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Kurt Tucholsky

Westend bis Köpenick

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Die Texte wurden für diesen Band
zusammengestellt von Ingrid Feix.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ebook im be.bra verlag, 2013

Inhalt

Berliner Liebe

Auf dem Potsdamer Platz gackern ja die Hühner

Berlin! Berlin!

In der Provinz

Kleiner Mann vor der Weinstube

»Manoli linksrum –!«

Dorf Berlin

Wat heißt hier Romantik!

Affenkäfig

Ein Betrunkener in der Wilhelmstraße

Die Weiße mit’m Schuß

In aller Eile

Mit meine Würde paß ick nich in den modernen Schwof

Berolina … Claire Waldoff

Motzstraße 38

Kaiserallee 150

Die Obdachlosen

Berliner Sonntag

»Machen S’ halt eine Eingabe!«

Abends nach sechs

Der Lautsprecher

Scheinwerfer durch die Nacht

Die Sonne, hoch zwei

Treptow

In den Lichtbogen schlurcht eine Schlampe in Schwarz

Dantons Tod

Plötzensee

Dada

Valeska Gert

Berliner Mutterlaut

Der Fall Knorke

Berlins Bester

»’n Augenblick mal –!«

Die Parole

Berliner Theater

Berlin und die Provinz

Bert Brechts Hauspostille

Berlin hat eine Gesellschaft, aber keine exklusive

Presseball

Geßler

Couplet für die Bier-Abteilung

Quaquaro

Raffke

Die Nachgemachten

Hat Berlin eine Gesellschaft?

Der Mann mit der Mappe

Berlin! Berlin!

In Weißensee

Alte Bäume

Ein älterer, aber leicht besoffener Herr

Abschiedsgesang

Kleines Personenerinnerungslexikon

Tucholsky und Berlin

Berliner Liebe

Steht dir der Sinn nach Liebe in den Ohren

Westend bis Köpenick:

dann senk den Blick

und unterscheide im Objekte die der Sorten:

Da gibt es Frauen mit den Scheitelhaaren,

gepunztes Silber auf dem falschen Busen,

teils im Reformkleid, teils in Eigenblusen,

die einmal – ach, wie weit! – fast reinlich waren

(jetzt dunkelweiß).

Bei Sturm und Regen

Gehen diese gern durch Wald und Flur allein,

das Lodenhütchen keck auf einem Ohre,

und sprechen mit sich selbst und mit Tagore …

Soll die es sein –?

Sie sagen Feuilletons, eh man sie legt.

Sie sind sehr edel.

Aber nicht gepflegt.

Da gibt es solche, untenrum aus Seide,

im samtnen Mantel mit dem Waschbärkragen –

nach ihren Eltern musst du sie nicht fragen.

Sie ist euch treu – und so liebt ihr drei beide.

Groß ausgehn nennt der Fachmann dein Getue.

Führ sie ins Kino, ins Theater ein!

Sie tanzt den neusten Schritt, kennt alle Paare,

hat jeden Monat frisch gefärbte Haare …

Soll die es sein –?

Sie spricht nicht viel.

Doch was sie spricht, ist Kitt.

Und sie nimmt alle süßen Ecken mit.

Willst du die Jüngerin Thaliens küren?

Sie offenbart, wenn sie mit dir im Bund ist,

was ihr Direktor für ein Schweinehund ist:

er wollt sie alle in Versuchung führen –

Das tät sie nie. (Fast nie.)

Es rinnt die Rede:

Von Proben, Premierieen, Klatscherein –

Sie meistere Spiel und Sprache wie nur wenige,

sie spiele Olala und Iphigenie …

Soll die es sein –?

Beim Papa Rickelt! Süß in allen Phasen:

Sie liebt.

Und bringt dich zeitig untern Rasen.

So geh, du Liebeswanderer, von Haus zu Haus.

Berlin ist groß.

Nun such dir eine aus!

1921 (Theobald Tiger)

Auf dem Potsdamer Platz gackern ja die Hühner

Berlin! Berlin!

