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Ines Thorn

Teufelsmond

Historischer Roman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Ines Thorn

Ines Thorn ist eine der erfolgreichsten Autorinnen historischer Romane. Ihre Gesamtauflage liegt bei 350000 Exemplaren. Schreiben ist ihre Berufung. Ines Thorn ist in Leipzig aufgewachsen und lebt seit 1990 in Frankfurt am Main.

Über dieses Buch

Ausgerechnet während der Raunächte, der Zeit der Toten und der Geister, wird Pater Fürchtegott zum Exorzisten berufen. Im Knüllwald sollen Nachzehrer ihr Unwesen treiben. Unterwegs schließt das kluge Mädchen Karla sich ihm an. Sie hat ihren kleinen Weiler verlassen, auf der Flucht vor einer Heirat wider Willen. In Alwerode trifft das ungleiche Gespann auf eine eingeschworene Dorfgemeinschaft, die mit dem Finger auf die Michelsmühle zeigt: Dort soll das Böse hausen; die Müller hätten die Ernte verhext, trieben Unzucht mit dem Teufel. Dann sterben immer mehr Mitglieder der Familie einen plötzlichen und unerklärlichen Tod, geschüttelt von Krämpfen, wie vom Satan besessen. Karla und Fürchtegott wissen nicht mehr, was sie glauben sollen. Wandeln die Michelsmüller wirklich nachts als Nachzehrer über den Friedhof, oder hat der Hass der Dorfbewohner Gründe, die schlimmer sind als der Teufel?

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

(Abbildung: Richard Jenkins; Antonova Christina/Shutterstock; The Haunted Mill, 1893, W. H. Murphy Grimshaw, © Guildhall Art Gallery, London/Bridgeman)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-8052-5017-7 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-20941-1

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-20941-1

Für Karla

Erstes Kapitel

NORDHESSEN IM JAHRE 1536

«Das nordhessische Landvolk, mein lieber Bruder Abt, ist im Großen und Ganzen bis zum Ekel hässlich und abstoßend. Die Weibsleute sind die dreckigsten Gestalten, die ich je gesehen habe.» Der Monsignore schüttelte sich und verzog den sichelartigen Mund, der lange gelbe Zähne verdeckte. Der Abt kniff vor Freude die vom Wein rot geränderten Schweinsäuglein zusammen und kicherte: «Sprecht weiter, lieber Freund.» Er lehnte sich behaglich in den mit Schaffellen bedeckten Lehnstuhl zurück und faltete die feisten Finger über seinem Wanst. Mit einer Handbewegung bedeutete er einem einfachen Mönch, das Kohlebecken näher zu schieben.

«Ihre Kleidung ist abscheulich. Die meisten gehen ganz in verwaschenem Schwarz und tragen die Röcke unter der Brust geschnürt, dass man gar keine Taille, wohl aber ungelenke Stampffüße bis an die Knie erblickt. Die groben Knöchel lassen an Schweinshaxen denken. Brrr!»

Der Abt kicherte wieder und rieb sich die Hände. «Und die Männer? Monsignore, sagt, sind die Männer den Weibern ebenbürtig?»

«Und ob, lieber Freund. Die Männer machen mit Grobschlächtigkeit wett, was ihnen an Wohlgestalt und Klugheit mangelt. Einmal habe ich sie nach getaner Arbeit essen sehen. Mich schaudert heute noch, wenn ich daran denke. Sie packen die zarten Hühner mit ihren schaufelgroßen Händen, schlagen ihre Zähne in das Fleisch wie hungrige Wölfe und reißen unter Schmatzen und Keuchen ganze Batzen davon heraus. Dabei laufen ihnen Fett und Blut über das Kinn, Knochensplitter verfangen sich in den wilden Bärten; sie wischen alles hernach mit dem Kittelärmel weg, schnäuzen sich eben. Sie greifen zu ihren Krügen und trinken das Bier in großen, gierigen Schlucken aus. Dann rülpsen und furzen sie und ziehen sich die quiekenden Weiber auf den Schoß.»

«Schauerlich. Was Ihr da erzählt, klingt ganz schauerlich.» Der Abt rieb sich vergnügt die Hände und nahm sich einen Keks vom Tisch, den er betont manierlich in den Mund steckte.

«Ihre Lebensart ist rau», fuhr der Monsignore fort und kostete ein Schlückchen Wein. «Halbrohes Fleisch und Branntwein, den man auch den Kindern gibt, sind ihre vorzüglichsten Nahrungsmittel.»

«Gibt es auch Händel allerorten? Tragen sie die Messer locker im Schaft?»

«Die da im tiefsten Knüllwald hocken, sind kein hochgewachsener, aber ein behänder Menschenschlag, die alle ungeheure Köpfe und Füße haben. Sie sind meistens blond und kraushaarig. Und ja, sie lassen eher die Fäuste als die Münder sprechen. Am besten meidet man sie, so gut man kann. Von der feinen Lebensart haben sie keine Vorstellung. Sie leben mehr nach der Art der Tiere, wild und ein bisschen verschlagen.»

«Vorzüglich, ganz vorzüglich!» Der Abt klatschte in die Hände. «Genau das Richtige für Pater Fürchtegott. Weit weg von hier und so verdorben, dass er für den Rest seines Lebens damit beschäftigt sein dürfte.»

«Vergesst dabei nicht, lieber Bruder Abt: Ihr schickt den Pater nicht in die Verbannung, sondern nur zeitweise fort aus Eurer unmittelbaren Umgebung. Auf ewig geht das nicht. Er hat ein Recht darauf, in einem Kloster zu leben. Für den Augenblick kann ich ihn Euch vom Halse halten. Auf Dauer müsst Ihr selbst eine Lösung finden. Der Meinung ist Euer Oheim im Übrigen auch. Ich kann nicht behaupten, dass ihn die Beschwerde des Paters amüsiert hat.»

Der Monsignore hielt seinem Gegenüber die ausgestreckte Hand hin, und der Abt warf einen Beutel mit klingenden Münzen hinein. «Mein Oheim, der Bischof, ist aber doch einverstanden?»

«Letztendlich ja, mein lieber Abt. In Euern Adern fließt das gleiche Blut. Wer, wenn nicht er, hätte Verständnis für Euern Hang zur Schönheit. Ich gebe zu, auch mir gefällt Euer Bettschatz. Wir Gottesmänner brauchen schließlich Freude, wie könnten wir den Menschen sonst die frohe Botschaft verkünden?» Der Monsignore schmatzte genüsslich, während der Abt bei der Erwähnung seines Bettschatzes die Stirn in Falten legte.

«Nun denn, lassen wir ihn rufen, den untadeligen Pater Fürchtegott.»

Der Monsignore nickte. «Vorher kann ich eine kleine Stärkung gut gebrauchen. Er ist nicht der Verträglichste, heißt es.» Er hielt einen Becher aus Silber empor, fein ziseliert, und deutete damit auf die Weinkanne.

