario nippte an ihrem Wein. «Okay, das ist sehr bemerkenswert, aber ich weiß immer noch nicht, was genau Sie von mir wollen.»

Stadler unterdrückte ein Seufzen. Jetzt kam der schwierige Teil. «Ich hätte gern Ihre fachliche Einschätzung.»

Sie kniff die Augen zusammen. «Haben Sie für so was nicht eine Abteilung beim LKA

Stadler verschränkte die Arme. Er musste mit der ganzen Wahrheit herausrücken, es half alles nichts.

«Die Sache ist leider etwas kompliziert», begann er. «Um ehrlich zu sein: Ich bin im Augenblick der Einzige, der davon überzeugt ist, dass die beiden Morde zusammenhängen.» Jetzt hatte er ihre volle Aufmerksamkeit, also fuhr er rasch fort. «Vor zwei Monaten wurde ein junger Mann festgenommen, der unter dem dringenden Tatverdacht steht, den Transvestiten umgebracht zu haben. Er sitzt in Untersuchungshaft, der Prozess beginnt voraussichtlich nächsten Monat. Aber er hat nicht gestanden, es gibt lediglich eine Reihe Indizien, die ihn mit der Tat in Verbindung bringen, keine Beweise. Den Fall haben Kollegen bearbeitet, und sie sind sicher, den richtigen erwischt zu haben. Von einem Serienkiller wollen sie nichts hören. Mein Chef übrigens auch nicht. Ich habe ihm die Ähnlichkeiten zwischen beiden Fällen dargelegt, ihn gebeten, einen Experten für operative Fallanalyse einzuschalten, doch er will nichts davon hören. Deshalb stehe ich allein da. Und deshalb sitzen wir beide heute privat hier und plaudern ein bisschen. Denn offiziell ist es mir nicht gestattet, mit Ihnen über den Fall zu sprechen, geschweige denn, Sie als Beraterin hinzuzuziehen.»

«Sie riskieren also Ihren Job für diese Sache?»

«Na ja, eher meine Beförderung.»

«Ich kann Ihnen anhand von dem, was Sie mir erzählt haben, kein psychologisches Gutachten anfertigen. Dazu kenne ich viel zu wenige Details.»

Er atmete auf. Das war fast schon ein Ja. «Das weiß ich», sagte er schnell. «Ich habe Kopien von beiden Akten angefertigt. Da ist alles drin, was Sie brauchen. Das Gutachten der Rechtsmedizin, die Fotos vom Tatort, die Erkenntnisse der Spurensicherung und alle sonstigen Berichte und Analysen. Würden Sie sich die Sachen ansehen?»

«Ich nehme an, Sie dürfen diese Dokumente eigentlich nicht kopieren, und Sie dürfen sie erst recht niemandem geben, der nicht offiziell an den Ermittlungen beteiligt ist?»

Er nahm einen Schluck Bier. «Richtig.»

Sie nickte. «Das heißt, dass Sie meine Einschätzung auch nicht offiziell für die weiteren Ermittlungen verwenden dürfen?»

«Sollten Sie mich auf die richtige Spur bringen, kriege ich ganz schnell eine nachträgliche Genehmigung.» Er verzog das Gesicht. «Sie wissen doch, wie das läuft.»

Sie sah hinaus auf die Straße. Es hatte wieder angefangen zu nieseln. Der Tag schien zu enden, wie er begonnen hatte. Einen Moment lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Stadler bemerkte die feinen Linien um Montarios Augen, die verrieten, dass sie nicht mehr ganz so jung war, wie sie auf den ersten Blick wirkte. Sie sah zerbrechlich aus, schutzbedürftig. Nicht wie eine Frau, die sich berufsmäßig mit perversen Killern abgab. Er hätte sie gern gefragt, wie sie dazu gekommen war, sich ausgerechnet mit dieser Sorte menschlichem Abschaum zu beschäftigen, doch er hielt sich zurück. Sie hatte bisher nicht das kleinste bisschen Persönliches preisgegeben, und er wollte nicht mit einer unsensiblen Frage riskieren, dass sie ihm im letzten Moment eine Abfuhr erteilte.

Sie wandte sich vom Fenster ab und sah ihm in die Augen. «Ich kann nichts versprechen», sagte sie.

«Das ist wunderbar.»

Plötzlich lächelte sie. «Wenn Sie meinen.»