Über dieser Stadt ist kein Himmel. Ob überhaupt die Sonne scheint, ist fraglich; man sieht sie jedenfalls nur, wenn sie einen blendet, will man über den Damm gehen. Über das Wetter wird zwar geschimpft, aber es ist kein Wetter in Berlin.

Der Berliner hat keine Zeit. Der Berliner ist meist aus Posen oder Breslau und hat keine Zeit. Er hat immer etwas vor, er telefoniert und verabredet sich, kommt abgehetzt zu einer Verabredung und etwas zu spät – und hat sehr viel zu tun.

In dieser Stadt wird nicht gearbeitet –, hier wird geschuftet. (Auch das Vergnügen ist hier eine Arbeit, zu der man sich vorher in die Hände spuckt, und von dem man etwas haben will.) Der Berliner ist nicht fleißig, er ist immer aufgezogen. Er hat leider ganz vergessen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind. Er würde auch noch im Himmel – vorausgesetzt, dass der Berliner in den Himmel kommt – um viere ›was vorhaben‹.

Manchmal sieht man Berlinerinnen auf ihren Balkons sitzen. Die sind an die steinernen Schachteln geklebt, die sie hier Häuser nennen, und da sitzen die Berlinerinnen und haben Pause. Sie sind gerade zwischen zwei Telefongesprächen oder warten auf eine Verabredung oder haben sich – was selten vorkommt – mit irgend etwas verfrüht – da sitzen sie und warten. Und schießen dann plötzlich, wie der Pfeil von der Sehne – zum Telefon – zur nächsten Verabredung.

Diese Stadt zieht mit gefurchter Stirne – sit venia verbo! – ihren Karren im ewig selben Gleis. Und merkt nicht, dass sie ihn im Kreise herumzieht und nicht vom Fleck kommt.

Der Berliner kann sich nicht unterhalten. Manchmal sieht man zwei Leute miteinander sprechen, aber sie unterhalten sich nicht, sondern sie sprechen nur ihre Monologe gegeneinander. Die Berliner können auch nicht zuhören. Sie warten nur ganz gespannt, bis der andere aufgehört hat, zu reden, und dann haken sie ein. Auf diese Weise werden viele berliner Konversationen geführt.

Die Berlinerin ist sachlich und klar. Auch in der Liebe. Geheimnisse hat sie nicht. Sie ist ein braves, liebes Mädel, das der galante Ortsliederdichter gern und viel feiert.

Der Berliner hat vom Leben nicht viel, es sei denn, er verdiente Geld. Geselligkeit pflegt er nicht, weil das zu viel Umstände macht – er kommt mit seinen Bekannten zusammen, beklatscht sich ein bißchen und wird um zehn Uhr schläfrig.

Der Berliner ist ein Sklave seines Apparats. Er ist Fahrgast, Theaterbesucher, Gast in den Restaurants und Angestellter. Mensch weniger. Der Apparat zupft und zerrt an seinen Nervenenden, und er gibt hemmungslos nach. Er tut alles, was die Stadt von ihm verlangt – nur leben … das leider nicht.

Der Berliner schnurrt seinen Tag herunter, und wenns fertig ist, dann ists Mühe und Arbeit gewesen. Weiter nichts. Man kann siebzig Jahre in dieser Stadt leben, ohne den geringsten Vorteil für seine unsterbliche Seele.

Früher war Berlin einmal ein gut funktionierender Apparat. Eine ausgezeichnet angefertigte Wachspuppe, die selbsttätig Arme und Beine bewegte, wenn man zehn Pfennig oben hineinwarf. Heute kann man viele Zehnpfennigstücke hineinwerfen, die Puppe bewegt sich kaum – der Apparat ist eingerostet und arbeitet nur noch träge und langsam.

Denn gar häufig wird in Berlin gestreikt. Warum –? So genau weiß man das nicht. Manche Leute sind dagegen, und manche Leute sind dafür. Warum –? So genau weiß man das nicht.

