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Lars-Broder Keil/ Sven Felix Kellerhoff

Deutsche Legenden

Lars-Broder Keil/ Sven Felix Kellerhoff

Deutsche Legenden

Vom »Dolchstoß« und anderen Mythen der Geschichte

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Keil, Lars-Broder :
Deutsche Legenden : vom »Dolchstoß«
und anderen Mythen der Geschichte /
Lars-Broder Keil / Sven Felix Kellerhoff. –
1. Aufl. – Berlin : Links, 2002
ISBN 3-86153-257-3

1. Auflage, September 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von März 2002)
© Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel. (030) 44 02 32–0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin
Satz und Lithos: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-86284-221-6

Inhaltsverzeichnis

Zu diesem Buch

»Wir sind alle hineingeschlittert«?

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914

»Von hinten erdolcht«?

Das Ende des Ersten Weltkrieges 1918

»Und die Nazis waren es doch«?

Der Reichstagsbrand 1933

»Stalin zuvorgekommen«?

Der Angriff auf die Sowjetunion 1941

»Ritterlich gekämpft«?

Verbrechen der Wehrmacht 1941–1945

»Den Krieg verlängert«?

Die Rolle der Schweiz bis 1945

»Und schossen auf Wehrlose«?

Die Zerstörung Dresdens 1945

»Souveränität gegen Wehrbeitrag«?

Die Entscheidung zur bundesdeutschen Wiederbewaffnung 1950

»Die Chance zur Einheit vergeben«?

Die Stalin-Note von 1952

»NVA-Kampftruppen in böhmischen Wäldern«?

Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968

»Durch die Ereignisse vollkommen überrascht«?

Honecker und die Krise in Polen 1980/81

»Unbeirrt für die Einheit gearbeitet«?

Die Deutschlandpolitik der Union unter Kohl

Anhang

Anmerkungen

Danksagung

Personenregister

Zu diesem Buch

Das Dresdner Stadtmuseum ist im April 2000 Schauplatz einer sonderbaren Konfrontation. Ein pensionierter Geschichtslehrer präsentiert sein neues Buch und vertritt die These, bei der Bombardierung der Stadt am 13. und 14. Februar 1945 habe es entgegen vieler Zeitzeugen-Berichte keine Tieffliegerangriffe auf Flüchtlinge und Zivilisten gegeben. Sie seien nichts als eine Legende. Die mehr als zweihundert überwiegend älteren Zuhörer reagieren empört. Lautstark wird dem Autor vorgeworfen, er verhöhne die Opfer. Zeitzeugen fordern, die Geschichte müsse in »die richtige Richtung« erforscht werden. Doch was ist »richtig«?

Ein knappes Jahr später: Im Berliner Deutschen Theater diskutieren Historiker und Publizisten über den Reichstagsbrand. Wer hat das deutsche Parlamentsgebäude am Abend des 27. Februar 1933 in Brand gesteckt: die Nazis oder ein holländischer Anarchist? Die Runde denkt nicht daran, ihre Ansichten gesittet auszutauschen. Als hätte jemand erneut gezündelt, entbrennt erst auf dem Podium, dann zwischen Podium und Plenum ein handfester Streit. Von »Fälschungen« und »Lügen« ist auf beiden Seiten die Rede, und von der »Nazi-Unschuldslegende«.

Die Diskussionen in Dresden und in Berlin wurden zum eigentlichen Anstoß für das vorliegende Buch. Denn sie sind symptomatisch für den Umgang mit unserer Vergangenheit. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts steckt voller Legenden: Laut Brockhaus versteht man unter Legenden »unverbürgte Erzählungen«. Sie klingen plausibel, halten aber einer historischen Überprüfung nicht stand. Trotzdem können Legenden eine enorme Wirkung entfalten. Mitunter lösen sie politisches Handeln erst aus oder legitimieren radikale Maßnahmen. Häufig wirken Legenden im Bewußtsein der Menschen weiter, selbst wenn sie schon lange widerlegt sind. Warum ist das so? »Die Wissenschaft ist zu kalt für uns. Wir ziehen Mythen und Legenden vor«, schreibt der ehemalige sowjetische Diplomat Valentin Falin in seinen Erinnerungen. Anders formuliert: Geschichte ist nicht allein vergangene Wirklichkeit. Geschichte ist vor allem auch das Bild, das sich Menschen von vergangener Wirklichkeit machen.

Die Deutung lange zurückliegender Ereignisse dient häufig aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Politik und Geschichte sind eng miteinander verwoben. Das schafft Raum für Legenden. Sie wachsen durch die Verfälschung historischer Tatbestände, durch Halbwahrheiten und Irrtümer, durch Frustration und Vorurteile, durch zeitgenössisch oder im nachhinein entstandene Vereinfachungen komplexer gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge. Mitunter glauben sogar die Urheber solcher Legenden nach kurzer Zeit selbst an das Konstrukt, das sie in die Welt gesetzt haben. Öfter allerdings wird die Leichtgläubigkeit einer einseitig informierten Öffentlichkeit ausgenutzt. Der Reiz zeithistorischer Legenden liegt darin, daß sie in der Regel nicht reine Lügen sind, sondern auch einige Brocken Wahrheit enthalten – allerdings verfälschte, aus dem Zusammenhang gerissene, Wesentliches verschweigende. Deshalb braucht man, um sie zu entlarven, einen sehr genauen Überblick über die wirklichen Ereignisse – und den unbedingten Willen zur Differenzierung.

Unser Buch präsentiert zwölf der wirkungsmächtigsten historischen Legenden der deutschen Geschichte aus dem Zeitraum von 1914 bis 2001. Es beschreibt ihre Entstehung, ihre Wirkung und die politischen Kontroversen, die sie auslösten. Es zeigt die tatsächlichen Hintergründe, benennt die Akteure, die jene Legenden am Leben erhielten, und ihre Motive. Von der »Kriegsschuldfrage« 1914 und der »Dolchstoßlegende« 1918, die Beginn und Ende des Ersten Weltkrieges markieren, spannt sich der Bogen bis zum selbsterklärten Anspruch der CDU, sie habe im Gegensatz zur SPD stets unbeirrt eine Politik verfolgt, die auf die deutsche Einheit zielte.