Der Abt versorgte den Monsignore mit Nachschub, vergaß auch den eigenen Becher nicht, dann schwang er eine Glocke und gab dem herbeieilenden Mönch Anweisung, Pater Fürchtegott zu bringen, ehe er dem Monsignore antwortete: «In der Tat. Mit Abt Blasius hatte er zwar keinen Zwist. Blasius war alt und asketisch. Aber ich bin da von anderer Art. Erst ging es gut, doch seit ein paar Wochen macht er mir den Bettschatz madig, wo er kann. Sogar der Sünde hat er mich bezichtigt. In ein Kloster gehöre kein Weibsvolk, und wenn, dann höchstens in die Küche. Ich trage den Stachel der Wollust in mir, der Völlerei sowieso, und ich sei eine Gefahr für die Novizen. Und dabei erfährt unser Kloster seit neuestem einen Zuwachs, wie es ihn seit Jahrzehnten nicht gab.»

«Ich weiß, ich weiß.» Der Monsignore winkte grämlich ab. «Die Spatzen pfeifen es in Mainz von den Dächern. ‹Ora et amora› nennt man das Haus hinter vorgehaltener Hand.» Er sah den Abt streng an. «Ich kann Euch nur raten, treibt es nicht gar zu toll. Unser Kaiser ist ein frommer Mann. Er hat mehr Macht als Euer Oheim, der Erzbischof von Mainz, und seine Ohren sind überall.»

«Ach, was! Der Kaiser hat andere Sorgen. Und so schlimm geht es hier auch wieder nicht zu. Bruder Augustus hat aus freien Stücken um die Versetzung in ein anderes Kloster gebeten, und Pater Cornelius …» Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn.

«Herein, immer herein in die gute Stube!»

Pater Fürchtegott betrat den Raum. «Ihr wolltet mich sprechen, Vater.» Statt demütig den Kopf zu senken, sah er dem Abt in die Augen. Seine Kutte war abgetragen und an den Ärmeln ein wenig ausgefranst. Das Gesicht zeigte Falten, die Wangen waren eingefallen, die ganze Erscheinung wirkte, als mache sie sich nichts aus Schönheit und Anmut. Barfuß war Pater Fürchtegott in seinen Holzschuhen, die Füße blau gefroren. Der Abt schob seine weich gefütterten Ziegenlederstiefel unter den Lehnstuhl und versteckte die Hände in den Ärmeln seiner pelzverbrämten Kutte.

«Ja, in der Tat, das wollte ich, das will ich noch immer. Setzt Euch, mein Lieber.»

Pater Fürchtegott begrüßte den Monsignore, dann nahm er auf der vordersten Stuhlkante Platz, die Hände fromm im Schoß seiner Kutte gefaltet, den Blick auf das Gesicht des Abtes gerichtet.

«Nun also, lieber Bruder, es hat sich ergeben, dass Euer Dienst am Herrn dringend gebraucht wird. Andernorts», erklärte der Abt.

«Ich verstehe. Meine Beschwerde über Euer zügelloses Leben hat den Bischof erreicht.»

«Haltet ein, Pater Fürchtegott. Mäßigt Euch!» Die Stimme des Abtes wurde laut. «Und verwechselt nicht Äpfel mit Birnen. Ihr seid ein Mann der Kirche, und die Kirche bestimmt, wo Ihr ihr am besten dienen könnt. Euer Platz ist ab sofort in Nordhessen.»

«Im Kloster in Grünberg?»

Der Abt verzog den Mund, als hätte er auf einen Essigschwamm gebissen. «In Grünberg hausen die Antoniter. Außerdem liegt der Ort im Vogelsberg. Nein, Ihr geht in kein Kloster, lieber Pater.»

«Nicht? Was dann?» Pater Fürchtegott hob besorgt die Augenbrauen.

«Ab dem heutigen Tage seid Ihr vom Erzbischof von Mainz zum Exorzisten in Nordhessen bestimmt. Euer Gebiet erstreckt sich von der Schwalm über den Knüll bis zum Aulatal, genauer gesagt vom Orte Ziegenhain, welcher dem hessischen Landgrafen untersteht, bis über die Besitzungen derer von Dörnberg hinaus.»

Pater Fürchtegott fiel die Kinnlade herunter. Ungläubig starrte er seinen Vater Abt an.

«Ihr seid ein Glückspilz, Pater Fürchtegott», mischte sich nun der Monsignore ein und zeigte seine gelben Pferdezähne. «Edle Menschen, sanfte Hügel, klare Bäche, und darüber lacht die Sonne.» Er hielt seine Hände über das Kohlebecken.

«Exorzist? Wieso Exorzist? Ich bin Gelehrter und kein Teufelsjäger.» Pater Fürchtegott hatte seine Sprache wiedergefunden, aber die Worte klangen kraftlos.

«Gewiss, gewiss. Ihr seid wahrlich ein Gelehrter mit einem bescheidenen Ruf. Doch meint Ihr nicht auch, dass sich die Wissenschaft hin und wieder aus dem Elfenbeinturm hinaus- und hinein ins pralle Leben begeben muss? Ihr vergesst mir noch die Welt, wenn Ihr nur hier drinnen hockt.»

«Aber ich bin kein Satansjäger! Im Gegenteil: Ich habe eine Höllenangst vor dem Teufel», wiederholte der Pater bockig.

«Eben drum, mein Lieber. In der Heiligen Schrift steht, man soll dem Herrn mit allen Kräften dienen. Da Ihr selbst zugebt, auf diesem ausgesuchten Gebiet nicht erprobt zu sein, nun denn, so müsst Ihr eben üben.»

«Als Exorzist in Nordhessen!» Pater Fürchtegotts Stimme klang, als verläse er sein eigenes Todesurteil.

«Dort werdet Ihr gebraucht!» Der Monsignore nickte. «Aus der Grafschaft derer von Dörnberg kommen beunruhigende Nachrichten. Es heißt, ein Geheimbund hätte sich dort gegründet, der sich dem Dienst des Lazarus verschrieben hat.» Der Monsignore senkte die Stimme. «Aber unter umgekehrten Vorzeichen. Versteht Ihr mich, Pater?»

«Kein Wort, Monsignore.»

Der Monsignore seufzte und fing vom Abt einen Blick auf, in dem zu lesen stand: Hab ich’s Euch nicht gesagt?

Der Monsignore bekreuzigte sich und senkte die Stimme, als fürchte er, belauscht zu werden: «Von Nachzehrern rede ich, Pater. Von Toten, die aus den Gräbern auferstehen und Kummer und Leid über die Lebenden bringen.»

Pater Fürchtegott straffte die Schultern. «Und was genau kann ich dabei bewirken?»

«In Nordhessen, Ihr wisst, in den dunklen Tälern, da gehen die Nachzehrer um. Ihr müsst sie finden, Pater, die Nachzehrer selbst und die Ursache für ihr Auftreten. Ihr müsst sie exorzieren, damit sie Ruhe geben. Die Kirche muss zeigen, dass sie noch immer die Hoheit über derlei Dinge trägt. Diese Lazarusbrüder nämlich, die betreiben Exorzismus auf eigene Faust. Mit Mitteln, Pater, die so schrecklich sind, dass ich nicht über sie sprechen will. Sie verstoßen gegen das Gebot der Kirche, schlimmer noch, sie machen uns Konkurrenz. Das muss aufhören, Pater. Und Ihr werdet dafür sorgen.»