Die Berliner sind einander spinnefremd. Wenn sie sich nicht irgendwo vorgestellt sind, knurren sie sich in der Straße und in den Bahnen an, denn sie haben miteinander nicht viel Gemeinsames. Sie wollen voneinander nichts wissen, und jeder lebt ganz für sich.

Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt. Seine Vorzüge stehen im Baedeker.

In der Sommerfrische sieht der Berliner jedes Jahr, dass man auch auf der Erde leben kann. Er versuchts vier Wochen, es gelingt ihm nicht – denn er hat es nicht gelernt und weiß nicht, was das ist: leben – und wenn er dann wieder glücklich auf dem Anhalter Bahnhof landet, blinzelt er seiner Straßenbahnlinie zu und freut sich, dass er wieder in Berlin ist. Das Leben hat er vergessen.

Die Tage klappern, der Trott des täglichen Getues rollt sich ab – und wenn wir nun hundert Jahre dabei würden, wir in Berlin, was dann –? Hätten wir irgend etwas geschafft? gewirkt? Etwas für unser Leben, für unser eigentliches, inneres, wahres Leben, gehabt? Wären wir gewachsen, hätten wir uns aufgeschlossen, geblüht, hätten wir gelebt –?

Berlin! Berlin!

Als der Redakteur bis hierher gelesen hatte, runzelte er leicht die Stirn, lächelte freundlich und sagte wohlwollend zu dem vor ihm stehenden jungen Mann: »Na, na, na! Ganz so schlimm ist es denn aber doch nicht! Sie vergessen, dass auch Berlin doch immerhin seine Verdienste und Errungenschaften hat! Sachte, sachte! Sie sind noch jung, junger Mann!«

Und weil der junge Mann ein wirklich höflicher junger Mann war, wegen seiner bescheidenen Artigkeit allgemein beliebt und hochgeachtet, im Besitze etwas eigenartiger Tanzstundenmanieren, die er im vertrauten Kreise für gute Formen ausgab, nahm er den Hut ab (den er im Zimmer aufbehalten hatte), blickte gerührt gegen die Decke und sagte fromm und fest: »Gott segne diese Stadt!«1919 (Ignaz Wrobel)

In der Provinz

Ich komme von einer kleinen Reise aus der deutschen Provinz zurück. Kennt ihr die deutsche Provinz?

Die Provinz, wo sie am dicksten ist, lebt von der Abneigung gegen Berlin und von seiner heimlichen Bewunderung. Sie schimpfen auf Berlin, soweit es politisch ist – und sie sehnen sich nach Berlin, soweit es sich um das Berlin handelt, das wir Berliner gar nicht so sehr schätzen: um das zwischen zehn und zwölf Uhr.

Die Revolution, oder das, was die Deutschen so nennen, gilt für die Provinz nicht. Sie gilt vor allem für Mitteldeutschland da nicht, wo die Arbeiter nicht das politische Übergewicht haben. Da regiert etwas anderes.

Da regiert der Bürger in seiner übelsten Gestalt. Da regiert der Offizier alten Stils. Da regiert der Beamte des alten Regimes. Und wie regieren sie!

Keine Erkenntnis hat sich da Bahn gebrochen. Kein Luftzug einer neuen Zeit weht da herein. Da ist alles noch beim alten. Da ist noch der Krieg verloren worden, weil die verräterische Heimat die edle Front erdolcht hat – als ob die Front nicht aus Deutschen, aus Söhnen dieser Heimat bestanden hätte! –, da wehen noch die schwarz-weiß-roten Fahnen im Wind, da herrscht im Grunde noch Wilhelm der Zweite und, wenn er einen gehabt hätte, sein Geist.

