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Hiltrud Leenders • Michael Bay • Artur Leenders

Spießgesellen

Kriminalroman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Hiltrud Leenders / Michael Bay / Artur Leenders

Hiltrud Leenders, geboren 1955 am Niederrhein, arbeitete zunächst als Übersetzerin und machte sich später als Lyrikerin einen Namen. Sie ist Mutter von zwei Söhnen und seit 1990 hauptberuflich Schriftstellerin.

Michael Bay, geboren 1955 in Rheine, arbeitet als Diplompsychologe und Psychotherapeut. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

Artur Leenders, geboren 1954 in Meerbusch, arbeitet als Unfallchirurg in Kalkar. Seit über dreißig Jahren ist er mit Hiltrud Leenders verheiratet.

 

Im Rowohlt Taschenbuch Verlag liegen bereits folgende Bände der Reihe um das Klever Kommissariat KK 11 vor: «Augenzeugen», «Die Schanz», «Gnadenthal», «Die Burg», «Kesseltreiben» und «Totenacker».

Bei «Lavendel gegen Ameisen» und «Grenzgänger» handelt es sich um die ersten beiden – zunächst unveröffentlichten – Kriminalromane um Kommissar Toppe und das KK 11. «Spießgesellen» gliedert sich dagegen wieder chronologisch in die Reihe ein.

 

Über dieses Buch

Zurück an vorderster Front: Kommissar Toppe

 

Das Boot Europa ist voll! So lautet eine der Parolen der erst kürzlich gegründeten «Deutschen Humanistischen Mitte». Die will ihren Landesparteitag ausgerechnet in Kleve abhalten. Dort kocht die Stimmung hoch: Die neue Universität hat in kürzester Zeit Hunderte von Studenten in die Stadt gespült, darunter viele Ausländer.

Ein bekannter Rechtspopulist hat seinen Auftritt angekündigt, große Protestveranstaltungen stehen bevor – Staatsschutz und Klever Polizei arbeiten fieberhaft an einem Sicherheitskonzept. Mit unterschiedlichsten Mitteln und Absichten, wie sich bald herausstellt. Und dann geschieht ein Mord ...

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

(Abbildung: plainpicture/albinmillot)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-25984-5 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-49131-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-49131-1

Eins

Das Boot Europa ist voll!

Hunderte dieser Handzettel segelten in den Elsabrunnen, als Ackermann stolperte.

Er war entschlossen auf den Wahlkampfstand am Fischmarkt zumarschiert, dann aber an einer Kante im Pflaster hängengeblieben. Er ruderte wild mit den Armen, suchte Halt und riss den lichtblauen Sonnenschirm der «Deutschen Humanistischen Mitte» mit dem umlaufenden Slogan Für ein starkes Abendland so heftig um, dass auch noch der Tapeziertisch mit dem Infomaterial kippte.

«O Gott, o Gott!», rief Ackermann, rang die Hände und warf gleichzeitig seiner Frau einen Blick zu. «Wat tut mir dat leid! Sorry, Jungs, sorry!»

 

Zur selben Zeit kam an der Kreuzung Nassauer Allee und Albersallee ein Quadbikefahrer zum Stehen und sorgte im dichten Samstagsverkehr für Chaos. Autofahrer mussten unvermittelt bremsen, konnten nur knapp ausweichen, schimpften, zeigten dem Biker den Vogel und schlängelten sich um ihn herum.

 

Kommissar Ackermann schenkte den Wahlkämpfern ein letztes reumütiges Grinsen und nahm seine Frau in den Arm. «So, Süße, jetz’ können wir gehen un’ den beknackten Anzug kaufen.»

Aber Guusje ließ sich nicht mitziehen. Sie bückte sich und fischte einen der DHM-Handzettel aus dem Wasser.

Kopfschüttelnd hielt sie ihn Ackermann hin. «Seit die Nationalisten in Holland ihr Maul so weit aufreißen, war ich tatsächlich hin und wieder froh, dass ich bei unserer Heirat Deutsche geworden bin. Und jetzt so was!»

Sie knüllte den Zettel zusammen und ließ ihn fallen. «Egal, es gibt Wichtigeres. Aber erst mal brauche ich einen Kaffee.»

Ackermann schaute sich um. Im Café gegenüber schien noch was frei zu sein.

Rüde schob er ein paar unschlüssige Landsleute seiner Frau beiseite und eroberte einen Tisch am Fenster, von dem aus man exzellente Sicht auf das Durcheinander am Wahlkampfstand hatte.

«Wichtigeres?», schnaubte er. «Na, dat wüsst ich aber! Da reißt man sich den Hintern auf un’ denkt, man hat alles im Griff, un’ dann ziehen die in Düsseldorf einfach die Landtagswahl vor.»

Guusje seufzte tief und lange.

«Is’ doch wahr, Mensch! Da haben wir alles wunderbar organisiert mit der Gegendemo am Parteitag von den Arschlöchern da draußen, un’ jetz’ können die ihren Mist schon vorher verbreiten. Da kann man doch die Krätze bei kriegen. Bin gespannt, wat Ludger dazu sagt.»

Wieder seufzte Guusje.

Ackermann riss sich zusammen und lächelte schief. «Is’ ja gut, ich weiß, wir ham andere Sorgen.»

Und dann brach auch gleich wieder alles über ihn herein.

Joke, seine jüngste Tochter, hatte beschlossen zu heiraten, was bei ihm sowieso schon auf wenig Gegenliebe gestoßen war. «Du bis’ grad ma’ vierundzwanzig, wat musse da heiraten? Deine Schwestern sind doch au’ noch ledig.»

Aber dann hatte sich auch noch herausgestellt, dass es sich nicht einfach um eine Hochzeit handelte, sondern um ein «Event».

Schon vor Monaten hatten seine Frauen – Joke, ihre beiden älteren Schwestern und sogar Guusje – angefangen, nach der passenden «Location» zu suchen.

Ein professioneller Hochzeitsplaner war engagiert worden, und seitdem hatte sich Ackermanns sonniges Gemüt doch sehr umwölkt.

Im ganzen Haus, «dat ich mir quasi vonne Lippen abgespart hab», flogen Hochglanzmagazine herum. Bilder von Brautroben, Brautjungfernkleidchen, Brautmutterensembles, Stoffmuster, Farbproben, Fotos von Blumenarrangements und mehrstöckigen Hochzeitstorten.

Um nichts anderes mehr drehten sich die Gespräche. «Nein, Pink mit Silber finde ich jetzt doch zu ordinär. Ich glaube, Cremeweiß mit einem Hauch Altgold ist schöner, auch im Brautstrauß.» – «Der Fotograf aus Düsseldorf ist spezialisiert auf Traumhochzeiten, kostet allerdings auch sechshundert mehr am Tag.»

Ackermann verbrachte mittlerweile so viele Abende in seiner Stammkneipe, dass es ihm schon zum Hals heraushing.

«Auf wen kommt dat Kind ei’ntlich?», fragte er resigniert. «Auf mich jedenfalls nich’!»

«Dat Kind» hatte ihm unter Tränen erklärt, dass eine langfristige Planung «lebenswichtig» sei, weil sie bis zum «Event» unbedingt noch sechs Kilo abnehmen musste und ihre Haare auch noch nicht die richtige Länge hätten für «die süße Hochsteckfrisur».

Guusje zuckte nur die Achseln.

«Et is’ ja nich’ bloß dat Geld», ereiferte er sich weiter.

«Obwohl wir das eigentlich für unsere Reise in die Karibik gespart hatten, von der wir beide schon so lange träumen», fuhr seine Frau fort. Sie konnte die Litanei schon singen.

«Genau, aber dat mein ich doch gar nich’. Et is’ bloß einfach alles so ’ne hirnverbrannte Amikacke. Un’ so wat bei mein eigen Fleisch un’ Blut. Da könnt man heulen.»

Guusje lächelte milde. «Und dann musst du dir auch noch einen neuen Anzug kaufen. Obwohl der von Jokes Taufe doch wahrhaftig noch gut genug ist.»

Ackermann kicherte. «Ganz genau.»

 

Die Verkäuferin aus der Konditorei am Krankenhaus machte ihre morgendliche Zigarettenpause. Wobei «Pause» eigentlich nicht das richtige Wort war. Sie hatte ihr Handy aus der Kitteltasche genommen und telefonierte mit ihrem Mann: Fynns Fußballspiel war heute schon um halb eins, die Stutzen und Schienbeinschoner waren noch im Wäschetrockner, und Fiona musste um zwei bei Jessica sein.