Er bekreuzigte sich erneut. Beschwörend fuhr er fort: «Wir können die guten Menschen dort nicht ohne Beistand lassen. Ihr werdet gebraucht, Pater, sofort. Manch einer ist schon ganz verzagt.»

Pater Fürchtegott klappte den Mund wieder zu und warf misstrauische Blicke vom Abt zum Monsignore und wieder zurück. «Es gibt Brüder, die sind für so eine Aufgabe besser geeignet als ich.»

«Aber nein!» Der Abt schüttelte energisch den Kopf. «Ihr, lieber Bruder, seid der einzig Richtige. In einer Zeit, in der teuflische Dinge geschehen und der Aberglaube Blüten treibt, muss ein Gelehrter sich dieser Dinge annehmen. Jemand, der dem Teufelswerk mit Verstand und Spiritualität beizukommen vermag!»

«Ihr wisst doch aber, mit meiner Menschenkenntnis ist es nicht weit her. Und von Dämonen weiß ich rein gar nichts. Nur das, was in der Heiligen Schrift steht.»

Der Monsignore stöhnte, und der Abt faltete die Hände und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. «Jetzt seid doch nicht so stur, Pater. Gehorchen müsst Ihr ohnehin. Den Verstand, der da unten in den grauen Wäldern dringend gebraucht wird, den habt Ihr. Und der Heilige Geist wird über Euch kommen, wenn Ihr ihn nötig habt.»

Pater Fürchtegott seufzte und erhob sich. «Wann soll ich aufbrechen?»

Der Abt entspannte sich. «Eile mit Weile, mein Lieber. Morgen früh, gleich nach den Laudes. In der Klosterküche wird Proviant für Euch bereitliegen. Und weil Ihr so einsichtig seid, gebe ich Euch noch einen guten Tropfen anbei.»

«Schon morgen früh? Wir sind im Advent. Den Heiligen Abend würde ich gern noch mit meinen Brüdern feiern.»

«Ich verstehe, mein Lieber, ich verstehe Euch nur zu gut. Doch nach dem Heiligen Abend kommen die Raunächte. Ihr wisst um ihre Bedeutung», flüsterte der Monsignore.

«Das will ich meinen», warf der Abt ein. «Unser Pater hier, der von den Menschen nichts wissen will, hat sicher mehr über die Raunächte gelesen als Ihr und ich zusammen.»

Pater Fürchtegott nickte. Sein Gesicht war blass geworden. «Die Raunächte, die Nächte zwischen den Zeiten.» Seine Stimme klang dunkel. «Es heißt, in den Tagen und Nächten zwischen dem Heiligen Abend und dem Tag der Heiligen Drei Könige sind die Naturgesetze außer Kraft, die Grenzen zu den anderen Welten durchlässig. Geister werden beschworen, Menschen verwandeln sich in Tiere. Tiere reden mit menschlicher Stimme. Die Orakel sprechen. Und zur Mitte der Raunächte, an Silvester, da findet die wilde Jagd statt.»

Pater Fürchtegotts Stimme klang von Satz zu Satz düsterer. Der Abt verzog ängstlich das Gesicht und griff haltsuchend nach seinem Weinbecher. Der Monsignore drückte das Kreuz fest an die Stuhllehne, der Mönch, der seine Dienste in Bereitschaft hielt, griff nach dem Rosenkranz. Seine Lippen murmelten ein stummes Gebet.

«Das Geisterreich öffnet zu Silvester seine Pforten, und die Seelen der Verstorbenen kommen in die Welt der Lebenden zurück, begleitet von allen Dämonen der Hölle. Menschen, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben, verwandeln sich in Werwölfe, in den Häusern hört man Ketten im Kamin rasseln, Gegenstände fallen vom Tisch, Türen und Fenster öffnen sich, und die Kerzen malen Schatten an die Wand, die in Wirklichkeit Gespenster sind …»

«Hört auf, hört auf, Pater! Mich graut es bei diesen Geschichten.» Der Abt schüttelte sich. «Gleichwohl müsst Ihr einsehen, dass es wohl kaum einen geeigneteren Zeitpunkt gibt, Euer Amt als Exorzist anzutreten. Wann, wenn nicht in den Raunächten, könnte man dem Teufel besser auf die Spur kommen?»

Pater Fürchtegott hatte den Blick in die Ferne gerichtet und sprach weiter mit dieser seltsamen dunklen Stimme: «An Silvester, Schlag Mitternacht, sprechen die Tiere im Stall mit menschlicher Stimme. Und jeder, der sie hört, muss sterben.»

Der Abt begann zu zittern, und der Monsignore fingerte nach seinem Rosenkranz.

«An einigen Orten beschweren sich die Tiere bei den Geistern über ihre Herren. Und wehe dem, der sein Vieh geschlagen hat!»

«Genug, ich bitte Euch, Pater!» Das Gesicht des Abtes war aschfahl geworden.

«Unverheiratete Frauen laufen zu den Kreuzwegen, um ihre zukünftigen Ehemänner zu erblicken. Aber Vorsicht!»

Pater Fürchtegott hob den Finger. «Schweigen müssen die Weiber, wenn der Liebste vorübergeht. Tun sie es nicht, ist ihnen der Tod gewiss.»

Er sah dem Monsignore in die Augen. «Habt Ihr Euch etwa noch nie gefragt, woher die vielen jungen Weiber auf den Friedhöfen kommen?»

Der Monsignore schluckte.

«Schluss jetzt!» Der Abt ließ die Faust auf den Tisch krachen, dass die Weinpokale klirrten. «Ammenmärchen. Nichts als Ammenmärchen sind das.» Er wandte sich an den Monsignore. «Oder habt Ihr an Silvester schon einmal einen Werwolf gesehen?»

Der Monsignore schluckte wieder und dachte an das gewaltige zottige Vieh, welches ihm im letzten Jahr am Silvesterabend erschienen war. Er war auf dem Heimweg von seinem Liebchen gewesen. Und das gräuliche Tier hatte sich ihm zugesellt. Stumm war es neben ihm hergetrottet und hatte dabei einen Blick! Dem Monsignore schwindelte jetzt noch. Gleich am nächsten Tag hatte er seinem Liebchen den Abschied gegeben. Denn wer sonst als sie konnte die Bestie gewesen sein? Der Monsignore hatte Mühe, das Zittern seiner Hände zu verbergen.

«Ihr geht, und zwar morgen früh.» Der Abt funkelte den Pater drohend an. «Kein Widerwort!»

Pater Fürchtegott zuckte mit keiner Wimper.

«Unter einer Bedingung.»

«Pater! Wir sind doch hier nicht im Tempel!»

«Steht in der Bibel nicht: ‹Eine Hand wäscht die andere›?», fragte der Pater mit Unschuldsmiene. «Oder ist Euch ‹Auge um Auge, Zahn um Zahn› lieber?»

Der Abt schnappte nach Luft, der Monsignore fauchte: «Wie lautet Eure Bedingung?»

«Ich möchte nach Erledigung meiner Aufgabe draußen in der Welt zurück hinter Klostermauern. Hinter diese Klostermauern.»