Es ist lustig und traurig zugleich, mitanzusehen, wie das in die Gehirne nicht hereingeht: Revolution? Umwälzung? Wandlung? Entwicklung? O ja, man ist liberal – heute nennt man das ja wohl ›demokratisch‹ – man ist liberal, so wie man ehemals liberal war und wünscht – mit Maß und Ziel freilich – eine langsame Wandlung … aber nur soweit sie dem Geldbeutel nicht weh tut. Man läßt auch wohl hier und da in besonders fortschrittlich gesinnten Kreisen beim Bier den Arbeiter einen guten Mann sein. Aber nur in manchen Kreisen. (Der Stammtisch ist sonst das Blutrünstigste, was es gibt – und jeder gelernte Bolschewist würde erröten, wenn er hörte, mit welcher Unbedenklichkeit der Stammtischmann am liebsten Scheidemann und Crispien und Däumig und Ebert ›an die Wand stellen‹ lassen möchte.)

Wenns zum Klappen kommt, dann gilt der alte Trott.

Das ist ja das merkwürdige an diesem Lande – und auch Heine hat das schon gewußt, als er sagte, hier habe man mit der Denkkraft sogar den lieben Gott außer Kraft gesetzt, aber in Wahrheit regiere der Feldwebel mit seiner Knute – das ist das merkwürdige, daß alle diese Probleme und Theorien und all das, worüber wir uns den Kopf zerbrechen, in der Praxis von der handfesten Wurstigkeit stehen gebliebener Dickköpfe ignoriert werden. Wenns zum Klappen kommt, regiert fast überall ein Mann, der durch Vorbildung, Erziehung und Familientradition gar nicht mehr anders kann, als Kastenunterschiede sehen.

Und es ist ihnen das so ins Fleisch übergegangen, daß sie sich alle – Richter und Verwaltungsbeamte und Kommunalbeamte und alle, alle – nicht mehr bewußt werden, daß sie instinktiv mit zweierlei Maß messen. Die gesamte Provinz schreit Mord und Zeter, daß man Handwerker und gar Arbeiter in die Verwaltungsposten gesetzt hat, ihrer Gesinnung wegen. Aber woher sollen wir die Leute nehmen? Hat nicht ein veraltetes System jahrhundertelang diese andern – um ihrer Gesinnung willen – ausgeschlossen von der Möglichkeit, die Bildung und das Können zu erwerben? Man konnte nicht Landrat werden, wenn der Papa einen offenen Laden hatte, und man konnte es nicht, wenn man demokratisch oder sozialdemokratisch war. Sie verhinderten es. Und wundern sich nun, wenn es keinen republikanischen und demokratischen Verwaltungsbeamten gibt.

Das hält zusammen wie die Kletten. Das liest nichts anderes als seine Zeitungen, die das drucken, was der Leser haben will und den Rest verschweigen. (Wie ja der Deutsche gemeinhin leider immer nur sein Parteiblatt liest. Er sollte mehrere lesen, um einen Überblick zu bekommen.) Das bildet eine eherne Mauer – und nirgends ist sie fester als in der Provinz.

Berlin hat gewiß seine Nachteile, seine schweren Nachteile – aber in politischer Beziehung ist es ein Paradies gegen die kleinen deutschen Mittelstädte, in denen keine große Industrie liegt. Da schlägt die Uhr noch 1890 – und will nicht vorwärtsgehen.

Von der ungeheuer schwierigen Lage unserer Parteigenossen in der Provinz macht sich nur der eine Vorstellung, der sie kennt. Der Arbeiter ist schon aufzuklären – weil er, wenn auch noch so dunkel, fühlt, daß da sein Heil liegt. Aber wie schwer haben sie es, sich durchzusetzen gegen die andern! Wie schwer ist das, gegen die unzähligen, unnennbaren Schikanen deutscher Verwaltungsbeamter anzukommen! (Und das können deutsche Verwaltungsbeamte: schikanieren! Darin sind sie ganz unbestechlich.) Der Kastenunfug blüht in diesen kleinen Städten. Die Frau trägt den Titel des Mannes – obgleich doch selbst bei den Hühnern nur der Hahn seinen Kamm aufplustert und auf dem Mist Kikeriki schreit. Der Obersupernumerar steht turmhoch über dem Untersupernumerar, und jede kleine Gruppe hat ihre Spezialstandesehre, und jede hat ihre kleinen Extravorrechte, die ihr niemand rauben darf, und jede ist etwas ganz besonderes – und unter allen steht der Arbeiter. – Daher der ungeheure Abscheu vor Berlin. Berlin – das heißt: in mancher Hinsicht sind alle gleich. Berlin – das heißt: das Einkommen entscheidet nicht über den Wert, die Geburt nicht über die Tüchtigkeit des Charakters. Berlin – das heißt: Vorgesetztendämmerung. Sie hassen Berlin.