Anhand der zwölf Kapitel werden verschiedene Typen von historischen Legenden erkennbar. Die Propagandabehauptung der deutschen Kommunisten, die Nazis hätten 1933 den Reichstag in Brand gesteckt, ist ein Beispiel für zweckgebundene historische Legenden. Charakteristisch dafür ist, daß ihre Urheber die Tatbestände vorsätzlich und zielgerichtet verfälschen, die tatsächlichen Zusammenhänge verdrängen. Damit dient die Legende den politischen Zielen ihrer Urheber. Ähnliches gilt für Konrad Adenauers fintenreiches Spiel, mit dem er gleichzeitig den Westalliierten die weitgehende Souveränität der Bundesrepublik und der rebellierenden bundesdeutschen Gesellschaft die Zustimmung zur Wiederbewaffnung abrang. Eine Variante dieses ersten Typs sind die Legenden, die Persönlichkeiten belasten sollen, indem Jahre zurückliegende Handlungsspielräume übertrieben oder überhaupt erst postuliert werden. Die Behauptung von der »vergebenen Chance« für Deutschlands Wiedervereinigung durch die Stalin-Note 1952 gehört dazu.

Außer diesen zweckgebundenen Legenden gibt es solche, die eine Ersatzfunktion ausüben sollen und dort besonders gut »gedeihen«, wo kollektives Nichtbegreifen oder Nichtbegreifenwollen anzutreffen sind. So lassen sich unangenehme Ereignisse verdrängen oder allgemeine Schuldgefühle verringern. Klassisches Beispiel dafür ist der Streit um den Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941. Hier prallen die Positionen direkt aufeinander – »Präventivschlag« oder »Überfall auf einen friedliebenden Vertragspartner«? Eine Variante dieses Typs sind Legenden, die verharmlosen oder rechtfertigen, wo Realität und Verantwortung aufgrund eindeutiger Fakten nicht zu leugnen sind. Man kann das am heftigen Streit um die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg ablesen, zusammen mit der Goldhagen-Debatte die wichtigste geschichtspolitische Kontroverse der neunziger Jahre.

Ein dritter Typ von Legenden dient der individuellen Entlastung von Politikern, Militärs oder anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Beispielhaft dafür sind die Dolchstoßlegende, mit der Paul von Hindenburg, Erich Ludendorff und andere führende Generäle ihre Rolle beim Zusammenbruch der deutschen Armee 1918 verschleierten, und die Vorwürfe Helmut Kohls gegen die SPD hinsichtlich der Deutschlandpolitik, mit der sich der Altbundeskanzler in der CDU-Spendenaffäre wehrte.

Eine vierte Art von Legenden umfaßt pauschale Verdächtigungen und Schuldzuweisungen, in der Regel, wenn auch nicht immer, gegen Juden gerichtet. Die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion oder die verbreitete Erzählung von der »jüdischen Kriegserklärung gegen Deutschland 1939« sind solche Fälle. Diese Lügen gebären weitere Behauptungen, etwa den scheinwissenschaftlichen »Beweis«, in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern habe es keine Gaskammern gegeben. Im Gegensatz zu den ersten drei Typen von zeithistorischen Legenden spielen diese antisemitischen Topoi in unserem Buch keine Rolle. Das hat zwei Gründe: Einerseits widerlegen eine Vielzahl empfehlenswerter Bände diese Lügen. Andererseits sind sie aus guten Gründen und im Gegensatz zu den anderen deutschen Legenden strafrechtlich sanktioniert.

Wer sich mit Legenden beschäftigt, eckt unweigerlich an. Manche Rezensenten werden uns »Anhänger der Nazi-Unschuldsthese« schimpfen oder »Stalin-Apologeten«, andere in uns »Weißwäscher« wahlweise der SED-Diktatur, der Schweizer Banken oder des »US-amerikanischen Imperialismus« sehen. Man wird uns vorwerfen, politisch zu weit links zu stehen oder zu weit rechts, anti-national zu sein oder nationalistisch, auf die Gefühle und Ansichten von Zeitzeugen zu viel oder zu wenig Rücksicht zu nehmen. Wer so argumentiert, übersieht in der Regel eines: Ob es um die Verbrechen der Wehrmacht geht oder um die angebliche Beteiligung der NVA an der Niederschlagung des »Prager Frühlings« 1968, um das vermeintliche »Hineinschlittern Europas« in den Ersten Weltkrieg oder das Verhalten Erich Honeckers während der Polenkrise 1980/81 – überall verbergen sich Empfindlichkeiten, Schutzbehauptungen, überall wird Geschichte als politisches Argument benutzt.

Für uns Deutsche mit unserer oft vergangenheitsbezogenen Sicht auf die Gegenwart bietet das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Weltkriege, der Ideologien und der politischen Katastrophen, mehrere historische Umbrüche – und damit viel Stoff für Legenden. Mitverantwortlich für ihr Weiterleben sind oft wenig informierte, dafür um so mehr nach »Sensationen« gierende Journalisten. Unser Buch widerlegt ein Dutzend zeithistorischer Legenden – in journalistischer Sprache und teilweise sehr zugespitzt, aber zugleich mit wissenschaftlicher Genauigkeit. Es wagt den Spagat, kontroverse Themen pointiert darzustellen, ohne den Leser mit einem unüberschaubaren Anmerkungsapparat zu überfordern.

Dieses Buch ist entstanden aus jahrelanger Beschäftigung mit Legenden der deutschen Zeitgeschichte. Wir haben darüber seit 1991 eine Vielzahl von Artikeln in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht. Dennoch sind alle Kapitel im vorliegenden Band neu recherchiert. Wir haben nicht nur die aktuelle und historische Literatur herangezogen, sondern auch mit Experten und Augenzeugen gesprochen sowie Zeitungen, Zeitschriften und Archivalien ausgewertet. Dabei stießen wir neben vielem Bekannten auf Neues, bislang Verschüttetes oder Übersehenes. Wer weiß schon, daß sich deutsche Generäle und Diplomaten im Sommer 1914 bereits Wochen vor dem Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo sehr konkret mit dem Gedanken an einen Präventivkrieg beschäftigten – und darüber ganz offen sprachen?

Berlin, 20. Februar 2002
Lars-Broder Keil, Sven Felix Kellerhoff


»Wir sind alle hineingeschlittert«?