Zwischen den Bestellungen der Kunden – «Ich nehme den mit den Smarties drauf, ist für ein Kind» und «Bitte mit extra Sahne» – hatte sie das ganze Gehupe und Gebremse an der Kreuzung wahrgenommen und aus dem Augenwinkel auch gesehen, dass da ganz vorn an der Ampel so ein Moped mit vier Rädern gestanden hatte.

Und immer noch stand.

Und der Mann auf dem Ding sah ziemlich komisch aus.

Er hatte so einen runden, altmodischen Helm auf und hing irgendwie schief nach rechts gekippt auf seinem Gefährt.

Immer noch wurde gebremst und gehupt, aber der Kerl auf dem Moped rührte sich nicht.

Die Bedienung aus der Konditorei warf kurzerhand ihren Mann aus der Leitung und drückte 110.

Zwei

Helmut Toppe, der Chef der Klever Kriminalpolizei, rieb sich den verspannten Nacken. Auch heute am Samstag hatte er schon seit acht Uhr wieder mit den Kollegen vom Staatsschutz und vom LKA in einer Sitzung gesessen, der siebten in dieser Woche.

Vor ein paar Monaten war eine neue Bundespartei gegründet worden, die «Deutsche Humanistische Mitte». Und die hatte beschlossen, ihren ersten Landesparteitag ausgerechnet in Kleve abzuhalten, und zwar schon in zwei Wochen.

Toppe drehte sich der Magen um, wenn er deren Parteiprogramm las, aber seine politischen Ansichten taten hier nichts zur Sache, seine Aufgabe war es, «Ausschreitungen» zu verhindern.

Wie hatte es der Innenminister so elegant ausgedrückt? Die DHM «polarisierte», und die zahlreichen Prominenten, die zum Parteitag in Kleve erwartet wurden, waren «nicht unumstritten».

Eine Großdemonstration gegen die DHM war für den Parteitag angemeldet worden, und einer der Organisatoren war ausgerechnet Jupp Ackermann, sein Kommissar aus dem Betrugsdezernat. Toppe kannte Ackermann als jemanden, der aus seiner persönlichen Meinung nie einen Hehl machte, für einen besonders politischen Menschen hatte er ihn allerdings nicht gehalten.

Wie auch immer, zur Gegendemo wurden mehrere tausend Leute aus ganz Deutschland erwartet.

Und dann hatte die DHM zu allem Übel gestern bekanntgegeben, dass ein international bekannter niederländischer Rechtspopulist auf dem Parteitag ein Grußwort sprechen würde und etliche seiner Anhänger zu seiner Unterstützung aus Holland anreisen wollten.

Die heutige Sitzung war einberufen worden, um jetzt auch noch niederländische Polizeikräfte in das inzwischen ausgearbeitete Sicherheitskonzept einzubinden. Wenn es zu einer Kundgebung aus dem rechten Lager gegen die Demonstration kam, wollte man gewappnet sein.

Toppe goss sich ein Glas Milch ein, er hatte Sodbrennen.

Diese ganze Geschichte war für Kleve zwei Nummern zu groß. Täglich brachten die Medien neue Berichte über die Partei und das Ereignis, und in der Stadt fing es langsam an zu brodeln.

Er trat ans Fenster. Bis jetzt war ihm gar nicht aufgefallen, wie schön das Wetter war, richtig warm für Mitte April. Vielleicht sollte er ein bisschen im Garten werkeln, die Gemüsebeete für die Frühjahrspflanzen vorbereiten, um den Kopf wieder klarzubekommen.

Hinter ihm kam seine dreizehnjährige Tochter die Treppe hinuntergehüpft.

«Du bist ja wieder da», freute sie sich. «Ich hab dich gar nicht gehört, ich hab mir die Haare geföhnt.»

Toppe musste schmunzeln. Katharina hatte von Natur aus lockiges Haar, aber in letzter Zeit gefiel ihr das nicht mehr, und sie versuchte immer, es mit irgendwelchen Wässerchen und dem Föhn zu glätten.

Er strich ihr über die Wange. «Wo steckt eigentlich deine Mutter?»

Als er um halb sieben aufgestanden war, hatte Astrid ihm einen warmen Schlafkuss gegeben und sich noch einmal umgedreht.

«Sie ist mit Sofia im Museum», antwortete Katharina. «Irgendwas stimmte mit der Hängung noch nicht.»

Ihre Mitbewohnerin Sofia Terhorst, eine international bekannte Malerin, hatte zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder eine Ausstellung in ihrer Heimat. Sie sollte morgen eröffnet werden.