Und treiben die schwerste Obstruktion. Sie tuns in großem und tuns in kleinem. Sie sabotieren die Gesetze der Republik, wo sie können – für sie gilt das alles nicht. In einer großen Behörde in Hannover hängen noch die Kaiserbilder – es ist nicht möglich, sie herauszubekommen. Ists wirklich nicht möglich? Ich hätte sie in einem Vormittag draußen. Und wer einmal nach Rathenow zu kommen das Vergnügen hat, der sieht da die Husarenoffiziere in ihrer Friedensuniform herumlaufen, daß es eine Pracht ist, sie stehen mit ihren Lackbeinen auf dem Boden der gegebenen Tatsachen – sie sind glattes Parkett von Hofe her gewöhnt – und sie fahren noch in ihren alten Dienstwagen und genießen die alten Vorrechte … Für sie gilt das alles nicht. Hier war keine Kriegserkenntnis – hier war keine Revolution. Und wenn sie es waren: so nur, um sie abzulehnen.

Da, in den kleinen Mittelstädten, wo jeder, der nicht konservativ ist, als Bolschewist angerüpelt wird, – da ist Arbeitsfeld. Hier gilt es, unermüdlich und tagaus, tagein zu wirken. Ehre und Anerkennung jedem Parteigenossen, der hier seine Kraft ansetzt. Sein Wirken vollzieht sich nicht in der großen berliner Öffentlichkeit – er trägt keinen großen Namen davon und keinen Ruhm. Aber sein Wirken ist wertvoll für uns alle – nützlich und gar nicht zu entbehren. Diese Parteigenossen gilt es, zu unterstützen. Sie tun schwere Arbeit. Unter Tag.

In diese Städte scheint keine Sonne. In jeder steht der bürgerliche Ordnungsblock fest und treu zusammen, wenn es heißt: gegen den Fortschritt.

Ordnung …? Darf ein System von Ordnung sprechen, das in vier Jahren ein Land in den Abgrund gebracht hat und so ruiniert, wie es der schlimmste Plakatbolschewismus niemals fertig bekommen hätte? Das in vier Jahren Millionen an Toten produziert hat und Millionen Krüppel hat herausgehen lassen, nicht ohne sie vor ihrer Verletzung an Leib und Seele ›ertüchtigt‹ zu haben? Ordnung …?

Berlin hat eine große Aufgabe. Die Provinz hat eine größere. Da sitzen letzten Endes die Massen. Da heißt es: aufklären. Da heißt es die Wahrheit über den Krieg sagen und über den Staat und über alle diese etwas heiklen Dinge, von denen ein anständiger Beamter nicht spricht.

Um Berlin ist mir nicht bange – so viel da auch noch zu tun bleibt. Aber unser Dank und unsere Hilfe gelte den Missionaren da draußen im schwarzen Erdteil – da draußen in der Provinz.

1920 (Ignaz Wrobel)

Kleiner Mann vor der Weinstube

Einmal stand ich nachts um halb eins vor einer Likörstube am Potsdamer Platz. Ging ja hoch her – diddeldumdei! Da drinnen soff das durch den Versailler Schandvertrag geknebelte Volk sich kolossal einen an – die Leute, die herauskamen, schwitzten den schlechten Alkohol durch die Poren, ihre Augen waren sanft verglast, als hätten sie ein Kolleg des Theosophen Steiner mitangehört. Ab und zu kam, wie ein paar Kugeln aus der Kanone abgeschossen, ein beschwipstes Paar aus dem Laden heraus – sie immerzu lachend und er vergnügt-zornig und ununterbrochen redend. Dann entschwanden sie gen Cythere … Und drinnen toste die Schnapsschlacht weiter.