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914

»Eine schwere Stunde ist heute über Deutschland hereingebrochen. Neider überall zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand!« Zehntausenden Berlinern spricht Kaiser Wilhelm II. mit diesen Worten aus der Seele. Sie haben sich am Nachmittag des 31. Juli 1914 auf dem Schloßplatz in Berlin versammelt, um Seine Majestät zu hören. Mit Hurra-Rufen und dem Absingen der Kaiserhymne »Heil Dir im Siegeskranz« beginnt die Kundgebung, und sie endet mit Wilhelms Aufruf: »Jetzt geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer!«1

Wenige Stunden zuvor hatte der preußische Kriegsminister General Erich von Falkenhayn dem Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg und dem Chef des Auswärtigen Amtes, Staatssekretär Gottlieb von Jagow, mitgeteilt: »Zustand der drohenden Kriegsgefahr befohlen.« Die Order ist offiziell »geheim«, doch Mund-zu-Mund-Propaganda trägt sie rasch in die Öffentlichkeit und umgehend in die Redaktionen der Zeitungen. Auf Extrablättern können die Berliner die Nachricht daher schon bald nach der kaiserlichen Ansprache lesen. Ein erst tausend-, dann bald zehntausendkehliger Chor stimmt an: »Lieb Vaterland, magst ruhig sein / Fest steht und treu die Wacht /Die Wacht am Rhein.«2

Nicht nur in der Reichshauptstadt, auch in der bayerischen Residenz München kocht am 31. Juli 1914 die Stimmung. Ein staatenloser Postkartenmaler notierte rückblickend: »Mir selbst kamen die damaligen Stunden wie eine Erlösung aus den ärgerlichen Empfindungen der Jugend vor. Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen. Ein Freiheitskampf war angebrochen, wie die Erde noch keinen gewaltigeren bisher gesehen; denn sowie das Verhängnis seinen Lauf auch nur begonnen hatte, dämmerte auch schon den breitesten Massen die Überzeugung auf, daß es sich dieses Mal nicht um Serbien oder auch Österreichs Schicksal handelte, sondern um Sein oder Nichtsein der deutschen Nation.«3 Schon zwei Tage später meldete sich Adolf Hitler freiwillig bei einem königlichbayerischen Regiment; kein halbes Jahr zuvor war er noch glücklich gewesen, vom Wehrdienst in der österreichisch-ungarischen Armee wegen Untauglichkeit freigestellt worden zu sein.

Legenden ganz unterschiedlicher Art haben in den vergangenen 88 Jahren den Ausbruch des Ersten Weltkrieges überwuchert. Waren Deutschland und seine Verbündeten im Juli 1914 tatsächlich eingekreist von einer übermächtigen Allianz aus Frankreich, Großbritannien und Rußland, wie der Kaiser in seiner Rede vom Balkon des Berliner Schlosses behauptete und wie es auch Adolf Hitler empfand? Hatten Wilhelm II., seine Regierung und sein Militär nur noch die Chance, mit einem Präventivkrieg diesen Ring von Feinden zu zerschlagen?

Oder sind die europäischen Mächte im Sommer 1914 ungewollt in den Krieg »hineingeschlittert«? Der britische Staatsmann David Lloyd George hat diesen Gedanken 1933 auf eine seither immer wieder zitierte Formulierung gebracht: »Die Nationen schlitterten über den Rand in den brodelnden Hexenkessel des Krieges, ohne eine Spur von Besorgnis oder Bestürzung.« Nicht so bekannt, aber ebenfalls vielsagend ist eine andere Stelle aus den Kriegsmemoiren des liberalen Politikers, der von 1908 bis 1916 als Schatzkanzler und Kriegsminister zweiter Mann des Kabinetts in London war und dann bis 1922 als Premierminister die britische Politik bestimmte: »Die Welt war [im Juli 1914] außergewöhnlich glücklos im Hinblick auf die Qualität ihrer Staatsmänner in diesem schrecklichen Notfall. Hätte es damals in Deutschland einen Bismarck, einen Palmerston oder einen Disraeli in Großbritannien, einen Roosevelt in Amerika oder einen Clemenceau in verantwortlicher Position in Frankreich gegeben, hätte die Katastrophe abgewendet werden können – und meiner Ansicht nach wäre sie abgewendet worden. Aber es war nicht ein Politiker solcher Qualität zu sehen auf der Kommandobrücke eines großen Staates.«4

War der Erste Weltkrieg also das Ergebnis der Hilflosigkeit der europäischen Regierungen? Gibt es so etwas wie »Kriegsschuld« an der Katastrophe von 1914 gar nicht? Diese Auffassung ist bis heute weit verbreitet. Im jüngst erschienenen Opus magnum des britischen Militärhistorikers John Keegan etwa wird diese Auffassung besonders anschaulich: »Die Tragödie der diplomatischen Krise vor Ausbruch der Kämpfe im August 1914, die sich zu der vier Jahre dauernden Tragödie des Großen Krieges steigern sollte, besteht darin, daß die Staatsmänner und Diplomaten von den Ereignissen, die sie unter Kontrolle zu halten suchten, zunehmend überwältigt wurden.«5

Besonders gern wird Lloyd Georges Wort verkürzt zitiert – auf das von ihm gar nicht formulierte Diktum »Wir sind alle hineingeschlittert«. Ehrhardt Bödecker zum Beispiel, Bankier in Berlin, Museumsstifter und bekennender Preußen-Bewunderer, bringt es im Katalog zu seiner mustergültig unkritischen Ausstellung im Brandenburg-Preußen Museum Wustrau fertig, den Krieg 1914–1918 nur einmal zu erwähnen – mit dem Lloyd-George-Zitat und unter der Überschrift »Englisches Eingeständnis über die Ursachen des Ersten Weltkrieges«.6

Doch auch abseits der Preußenverherrlicher ist das Wort des britischen Kriegspremiers präsent. Das zeigte sich, als der Bundestag über die Unterstützung für den amerikanischen Schlag gegen den internationalen Terrorismus nach den Anschlägen auf New York und Washington am 11. September 2001 abstimmte. Als einziger SPD-Abgeordneter lehnte der Volkswirt Uwe Jens die überparteiliche Entschließung ab. Als Grund führte Jens an: »Die Gefahr, daß wir – wie 1914 – in einen Weltkrieg hineinschlittern, ist gegeben. Davor will ich warnen.«7 Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, ansonsten nicht für Schnellschüsse bekannt, sekundierte dem Abgeordneten: »Wer nach den Terrorattacken von New York und Washington auf die hochexplosive Lage in der moslemischen Welt rund um Afghanistan schaut, wo der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge, Usama bin Ladin, vermutet wird, kann sich ebenfalls wohl kaum des Gefühls erwehren, er blicke in einen brodelnden Hexenkessel. Damals wie heute wurde die nachfolgende Krise durch ein terroristisches Attentat ausgelöst.«8 Selbst Michael Howard, ein bekannter britischer Militärhistoriker, sah zwischen der Julikrise 1914 und der Septemberkrise 2001 Parallelen.9 Natürlich sind solche Vergleiche zulässig – sie zeigen allerdings nur, daß zwischen 1914 und 2001 so gut wie keine Ähnlichkeit festzustellen ist. Einerseits haben die politischen Rahmenbedingungen des Jahres 1914 mit denen des Jahres 2001 nun wirklich gar nichts gemein. Andererseits ist höchst zweifelhaft, ob Lloyd Georges Wort die Situation im Jahr 1914 überhaupt angemessen beschreibt.