Katharina holte eine Packung Haferflocken und eine Tüte Nüsse aus dem Schrank. «Wieso musstest du eigentlich heute arbeiten?»

Als man ihn damals befördert hatte, war es ihm ziemlich schwergefallen, aus dem aktiven Dienst auszuscheiden. Er hatte die Arbeit vor Ort geliebt, ein reiner Schreibtischjob war nie sein Traum gewesen. Aber mittlerweile hatte er sich in seiner neuen Position eingerichtet, und die freien Wochenenden taten nicht nur ihm, sondern auch seiner Familie gut.

«In zwei Wochen ist der Rummel wieder vorbei», sagte er und erzählte ihr von der ganzen Aufregung. Sie hörte ihm aufmerksam zu, während sie ihr Müsli zusammenrührte.

«Aber dafür ist doch eigentlich die Schutzpolizei zuständig, oder?», fragte sie ernsthaft. «Damit habt ihr von der Kripo doch nichts zu tun.»

«Normalerweise nicht», bestätigte Toppe und verzog resigniert den Mund. «Man könnte von einem Ausnahmezustand sprechen.»

«Und wenn ihr jetzt einen Fall reinkriegt?»

«Dann wird’s eng.»

Er mochte es sich gar nicht ausmalen, sie waren sowieso schon unterbesetzt.

Penny Small war mit Zwillingen schwanger und hatte ein Sabbatjahr genommen. Vor vierzehn Tagen war sie mit ihrem Mann Peter Cox, dem Aktenführer des KK 11, nach England gefahren, um ihre Familie zu besuchen. Peter würde erst am Montag wieder im Dienst sein.

Im Augenblick bestand die Mordkommission aus Norbert van Appeldorn und Bernie Schnittges – wenn jetzt etwas passierte, würde es also tatsächlich eng werden.

Katharina goss Milch in die Müslischüssel und setzte sich an den Tisch. «Positiv denken, wie meine Deutschlehrerin immer sagt. Wird schon alles gutgehen, Paps.»

Toppes Handy klingelte, und seine Tochter verdrehte die Augen. «Hätt ich nur nichts gesagt!»

Es war Bernie Schnittges.

«Wir haben einen Toten, und die Jungs vor Ort sagen, er fällt in unser Ressort. Ich kann aber Norbert nicht erreichen, weder über Handy noch über Festnetz.»

Toppe schwieg einen Moment erstaunt – das war noch nie vorgekommen.

«Peter ist noch in England, oder?», fragte Schnittges.

«Soweit ich weiß, wollte er erst morgen zurück sein.» Toppe überlegte nicht lange. «Ich komme», sagte er entschlossen.

Jetzt war es Schnittges, der verblüfft schwieg.

«Kreuzung Nassauer Allee und Albersallee», sagte er dann. «Wir treffen uns dort.»

Toppe unterbrach die Verbindung und wählte van Appeldorns Nummern. Auf dem Festnetz klingelte es durch, das Handy war ausgeschaltet, und auch beim Handy seiner Frau meldete sich nur die Mailbox. Was war da los? Ob ihrem Kind etwas passiert war?

Drei

«Der Mann heißt Ludger Evers.»

Der Kollege Klein von der Schutzpolizei hatte dem Quadbikefahrer den Führerschein aus der Innentasche der Lederjacke gezogen und hielt ihn Schnittges hin. «49 Jahre alt. Und jetzt guck mal hier.»

Vorsichtig hob er den linken Arm des Toten ein wenig an.

Schnittges atmete scharf ein. «Eine Schusswunde!»

«Deshalb hab ich euch gerufen», nickte Klein. «Der Schuss muss von dort links gekommen sein.»

Bernie schaute sich um. Das Bike stand auf der Linie zwischen der Geradeaus- und der Linksabbiegerspur. Die Straße war breit, links schloss sich ein Waldstück an, das jetzt im April gut einsehbar war, Farne und Büsche hielten noch Winterschlaf, nur die Laubbäume hatten erstes Grün angesetzt.

«Am helllichten Tag …», murmelte er.

«Wir brauchen mehr Leute», entschied er dann. «Die ganze Kreuzung muss abgesperrt werden, und zwar möglichst weiträumig.»

Er ging neben dem Bike in die Hocke. «Der hat wohl die Hände am Lenker gehabt, sonst wäre er nicht unter der Achsel getroffen worden.»

«Soll ich die Spusi rufen?», fragte Klein.