Der Abt machte dem Monsignore hinter Pater Fürchtegotts Rücken heimlich Zeichen, doch der Vertreter des Erzbischofs reagierte nicht. «Abgemacht, Pater. Gleich morgen früh zieht Ihr von dannen. Und wenn es in Nordhessen nichts mehr zu tun gibt, wenn Ihr das Gebiet von allen Übeln befreit habt, dann kommt Ihr zurück in die warmen Arme des Klosters.»

«Was heißt hier von allen Übeln? Bisher war nur von Nachzehrern die Rede.» Misstrauen stand im Gesicht des Paters.

Der Monsignore winkte ab. «Nur eine Redensart, nichts weiter. Kümmert Euch um diese Wiedergänger dort, und dann ist Euch der Dank des Herrn und der Mutter Kirche gewiss.»

Zweites Kapitel

Die Zeit des Sterbens, der Samhain, hatte begonnen. Die alte Grit hatte den Monat November immer so genannt, weil sich viele alte Leute aus Angst vor den trüben Wochen und der Kälte zum Sterben anschickten. Sie hockten sich nahe ans Feuer, obwohl die Glut ihre alten Knochen längst nicht mehr wärmte. Sie krochen unter Kissen und Decken, aßen so wenig wie möglich, bis sie schließlich starben, und ihre Leichen mussten oft bis zum Frühjahr auf das Begräbnis warten, weil der Boden gefroren war. Die alte Grit hatte erzählt, dass sich in der alten Zeit die Seelen um den November-Neumond herum neue Mütter aussuchten. Deshalb nannte man den Novemberanfang auch Allerseelen.

In diesem Jahr war im Weiler erst ein Mensch gestorben. Die Grit.

Das Kind der Seifensiederin lag elend danieder, aber das würde schon wieder werden. Das Kind war jung und kräftig. Die alte Grit war es nicht gewesen. Wenigstens nicht in letzter Zeit.

Sie hatte kaum ihre Seele ausgehaucht, da kamen schon die Dörfler und schleppten sie zum Friedhof. Ihr Leib war noch warm, als die ersten Erdbrocken auf sie fielen. Sie hatten nicht einmal nach dem Priester geschickt. Nur rasch loswerden wollten sie die alte Grit. Und kaum war sie verscharrt, da stürmten sie schon ihre Hütte, rissen raus und zerrten fort, was nicht festgenagelt war. Der Letzte dann, es war der Schmiedsohn Leberecht, zündete die Kate an. Jetzt war dort, wo sie gestanden hatte, nur noch ein schwarzer Fleck zwischen zu Kohle verbrannten Balken.

Karla sah zu den Wolken hinauf, die den Wald und seine Umgebung in einen dichten Umhang aus Nieselregen hüllten. Nebel wallten über die Wiesen und Weiden. Ein Pferdekopf ragte daraus hervor wie aus dichtem Rauch. Die Bäume dahinter, grau und mächtig, neigten ihre Kronen vor dem Wind. Karla fror und zog ihr Umschlagtuch fester um sich. Peter, ihr ältester Bruder, war gestern auf der Jagd gewesen. Er hatte Wolfsspuren gefunden. Ganz nahe bei den letzten Hütten vor dem Wald. Ihre Stiefmutter hatte deshalb befohlen, die Ziege und das dürre Schaf hereinzuholen, damit sie den Winter gemeinsam mit der Familie in der geduckten Kate verbrachten. Sie hatte schon einen Teil des ohnehin zu kleinen Raumes abgeteilt, sodass die sechs Kinder in der Nacht noch enger auf dem Boden zusammenrücken mussten. Der Gestank würde noch schlimmer werden, und Karla würde in der Nacht oft erwachen und das Gefühl haben zu ersticken. Ihr graute vor den dunklen Tagen, in denen draußen der Sturm heulte und die Schneeflocken waagerecht gegen die Hütten trieb. Aber ihr graute auch vor dem Frühjahr, vor dem Sommer und dem Herbst. Ihr graute vor dem Leben hier.

Karla übersah den kleinen Marktflecken mitten im Lüttergrund mit einem hasserfüllten Blick: den engen Weiler mit seinen Bewohnern, die niemals über den Waldrand hinausgegangen waren, gerade mal ein Dutzend dumpfer Katen, in denen Dummheit und Aberglaube wohnten, die maulfaulen Männer mit den hageren rohen Gesichtern und Händen, die zu gern nach den Frauen griffen oder schlugen, und die Frauen, die vergrämt an den Feuerstellen oder Waschtrögen standen und alles ertrugen, weil sie eben Frauen waren. Und nicht zuletzt hasste Karla die ewig gleichen Worte dieser Frauen, die ihr schon beim ersten Anhören hohl vorgekommen waren. «Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen» und «Du sollst den Platz nicht verlassen, auf den Gott dich gestellt hat» und «Gehorche deinem Mann, denn er ist auf Erden dein Gott».

«Gott zum Gruße, Karla. Ist dir kalt? Dann komm her, ich werde dir einheizen unter deinen Röcken. Bist jetzt wie alt? Sechzehn Lenze, nicht wahr? Wird langsam Zeit, dass dich mal einer zum Weibe macht.» Knallendes Gelächter. Als würde eine Ziege in einen Blechzuber pinkeln. Vor Karla stand Leberecht, der Sohn des Schmiedes. Seine riesigen Pranken griffen nach ihrem Umschlagtuch. Sein rotes Gesicht leuchtete, die dünnen blonden Haare klebten auf dem Kopf.

«Pfoten weg!», zischte Karla.

Leberecht kniff Karla in die Wange, dass sie aufstöhnte. «Nicht mehr lange, dann bist du mein Weib. Und dann kann ich unter deine Röcke, wann immer es mir passt.»

Leberechts Rattenaugen funkelten. Er leckte sich mit der Zunge über die feuchten Lippen und kraulte sein feistes Doppelkinn. «Hm, das wird ein Vergnügen. Ich werde dich nehmen, wo es mir beliebt, und dir ein Dutzend Kinder machen. Unter dem Küchentisch, im Stall, rittlings auf den Sauerkrautfässern im Keller. Und du wirst die Blagen großziehen und mir jeden Tag ein warmes Mahl kochen. Du wirst mich verwöhnen und mir jeden Wunsch von den Augen ablesen.»

«Niemals!» Karla ballte die Hände zu Fäusten. «Eher heirate ich unsere Ziege, als mit dir das Lager zu teilen.»

Die Maulschelle traf sie mitten auf die rechte Wange. Leberecht beugte sich zu ihr, so nah, dass sie seinen fauligen Atem riechen konnte. «Du wirst mir gehorchen. Wenn nicht freiwillig, dann werde ich dich zwingen. Merk dir das, Karla, es ist ein Leichtes, den Willen eines Weibes zu brechen. Schließlich ist der Mann der Herr und das Weib die Magd.»