Denn trug nicht vielleicht doch das Deutsche Reich die Hauptschuld am Ersten Weltkrieg? Im Artikel 231 des Versailler Vertrages zwischen Deutschland und seinen Kriegsgegnern vom Juni 1919 heißt es unmißverständlich: »Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.«10 Diese Passage des Versailler Vertrages führte in Deutschland umgehend zu heftigen Protesten. In den Zeitungen und nahezu allen Parteien, von der Sozialdemokratie bis zur äußersten Rechten, war die Empörung über diese Zuweisung der Kriegsschuld einmütig. Die Außenpolitik der Weimarer Republik stand stets unter dem Druck, das aufgezwungene Bekenntnis zur alleinigen Kriegsschuld revidieren zu müssen. Der Artikel 231 destabilisierte so die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden von Beginn an.

Auch die Bundesrepublik Deutschland erlebte ihre Kriegsschulddebatte. Denn der Hamburger Historiker Fritz Fischer spitzte den Vorwurf der Alleinschuld des Deutschen Reiches am Ersten Weltkrieg weiter zu. Seine These: Das kaiserliche Deutschland habe spätestens seit 1911 planmäßig auf den großen europäischen Krieg hingesteuert. Bewußt hätten die Reichsleitung und die militärische Führung den Konflikt im Juli 1914 eskalieren lassen, um eine möglichst günstige Ausgangsposition für den seit langem gewünschten Annexions- und Expansionskrieg zu erreichen. Wie 1939 sei es der deutschen Politik auch 1914 um die Hegemonie auf dem Kontinent und um den »Griff nach der Weltmacht« gegangen. 1959 warf er seinen Kollegen und der bundesdeutschen Öffentlichkeit den Fehdehandschuh hin und löste einen mehr als zwei Jahrzehnte währenden Historikerstreit aus. Als »Fischer-Kontroverse« ist die Debatte um die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg längst selbst in die Geschichte eingegangen.

Führte die deutsche Reichsleitung den Konflikt also gezielt herbei? Oder hatte Lloyd George recht: Ist Europa in den Ersten Weltkrieg ungewollt »hineingeschlittert«? Oder war der »Große Krieg«, wie der Konflikt 1914–1918 in Großbritannien und Frankreich bis heute heißt, eine gerechte und gerechtfertigte Maßnahme des Deutschen Reiches gegen die drohende Einschließung durch feindlich gesinnte Mächte? Der Erste Weltkrieg – ein Präventivkrieg?

»Unterwegs entwickelte mir Moltke seine Auffassung unserer militärischen Lage«, erinnerte sich der deutsche Außenminister, Staatssekretär von Jagow, an ein Gespräch mit dem Chef des deutschen Generalstabes. Auf einer Autofahrt von Potsdam nach Berlin Ende Mai oder Anfang Juni 1914 ging es Moltke um essentielle Fragen: »Die Aussichten in die Zukunft bedrückten ihn schwer. In zwei bis drei Jahren würde Rußland seine Rüstungen beendet haben. Die militärische Übermacht unserer Feinde wäre dann so groß, daß er nicht wüßte, wie wir ihrer Herr werden könnten. Jetzt wären wir ihnen noch einigermaßen gewachsen. Es bliebe seiner Ansicht nach nichts übrig, als einen Präventivkrieg zu führen, um den Gegner zu schlagen, so lange wir den Krieg noch bestehen könnten. Der Generalstabschef stellte mir demgemäß anheim, unsere Politik auf die baldige Herbeiführung eines Krieges einzustellen.«11

Eine eindeutige Äußerung. Da forderte der oberste deutsche Soldat, der Neffe des berühmten preußischen Generals gleichen Namens, vom deutschen Chefdiplomaten, einen europäischen Krieg zu inszenieren. Und zwar Wochen vor dem Attentat von Sarajevo, bei dem am 28. Juni 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau ermordet wurden. Allerdings galt der »jüngere Moltke«, wie der seit 1906 amtierende Generalstabschef hinter seinem Rücken leicht despektierlich genannt wurde, keineswegs als konsequenter Kriegstreiber. Im Gegenteil: Laut Jagow gelüstete es ihn nicht nach »Kriegslorbeeren«, und General Falkenhayn notierte über den Offizierskollegen, der mal für und mal gegen eine aggressive Politik eintrat: »Seine Stimmungswechsel sind kaum oder gar nicht zu erklären.«12

Moltke war allerdings mit seiner unentschiedenen Haltung kein typischer Repräsentant des obersten Offizierskorps des kaiserlichen Heeres. General Colmar von der Goltz zum Beispiel, unter anderem Berater der türkischen Armee und Modernisierer der deutschen Pioniertruppen, schrieb 1906 an einen osmanischen General: »Schade nur, daß die Konferenz von Algeciras [auf der die erste Marokko-Krise mit einer diplomatischen Niederlage des Deutschen Reiches beigelegt wurde – K. u. K.] uns wieder einen unabsehbaren Frieden gebracht hat und daß der Soldat sich dabei vorkommen muß wie der Spielmann, der immer und ewig ein Instrument spielt, das keinen rechten Ton gibt.«13

Jagow erinnerte sich, er habe Moltke auf der Fahrt von Potsdam nach Berlin widersprochen: »Ich entgegnete ihm, daß ich mich nicht dazu verstehen könnte, einen Präventivkrieg heraufzubeschwören. […] Den Ernst unserer Lage verhehlte ich mir zwar nicht. Ich habe auch nie den Gedanken eines Präventivkrieges prinzipiell und a limine verurteilt. Ein solcher kann unter Umständen als Defensivkrieg zur unvermeidlichen Aufgabe einer vorausschauenden Politik werden. Aber abgesehen davon, daß der geeignete Moment vielleicht schon verpaßt war, hoffte ich noch, unser Verhältnis zu England würde sich so weit bessern lassen, daß ein allgemeiner Krieg ziemlich ausgeschlossen oder doch weniger gefährlich sein würde.«14 Sowohl Jagow als auch Moltke fühlten sich also im Frühsommer 1914 eingekreist. Zwar zogen sie unterschiedliche Schlüsse daraus, aber die Analyse der beiden war identisch: Deutschland sei von Feinden umzingelt.

Diese Sicht der Dinge fiel auch bei Wilhelm II. auf fruchtbaren Boden, obwohl der Monarch einen Krieg eigentlich fürchtete. Der Kaiser sprach am 21. Juni 1914, genau eine Woche vor dem Attentat von Sarajevo, mit dem Hamburger Bankier Max Warburg. Laut Warburgs Notizen schwankte Wilhelm II. zwar noch, neigte aber schon einem Präventivkrieg zu: »Die Rüstungen Rußlands, die großen russischen Bahnbauten waren seiner [Wilhelms II.] Ansicht nach Vorbereitungen für einen Krieg, der im Jahr 1916 ausbrechen konnte […]. Bedrängt von seinen Sorgen, erwog der Kaiser sogar, ob es nicht besser wäre, loszuschlagen, anstatt zu warten.«15 Sechs Wochen später, am 4. August 1914, griff Wilhelm II. den gleichen Gedanken wieder auf, als er im Berliner Stadtschloß den inzwischen vollzogenen Schritt in den Krieg vor den Abgeordneten des Reichstags begründete: »Die Feindseligkeit, die im Osten und Westen seit langer Zeit um sich gegriffen hat, ist nun zu hellen Flammen aufgelodert. Die gegenwärtige Lage ging nicht aus vorübergehenden Interessenkonflikten oder diplomatischen Konstellationen hervor. Sie ist das Ergebnis eines seit langen Jahren tätigen Übelwollens gegen Macht und Gedeihen des Deutschen Reiches. […] In aufgedrungener Notwehr, mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert.«16

Der letzte Satz allerdings ist bereits Teil der Legendenbildung. Denn so real die Einkreisung Deutschlands durch eine mindestens potentiell feindliche Koalition war, so wenig traf diese Situation das Reich unverschuldet. Die langfristigen Ursachen des Ersten Weltkrieges sind durch jahrzehntelange Forschung bis ins Detail bekannt. Unabhängig von ihrer politischen Überzeugung und ihrer Haltung gegenüber den Thesen von Fritz Fischer sind sich die meisten bundesdeutschen und internationalen Historiker einig: Das Deutsche Reich hat sich selbst seit der Absetzung Bismarcks 1890 immer weiter isoliert. Während der »Eiserne Kanzler« den Alptraum einer antideutschen Koalition aus Frankreich, Rußland und England um jeden Preis vermieden hatte, stießen seine Nachfolger die anderen Großmächte eine nach der anderen vor den Kopf.

Erst zerbrach die internationale Isolation der Republik Frankreich gegenüber den Monarchien Rußland und Großbritannien, das Herzstück der keineswegs friedfertigen, aber friedensorientierten Sicherheitspolitik Bismarcks. Dann trat Berlin durch seine Flottenpolitik in einen Rüstungswettlauf mit London und durch die Aufrüstung seines Heeres in eine Konkurrenz mit Paris und St. Petersburg. Doch beide Male geriet das Deutsche Reich ins Hintertreffen. Aus finanziellen und sozialen Gründen konnte Deutschland nicht ebenso stark aufrüsten wie die anderen Großmächte zusammen. Hinzu kam, daß der Konflikt zwischen dem einzigen deutschen Verbündeten von Gewicht, der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, und Rußland durch die Probleme auf dem Balkan ständig an Brisanz gewann.

Darüber hinaus verschlechterte sich das militärische Kräfteverhältnis ab 1911 von Jahr zu Jahr zuungunsten der Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn – trotz des forcierten Schlachtflottenprogramms und der Heeresverstärkung 1912/13. »Patriotische« Organisationen, wie der Deutsche Wehrverein, die Flottenvereine oder der Alldeutsche Verband, trugen diese Botschaft in die breite Öffentlichkeit. Zum Beispiel in populären Publikationen wie dem »Deutschen Wehrkalender«, der in Tabellen, farbigen Bildern und pathetischen Artikeln das deutsche Volk auf den kommenden Krieg vorbereitete: »Es ist meine feste unerschütterliche Überzeugung, daß bei der Weltlage in nicht allzu ferner Zeit das deutsche Volk auf den Schlachtfeldern um nichts weniger als seine Ehre, seine Machtstellung, seine nationale und wirtschaftliche Zukunft zu kämpfen haben wird. Zu diesem Schicksalskampfe kann das deutsche Volk, in erster Linie sein Heer, nicht stark genug sein«, schrieb der Vorsitzende des Wehrvereins, Generalmajor a. D. August Keim, im Juli 1913.17

Das Deutsche Reich war im Sommer 1914 umzingelt von Feinden. Einen wahren Kern hatte der Appell von Kaiser Wilhelm II., man habe den Krieg aus »Notwehr« begonnen. Trotzdem ist diese Begründung insgesamt eine historische Legende. Denn Deutschland hatte sich selbst in diese Lage manövriert – durch mehr als zwei Jahrzehnte rücksichtsloser Politik, die stets nur das Ziel kannte, einen eigenen »Platz an der Sonne« zu erobern, wie es der spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow bereits 1897 als Chef des Auswärtigen Amtes im Reichstag formulierte. »Aufgedrungen« kann man die Situation im Juli und August 1914 daher nicht nennen. Allerdings haben sich der Monarch und seine führenden Politiker wohl tatsächlich in einer Zwangslage gesehen. Sie erkannten nicht ihre Verantwortung für die katastrophale Konstellation, fühlten sich vielmehr im Recht. Zusätzlich angeheizt wurde die Situation von lautstarker Kriegstreiberei in der Öffentlichkeit und durch einen verbreiteten Sozialdarwinismus. Danach befanden sich alle Völker in einem dauernden »Kampf ums Überleben«, den nur die Stärksten überleben würden. Also jene Völker, die sich am besten auf den kommenden Krieg vorbereiteten.

Mehrmals war Europa zwischen 1898 und 1913 an einem militärischen Konflikt vorbeigeschrammt. Von der Faschoda-Krise zwischen Frankreich und Großbritannien um Kolonien in Afrika über die beiden Marokko-Krisen, die Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn bis hin zu den beiden Balkankriegen gelang es jedesmal gerade eben, eine Eskalation zu vermeiden. Noch funktionierte die Diplomatie, doch von Mal zu Mal wurde der Ausgleich der divergierenden Interessen schwieriger. Die Alternativen zur kriegerischen »Lösung« der Probleme nutzten sich immer mehr ab.

Die Schuld daran trifft jedoch Deutschland und seine Verbündeten nicht allein. Auch in Frankreich drängte eine starke Kriegspartei auf eine gewaltsame Revision des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. »In der Begeisterung für Militärparaden, Feste und Musik standen die Franzosen den Deutschen nicht nach; zudem war der Inklusionsgrad militärischer und paramilitärischer Institutionen sehr viel höher. Das deutsche Kaiserreich konnte es sich dank hoher Geburtenraten leisten, den Anteil der Eingestellten niedrig zu halten. Frankreich mußte hier angesichts seiner geringeren Bevölkerungszahl rigider vorgehen und einen weit größeren Prozentsatz der entsprechenden Altersgruppe rekrutieren«, schreibt die Sozialhistorikerin Ute Frevert in ihrer Geschichte der Wehrpflicht.18 Auch in Rußland drängten mächtige Gruppen auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit Deutschland und Österreich-Ungarn – nicht zuletzt, um die innenpolitischen Konflikte des autokratischen Regimes in den Griff zu bekommen. Eine wesentliche Rolle spielten dabei der Balkan und ein rabiater Panslawismus. Allein in Großbritannien war im Sommer 1914 das Interesse an einem europäischen Krieg schwach. Denn einerseits richtete die Weltmacht den Blick mehr auf ihr Kolonialreich, dem Deutschland trotz aller Flottenrüstung noch nicht gefährlich werden konnte. Andererseits beschäftigte die Regierung in London seinerzeit mehr die Eskalation in Irland, also ein massiver Konflikt im Inneren.

Der Berner Militärhistoriker Stig Förster bilanziert die Situation am Vorabend des Ersten Weltkrieges treffend: »Insgesamt zeigt die Untersuchung der längerfristigen Kriegsursachen, daß die Katastrophe des Jahres 1914 die Menschen nicht aus heiterem Himmel traf. Viele Faktoren trugen dazu bei, eine Situation entstehen zu lassen, in der es nur noch weniger Schritte bedurfte, den allgemeinen Krieg auszulösen. Aber war der Krieg deshalb unvermeidlich? Die Frage zu stellen heißt, sie zu verneinen. […] Denn die Entscheidung über Krieg und Frieden lag unter den damaligen Verhältnissen immer noch bei den politischen und militärischen Führungen Europas. Es bleibt zu untersuchen, warum sie im entscheidenden Moment für Krieg optierten.«19

Warum also kam es im Juli 1914 zu jener folgenreichen Krise, die schließlich in den Ersten Weltkrieg mündete? »Die Dokumente erlauben es nicht, im Jahr 1914 irgendeiner Regierung oder einem Volk den bewußten Willen zu einem europäischen Krieg zuzuschreiben«, stellten führende deutsche und französische Historiker, darunter der Vorsitzende des Verbandes der Historiker Deutschlands, Gerhard Ritter, und der Nestor der französischen Weltkriegsforschung, Pierre Renouvin von der Pariser Sorbonne, im Oktober 1951 auf einer gemeinsamen Tagung in Mainz fest. Sie verabschiedeten eine »Vereinbarung über strittige Fragen europäischer Geschichte«. Ausdrücklich betonten die 17 beteiligten Wissenschaftler, die durchaus die damals herrschende Meinung der Kollegen in ihren Ländern repräsentierten: »Die deutsche Politik zielte 1914 nicht auf die Entfesselung eines europäischen Krieges; sie war in erster Linie bedingt durch die Bündnisverpflichtung gegenüber Österreich-Ungarn. Um der als gefährlich empfundenen Auflösung dieses Staates entgegenzuwirken, hat man der Wiener Regierung Zusicherungen gegeben, die einer Blankovollmacht gleichkamen. Die deutsche Regierung war von der Vorstellung beherrscht, eine Lokalisierung des Konfliktes mit Serbien würde wie 1908/09 möglich sein.«20 Ausdrücklich sollte die Vereinbarung keine Sprachregelung sein, die künftig die freie Forschung einschränken könnte. Das betonte Karl Dietrich Erdmann, der Herausgeber der Zeitschrift »Geschichte in Wissenschaft und Unterricht«, in der die Erklärung auf deutsch erschien.

Politisch war diese deutsch-französische Historiker-Vereinbarung von 1951 weitsichtig, denn sie ermöglichte es, den vergangenheitspolitischen Streit zwischen den beiden ehemaligen »Erbfeinden« zu beenden. Damit gehört sie zu jenen wichtigen Schritten Anfang der fünfziger Jahre, die der jungen Bundesrepublik den Weg in die westeuropäische Werte-Gemeinschaft und schließlich in die Europäische Gemeinschaft ebneten. Mit der historischen Realität hatte die Erklärung allerdings wenig gemein. Es handelte sich vielmehr um eine bequeme Legende – gewissermaßen die in den Jargon der Geschichtswissenschaft übersetzte und mit dem Siegel der »historischen Wahrheit« geadelte Behauptung von Lloyd George, die europäischen Staaten seien in den Krieg »hineingeschlittert«. Richtig ist genau das Gegenteil. Denn im Juli 1914 steuerte die deutsche Reichsleitung sehr wohl gezielt auf einen europäischen Krieg zu und war sogar bereit, einen Weltkrieg in Kauf zu nehmen. Das hat die kritische deutsche und internationale Geschichtswissenschaft trotz der Verienbarung von 1951 herausgearbeitet – übrigens gegen den massiven Widerstand unter anderem von Gerhard Ritter und Karl Dietrich Erdmann.

Der Anstoß für die Julikrise war ein Attentat: Am 28. Juni 1914 gegen 10.50 Uhr gab der bosnisch-serbische Student Gavrilo Princip in Sarajevo zwei Schüsse auf den Wagen des österreichischungarischen Kronprinzen Franz Ferdinand ab. Der Thronfolger wurde oberhalb des Schlüsselbeins getroffen, das Geschoß blieb in seiner Wirbelsäule stecken. Seiner Frau, Herzogin Sophie, wurde die Bauchschlagader aufgerissen. In vielen Schulbüchern, einfachen Lexika und sonstigen schlichten Geschichtsdarstellungen gilt dieser Anschlag als Auslöser des Ersten Weltkrieges. Die Sachbuchautorin Katja Doubek zum Beispiel schreibt in ihrem »Lexikon der Attentate« über den Anschlag von Sarajevo: »Es war das folgenschwerste Attentat der Geschichte, löste einen Weltkrieg aus und legte damit den Grundstein für einen zweiten, der Europa in Schutt und Asche legte.«21

Doch auch das ist eine Legende. »Vom Mord an dem ungeliebten Thronfolger führte kein direkter Weg in die Urkatastrophe unseres Jahrhunderts. Die Politiker haben den Krieg teils militärisch und politisch vorbereitet, teils in Kauf genommen, teils mit immer großzügiger werdenden politischen Zusagen ›entfesselt‹«, urteilt der Historiker Bernd Sösemann. Und weiter: »Das Attentat auf den Erzherzog Franz Ferdinand auf dem Balkan Ende Juni 1914 führte nicht zur Politik des gewagten Handelns Ende Juli in Europa, aber es erleichterte die Planung der Staatsmänner, die den großen Krieg bewußt in ihr Kalkül miteinbezogen hatten.«22