Vor dem Schaufenster aber, in dem ein paar leere Flaschen prunkend aufgebaut waren, stand ein ganz kleiner, zerlumpt anzusehender Mann. Er hatte keinen Kragen und war von oben bis unten in eine Kruste Schmutz gekleidet, die man bei sehr milder Prüfung als Anzug ansprechen konnte. Es war wohl auch einmal einer gewesen. Er hatte vergnügte kleine Äuglein, war aber vollkommen nüchtern. Ein kleiner gutmütiger Bart hing ihm schüchtern unter der Nase.

Da stand er und horchte auf den fröhlichen Lärm in der Schankverschleißstätte. Und jedes Mal, wenn ein des süßen Weines voller Mann besonders laut brüllte, dann wackelte er vergnügt mit dem Kopf, und seine Schultern zuckten. Das ganze kleine Körperchen schüttelte sich vor Vergnügen. Er war ja ganz nüchtern: aber er freute sich, daß es noch Leute gab, die das Geld hatten, sich derart zu besaufen. Er hatte kein Geld, sich einen Rausch zu kaufen: nun berauschte er sich hier an dem Schwips der andern. Das gab es also noch – Gottseidank! Und der kleine Mann strahlte.

Ich blieb zwanzig Minuten stehen und beobachtete ihn. Bei jedem Krach, bei jedem Hallo, bei jedem Schlachtgeschrei, den das Dividendenwasser den durstigen Kehlen entlockte, zuckte er zusammen und freute sich. Nach zwanzig Minuten ging er. Herzensfroh, im tiefsten befriedigt und durchaus vergnügt: er hatte sich himmlisch amüsiert und machte nun froh nach Hause. Ein zufriedner Zaungast bei der Freude der andern. Und also ein Untertan nach Hergts und Helfferichs Herzen.

1922 (Peter Panter)

»Manoli linksrum –!«

Das Leben ist nur noch in besoffenem
Zustande zu ertragen
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GOETHE

Ein friedlicher Herbstabend dämmerte auf die goldige Stadt Berlin hernieder, und dem Oberwachtmeister auf dem Potsdamer Platz war gerade der linke Arm eingeschlafen, der elektrische Bahnwagen Berlins trillerte sanft vorüber, ein Droschkenpferd ließ eine kleine Ruhrabgabe fallen, ein Auto rollte eilfertig und auf Geschäftsunkosten vorüber – da plötzlich brach etwas Schreckliches über die ahnungslose Stadt herein.

Sie wissen doch, daß die elektrische Reklame am Potsdamer Platz – ganz recht, gerade die über Josty, – daß die bisher von Herrn Andreas Kuhlow bedient wurde. Kuhlow war ein ehrsamer Bürger dieses Staates, ein bißchen doof, ein bißchen hinter den Damen her und meistens leicht angetrudelt. Aber seinen Dienst da oben, hoch über den Dächern, hatte er doch ganz gut versehen. Er pflegte da in einem kleinen Kämmerchen zu sitzen und emsig einen kleinen Hebel zu bewegen, der den Passanten die strahlenden Lichtbuchstaben zu vermitteln hatte: Zahnputzmittel, Südweine, Automobilreifen – was da so alles empfohlen wurde … Er tat das mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks und nicht ohne Phantasie. Einmal ließ er vier Zahnputzmittel und zwei Autoreifen aufleuchten, und dann wieder halbe Stunden lang nur Damenartikel und Schnäpse … Ja, Herr Kuhlow war nicht ohne. Das heißt: bis zu diesem Septemberabend war er nicht ohne. An diesem Abend war er auf einmal mit.

War es nun der Schnaps oder die letzte Rosaura, die Herrn Kuhlow beglückt hatte – er pflegte von ihr nicht anders als mit einem leichten Schnalzer zu sprechen –, am Abend des fünfzehnten schnappte er endgültig über, und es begab sich das folgende: