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Andrea träumt von einem Leben voller Glanz und Abenteuer, als sie 1944 aus der Provinz nach Barcelona kommt. Doch schon die Wohnung der Großmutter entpuppt sich als ein Geisterhaus, ihre Verwandten sind nur noch ein trauriges Abbild ihrer ehemaligen Eleganz. Wie anders ist dagegen das mondäne Leben der Studenten! Bürgertöchter mit Autos und Strandhäusern an der Costa Brava, verwegene Bohemiens, die vom Künstlerdasein schwärmen. Andrea beschließt, es ihnen gleichzutun und die Verführungen der Stadt zu kosten. Und die Liebe. Bis sich eines Tages ihre beiden Lebenswelten gefährlich nahe kommen und ihr fragiles Glück zu zerbrechen droht.

 Carmen Laforet, geboren 1921 in Barcelona, wuchs auf den Kanarischen Inseln auf und kehrte mit 18 Jahren in ihre Geburtsstadt zurück. Sie gilt als wichtigste Autorin ihrer Zeit. Für ihren Debütroman Nada wurde sie 1944 mit dem ersten Premio Nadal ausgezeichnet. Laforet veröffentlichte acht Romane und zahlreiche Erzählungen. Sie starb 2004 im Alter von 83 Jahren.

 

 

Carmen Laforet

NADA

Roman

Mit einem Nachwort von
Mario Vargas Llosa
Aus dem Spanischen von
Susanne Lange

Suhrkamp

 

 

Die Originalausgabe erschien 1945 unter dem Titel Nada bei Destino, Barcelona.

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4633.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© 1945, Herederos de Carmen Laforet

Nachwort: © Mario Vargas Llosa, 2004, 2005

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

 

eISBN 978-3-518-74255-6

www.suhrkamp.de

NADA

 

 

 

 

 

 

Meinen Freunden Linka Babecka de Borrell
und dem Maler Pedro Borrell



Nichts
(Fragment)

 

Wir spüren Bitteres hier und da,

schalen Geruch, bald wehes

Licht, bald einen Ton, der nicht behagt,

berühren, was uns widersteht,

wie feste Wirklichkeit erreicht

dies unsere Sinne und erscheint

die Wahrheit, die wir nicht erahnt …

Juan Ramón Jiménez

Erster Teil

 

1

In letzter Minute hatte es Schwierigkeiten beim Kauf der Fahrkarte gegeben. Ich traf um Mitternacht in Barcelona ein, mit einem anderen Zug als angekündigt, und niemand erwartete mich.

Zum ersten Mal reiste ich allein, doch Angst hatte ich nicht, im Gegenteil, ein lustvolles, aufregendes Abenteuer war diese unermeßliche Freiheit in der Nacht. Nach der langen, anstrengenden Reise zirkulierte allmählich wieder das Blut in meinen Beinen, und mit staunendem Lächeln blickte ich auf die Estación de Francia und die Grüppchen, die aus denen zusammenwuchsen, die auf den Schnellzug gewartet hatten, und uns, die wir mit drei Stunden Verspätung eintrafen.

Der einzigartige Geruch, die lärmenden Menschen, die schwermütigen Lichter, alles besaß einen mächtigen Zauber, denn jeden Eindruck hüllte ich in das Wunder, endlich in dieser Großstadt zu sein, die ich in meinen Träumen als große Unbekannte verherrlicht hatte.

Langsam folgte ich, ein Tropfen im Strom, der Menschenwoge, die mit Koffern beladen gegen den Ausgang brandete. Mein Gepäck bestand aus einem bleischweren, riesigen Koffer, fast nur mit Büchern gefüllt, aber ich trug ihn allein, mit der ganzen Kraft meiner Jugend und meiner begierigen Erwartung.

Meeresluft trat satt und frisch in meine Lungen und brachte mir ein erstes nebelhaftes Bild von der Stadt: eine Legion von schlafenden Häusern, geschlossenen Läden und Straßenlaternen wie Schildwachen, trunken von Einsamkeit. Ein langer, schwerer Atemzug kam mit dem Flüstern der tiefen Nacht heran. Und gleich hinter mir, vor den geheimnisvollen Gäßchen, die ins Viertel El Borne führen, und tief in meinem aufgeregten Herzen: das Meer.

Gewiß sah ich seltsam aus mit meiner fröhlichen Miene, meinem alten Mantel, den mir der Seewind um die Beine schlug, wie ich mißtrauisch meinen Koffer vor den dienstfertigen Trägern, den camàlics, verteidigte.

Nach wenigen Minuten stand ich allein auf dem breiten Gehweg, während die anderen zu den wenigen Taxis rannten oder sich in Trauben in die Straßenbahn drängten.

Eine der alten Droschken, die man nach dem Krieg wieder öfter sah, hielt vor mir an, ich zögerte nicht und stieg ein, zum Verdruß eines Herrn, der verzweifelt den Hut schwenkend hinterherstürzte.