Genau eine Woche, bis zum vergleichsweise bescheidenen Begräbnis für den ermordeten Kronprinzen am 4. Juli 1914, geschah wenig. Dann begann die deutsche Reichsleitung um Bethmann Hollweg, bewußt auf einen europäischen Krieg zuzusteuern. Der Kaiser stellte nach Beratungen mit seinem Reichskanzler, einigen Diplomaten und führenden Militärs der Regierung in Wien den berühmten »Blankoscheck« aus. Der österreichisch-ungarische Botschafter in Berlin, László Graf von Szögyeny, meldete seinem Außenminister Leopold Graf Berchtold, »Nach dem Déjeuner […] ermächtigte mich Seine Majestät [Kaiser Wilhelm II.], unserem Allergnädigsten Herrn [Kaiser Franz Joseph] zu melden, daß wir auf die volle Unterstützung Deutschlands rechnen können. […] Sollte es sogar zu einem Krieg zwischen Österreich-Ungarn und Rußland kommen, so könnten wir davon überzeugt sein, daß Deutschland in gewohnter Bundestreue an unserer Seite stehen werde.«23

Auf den ersten Blick war das nicht mehr als eine Bestätigung des Beistandes, den Deutschland der Habsburger-Monarchie zugesichert hatte – genau wie es Ritter und Renouvin 1951 darstellten. Tatsächlich aber nahm Berlin das Heft des Handelns in die Hand. Während Kaiser Wilhelm II. zur alljährlichen Sommerreise mit seiner Yacht gen Norden aufbrach, wurde sein Reichskanzler tätig. Hunderte Telegramme wurden in den folgenden drei Wochen von Hauptstadt zu Hauptstadt geschickt. Kontinuierlich wurde der Ton aggressiver. Die Politik Bethmann Hollwegs beruhte auf dem Konzept des »kalkulierten Risikos«, das sein Vertrauter Kurt Riezler in einer Notiz vom 8. Juli 1914 so beschrieb: »Kommt der Krieg aus dem Osten, so daß wir also für Österreich-Ungarn und nicht Österreich-Ungarn für uns zu Felde zieht, so haben wir Aussicht, ihn zu gewinnen. Kommt der Krieg nicht, will der Zar nicht oder rät das bestürzte Frankreich zum Frieden, so haben wir doch noch Aussicht, die Entente [Frankreichs mit Großbritannien und Rußland – K. u. K.] über die Aktion auseinander zu manövrieren.«24 Dieses Konzept hat Golo Mann treffend charakterisiert: als »ungefähr die schlechteste Diplomatie, die es geben konnte«.25

Doch es dauerte noch 18 Tage, bis Österreich-Ungarn ein a priori als unannehmbar konzipiertes Ultimatum an die serbische Regierung schickte, die für das Attentat verantwortlich gemacht wurde. Unter anderem wollte man einen Staatsbesuch des französischen Präsidenten in St. Petersburg abwarten – die Gefahr, daß sich die beiden kontinentalen Großmächte auf ein Ultimatum hin unmittelbar zum Vorgehen gegen die Mittelmächte verständigen könnten, erschien zu groß. Am 25. Juli dann gingen zehn Forderungen nach Belgrad ab. Und obwohl Serbien in seiner Antwort dem Ultimatum unerwartet weit entgegenkam, erklärte die Wiener Regierung am 28. Juli 1914 den Krieg. Im Hintergrund, das zeigen bald darauf entstandene Aufzeichnungen führender Wiener und Berliner Politiker, drängte der größere Partner den kleineren, der einen guten Anlaß hatte, zur Aggression.

Der ungarische Ministerpräsident István Graf Tisza etwa riet am 11. September 1914 dem österreichisch-ungarischen Außenminister Graf Berchtold, die Deutschen daran zu erinnern, »daß wir den Krieg auf die klipp und klare Äußerung sowohl Kaiser Wilhelms wie des deutschen Reichskanzlers beschlossen haben, daß sie den Moment für geeignet halten und es mit Freude begrüßen, wenn wir ernst machen«.26 Und ein ehemaliger Wiener Minister, Josef Maria Baernreither, notierte in seinem Tagebuch Ende 1914: »Krieg mußte aber, wie die Dinge sich durch die Schuld der deutschen und österreichischen Diplomatie entwickelt hatten, kommen. Daher ergriff Deutschland nach dem Mord in Sarajewo die Gelegenheit beim Schopfe und benutzte den Anlaß, der sich auf der österreichischen Seite ergeben hatte. Das ist die Geschichte des Krieges.«27 Natürlich steckte in solchen Notizen der Versuch, die Schuld der österreichisch-ungarischen Politiker an der Katastrophe kleinzureden und nicht als alleinschuldig dazustehen. Das hatte aber einen guten Grund, denn Ende Juli hatte die Tonlage der Telegramme aus Berlin gewechselt: Nun ließen Bethmann Hollweg und Jagow in Wien auf Frieden und Kompromisse drängen.

Die österreichisch-ungarische Kriegserklärung an Serbien setzte dann am 28. Juli 1914 jenen Mechanismus in Gang, der tatsächlich binnen einer Woche in den Weltkrieg führte: Rußland mobilisierte gegen die Doppelmonarchie, Deutschland stellte den »Zustand drohender Kriegsgefahr« fest und berief ebenfalls seine Reservisten ein. Frankreich reagierte darauf seinerseits mit der Generalmobilmachung. Das Kaiserreich fühlte sich von Ost wie von West bedroht und erklärte erst Rußland, dann Frankreich den Krieg. Und weil das Kriegsszenario des deutschen Generalstabes, der berühmt-berüchtigte Schlieffen-Plan, einen schnellen Vormarsch im Westen unter Verletzung der belgischen Neutralität vorsah – um Frankreich zu schlagen, bevor die russische Massenarmee einsatzbereit war –, wurde auch Großbritannien in den Krieg gezogen: Die Regierung in London konnte den Überfall auf Belgien nicht akzeptieren und erklärte am 4. August 1914 Deutschland den Krieg. Der Weltbrand war da.