Er spuckte vor ihr aus, warf ihr einen abschätzigen Blick zu und stapfte davon. Wie ein Sauerkrautfass auf Beinen, dachte Karla und presste eine Hand auf die glühende Wange. Wieder hat er mich geschlagen, auf die gleiche Stelle, dachte sie. Sie sah ihm nach, wie er zwischen den Marktbuden verschwand, am Glühweinstand stehen blieb und sich einen großen Becher Würzwein bestellte. Ab und zu schielte er zu ihr herüber, und Karla wusste, wie es weitergehen würde. Leberecht würde sich Mut antrinken, dann würde er ihr nachstellen, unter ihre Röcke langen, in ihre Brüste kneifen, ihr seinen sauren Weinatem ins Gesicht blasen und seine Zunge, die wie ein Putzlumpen schmeckte, in ihre Mundhöhle stoßen. Und sie würde sich wieder gegen ihn wehren müssen, würde mit dem Knie in seine Leibesmitte zielen, dass er von ihr abließ, und einen Tag später würde er sich bei ihrem Vater beschweren, und der Vater würde der Stiefmutter berichten, und die würde dann den Schürhaken nehmen und Karla verdreschen, bis sie nicht mehr sitzen konnte. «Wie kannst du es wagen, Leberecht so auf der Nase herumzutanzen? Er ist der Sohn des Schmiedes. Eine bessere Partie gibt es hier nicht. Froh solltest du sein, dass er dich will!» Und Karla würde die Schläge über sich ergehen lassen und dabei denken: Niemals werde ich Leberechts Frau. Und sie würde sich fragen, ob ihre richtige Mutter, die im Kindbett gestorben war, sie auch mit diesem Widerling verheiratet hätte.

Gerade jetzt schielte er wieder zu ihr herüber und schüttete einen halben Becher Würzwein in sich hinein.

Ich muss fort von hier, dachte Karla. Am besten noch heute. Ich habe die Nase voll von dem Leben hier und von Leberecht erst recht. Wenn ich an meine Zukunft denke, dann graut mir. Nicht einmal die Grit ist mir geblieben.

Ein Mönch näherte sich dem Glühweinstand, und im selben Augenblick knallte Leberecht seinen leeren Becher auf das Holzbrett und verschwand in Richtung Schmiede.

Karla beobachtete den Mönch aufmerksam, schlenderte dabei ein wenig näher. Gerade mal sechs Händler hatten ihre Buden aufgebaut. Karla blieb vor dem Stand des Schlachters stehen und tat, als betrachte sie die gelben Hühnerbeine, aus denen die Stiefmutter immer Suppe kochte. Ein halber Hammel hing an einem Haken, die blaue Zunge hing ihm aus dem Maul. Dunkelrote Leberbatzen lagen auf der Auslage, ferkelfarbene Kuheuter, zerfaserte Lungen und Nieren, an denen das Fett klebte. In einem Holzkäfig flatterten ein paar Hühner herum. Junge, fette Gänse schnatterten aufgeregt ihrem Tod entgegen.

Daneben hatte eine Händlerin ihre Bude aufgebaut, die mit Stricken und Bändern handelte. In ihrer Auslage hatte sie Töpfe und Becher stehen. Daneben lagen in einem Kästchen geschnitzte Kämme, und an der Seite stand ein halbes Dutzend frischgebundene Reisigbesen.

Am Stand daneben hingen frischgegerbte Schaffelle. Der Händler trug eine Mütze aus Marderhaar auf dem Kopf, und seine Hände steckten in pelzgefütterten Handschuhen. Als Karla stehen blieb und mit der Hand über ein feingewebtes und mit Kaninchenfell verbrämtes Umschlagtuch strich, beugte er sich zu ihr: «Ich habe ein frisches Hirschkalb. Sag’s deiner Mutter. Auch Kaninchen sind noch da. Wenn’s sein muss, kann ich auch ein Rebhuhn und zwei Auerhähne abgeben.» Karla nickte, ohne seinen Worten wirklich Beachtung zu schenken. Sie wusste, dass der Mann ein Fallensteller war, der in den Wäldern Tiere jagte. Aber ihre Stiefmutter würde kein Geld haben für Wild.

Karla ging weiter. Jetzt trennte sie und den Mönch nur noch der Stand mit Spezereien und Zuckerkringeln. Tief atmete Karla den Duft ein. Wann hatte sie zuletzt einen solchen Kringel gegessen? Das musste Jahre her sein. Einmal hatte die Grit welche gebacken, aber Karla hatte ihren Kringel nicht gegessen, sondern für die jüngeren Geschwister mit nach Hause genommen. Doch die Stiefmutter hatte das Gebäck in den Abfallgraben geworfen. «Von der essen wir nichts.»

Mittlerweile stand Karla nur ein paar Meter von dem Mönch entfernt und sah ihn nachdenklich an. Sein Haar war zu lang, der Bart zu dicht, die Kutte unten am Saum verschlissen und mit Schlamm bedeckt. Das hieß, er war schon eine Weile unterwegs und würde wohl auch hier nicht bleiben. Seine Hände wirkten zu klein für den beinahe muskellosen Körper. Der Mittelfinger der rechten Hand zeigte seitlich eine Verhornung. Also war er einer, der viel schrieb oder geschrieben hatte. Außerdem war der Mönch arm. Oder geizig. Aber nein, Mönche waren niemals geizig, denn sie gaben ja das Geld anderer Leute aus. Also war er doch arm. Er hatte ein hageres Gesicht mit hohlen Wangen und einer schmalen langen Nase. An seiner Kapuze hatten sich ein paar Strohhalme verfangen. Daraus schloss Karla, dass der Mönch kein Geld für eine Herberge hatte, sondern des Nachts in einem Heuschober Unterschlupf suchen musste. Für ein Mitglied des reichen Benediktinerordens war das ungewöhnlich, das wusste selbst Karla, die bisher nicht mehr als eine Handvoll Mönche gesehen hatte. Aber sogar im finstersten Tal kannte man den Orden, dem sie hier Abgaben zu entrichten hatten. Der schickte seine Mönche niemals ohne Mittel und nur selten allein auf Wanderschaft. Also war dieser Benediktiner hier entweder ein Klosterflüchtling oder ein Ausgestoßener. Vielleicht war er aber auch einer, der sein Armuts- und Keuschheitsgelöbnis ernst nahm. Der an seinem Glauben festhielt. So, wie die alte Grit an ihrem Glauben festgehalten hatte.

Der Mönch bat am benachbarten Käsestand um ein Bröckchen Quark. Seine Stimme klang ein wenig rau und sanft zugleich. Im selben Augenblick sah Karla, dass sich ein Junge näherte, der sich hastig nach allen Seiten umsah und immer dichter an den Mönch heranschlich.

Da kam Karla ein Gedanke, so verlockend schön und warm wie eine zarte Frühlingsbrise. Plötzlich wusste sie, dass jener Mönch der Ausweg war, nach dem sie verzweifelt gesucht hatte.

Sie duckte sich unter die Plane einer Marktbude und beobachtete, wie der Junge dem Mönch den Beutel vom Gürtel schnitt und davon rannte. Als er an ihr vorbeilief, schob sie ein Bein nach vorn, sodass der Junge darüber stolperte und hinfiel. Dann packte sie den Knaben beim Kragen und zerrte ihn zwischen zwei Marktbuden.

«He, was soll das?», beschwerte sich der Junge. «Was ist los mit dir? Der Mönch ist ein Fremder. Kein Grund, mich aufzuhalten.»

«Ach, und du denkst, nur weil er nicht von hier ist, darfst du ihm unbesorgt den Beutel schneiden? Gib die Börse her.»