Das klapprige Gefährt fuhr mich in dieser Nacht durch breite, leere Straßen, durchquerte das Herz der Stadt, auch jetzt noch voller Lichter, wie ich es erhofft hatte, und die Fahrt erschien mir kurz und belebt von Schönheit.

Der Wagen bog in die Plaza de la Universidad, und ich weiß noch, wie bewegt ich war, als mir das prächtige Universitätsgebäude einen feierlichen Willkommensgruß bot.

Wir schwenkten in die Calle de Aribau ein, wo meine Verwandten wohnten, und dort strotzten die Platanen im Oktober noch von Blättern, und das lebendige Schweigen unzähliger Seelen atmete hinter den dunklen Balkonfenstern. Die Wagenräder hinterließen eine Kielspur von Lärm, der in meinem Kopf widerhallte. Auf einmal knarrte und schwankte der Klapperkarren. Dann blieb er stehen.

»Da wären wir«, sagte der Kutscher.

Ich sah hinauf zu dem Haus, vor dem wir standen. Eine Balkonreihe glich der anderen, wie sie mit ihren dunklen Eisengittern über das Geheimnis der Wohnungen wachten. Ich konnte nicht erraten, von welcher aus ich in Zukunft hinabschauen würde. Mit leicht zitternder Hand gab ich dem Nachtwächter ein paar Münzen, und nachdem er die Eingangstür mit mächtig erbebendem Glas und Eisen hinter mir ins Schloß geworfen hatte, schleppte ich mich mit dem Koffer Stufe für Stufe die Treppe hinauf.

Immer fremder wurde mir alles. Die engen, ausgetretenen Stufen mit ihren Fliesen, auf die das Lampenlicht fiel, fanden keinen Platz in meiner Erinnerung.

Vor der Wohnungstür befiel mich plötzlich Angst, diese Unbekannten aufzuwecken, die doch meine Verwandten waren, und ich zögerte, bevor ich mich zu einem schüchternen Klingeln entschloß, auf das niemand antwortete. Mein Herz klopfte immer heftiger, und ich drückte abermals auf die Klingel. Eine zittrige Stimme war zu hören:

»Schon gut! Schon gut!«

Ein Schlurfen und ungeschickte Hände, die den Riegel zurückschoben.

Dann wurde mir alles zu einem Alptraum.

Vor mir sah ich einen Eingangsflur im Licht der einzigen schwachen Glühbirne, die einem prächtigen Kronleuchter geblieben war, der voller Spinnweben an der Decke hing. Im Dunkel hinten türmten sich Möbel wie bei einem Umzug. Und direkt vor mir befand sich der schwarzweiße Fleck einer gebrechlichen alten Frau im Nachthemd, die sich ein Tuch um die Schultern geschlungen hatte. Ich wünschte mir, mich in der Wohnung geirrt zu haben, aber die klägliche kleine Alte hatte sich ein Lächeln von so sanfter Güte bewahrt, daß kein Zweifel bestand, es war meine Großmutter.

»Bist du's, Gloria?« flüsterte sie.

Ich schüttelte den Kopf, unfähig, einen Ton hervorzubringen, aber im Halbdunkel sah sie es nicht.

»Komm, komm rein, Kind. Was stehst du da? Himmel! Wenn bloß Angustias nicht merkt, daß du um diese Uhrzeit nach Hause kommst!«

Beunruhigt schleifte ich den Koffer herein und schloß die Tür hinter mir. Da stammelte die arme Frau bestürzt etwas vor sich hin.

»Erkennst du mich nicht, Großmutter? Ich bin's, Andrea.«

»Andrea?«

Sie zögerte, suchte in ihrem Gedächtnis. Es war mitleiderregend.

»Ja, liebe Großmutter, deine Enkelin … Ich konnte nicht vormittags ankommen, wie ich geschrieben hatte.«

Die alte Frau begriff noch immer nicht, doch aus einer der Türen kam ein hagerer, großer Mann im Schlafanzug heraus, der die Sache in die Hand nahm. Es war ein Onkel von mir, Juan. Sein Gesicht mit den tiefen Höhlungen wirkte im Licht der einsamen Glühbirne wie ein Totenschädel.

Nachdem er mir ein paarmal auf die Schulter geklopft und mich Nichte genannt hatte, schlang mir das Großmütterchen die Arme um den Hals, Tränen in den hellen Augen, und sagte »arme Kleine«, wieder und wieder …

Die Szene war beklemmend, die Wohnung stickig und heiß, als wäre die Luft verbraucht und verdorben. Als ich mich umschaute, sah ich, daß zwei gespenstische Frauen erschienen waren. Ich bekam eine Gänsehaut, als mein Blick auf die eine fiel, die ein schwarzes Kleid trug, das anscheinend ihr Nachthemd war. Alles an der Frau wirkte schrecklich und unheilvoll, bis hin zu den grünlichen Zähnen, als sie mich anlächelte. Ein Hund folgte ihr, der geräuschvoll gähnte, schwarz auch das Tier, wie eine Verlängerung ihrer Trauer. Später klärte man mich auf, daß es das Hausmädchen war, aber kein lebendes Wesen hat jemals einen so entsetzlichen Eindruck auf mich gemacht.

Hinter Onkel Juan stand die andere dünne junge Frau, der wirr rötliches Haar ins spitze, weiße Gesicht fiel und der die Bettschwere am Leib hing wie ein nasses Laken, was das Gesamtbild noch mißlicher machte.

Die Großmutter nahm ihren Kopf nicht von meiner Schulter, ich steckte fest in ihrer Umarmung, und die Gestalten um mich wirkten so langgezogen und finster. Lang, still und traurig wie die Lichter einer Totenwache auf dem Dorf.

»Das reicht jetzt, Mutter, das reicht«, sagte eine schroffe, fast erbitterte Stimme.

Hinter mir war also eine dritte Frau erschienen. Eine Hand packte meine Schulter, eine andere mein Kinn. Ich bin groß, aber Tante Angustias war größer und zwang mich, zu ihr aufzusehen. In ihrer Geste lag Herablassung. Ihr Haar war graumeliert und schulterlang, und ihr dunkles, schmales Gesicht besaß eine gewisse Anmut.

»Na, du hast mich ja heute morgen schön versetzt, Kind! Nie hätte ich mir träumen lassen, daß du mitten in der Nacht ankommst!«

Sie hatte mein Kinn freigegeben und stand in ihrer imposanten Größe in weißem Nachthemd und blauem Morgenmantel vor mir.

»Gott im Himmel, Zustände sind das! So ein junges Ding ganz allein …«

Ich hörte Juan brummen.

»Und schon muß unsere Hexe Angustias alles miesmachen!«

Angustias achtete nicht auf ihn.

»Na, du wirst müde sein.« Dann wandte sie sich an die Frau in Schwarz: »Antonia, Sie müssen der jungen Dame wohl ein Bett herrichten.«

Ich war müde, fühlte mich mit einem Mal aber auch schrecklich schmutzig. Erst diese Menschen, die sich inmitten der düsteren, aufgetürmten Dinge bewegten und mich anstarrten, schienen mir all die vergessene Hitze und den Ruß der Reise aufgeladen zu haben. Ich sehnte mich nach frischer Luft.

Die Frau mit dem wirren Haar musterte mich in ihrer schläfrigen Benommenheit lächelnd, und mit dem gleichen Lächeln musterte sie meinen Koffer. Unwillkürlich drehte ich mich zu ihm um, und mein Reisegefährte kam mir fast rührend vor in seiner dörflichen Hilflosigkeit. Mit seinem verblichenen Braun und den Stricken bildete er neben mir den Mittelpunkt der sonderbaren Versammlung.

Juan trat zu mir:

»Kennst du meine Frau, Andrea?«

Er schob die ungekämmte Frau an den Schultern vor.

»Ich bin Gloria«, sagte sie.

Die Großmutter sah uns mit einem ängstlichen Lächeln an.

»Na, na, was soll denn das Händeschütteln? Nun umarmt euch schon, Mädchen … Na also!«

Gloria flüsterte mir ins Ohr:

»Hast du Angst?«

Und die bekam ich beinahe, als ich Juans Gesicht sah, das in nervösen Grimassen zuckte, während seine Kiefer mahlten. Sein Versuch eines Lächelns.

Tante Angustias griff herrisch ein.

»Los, ins Bett, es ist spät!«

»Ich würde mich gern waschen«, sagte ich.

»Was? Sprich lauter! Dich waschen?«

Vor mir wurden erstaunte Augen aufgerissen. Die von Angustias und von allen anderen.

»Hier gibt es kein Warmwasser«, sagte Tante Angustias schließlich.

»Macht nichts …«

»Du traust dich, zu dieser Zeit in die Dusche zu steigen?«

»Ja«, sagte ich, »ja.«

Was für eine Wohltat, das eisige Wasser auf meinem Körper! Was für eine Wohltat, den Blicken dieser merkwürdigen Leute entronnen zu sein! Das Badezimmer schien kaum je benutzt zu werden. Im fleckigen Spiegel über dem Waschbecken – was für trübes, grünliches Licht überall in der Wohnung! – spiegelten sich die niedrige Decke mit ihren Spinnweben und mein Körper unter den glänzenden Wasserfäden, der vor den schmutzigen Wänden zurückschreckte, auf Zehenspitzen in der dreckigen Eisenwanne mit Porzellanbezug.

Ein Hexenhaus war dieses Badezimmer. Die geschwärzten Wände sprachen von gekrümmten Fingern und verzweifelten Schreien. Aus dem Putz gähnten zahnlose Münder, die von Feuchtigkeit troffen. Über dem Spiegel hing ein unheimliches Stilleben, das nirgendwo sonst Platz gefunden hatte: bleiche Karpfen und Zwiebeln auf schwarzem Hintergrund. Der Wahnsinn lächelte aus schiefen Wasserhähnen.

Ich hatte schon die Visionen eines Betrunkenen. Abrupt drehte ich die Dusche ab, den kristallenen, schützenden Zauber, und stand allein im Schmutz der Dinge.

Ich weiß nicht, wie ich Schlaf fand in der Nacht. In dem Zimmer, das man mir zugewiesen hatte, stand ein Klavier mit aufgedeckten Tasten. An den Wänden überall Spiegelleuchter, einige davon sehr wertvoll. Ein chinesischer Sekretär, Gemälde, ein Wirrwarr von Möbeln. Was wie der Dachboden eines verlassenen Palastes aussah, war, wie ich später erfuhr, das Wohnzimmer.

In der Mitte stand wie ein Katafalk im Kreis von Trauergästen – der Doppelreihe zerschlissener Sessel – eine Ottomane mit einer schwarzen Decke: mein Bett. Auf das Klavier hatte man eine Kerze gestellt, denn dem großen Kronleuchter fehlten die Birnen.

Angustias machte zum Abschied das Zeichen des Kreuzes auf meine Stirn, und die Großmutter umarmte mich zärtlich. Ihr Herz klopfte wie ein kleines Tier an meiner Brust.

»Wenn du aufwachst und dich fürchtest, ruf mich ruhig, Kindchen«, sagte sie mit ihrer zittrigen Stimme.

Und dann mit einem geheimnisvollen Flüstern in mein Ohr:

»Ich schlafe nie, Kindchen, immer wirtschafte ich nachts in der Wohnung herum. Ich schlafe nie, niemals.«

Endlich war ich allein inmitten der Möbelschatten, die sich im Kerzenlicht blähten und mit Zuckungen und unergründlichem Leben füllten. Der Gestank, der überall in der Wohnung herrschte, schlug mir in einem Schwall entgegen. Ein Gestank nach Katzendreck. Ich rang nach Luft und kletterte in einem gefährlichen Akrobatenakt auf eine Sessellehne, um zwischen staubigen Samtvorhängen eine Tür zu öffnen. Es gelang mir, soweit die Möbel es zuließen, und ich sah, daß sie auf eine dieser offenen Galerien führte, die den Wohnungen in Barcelona soviel Licht geben. Drei Sterne zitterten im weichen Schwarz dort oben, und bei ihrem Anblick überkam mich die Lust zu weinen, als hätte ich unverhofft alte Freunde getroffen.

Der Sternenflimmer brachte mir mit einem Schwall meine freudige Erregung auf der Fahrt durch Barcelona zurück, bis zu dem Augenblick, da ich in diese Höhle dämonischer Menschen und Möbel getreten war. Ich hatte Angst, mich in das Bett zu legen, das wie ein Sarg aussah. Ich glaube, unfaßliche Schauder überliefen mich, als ich die Kerze löschte.

2

Als es hell wurde, fand ich Laken und Decke zerwühlt am Boden. Mir war kalt, und ich zog sie über mich.

Die ersten Straßenbahnen nahmen ihre Fahrt durch die Stadt auf, ihr Gebimmel drang gedämpft durch die geschlossenen Fenster zu mir, wie damals im Sommer, als ich sieben war und zum letzten Mal zu Besuch bei den Großeltern. Eindrücke stellten sich ein, zwar schemenhaft, doch so lebendig, als brächte sie der Duft von einer frisch gepflückten Frucht. Eindrücke aus dem Barcelona meiner Erinnerung: das Lärmen der ersten Straßenbahnen, wenn Tante Angustias an meinem provisorischen Bett vorbeiging, um die Rolläden ganz herunterzulassen, durch die schon zuviel Licht drang. Oder wenn ihr Geratter nachts, wenn mich die Hitze nicht schlafen ließ, die Calle de Aribau hinaufkletterte und der Wind den Geruch der grünen, staubigen Platanenzweige durch die offenen Balkontüren hereinwehte. Barcelona, das waren auch die breiten, frisch gespritzten Gehwege, und all die Menschen, die in den Cafés ihren Durst löschten. Alles übrige, die großen, hell erleuchteten Geschäfte, die Autos, der Trubel, ja sogar die gestrige Fahrt vom Bahnhof, die ich meinem Bild von der Stadt einverleibt hatte, war seltsam blaß und falsch, war künstlich geworden, so, wie alles Durchgeknetete und Abgegriffene seine Frische verliert.

Wie ich da mit geschlossenen Augen lag, überlief mich wieder eine warme Welle des Glücks. Ich war in Barcelona. So viele Träume hatte ich auf dieses Ereignis getürmt, daß es mir wie ein Wunder erscheinen mußte, dieses frühe Rauschen der Stadt, mit dem sie mir klar und deutlich sagte, daß sie so greifbar und wirklich war wie mein Körper, wie die rauhe Decke an meiner Wange. Mir war, als dürfte ich nach einer Nacht voll schlechter Träume nun in dieser Freude ausruhen.

Als ich die Augen aufschlug, blickte ich in die meiner Großmutter. Nicht in die der kleinen knochigen alten Frau der vergangenen Nacht, sondern in die einer Frau mit ovalem Gesicht unter einem Hut mit Tüllschleier, wie er im letzten Jahrhundert Mode gewesen war. Sie lächelte überaus sanft, und die blaue Seide ihres Kleides flimmerte zart. Im Halbdunkel daneben mein Großvater, sehr gutaussehend mit seinem dichten hellbraunen Bart und den blauen Augen unter den geraden Brauen.

Ich hatte die beiden nicht gekannt in dieser Zeit ihres Lebens und fragte mich, wie der Künstler hieß, von dem die Bilder stammten. So hatten sie ausgesehen, als sie vor fünfzig Jahren nach Barcelona gekommen waren. Der Weg ihrer Liebe war lang und steinig gewesen, ich weiß nicht mehr genau, weshalb … mag sein, daß es mit dem Verlust eines Vermögens zu tun hatte. Aber ihre Welt war voller Zuversicht, und sie liebten einander sehr. Sie bezogen als erste die Wohnung in der Calle de Aribau, die damals erst entstand. Es gab noch viel Bauland, und der Geruch nach Erde rief meiner Großmutter vielleicht einen anderen Garten anderswo in Erinnerung. Ich stellte mir vor, wie sie in dem blauen Kleid und mit demselben flotten Hut auf dem Kopf zum ersten Mal die leere Wohnung betrat, die noch nach Farbe roch. Hier werde ich mich wohl fühlen, dachte sie bestimmt, als sie durch die Fenster über das weite Feld blickte, man ist fast außerhalb der Stadt, und wie friedlich ist alles! Wie sauber die Wohnung, wie neu … Denn nach Barcelona hatte sie eine ganz andere Sehnsucht geführt als mich: die nach Ruhe, nach einer sicheren, regelmäßigen Arbeit. Für sie war die Stadt ein rettender Hafen gewesen; ich wünschte sie mir als Sprungbrett für mein Leben.

Die Wohnung mit den acht Balkontüren schmückte sich mit Vorhängen aus Spitzen, Samt und Schleifen. Truhen gossen ihren Krimskrams aus, mancher davon wertvoll. Die Ecken füllten sich. Die Wände ebenso. Barockuhren schenkten der Wohnung ihren Pulsschlag. Ein Klavier – wie hätte es fehlen können? – schenkte den Abenden schmachtende kubanische Melodien.

Obwohl sie nicht mehr allzu jung waren, bekamen sie viele Kinder, wie im Märchen … Und die Calle de Aribau wuchs und wuchs. Häuser, ebenso hoch oder noch höher, schlossen sich zu imposanten Karrees. Die Bäume streckten ihre Zweige aus, und die erste elektrische Straßenbahn verlieh ihr einen ganz eigenen Charakter. Das Haus wurde älter und älter, wurde renoviert, wechselte mehrmals Besitzer und Portier, doch sie blieben, eine unveränderliche Größe in diesem ersten Stock.

Als ich noch das einzige Enkelkind gewesen war, hatte ich dort die aufregendsten Zeiten meiner Kindheit erlebt. Schon lange war die Straße nicht mehr ruhig. Nun lag die Wohnung im Herzen der Stadt. Lichter und Lärm, das Leben in seiner Fülle wogte gegen die Balkone mit den Samtvorhängen. Auch innen trat sie über die Ufer, zu zahlreich waren die Bewohner. Ich fand den Trubel herrlich. Onkel und Tanten überhäuften mich mit Süßigkeiten und beklatschten die Streiche, die ich den anderen spielte. Die Großeltern waren bereits ergraut, doch immer noch rüstig und lachten über jeden meiner Einfälle. War das wirklich schon so lange her?

Es machte mich unsicher, wie sehr sich alles verändert hatte, und das Gefühl wurde noch drängender, wenn ich daran dachte, daß ich es mit diesen Menschen zu tun haben würde, die ich letzte Nacht flüchtig gesehen hatte. Wie sie wohl sind, fragte ich mich. Da lag ich nun im Bett, zögerte und traute mich nicht, ihnen gegenüberzutreten.

Das Zimmer hatte im Tageslicht seine Schrecken verloren, aber nichts von seiner entsetzlichen Unordnung, seiner tiefen Verwahrlosung. Die Portraits der Großeltern hingen schief und ohne Rahmen an der dunklen Tapete mit den Stockflecken, und ein Sonnenstrahl hangelte sich im Staub zu ihnen hoch.