«Ja.» Schnittges’ Blick glitt über die vielen Menschen, die am Straßenrand standen. «Wie sieht es mit Zeugen aus?»

«Keine bis jetzt, aber wir arbeiten dran», antwortete der Kollege.

«Und wer hat euch verständigt?»

«Eine Frau Meister, sie arbeitet in dem Café da drüben. Ich hab ihr gesagt, sie soll dort auf euch warten.»

«Gut gemacht.» Schnittges tippte sich an die Stirn. «Dann geh ich mal zu ihr rüber.»

«Und ich hänge mich an den Funk und lasse van Gemmern anrücken. Soll ich auch die Dokterin anrufen?»

«Die Dokterin» war Marie Beauchamps, die Pathologin vom Emmericher Krankenhaus – und Bernies Liebste.

«Das mach ich selbst», winkte er ab. «Trotzdem danke.»

Genau wie ihr Vorgänger, Arend Bonhoeffer, war Marie zuständig für die forensischen Fälle am unteren Niederrhein, und genau wie Bonhoeffer machte sie sich bei Gewaltdelikten gern ein eigenes Bild vor Ort.

Auf dem Weg zur Konditorei rief Bernie sie an. Sie freute sich, aber ihr fröhliches Zwitschern verschwand sofort, als sie hörte, um was es ging.

 

Das Gespräch mit Frau Meister brachte keine großen Erkenntnisse. Sie hatte die Polizei so gegen Viertel nach elf verständigt. Das rote Motorrad hätte aber schon länger an der Ampel gestanden, vielleicht zehn oder sogar zwanzig Minuten.

Schnittges bedankte sich. «Das Protokoll Ihrer Aussage lasse ich Ihnen dann zur Unterschrift zukommen.»

Sie schaute ihn enttäuscht an. «Ich dachte immer, dafür müsste man aufs Präsidium kommen. Mein Sohn ist elf, der fänd das bestimmt klasse.»

Bernie musste lächeln. «Wenn Ihnen das lieber ist, gern.»

«Gleich morgen früh?»

«Montag reicht völlig.»

 

Als er aus dem Café trat, sah er, dass van Gemmern schon angekommen war und gerade seinen Koffer aus dem Bus der Kriminaltechnik hievte.

Schnittges schaute auf die Uhr, der ED-Mann hatte keine zwanzig Minuten gebraucht. Stets bereit – die Vokabeln «Freizeit» und «Privatleben» kamen in van Gemmerns Wortschatz nicht vor. Er war ein knochentrockener Typ, kühl und hart gegen sich selbst. Nur einmal, als Marie Beauchamps angefangen hatte, als Forensikerin für sie zu arbeiten, war er kurz aus seinem Schneckenhaus gekommen. Aber es war ihm schnell klar geworden, dass Marie nur Augen für Bernie hatte, und seitdem schien er noch in sich gekehrter zu sein.

Auf der Kreuzung herrschte heilloses Chaos. Man hatte angefangen, die Absperrung aufzubauen, aber immer noch brausten aus allen vier Richtungen Fahrzeuge heran, mussten bremsen, dann wenden und sich irgendwie aneinander vorbeidrängen.

Jetzt kam auch noch ein Notarztwagen mit Blaulicht und Sirene aus der Krankenhauszufahrt geschossen und hielt auf die Kreuzung zu. Es gab einiges Geschrei, bis die Absperrung beiseitegeschoben war und der Wagen weiterfahren konnte.

Schnittges ließ sich auf der Mauer am Krankenhausparkplatz nieder und wartete auf Toppe.

Als er sich von Krefeld aus zum KK 11 nach Kleve hatte versetzen lassen, war Toppe schon Chef gewesen, deshalb hatte er nie direkt auf Augenhöhe mit ihm zusammengearbeitet. Aber natürlich waren ihm viele Geschichten aus dessen Zeit als Leiter der Mordkommission zu Ohren gekommen, über seine «großartige Kombinationsgabe» und das legendäre «Bauchgefühl», aber auch über seinen Hang zu melancholischer Eigenbrötlerei. Jetzt würde er sich selbst ein Bild machen können.

Er sah, wie Toppe sein Auto auf dem Grasstreifen abstellte, und ging zu ihm hinüber.

«Der Biker hier vorn», sagte er. «Schussverletzung unterm Arm. Sieh’s dir selbst an.»

Toppe folgte ihm zum Quadbike und betrachtete den Toten, ging in die Knie, kam wieder hoch, drehte sich dann zum Waldstück um und ließ den Blick schweifen.

«Keine Zeugen bis jetzt», berichtete Schnittges. «Wir haben seinen Führerschein. Ludger Evers heißt der Mann.»

Toppe nickte. «Habt ihr Marie schon Bescheid gesagt?»

«Sie müsste gleich hier sein.»

 

Van Gemmern hatte Spurentafeln aufgestellt und war nun dabei, den Toten, das Fahrzeug und die Umgebung aus verschiedenen Entfernungen und Perspektiven zu fotografieren.

«Schon irgendwelche Erkenntnisse?», fragte Bernie, um einen lockeren Ton bemüht.

Der ED-Mann schaute ihn nicht einmal an. Wie immer sah er müde aus und grau, und wie immer bekam er die Zähne nicht auseinander.

«Das Projektil ist nicht ausgetreten», rang er sich schließlich ab, ohne die Kamera herunterzunehmen.

Schnittges wusste, dass van Gemmern ihm nicht sonderlich gewogen war, aber er gab nicht auf. «Kannst du schon was zur Waffe und zur Munition sagen?»

«Nein, nicht ohne den Bericht der Forensik.» Van Gemmern legte die Kamera beiseite.

«Ja, ich weiß, du spekulierst nicht gern», sagte Schnittges freundlich.

«Das überlasse ich euch.» Van Gemmern nickte Toppe einen Gruß zu und ging zum Bus. «Hier, der Inhalt seiner Taschen.»

Er hatte alles in Plastikbeuteln verpackt: Handy, Schlüsselbund, Führerschein, eine Zehneuronote und 4,52 Euro in Münzen.

«Das ist alles?» Toppe wunderte sich. «Kein Ausweis, keine Brieftasche, keine Kreditkarten?»

«Nein.»

In diesem Augenblick zischte ein schwarzer Mini vorbei, und van Gemmerns Miene gefror. Er drehte sich weg.

Marie stellte ihren Wagen weiter vorn auf dem Bürgersteig ab und kam zu ihnen rüber. Bernie spürte das wohlbekannte, aber jetzt völlig unangebrachte Kribbeln im Bauch.

Als er sie angerufen hatte, war sie gerade mit einer Obduktion fertig geworden und hatte sich offenbar noch Zeit für eine Dusche genommen. Ihre blonde Lockenmähne war noch feucht, irgendwie auf dem Kopf zusammengezwirbelt, und wurde von einem Buntstift gehalten, wie Schnittges verblüfft bemerkte, einem violetten Buntstift.

Sie schenkte ihm ein besonderes Lächeln und gab Toppe die Hand.

«Eine Schusswunde also», murmelte sie, während sie sich die Latexhandschuhe überstreifte und zu dem Toten hinüberging.

Toppe und Schnittges traten ein paar Schritte zurück und beobachteten, wie sie dem Mann vorsichtig den Helm vom Kopf zog.

Bernie waren vorhin die Trauerränder unter den zu langen, teilweise gesplitterten Fingernägeln des Toten aufgefallen, jetzt vervollständigte sich sein Bild. Das Haar des Mannes, früher wohl einmal goldblond, war grau gesträhnt und ungewaschen, stumpf und ohne Schnitt. Das Gesicht war teigig, unter den trüben Augen hatte er dicke Tränensäcke. Er sah älter aus als 49. Auch die Lederjacke war abgewetzt und brüchig, die Hose am Saum ausgefranst, an den nackten Füßen trug er Schuhe aus verschossenem Stoff.

Toppe suchte Schnittges’ Blick. «Er sieht ärmlich aus», stellte er fest. «Wie passt da dieses Motorrad ins Bild?»

Bernie war genauso ratlos. «Funkelnagelneu. Sind ganz schön teuer, die Dinger. Vielleicht hat er es geklaut.»

Marie leuchtete dem Toten in die Augen.

«Hornhauttrübung», sprach sie in das Diktaphon, das sie sich umgehängt hatte.

Dann befühlte sie die Hände, schob einen Jackenärmel hoch – der Arm ließ sich nicht beugen, das konnte Toppe erkennen –, betastete den Unterkiefer.

«Todeszeitpunkt nach erster Inaugenscheinnahme», sie sah auf ihre Armbanduhr, «elf Uhr plus minus fünfzehn Minuten.»

Bernie nickte, das deckte sich mit Frau Meisters Angaben.

«Es gibt keine Austrittswunde.» Marie schaute Toppe an. «Das Geschoss steckt also noch im Körper.»

Toppe nickte langsam. «Das könnte bedeuten, dass der Schuss aus größerer Entfernung abgegeben wurde.»

«Genau», bestätigte Schnittges, «und zwar vom Waldrand dort.» Ihm war das schon die ganze Zeit durch den Kopf gegangen. «Der Boden ist im Augenblick relativ feucht, da müssten sich Spuren vom Täter finden lassen und mit etwas Glück vielleicht sogar die Hülse. Wir sollten noch ein paar Leute anfordern.»

«Ich weiß nicht», mischte sich Marie ein. «Größere Entfernung ist eine Möglichkeit, aber mit Sicherheit können wir das erst sagen, wenn ich die Kugel herausgeholt habe und die Kriminaltechnik sie sich angeschaut hat.»

«Können Sie sofort obduzieren?», fragte Toppe.

«Sicher», antwortete sie. «Sobald mir der Bestatter den Leichnam gebracht hat. Ich rufe ihn gleich an.»

«Prima.» Toppe lächelte flüchtig und blickte zum Himmel. «Das Wetter scheint sich zu halten. Warten wir also die Obduktion ab», entschied er. «Wir lassen das Waldstück abriegeln und eine Wache hier.»

«Ich kümmere mich darum», sagte Schnittges. «Und dann fahre ich ins Büro und finde heraus, wer dieser Ludger Evers ist.» Er zögerte. «Und welche Angehörige benachrichtigt werden müssen … Oder wäre es dir lieber, wenn ich bei der Leichenschau dabei bin?»

«Nein, das übernehme ich diesmal», antwortete Toppe.

Wenn eine Leiche zur Klärung eines Gewaltdelikts geöffnet werden musste, war die Anwesenheit eines Polizisten als Zeuge Vorschrift. Früher hatte Toppe sich gern davor gedrückt, heute machte es ihm merkwürdigerweise gar nichts aus.

«Ich kann dann auch gleich das Geschoss mit ins Labor nehmen», fügte er hinzu.

Bernie hob zustimmend den Daumen und machte sich auf den Weg zu den uniformierten Kollegen.

Marie fing an, ihre Sachen zusammenzupacken.

«Reicht es, wenn ich in einer Stunde in der Pathologie bin?», fragte Toppe.

«Perfekt.» Sie nahm ihre Tasche.

Toppe holte Schnittges ein. «Ich fahre vorher noch bei Norbert vorbei. Irgendetwas stimmt da nicht.»

«Ja, ich mache mir auch Sorgen.»

Der Kollege Klein kam angelaufen. «Chef», rief er, «ich muss hier leider ein paar Leute abziehen. Wir brauchen dringend mehr Präsenz in der City.»

Toppe wurde flau. «Was ist passiert?»

«Irgendein Bürger hat anscheinend den Wahlstand von dieser neuen Partei zerlegt», antwortete Klein finster. «Angeblich aus Versehen! Und dann ist es wohl auch noch zu Auseinandersetzungen mit den ‹Piraten› gekommen, die auch am Fischmarkt stehen. Auf alle Fälle brauchen wir mehr Streifen in der Innenstadt.»

Am liebsten hätte Toppe sich selbst ein Bild von der Situation gemacht.

Zu allem Übel klingelte jetzt auch noch sein Handy. Er sah aufs Display – van Appeldorn.

«Regel du das, Bernie», sagte er zu Schnittges und stieg in seinen Wagen.

Dann atmete er tief durch und nahm das Gespräch an. «Norbert, wo, um Himmels willen, steckst du?»

«Ich bin im Krankenhaus.»

Toppe fuhr der Schreck in die Glieder. «Hattest du einen Unfall?»

«So ähnlich», antwortete van Appeldorn. «Ist beim Training passiert.»

«Bei welchem Training?», fragte Toppe irritiert, aber dann dämmerte es ihm gleich. «Du spielst wieder Fußball!»

Van Appeldorn war viele Jahre lang passionierter Hobbyfußballer und Jugendtrainer beim SV Siegfried Materborn gewesen, hatte aber vor ein paar Jahren eingesehen, dass er für den aktiven Sport langsam zu alt wurde. Nur einmal noch, vor zwei Jahren, hatte er sich überreden lassen, bei einem Benefizspiel der Klever Polizei gegen eine Mannschaft der Kollegen aus Nimwegen mitzuspielen, und war einer der Stars auf dem Platz gewesen.

Das wusste Toppe. Er hatte allerdings nicht gewusst, dass van Appeldorn seitdem immer mal wieder bei der Materborner Altherrenmannschaft «ausgeholfen» hatte.

«Bist du noch ganz gescheit?», herrschte Toppe ihn an.

«Jetzt hör schon auf», gab van Appeldorn gereizt zurück. «Den Mist von wegen ‹in meinem Alter› hab ich mir schon von Ulli anhören müssen.»

«Und recht hat die Frau», erwiderte Toppe ebenso sauer. Dann besann er sich. «Du bist also verletzt.»

«Kreuzbandriss», erklärte van Appeldorn kleinlaut.

«Das hört sich schlimm an. Wie lange fällst du aus?»

«Sechs Wochen ungefähr …»

Toppe hatte Mühe, seine Wut zu zügeln, und schwieg einen Moment.

«Ist wohl sehr schmerzhaft», rang er sich schließlich ab und ließ sich dann geduldig die Behandlung schildern, versprach auch einen Besuch.

«Sobald ich dazu komme.»

«Was meinst du damit? Gibt es Stress?»

«Das willst du gar nicht wissen.»

Vier

Toppe war im vergangenen Jahr so einiges an Klatsch über Marie Beauchamps zu Ohren gekommen. Sie sei ein Wirbelwind, immer auf der Überholspur, hektisch, man könne kaum mit ihr Schritt halten, und der arme Bernie – ob der wohl jemals seine Ruhe hatte mit so einer Frau?

Bei ihrer Arbeit heute hatte Toppe sie ganz anders erlebt. Sie war besonnen und zielstrebig gewesen und, soweit er das beurteilen konnte, genauso gründlich wie Arend.

Und sie hatte ihm in einer Plastikdose das Geschoss mitgegeben, das Ludger Evers getötet hatte.

Als er jetzt die Tür zum Labor öffnete, bot sich ihm ein vertrauter Anblick: Klaus van Gemmern, grau und gebeugt und so vertieft in seine Arbeit, dass er es vermutlich nicht einmal bemerkt hätte, wenn eine Schützenkapelle vorbeimarschiert wäre.

Offensichtlich hatte er sich Evers’ Handy vorgenommen.

«Ich bringe dir die Kugel, oder was davon übrig ist», sagte Toppe. «Sie ist unter der Achsel in den Körper eingedrungen und hat die Herzspitze zerfetzt.»

Erst als er mit der Plastikdose rappelte, hob van Gemmern den Kopf.

«Ist gut. Ich nehme sie mir vor, sobald ich hiermit fertig bin.»

Toppe fragte sich, was wohl so wichtig an dem Handy sein mochte, aber er hielt den Mund. In der Regel wusste van Gemmern, was er tat.

 

Auf dem Flur der Kripo war es still, außer Bernie Schnittges und ihm schien heute keiner im Büro zu sein.

Bernie saß am Bildschirm und sah Toppe gespannt an. «Hast du Norbert erwischt?»

«Er hat mich angerufen, als ich gerade zu ihm fahren wollte», antwortete Toppe schmallippig.

Dann zog er seine Jacke aus, setzte sich an van Appeldorns Schreibtisch und erzählte die leidige Geschichte.

Ein Grinsen huschte Schnittges übers Gesicht. «Dem ist wohl der Rummel um sein Supertor beim Benefizspiel zu Kopf gestiegen.» Aber dann wurde er gleich wieder ernst. «Ein Kreuzbandriss ist eine schlimme Geschichte.»

«Und vor allem so langwierig», fügte Toppe gallig hinzu, musste dann aber lachen. «Ist schon manchmal ein bisschen peinlich, wenn wir Männer in die Jahre kommen. Na ja, vielleicht ist er jetzt endlich gescheit geworden.»

Er merkte gar nicht, dass er dabei den Bildschirm, die Tastatur, den Aktenkorb und das Telefon herumschob, bis alles so stand wie früher, als dies noch sein Platz gewesen war.

Er schaute zum Fenster hinaus.

Die ganzen Jahre hatte er hier auf die Brache des ehemaligen Klever Hafens geblickt.

Jetzt gruppierten sich dort auf dem Gelände rechts und links des Kanals die strahlend weißen Gebäude der neuen «Hochschule Rhein-Waal».