Er zog seine Aktentasche hervor. «Ich habe die Kopien dabei. Sie können sie gleich mitnehmen.» Nacheinander legte er zwei Ordner auf den Tisch.

«Sie waren sich offenbar sicher, dass ich anbeißen würde.»

«Ich hatte es gehofft.»

Sie zog die beiden Akten zu sich herüber. «Ich rufe Sie an.» Mit diesen Worten erhob sie sich, streifte eine braune Lammfelljacke über und verließ ohne ein weiteres Wort die Gaststätte. Verdutzt beobachtete Stadler, wie sie in die Dunkelheit trat, einen Schirm aufspannte und nach ein paar Schritten um die Straßenecke verschwand.

Samstag, 19. Oktober, 17:00 Uhr

Liz rieb sich ihren schmerzenden Nacken. Seit Stunden saß sie an ihrem Schreibtisch und las in den Akten, die Stadler ihr gegeben hatte. Von ihrem Arbeitsplatz aus hatte sie einen Blick auf den Rhein und die Auen, die sich am gegenüberliegenden westlichen Ufer erstreckten, doch sie hatte ihre Lektüre kaum unterbrochen, um hinauszusehen, und jetzt dämmerte es bereits. Ein verlorener Tag, dachte sie bitter, zumal ich für diese Schinderei noch nicht einmal bezahlt werde.

Sie erhob sich. Vielleicht würde ein Spaziergang helfen, das Durcheinander in ihrem Kopf zu ordnen, die Zweifel zu beseitigen. Doch sie befürchtete, dass es nicht so einfach sein würde. Frustriert trat sie vor die große Pinnwand, wo sie die Fotos der Tatorte aufgehängt hatte, links der Mord an dem Transvestiten, rechts der an der Anwältin. Die äußeren Umstände hätten nicht unterschiedlicher sein können. Der nackte Körper des Mannes lag in einem Brombeergestrüpp, hinter dem eine schmutzige Mauer aufragte. Sie war Teil des Bahndamms, so viel ging aus den Akten hervor. Manuel Geismann, so hieß der Tote, lag halb auf der Seite, sodass nicht alle Einstiche zu sehen waren. Auch der aufgeschlitzte Bauch war in dieser Position kaum zu erkennen. Eine Hand war unter dem Körper eingeklemmt, die andere lag wie schützend vor der Brust. Die Nägel des Mannes waren knallrot lackiert, in dem starren Gesicht waren Reste von Make-up zu erkennen. Der Anblick hatte etwas Groteskes, so als hätte jemand versucht, mit dem geschminkten Gesicht von dem geschundenen Leib abzulenken. Der Mann war nicht in dem Gebüsch getötet worden, in dem man ihn gefunden hatte, weshalb kaum Blut zu sehen war. Seltsamerweise hatte Liz das Gefühl, dass der Anblick der Leiche aus diesem Grund noch trostloser war.

Ganz anders bei der Anwältin. Im Gegensatz zu den tristen Bildern vom Bahndamm sprang einem hier das Rot des Blutes sofort ins Auge. Ebenso wie der Kontrast zwischen der sauberen, aufgeräumten Wohnung mit den weißen Wänden und dem Höllenloch, in das der Täter diesen Ort verwandelt hatte. Die Unmengen Blut an der Tapete, der Decke, dem Klavier, dem Bücherregal und dem weißen Teppich ließen Liz schaudern, obwohl sie die Fotos nun schon unzählige Male studiert hatte. Wäre nicht der entstellte Leichnam gewesen, hätte man den Raum beinahe für eine geschmacklose moderne Kunstinstallation halten können.

Anders als Manuel Geismann war Leonore Talmeier nicht völlig nackt. Sie trug einen Bademantel und am linken Fuß einen Hausschuh. Und im Verhältnis dazu, dass der Täter fünfmal so häufig auf ihren Körper eingestochen hatte und die Öffnung der Bauchhöhle acht Zentimeter größer war als die des ersten Opfers, sah die Leiche fast ordentlich aus.

Liz biss sich auf die Lippe. Ja, es gab Parallelen, die Messerstiche, die Öffnung der Bauchhöhle und vor allem die Identität der Opfer. Zwei falsche Frauen, wenn man so wollte. Aber der erste Mord schien eine spontane Tat zu sein, nichts deutete auf Vorbereitung hin. Der zweite Mord hingegen war penibel geplant worden, da war sich Liz sicher. Das bedeutete, dass der Täter zwischen den Taten einen enormen Entwicklungssprung gemacht hatte. Oder dass er in den Monaten, die zwischen beiden Verbrechen lagen, einen weiteren Mord begangen hatte, von dem bisher niemand wusste.