Der Junge presste sein Diebesgut fest an sich und sah Karla finster an. «Nein. Niemand hat etwas dagegen, dass Fremde beklaut werden. Das war schon immer so. Das weißt du genau, Karla.»

«Ja, das weiß ich. Und ich weiß auch, dass du in diesem Jahr schon die einzigen zwei Durchreisenden bestohlen hast.»

«Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, sagt meine Mutter.»

«Der Mönch ist arm; er muss sogar im Heu übernachten. Die Armen bestiehlt man nicht. Das ist ehrlos. Hast du verstanden?»

Der Junge blickte bockig auf seine Füße, bis Karla ihn schüttelte. «Hast du mich verstanden, oder muss ich erst mit deinem großen Bruder reden? Willst du dir eine Tracht Prügel von ihm einhandeln, weil du so ungeschickt warst, dich erwischen zu lassen? Von mir? Einem Weib?»

Der Junge schüttelte den Kopf.

«Also los, gib die Börse her!»

Widerwillig reichte der Kleine Karla die Beute. «Du sagst ihm nichts, versprochen?»

«Versprochen. Und jetzt mach, dass du verschwindest. Wenn du gefragt wirst, hast du mich nicht gesehen. Ist das klar?»

Der Junge sah Karla mit großen Augen an. «Willst du das Geld etwa selbst behalten?»

«Nein. Natürlich nicht. Ich bin keine Beutelschneiderin. Wenn der Mönch den Weiler verlässt, passe ich ihn ab und gebe ihm sein Eigentum zurück. Er ist ein Gottesmann. Solche bestiehlt man schon gar nicht. Das ist, als würde man Gott selbst beklauen. Verstehst du?»

Der Junge nickte und rannte davon, sobald Karla den Griff an seinem Kragen gelockert hatte.

Karla steckte die Börse des Mönches ein und wartete.

Der Mönch aß den Quark und das Brot, trank seinen Würzwein aus und schaute nach dem Stand der Sonne. Karla tat es ihm nach. Es war später Vormittag. Die Stiefmutter würde schon auf sie warten. Nur schnell ein wenig Schmalz hatte sie einkaufen sollen und dann sogleich zurückkommen, um die Wäsche zu waschen und auf die jüngeren Stiefgeschwister aufzupassen. In ihrer rechten Hand hielt sie die kleine Kupfermünze. Karla sah an sich herab. Sie hatte ihre ausgebesserten Holzschuhe an, dazu dicke Strümpfe, ein einfaches blaues Tuchkleid, das an den Unterarmen und den Ellbogen schon ganz speckig war. Darüber trug sie einen derben braunen Umhang, der von einer einfachen Messingschließe zusammengehalten wurde, und einen grobgestrickten Schal, der ihr den Hals aufkratzte. Nicht viel Kleidung für einen Tag im November. Jetzt bedauerte Karla, dass sie ihre Schaffellweste und die Handschuhe nicht dabei hatte. Aber eine solche Gelegenheit würde sich so schnell nicht wieder ergeben. Sie dachte an die Stiefmutter, die ewig nörgelte und der sie nichts recht machen konnte. Und sie dachte an Leberecht, mit dem sie sich an Weihnachten verloben und den sie an Ostern heiraten sollte. Karla schüttelte den Kopf und stampfte mit beiden Füßen auf. Nein, sie würde nicht länger hier bleiben. Heute war ihr Glückstag. Heute würde sie den Weiler verlassen. Der Mönch war ihr von Gott geschickt worden. An seiner Seite konnte ihr nichts passieren. Sie würde ihn bis in die nächste größere Stadt begleiten. Ganz gleich, in welche. Nach Fulda vielleicht. Oder nach Marburg, nach Kassel, nach Eisenach oder auch nur nach Hersfeld. Und in der Stadt würde sie ihr Glück machen. Womöglich fand sie eine Stellung als Magd. Vielleicht konnte sie bei einem Bauern helfen. Am Ende würde noch ihr größter Wunsch in Erfüllung gehen, und sie fand Arbeit in einem Kloster und konnte in ihrer Freizeit von den Nonnen das Lesen und Schreiben lernen. Vielleicht endete sie nur als Wäscherin. Aber auch das war besser, als für den Rest des Lebens im Lüttergrund zu bleiben. Alles war besser, als hier zu bleiben.

Drittes Kapitel

Pater Fürchtegott war seit Wochen allein unterwegs.

Er war in Mainz aufgebrochen, hatte Frankfurt gestreift, in Vilbel seine Kutte zerrissen, in Ilbenstadt einer Tagelöhnerin die Sterbesakramente gegeben, in Grünberg bei den Antonitern übernachtet und in Alsfeld den letzten Tropfen Klosterwein aus seinem Proviant getrunken.

Jetzt stand er in einem kleinen Weiler mitten im Lüttergrund an einem Käsestand, betrachtete die Menschen ringsum und seufzte. Das Käseweib hatte ihn argwöhnisch gemustert, ein Mann mit schweren Händen hatte ihn gerempelt, und dort drüben das Mädchen da im dünnen Umschlagtuch starrte ihn mit brennenden Augen an.

Wieder seufzte er und verfluchte den Abt. Was, zum Kuckuck, sollte er hier? Sein Platz war in einem Kloster, am Schreibpult und nicht zwischen den Menschen.

«Sagt, gute Frau, habt Ihr je von einer geheimen Bruderschaft gehört?», fragte er.

Das Käseweib verschränkte die Arme vor der Brust. «Geheime Bruderschaft? Wenn ich davon wüsste, wäre sie wohl kaum geheim.» Sie schüttelte den Kopf.

«Und die Lazarusbrüder? Gibt es die hier bei Euch?»

«Die Lazarusbrüder? Nein. Hier gibt es nur die Schusterbrüder und die beiden Brüder der Seifensiederin.»

Pater Fürchtegott mühte sich um Freundlichkeit, wusste aber nicht genau, ob das Käseweib so dumm war, wie es sich stellte. «Und wie steht es um das Seelenheil derer, die hier leben?»

Das Käseweib kniff die Augen zusammen. «Warum fragt Ihr? Was wollt Ihr wissen? Alle zwei Wochen kommt ein Pater aus dem nahen Kloster und nimmt uns die Beichte ab.»

Pater Fürchtegott blickte in das zugesperrte Gesicht der Frau und von dort auf ihre unter der Brust verschränkten Arme. Von der würde er kein Sterbenswörtchen mehr erfahren. Hier würde es ihm genauso ergehen wie all die Tage vorher. Verschlossene Gesichter, zusammengepresste Münder, verschränkte Arme. Als ob er die Pest hätte!

Wenn keiner mit ihm sprach, wie sollte er dann jemals seine Mission erfüllen?

«Eine letzte Frage noch, Weib. Habt Ihr je von Nachzehrern gehört? Man sagt, die Lazarusbrüder machen Jagd auf sie. Sie sollen den Menschen, die von Nachzehrern geplagt werden, helfen, allerdings nicht im Namen der Kirche.»

Das Weib wurde blass und schlug rasch ein Kreuzzeichen. «Von so etwas spricht man nicht», zischte sie. «Das hieße den Teufel an die Wand malen.»

«Also habt Ihr von solchen gehört?» Pater Fürchtegott versuchte ein freundliches Lächeln. Aber das Weib hatte sich abgewandt und wühlte in ihren Körben herum, bemüht, beschäftigt zu wirken. Mit hochgerecktem Hintern fragte sie: «Ist sonst noch was?»

«Nein, nein. Habt vielen Dank. Gottes Segen wünsche ich Euch.»

Pater Fürchtegott seufzte, dann machte er sich auf den Weg. Wollte er heute noch bis zu einem größeren Ort kommen, musste er sich sputen. Er sah zum Himmel hinauf. Dicke graue Wolken drängten sich aneinander wie die Weiber beim Maientanz und wurden von einem heftigen Wind vorwärtsgetrieben. Bestimmt würde es bald heftig zu regnen beginnen. Kalte, spitze Tropfen, die sich in die Haut bohrten und die Kutte im Nu durchtränkten.

«Herr, steh mir bei», murmelte der Pater, stieg eine kleine Höhe hinauf und bog in einen Waldweg ein. Einmal noch drehte er sich um. Von dem Weiler war nichts mehr zu sehen. Nur ein paar dünne Rauchsäulen stiegen aus dem Tal auf.

«Pater?»

Pater Fürchtegott schrak zusammen und tat einen Satz vorwärts. Dann presste er die Hand auf sein wild schlagendes Herz. «Gott, Kind, hast du mich erschreckt. Was willst du? Habe ich dich nicht auf dem Markt da unten gesehen?»

Karla nickte. «Hier, Eure Börse. Sie wurde Euch gestohlen.»

Verwirrt tastete Pater Fürchtegott nach seinem Gürtel. Aber da war nichts.

«Wo hast du die her?»

«Dem Dieb abgejagt.» Sie lachte.

«Nun, dann danke ich dir sehr.» Pater Fürchtegott wollte nach der Börse greifen, aber das Mädchen riss sie im letzten Augenblick weg.

«Ihr kriegt sie. Aber dafür will ich auch etwas von Euch.»

«Von mir? Was kannst du schon von mir wollen?»

«Ihr sollt mich mitnehmen. Ich werde Euch begleiten, Eure Reisegefährtin sein.»

«Wie?» Pater Fürchtegott runzelte die Stirn. «Mich begleiten? Du weißt doch gar nicht, wohin mein Weg mich führt.»

«Das ist mir gleich. Hauptsache, ich komme weg von hier.»

Der Pater betrachtete das Mädchen. Sie war klein und schmal. Unter ihrer Kapuze ringelte sich eine braune Locke auf der Stirn. Ihre grauen Augen sahen ihn flehend an. Die zarten Nasenflügel zitterten leicht, und sie hatte die feingeschwungene Unterlippe zwischen die Zähne gezogen. Ihr Blick aber war entschlossen.

«Du meinst es ernst, wie? Die Börse kann ich in den Wind schreiben, wenn ich dich nicht mitnehme, oder?»

Das Mädchen nickte.

«Hast du etwas angestellt? Bist du auf der Flucht vor deiner gerechten Strafe?»

«Pah!» Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken. «Angestellt habe ich nichts. Ich will nur weg von hier, weg aus dieser öden, trostlosen Gegend mit den öden, trostlosen Menschen.»

«Ein Weib soll nicht in der Welt herumwandern, es soll an der Seite eines Mannes bleiben, heiraten und Kinder kriegen. So will es Gott. Willst du dich gegen den Herrn auflehnen?»

Das Mädchen schüttelte den Kopf. «Nicht gegen Gott. Aber gegen Leberecht. Und gegen die Stiefmutter. Und gegen den Weiler und das Leben dort.»

«Aha.» Der Pater betrachtete das Mädchen genauer. Sie hat einen klugen Blick, dachte er. «Und was willst du stattdessen?»

«Lernen», erwiderte sie schlicht. «Schreiben und Lesen und auch sonst alles, was es zu lernen gibt. Ich möchte mir eine Anstellung suchen und arbeiten. Eine gute Magd würde ich schon abgeben. Eine Mitgift werde ich mir zusammensparen. Und dann den heiraten, der mir am besten gefällt.»

«Hirngespinste!» Pater Fürchtegott machte eine wegwerfende Handbewegung. «Eine Frau gehört ins Haus. Wohin soll das führen, wenn die Weiber lesen und schreiben können? Schon in der Bibel, genauer gesagt im Paulusbrief, steht: ‹Aber, wie nun die Gemeinde ist Christo untertan, also auch die Weiber ihren Männern in allen Dingen.›»

Das Mädchen lächelte listig. «Seht Ihr, Pater, ich will ja auch ganz untertan sein unserem Herrn. Deshalb vertraue ich mich Euch an. Ist es nicht besser, einem Pater zu dienen, als der Geilheit eines dummen Schmiedes?»

Verblüfft suchte Pater Fürchtegott nach einer Antwort. «Aber, aber», stammelte er. «Die Frau ist ein Missgriff der Natur mit ihrem Feuchtigkeitsüberschuss und ihrer Untertemperatur. Körperlich und geistig minderwertiger … eine Art verstümmelter, verfehlter, misslungener Mann. Die volle Verwirklichung der menschlichen Art ist nur der Mann. Das hat Thomas von Aquin, ein berühmter Kirchenlehrer, gesagt.»

Das Mädchen zuckte die Achseln. «Dann wird das wohl so stimmen. Und Ihr seht selbst, dass es deswegen besser ist, Ihr kümmert Euch um mich, als mich dem rohen Kerl im Weiler zu überlassen.»

Pater Fürchtegott rang die Hände und schickte einen flehentlichen Blick zum Himmel. Die Wolken hatten sich verzogen, und eine blasse Novembersonne schien über den Baumwipfeln.

«Nichts Schändlicheres gibt es als das Weib, durch nichts richtet der Teufel mehr Menschen zugrunde als durch das Weib.»

«Hat das auch Euer Kirchenlehrer gesagt?»

«Nicht Thomas von Aquin, sondern ein anderer. Der heilige Anselm von Canterbury nämlich.»

Pater Fürchtegott musterte das Mädchen eingehender. Sie würde wahrlich nicht weichen. Außerdem hatte sie seine Börse.

«Also gut. Ich nehme dich mit bis zur nächsten Stadt oder zum nächsten größeren Ort. Aber keinen Schritt weiter.»

Das Mädchen lächelte und streckte dem Pater die Hand hin. «Ich heiße Karla.»

«Hocherfreut», murmelte der Pater. «Pater Fürchtegott.»

Die beiden machten sich auf den Weg. Schweigend liefen sie nebeneinander her. Nur manchmal deutete Karla auf dieses oder jenes am Wegesrand. «Seht, Pater, den kleinen Pfad dort. Das ist ein Wildwechsel.» Oder: «Da oben kreist eine Gabelweihe. Wahrscheinlich liegt ein Stück Aas auf dem Acker.» Oder, auf einen Baum zeigend: «Wenn die Lärche im November wirft ihr Blatt, wird der Winter kalt und hart.» Pater Fürchtegott blieb stumm, aber in seinem Kopf arbeitete es. «Woher weißt du all diese Dinge?», fragte er nach einer Weile.

«Das weiß doch jeder. Ich liebe die Natur. Man muss in ihr lesen wie in einem Buch, weil wir ein Teil von ihr sind.»

Mittags rasteten sie bei einem Stück Brot und Speck und tranken Wasser aus einem eiskalten Bach. Der Pater saß, mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt, und hatte die Augen geschlossen.

«Kommt, Pater Fürchtegott, wir müssen uns beeilen, ein Unwetter braut sich zusammen.» Karla stieß ihn an.

«Ein Unwetter? Die Sonne scheint doch, Mädchen. Wo soll denn hier ein Unwetter sein?»

Karla verkniff es sich, die Augen zu verdrehen. Sie ergriff Fürchtegotts Hand. «Was habt Ihr im Kloster eigentlich über die Natur gelernt, Pater? Seht Ihr nicht die Vögel, die ganz tief fliegen? Riecht Ihr die Luft nicht?»

Der Mönch sah sich um, hob die Nase in die Luft. «Nein. Ich habe im Kloster von morgens bis abends in Büchern gelesen und die alten Schriften studiert.»

«Dann vertraut mir einfach.» Karla hielt seine Hand weiter fest und zog den Mönch in den Wald.

«Hier muss es irgendwo eine Hütte für die Hirten geben», erklärte sie. «Dort suchen wir Schutz.»

«Woher weißt du von der Hütte?»

Karla deutete auf einen stinkenden Haufen zu ihren Füßen. «Seht Ihr das? Kuhscheiße. Das nächste Dorf liegt einen halben Tagesmarsch entfernt. Die Kühe können also nicht im Morgengrauen auf und beim Abendrot abgetrieben werden. Der Weg wäre zu weit. Also muss es eine Hütte für die Hirten geben.»

Fürchtegott nickte und sah Karla bewundernd an. Dann folgte er ihr in den Wald. Das Mädchen bewegte sich im Unterholz so geschickt wie ein Reh. Dem Pater dagegen schlugen die Zweige ins Gesicht. Einmal verfing sich seine Kutte in einem Dornenstrauch. Ein anderes Mal geriet er mit dem Fuß in einen Fuchsbau und fiel hin.

«Au!»

«Was ist los?»

«Ich bin gestürzt. Mein Knöchel, er tut weh.»

Karla seufzte leise. Dann nahm sie ihren Schal ab, bandagierte den Fuß. «Wir müssen weiter. Ich kümmere mich in der Hütte um Euern Knöchel.»

Es kam dem Mönch vor, als sei eine Ewigkeit verstrichen, als sie endlich eine windschiefe Holzbude erreichten, wackliger als die Buden, die zu Jahrmärkten aufgestellt wurden. Vor der Tür hing ein Kettenschloss.

«Sie ist zu», stellte er enttäuscht fest.

«Zum Glück», sagte Karla. «Seht Ihr die Spinnweben hier? Die Hütte ist schon lange nicht benutzt worden, also werden wir heute Nacht ganz ungestört sein. Hebt mich hoch!»

«Was?»

«Hebt mich hoch. Ich wette, der Schlüssel liegt unter dem losen Dachbrett dort.»

Der Mönch tat, wie ihm geheißen. Und als Karla tatsächlich mit einem rostigen Schlüssel in der Hand heruntersprang, wunderte er sich einmal mehr über das schlaue Mädchen.

Später, als sein Knöchel versorgt war und das Unwetter draußen die jungen Bäume bis zur Erde bog, fragte er:

«Warum bist du von zu Hause weggelaufen? Ich frage noch einmal: Hast du etwas verbrochen? Deine rechte Wange ist ganz rot und geschwollen.»

Karla fasste mit der Hand an die wehe Stelle, die immer noch brannte. «Ich soll verheiratet werden. Mit dem gröbsten und dümmsten Kerl in der ganzen Gegend. Nur weil er einmal die Schmiede erbt. Aber eher sterbe ich, als mich zu ihm zu legen.»

Der Pater nickte. «Deshalb also hast du dich mir angeschlossen.»

Karla nickte. «Ein Mönch ist ein bisschen heilig. Nur die allerschlimmsten Taugenichtse würden sich an einem Pater vergreifen. Oder gar an den Damen, die in seiner Gesellschaft reisen. Eure Gesellschaft ist der beste Schutz, den man sich nur wünschen kann.»

«Und deine Mutter? Weiß sie, dass du den Schmied verabscheust? Dass er dich schlägt?»

«Stiefmutter. Sie ist meine Stiefmutter. Sie hat mir gedroht, mich zum Krüppel zu prügeln, wenn ich den Leberecht nicht heirate. Das Land seines Vaters grenzt an das bisschen Acker, welches mein Vater besitzt. Der Leberecht hat keine Brüder, sodass wohl er eines Tages alles erbt.»

«War es der Leberecht, der dich auf die Wange geschlagen hat?»

«Ja. Das hat er schon oft getan. Und wenn ich alles täte, was der Leberecht verlangt, so hätte ich keine Tugend mehr. Versteht Ihr jetzt, warum ich unbedingt weg will aus dem Weiler?»

Pater Fürchtegott nickte, obschon er der gleichen Meinung wie die meisten Kirchenlehrer war. Eine Frau war minderwertig und hatte deshalb dem Mann zu dienen. Basta. So hatte er jedenfalls bisher gedacht. Lag es daran, dass er keine Frauen kannte? Diese pfiffige Karla hier, die war wirklich zu schade für einen Grobian wie den Schmied. Sie hatte Besseres verdient, gewitzt und hübsch, wie sie war, dachte Pater Fürchtegott. Gleichzeitig beschlich ihn die Ahnung, dass seine neue Bekanntschaft ihm das Leben nicht unbedingt leichter machen würde.

Viertes Kapitel

In den nächsten Tagen verschlechterte sich das Wetter zusehends. Herbststürme trieben heran, Nebel hing fest über dunklen Tälern.

Tagsüber kamen die beiden Wanderer nur schleppend voran, denn kein Fuhrwerk war unterwegs, um sie mitzunehmen, und nachts froren Karla und Pater Fürchtegott in den Viehhütten und Heuschobern. Zum Essen hatten sie nicht mehr als einen halben Laib trockenen Brotes und ein winziges Stück Speck, das an den Rändern schon grünlich schimmerte.

«Wir müssen versuchen, auf die Handelsstraße zu kommen, die von Köln nach Leipzig führt», erklärte Karla. «Dort können wir in den Dörfern vielleicht um einen Unterschlupf bitten und ein wenig Proviant einkaufen. Dort verkehren auch die Handelsleute. Sie sind in der Welt rumgekommen. Womöglich wissen die sogar etwas über die Lazarusbrüder.»

Am Abend zuvor hatte Pater Fürchtegott Karla von seiner Aufgabe hier in Nordhessen berichtet. Von den Nachzehrern und den Lazarusbrüdern. Und von seiner Sorge, sie niemals zu finden, denn in den Marktflecken und Dörfern begegneten ihm die Leute mit Misstrauen.

«Lazarus?», hatte Karla gefragt. «Wer ist das?»

«Weißt du das nicht?»

Karla schüttelte den Kopf. «Ich weiß so vieles nicht. Nur das, was die Grit mir beigebracht hat. Wer ist also Lazarus?»