Ich flüchtete mich in die Vorstellung, daß beide seit Jahren tot waren. In die Vorstellung, daß die junge Frau mit dem Tüllschleier nichts mit der mir fremden kleinen Mumie verband, die die Tür geöffnet hatte. Doch in Wirklichkeit lebte sie, wenn auch kläglich, erdrückt von dem nutzlosen Gerümpel, das sich mit der Zeit in der Wohnung angesammelt hatte.

Drei Jahre war es her, daß die Familie nach dem Tod des Großvaters eine Hälfte der Wohnung hatte abgeben müssen. Das überschüssige Trödelzeug und Mobiliar war wie eine Lawine über sie hereingebrochen, und die Arbeiter, die die Verbindungstür zumauerten, stapelten alles wahllos übereinander. In dieser vorläufigen Unordnung war die Wohnung erstarrt.

Auf dem Sessel, auf den ich in der Nacht geklettert war, entdeckte ich eine struppige Katze, die sich in der Sonne die Pfoten leckte. Das Tier sah erbärmlich aus, wie alles rundherum. Es schaute mich mit großen Augen an, die ein Eigenleben zu haben schienen, als säßen grüne, glänzende Linsen über dem Schnäuzchen mit dem grauen Schnurrbart. Ich rieb mir die Augen und schaute wieder hin. Sie machte einen Buckel, und ihr Rückgrat zeichnete sich im mageren Körper ab. Unwillkürlich dachte ich, daß sie eine wunderliche Familienähnlichkeit mit den anderen Hausbewohnern besaß. Sie hatte den gleichen exzentrischen, vergeistigten Zug, wie abgehärmt durch langes Fasten, Mangel an Licht und übermäßiges Grübeln. Ich lächelte ihr zu und zog mich an.

Als ich die Zimmertür öffnete, lag vor mir der finstere, vollgestopfte Eingangsflur, von dem fast alle Räume in der Wohnung abgingen. Mir gegenüber befand sich das Eßzimmer, dessen Balkonfenster sich der Sonne öffneten. Ich stolperte auf dem Weg dorthin über einen Knochen, den bestimmt der Hund abgenagt hatte. Niemand war im Raum, nur ein Papagei, der etwas vor sich hin brabbelte und zu lachen schien. Schon früher war mir das Tier verrückt vorgekommen. In den unpassendsten Momenten konnte es grauenerregend kreischen. Auf einem großen Tisch stand verloren eine leere Zuckerdose. Auf einem Stuhl lag eine verblichene Gummipuppe.

Ich war hungrig, doch das einzig Eßbare fand sich auf den zahlreichen Stilleben, die die Wände füllten. Während ich sie mir anschaute, rief Tante Angustias nach mir.

Das Zimmer meiner Tante hatte eine Tür zum Eßzimmer und einen Balkon zur Straße hinaus. Mit dem Rücken zu mir saß sie vor einem kleinen Schreibtisch. Erstaunt blieb ich stehen und blickte mich in dem Raum um, so sauber und ordentlich war er, eine Welt für sich in der Wohnung. Ein Spiegelschrank und ein großes Kruzifix verstellten eine weitere Tür, die zum Eingangsflur führte. Am Kopfende des Bettes stand ein Telefon.

Die Tante wandte sich um und bemerkte mein Erstaunen mit einer gewissen Genugtuung.

Wir schwiegen eine Weile, bis ich von der Tür aus schließlich ein freundliches Lächeln zustande brachte.

»Komm, Andrea«, sagte sie. »Setz dich.«

Angustias schien im Tageslicht aufgegangen zu sein und unter ihrem grünen Hauskittel nun Wölbungen und Kurven zu verbergen. Ich mußte lächeln beim Gedanken, daß mir meine Phantasie beim ersten Eindruck immer wieder einen bösen Streich spielte.

»Über deine Erziehung weiß ich nichts, mein Kind …«

(Von Anfang an sprach Angustias so, als hielte sie einen Vortrag.)

Ich öffnete den Mund, um ihr zu antworten, aber eine Geste ihres Zeigefingers hinderte mich daran.

»Ja, ich weiß, du hast eine höhere Klosterschule besucht und warst den Krieg über dort. Das bürgt für einiges. Aber die zwei Jahre bei deiner Kusine – die Familie deines Vaters war schon immer recht merkwürdig – und dazu in dieser Dorfwelt … Wie werden die gewirkt haben? Ich will es nicht leugnen, Andrea, ich habe mir die ganze Nacht über Sorgen um dich gemacht und gegrübelt. Was für eine schwierige Aufgabe ist mir da zugefallen. Die Aufgabe, mich um dich zu kümmern, dich zum Gehorsam zu erziehen. Wird es mir gelingen? Ich glaube, ja. Es ist an dir, mir dabei zu helfen.«

Sie ließ mich nicht zu Wort kommen, und ich schluckte ihre Rede voll Überraschung, ohne sie recht zu verstehen.

»Die Stadt, mein Kind, ist ein Höllenpfuhl. Und keine Stadt in Spanien gleicht so sehr der Hölle wie Barcelona. Es beunruhigt mich, daß du letzte Nacht allein vom Bahnhof hergekommen bist. Es hätte dir weiß Gott was zustoßen können. Hier leben die Menschen wie in einem Pulk, ständig belauern sie einander. Man kann sich gar nicht genug vorsehen, denn der Teufel kann die verführerischsten Gestalten annehmen … Ein junges Mädchen in Barcelona muß wie eine Festung sein. Verstehst du?«

»Nein, Tante.«

Angustias sah mich an.

»Besonders schnell von Begriff bist du nicht, Kindchen.«

Wieder schwiegen wir.

»Dann will ich es anders erklären: Du bist meine Nichte, das heißt ein Mädchen aus guter Familie, anständig, fromm und unschuldig. Hätte ich nicht ständig ein Auge auf dich, würden in Barcelona tausend Gefahren auf dich lauern. Das heißt, du darfst nicht einen Schritt ohne meine Erlaubnis tun. Verstehst du jetzt?«

»Ja.«

»Gut, dann zu etwas anderem. Weshalb bist du hergekommen?«

Meine Antwort kam schnell:

»Um zu studieren.«

(Die Frage hatte mich erregt.)

»Um Literatur zu studieren, was? Ja, das hat mir deine Kusine Isabel geschrieben. Gut, ich habe nichts dagegen, aber eins merke dir, du verdankst alles nur uns, der Familie deiner Mutter. Dank unserer Großmut kannst du dir deine Wünsche erfüllen.«

»Aber vielleicht weißt du nicht …«

»Ja, ja, du verfügst über eine Rente von zweihundert Peseten im Monat, in diesen Zeiten nicht mal genug für den halben Unterhalt. Hast du kein Stipendium von der Universität?«

»Nein, aber Gebühren muß ich keine zahlen.«

»Nur weil du Waise bist, dein Verdienst ist das nicht.«

Dann verwirrte mich Angustias abermals, als sie die Unterhaltung in eine unerwartete Richtung lenkte.

»Ich muß dich über einiges ins Bild setzen. Wenn es mich nicht schmerzte, schlecht von meinen Brüdern zu reden, würde ich dir sagen, daß ihre Nerven seit Kriegsende etwas angespannt sind … Die beiden haben viel gelitten, Kind, und mein Herz mit ihnen. Sie vergelten es mir mit Undank, aber ich vergebe ihnen und bete für sie. Dennoch muß ich dich warnen …«

Sie senkte die Stimme zu einem fast zärtlichen Flüstern.

»Dein Onkel Juan hat eine ganz und gar nicht schickliche Frau geheiratet. Eine Frau, die sein Leben zerstört, Andrea. Sollte ich eines Tages erfahren, daß ihr Freundinnen seid, würde mir das großen Kummer bereiten, das kannst du mir glauben, ich wäre sehr betrübt …«

Ich saß Angustias gegenüber auf einem harten Stuhl, der sich mir durch den Rock hindurch in die Schenkel drückte. Ich war verzweifelt, weil sie mir gesagt hatte, daß ich ohne ihre Erlaubnis nirgendwohin gehen durfte. Erbarmungslos schätzte ich sie als einfältig und herrschsüchtig ein. Ich habe so viele Fehlurteile in meinem Leben abgegeben, daß ich auch jetzt nicht sagen kann, ob dieses zutraf. Aber als sie sanft wurde und schlecht über Gloria sprach, wurde mir meine Tante verhaßt. Ich glaube, der Gedanke schien mir ganz verlockend, sie ein wenig zu bekümmern, und ich musterte sie verstohlen. Ihre Gesichtszüge waren im ganzen nicht häßlich und ihre Hände sogar auffallend schön geformt. Während ihres langen Monologs voller Befehle und Ratschläge suchte ich nach einem abstoßenden Makel an ihr, doch erst als sie mich endlich gehen ließ, sah ich ihre bräunlichen Zähne.

»Gib mir einen Kuß, Andrea«, forderte sie mich in diesem Augenblick auf.

Ich streifte mit den Lippen ihr Haar und lief ins Eßzimmer, bevor sie mich festhalten und ihrerseits küssen konnte.

Dort herrschte inzwischen Leben. Als erstes sah ich Gloria, die in einen alten Morgenrock gewickelt war und einem Kleinkind dicken Brei in den Mund löffelte. Als sie aufschaute, lächelte sie mir zu.

Ich war bedrückt, als hingen Gewitterwolken über mir, aber ich hatte das Gefühl, daß nicht nur mir die Nervosität trocken in der Kehle kratzte.

Ein Mann mit lockigem Haar und einem gefälligen, intelligenten Gesicht war damit beschäftigt, am anderen Tischende eine Pistole zu ölen. Ich wußte, es war mein Onkel Román. Sofort kam er zu mir und umarmte mich zärtlich. Der schwarze Hund, den ich letzte Nacht hinter dem Hausmädchen bemerkt hatte, folgte ihm auf Schritt und Tritt. Wie er mir erklärte, hieß er Trueno und gehörte ihm. Tiere schienen sich zu ihm hingezogen zu fühlen. Auch ich war wie gebannt von seiner überschwenglichen Herzlichkeit. Mir zu Ehren holte er den Papagei aus dem Käfig und ließ ihn ein paar Kunststückchen vorführen. Der Vogel brabbelte wieder vor sich hin, und da merkte ich, daß es Schimpfworte waren. Román lachte vor Glück.

»Das kriegt er hier dauernd zu hören. Armes Tier.«

Gloria starrte uns mit offenem Mund an und hatte Brei und Sohn vergessen. Durch Román ging ein Ruck, der mich erschreckte.

»Hast du die dumme Gans gesehen?« schrie er mir fast zu, ohne sie eines Blickes zu würdigen. »Hast du gesehen, wie die mich angafft?«

Ich war sprachlos. Gloria schrie gereizt:

»Hör mal, ich gaffe dich nicht an.«

»Siehst du?« sagte Román, wieder zu mir. »Jetzt quatscht mich dieses Miststück auch noch an.«

Mein Onkel mußte den Verstand verloren haben, ich schaute entsetzt zur Tür. Juan war auf das Geschrei hin hereingekommen.

»Leg dich ja nicht mit mir an, Román!« schrie er.

»Du kusch lieber und halt's Maul!« sagte Román, wobei er sich zu ihm wandte.

Juan ging mit verzerrtem Gesicht auf ihn zu, bis die beiden sich wie zwei Kampfhähne gegenüberstanden, lächerlich und erschreckend zugleich.

»Schlag nur zu, Mann, wenn du dich traust!« sagte Román. »Käme mir gerade recht!«

»Zuschlagen? Totschlagen werde ich dich! Ich hätte dich längst umbringen sollen …«

Juan war außer sich, seine Stirnadern schwollen an, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Seine Hände krampften sich zu Fäusten.

Román sah ihn seelenruhig an und lächelte.

»Hier hast du meine Pistole«, sagte er.

»Reiz mich nicht, du Drecksack! Reiz mich ja nicht oder …«

»Juan!« kreischte Gloria. »Komm her!«

Über ihr fing auch der Papagei zu kreischen an, und ich sah ihr erregtes Gesicht unter dem wirren roten Haar. Niemand achtete auf sie. Juan schaute nur kurz zu ihr hinüber.

»Hier hast du die Pistole!« sagte Román. Der andere ballte seine Fäuste noch kräftiger.

Gloria kreischte wieder.

»Juan! Juan!«

»Halt's Maul, du Aas!«

»Nun komm schon! Komm!«

»Maul, sag ich!«

Juans Wut richtete sich blitzschnell auf die Frau, und er fing an, nun sie zu beschimpfen. Sie schrie zurück und brach schließlich in Tränen aus.

Román betrachtete die beiden belustigt, wandte sich zu mir und sagte beruhigend:

»Keine Angst, Kleine. So geht das jeden Tag.«

Er steckte die Waffe in seine Jackentasche. Sorgfältig geölt glänzte sie schwarz in seinen Händen. Román lächelte mich an und strich mir über die Wange. Dann ging er in aller Ruhe hinaus, während der Streit zwischen Gloria und Juan immer heftiger wurde. In der Tür stieß Román mit der Großmutter zusammen, die von ihrem täglichen Morgengottesdienst kam, und im Vorbeigehen streichelte er auch sie. Sie trat genau in dem Moment ins Eßzimmer, als Tante Angustias, ebenfalls aufgebracht, aus ihrer Tür schaute und energisch um Ruhe bat.

Juan griff sich den Breiteller des Kleinen, um ihn ihr an den Kopf zu werfen. Doch er zielte schlecht, und der Teller zerschellte an der Tür, die Angustias rasch geschlossen hatte. Der kleine Junge weinte, der Rotz lief ihm herunter.

Schließlich beruhigte sich Juan. Die Großmutter nahm ihre schwarze Mantille vom Kopf und seufzte.

Das Hausmädchen kam herein, um den Frühstückstisch zu decken. Wie letzte Nacht war ich gebannt von dieser Frau. In ihrem häßlichen Gesicht saß eine trotzige Grimasse, als triumphierte sie. Während sie das zerschlissene Tischtuch auflegte und die Tassen darauf stellte, trällerte sie herausfordernd vor sich hin, als wäre sie es, die dem Streit damit ein Ende bereitete.