Der Computer signalisierte mit einem Piepsen den Eingang einer neuen Mail. Dankbar für die Ablenkung, ging Liz zurück zum Schreibtisch. Die Mail war von Ruben, und sie war kurz und kryptisch: «Interessante Infos in Sachen Jan Schneider. Bin auf etwas gestoßen. Gehe der Sache nach. Melde mich, wenn ich mehr weiß. Ruben.»

Liz kaute auf ihrer Unterlippe, während sie die Nachricht las. Verdammt. Sie wollte nicht, dass Ruben in der Vergangenheit herumstocherte. Er sollte nur herausfinden, ob Jan Schneider inzwischen aus der Haft entlassen worden war und wo er heute lebte. Nichts weiter. Was für eine Schnapsidee, den Jungen damit zu beauftragen! Jetzt wollte er unbedingt Detektiv spielen, na klar. Der berühmten Profilerin bei der Mördersuche helfen. Dabei hatte sie immer gedacht, Ruben sei der Einzige in ihrem Umfeld, der sich nicht für ihre Psychopathen interessierte. Wie dumm von ihr! Sie musste ihn davon abhalten, weiter herumzuschnüffeln. Rasch tippte sie eine Antwort, doch sie löschte sie wieder, weil sie zu nachdrücklich klang. Damit würde sie seine Neugier nur schüren. Nein, sie musste es beiläufiger klingen lassen. Bloß keine schlafenden Hunde wecken. Bloß nicht das Gefühl vermitteln, es gäbe etwas zu finden. Nicht auszudenken, was Ruben zutage fördern könnte!

Sonntag, 20. Oktober, 11:06 Uhr

Georg Stadler breitete die Unterlagen vor sich aus, Birgit Clarenberg verteilte Kaffeebecher, Oswald Krämer blickte missmutig vor sich hin.

«Sie hätten die Leiche wenigstens schon mal freigeben können», nörgelte er. «Ich muss eine Beerdigung vorbereiten.»

«Sie können es wohl kaum abwarten, wieder nach Südamerika zurückzufliegen», sagte Birgit spitz.

«Das Leben geht weiter.»

«Und Sie haben eine Ausgrabung zu leiten, ich weiß.» Birgit setzte sich und nahm ihren Kaffeebecher in die Hand.

«Verurteilen Sie mich nur. Das lässt mich kalt.» Er verschränkte die Arme. «Die Zeiten, in denen ich etwas darum gegeben habe, was die Leute von mir denken, sind längst vorbei.»

«Das ist das Stichwort», fiel Stadler ihm ins Wort. Bereits beim ersten Zusammentreffen am Donnerstag war der Archäologe ihm auf Anhieb unsympathisch gewesen, und es sah nicht so aus, als würde die zweite Begegnung daran etwas ändern. Deshalb fiel es Stadler schwer, professionelle Höflichkeit zu wahren. «Wäre es Ihnen auch egal gewesen, wenn die Leute erfahren hätten, dass Sie mit einem Mann verheiratet sind? Dass Sie auf einen Betrüger hereingefallen sind, der Sie im Internet geködert hat? Und zwar nicht auf irgendeinen Betrüger – das kann ja jedem passieren –, sondern auf einen, der es sich in Ihrem Ehebett bequem gemacht hat. Sie hatten Sex mit diesem Kerl, haben Sie denn nichts bemerkt?»

«Das ist eine Frechheit!», stieß Krämer hervor. Sein Gesicht war bei Stadlers Worten dunkelrot angelaufen. «Leonore war kein Mann. Und sie hat mich auch nicht hereingelegt.»

Stadler lehnte sich zurück. «Sie hat Ihnen nichts von ihrer OP erzählt.»

«Das war ihr gutes Recht.» Krämer sah ihn verächtlich an. «Sofern überhaupt stimmt, was Sie behaupten.»

«Ich habe den Bericht des Rechtsmediziners hier», sagte Stadler. «Ich kann Ihnen die entsprechende Passage vorlesen, wenn Sie möchten.» Er tat so, als würde er ein bestimmtes Dokument suchen.

«Nein danke.»