Auf deutscher Seite erkannten hellsichtige Köpfe bald, welcher Weg in den Krieg geführt hatte. In den Tagebüchern von Theodor Wolff, dem Chefredakteur des »Berliner Tageblatts«, läßt sich dieser Lernprozeß Schritt für Schritt verfolgen. Der liberale Journalist sprach mit vielen führenden Politikern des Kaiserreiches – und fertigte darüber allabendlich detaillierte Notizen an. Am 29. Oktober 1914 noch schrieb Wolff nach einem Gespräch mit dem Diplomaten Bodo Friedrich Graf von Wedel, die deutsche Reichsleitung habe im Juli 1914 die Kontrolle aus der Hand gegeben, habe sich keine Hintertür offen gelassen und sei, »ohne den Krieg gewollt zu haben, in den Krieg hineingeglitten. Bismarck würde nie einen Krieg gemacht haben, den er nicht gewollt hätte.« Doch bald mehrten sich in seinen Tagebüchern die Hinweise auf das Kalkül der Reichsleitung, einen europäischen Krieg bewußt in Kauf genommen zu haben.

Am 30. Mai 1915 war Wolff bereits überzeugt, der Krieg sei »gemacht« worden. Sein Gesprächspartner Wedel fragte ihn daraufhin: »Wer hat ihn gemacht?«, und Wolff antwortete: »Die einen durch ihre Ungeschicklichkeit, die anderen, wie Jagow, nicht nur dadurch.« Der Diplomat Wedel bestritt natürlich diesen Vorwurf gegen seinen Chef, doch Wolff blieb dabei. Mit der Zeit bestätigten immer mehr Unterhaltungen, daß Bethmann Hollweg, Jagow und Moltke den Krieg in den letzten Julitagen gewollt hatten. Der Direktor der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, Wilhelm von Stumm, räumte zum Beispiel ein: »Wir haben nicht geblufft. Wir waren gefaßt darauf, daß wir den Krieg mit Rußland haben würden.«

Am 17. April 1916 war dann die damals offiziell noch immer vertretene Behauptung, das Deutsche Reich sei im Sommer 1914 von feindlichen Mächten überfallen worden, im Freundeskreise Wolffs nur noch einen zynischen Scherz wert. Wilhelm Solf, Chef des Reichskolonialamtes, erinnerte melancholisch an die Entwicklung Deutschlands im Frieden, vor dem Krieg. Wolff warf ein: »Und mitten in diesem Idyll wurden wir ruchlos überfallen!« Die Reaktion hielt der Journalist in seinem Tagebuch fest: »Alle lachen.« Abseits der Propaganda war man sich in Berlin über die tatsächliche Schuld an der Eskalation bewußt.28

Golo Mann hat die Rolle der deutschen Verantwortlichen für den Kriegsausbruch 1914 prägnant formuliert: »Monarch, Kanzler, Staatssekretär, Unterstaatssekretär, ein paar Botschafter – heimlich, nach eigenem Belieben hatten sie gehandelt vom ersten Tag der Krise an; so lange, bis die schwere Hand des Generalstabes sich auf das Steuer des Staatsschiffes legte. Sie hätten Österreich mäßigen sollen, und natürlich hätten sie das gekonnt. Statt dessen trieben sie Österreich an, ließen es machen, sabotierten die englischen Vermittlungsvorschläge und fingen in Wien erst dann zu warnen an, als es schon zu spät war.«29

Übrigens wußte der britische Elder statesman David Lloyd George selbst genau, daß die europäischen Großmächte im Sommer 1914 nicht in den Krieg »hineingeschlittert« sind. 1932, als seine »War Memoirs« schon weitgehend fertig waren, schrieb Lloyd George in einer Gelegenheitsschrift mit dem Titel »Die Wahrheit über Reparationen und Kriegsschulden« unmißverständlich: »Ich will hier nicht die Frage der Kriegsschuld aufwerfen. Es genügt mir darauf hinzuweisen, daß Deutschland und sein Verbündeter Österreich den Streit mit ihren Nachbarn zur Entscheidung stellten. […] Die Herrscher Österreichs und Deutschlands wählten den Krieg, und auf dem Gerichtsplatz des Krieges fiel das Urteil gegen sie aus.«30 Mit dem ungleich bekannteren Diktum in seinen Memoiren ist diese Feststellung kaum zu vereinbaren. Daß Lloyd George so unterschiedliche »Erklärungen« für den Beginn des »Großen Krieges« beinahe parallel vorlegte, mag am Ziel seiner Erinnerungen gelegen haben: In den für ein englisches Publikum geschriebenen »War Memoirs« hob er »besonders den englischen Außenminister Edward Grey als Versager hervor«, der in jedem Unternehmen von Bedeutung gescheitert sei, das er je unternommen habe.31

»Bei der angespannten Weltlage des Jahres 1914, nicht zuletzt als Folge der deutschen Weltpolitik – die 1905, 1909 und 1911 bereits drei gefährliche Krisen ausgelöst hatte –, mußte jeder lokale Krieg in Europa, an dem eine Großmacht unmittelbar beteiligt war, die Gefahr eines allgemeinen Krieges unvermeidbar nahe heranrücken. Da Deutschland den österreichisch-serbischen Krieg gewollt und gedeckt hat und, im Vertrauen auf die deutsche militärische Überlegenheit, es im Juli 1914 bewußt auf einen Konflikt mit Rußland und Frankreich ankommen ließ, trägt die deutsche Reichsführung den entscheidenden Teil der historischen Verantwortung für den Ausbruch des allgemeinen Krieges.«32 So faßte Fritz Fischer seine Antwort auf die Kriegsschuldfrage zusammen.

Das Deutsche Reich ist 1914 weder schuldlos eingekreist worden, noch sind die europäischen Mächte in den Krieg »hineingeschlittert«. Doch das sind nur die zwei bekanntesten Legenden über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Darüber hinaus kursieren noch viele weitere. Zum Beispiel das »August-Erlebnis« und die Legenden vom »kurzen Krieg«, vom Drängen der Industriellen zum Krieg und von der wesentlichen Mitschuld Großbritanniens. Sie alle tauchen in populärwissenschaftlichen Büchern und in den Medien immer wieder auf – auch wenn sie von der seriösen Geschichtswissenschaft schon längst widerlegt sind.

Anfang August 1914 kam es in allen Hauptstädten Europas zu Massenaufmärschen. Daraus ist vor allem in Deutschland der Mythos vom »August-Erlebnis« geworden. In den ersten Tagen des Krieges hätten sich die Deutschen über alle gesellschaftlichen und politischen Schranken hinweg verbrüdert und seien gemeinsam aufgebrochen, um den Krieg zu bestehen. Gewöhnlich wird in diesem Zusammenhang auf die Rede Kaiser Wilhelms II. am 1. August 1914 verwiesen: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!«33 Zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns tauchten diese Berichte in vielen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern wieder auf.

Tatsächlich gab es in Deutschland Ende Juli und Anfang August 1914 wilde Ausbrüche von Hurra-Patriotismus. Allerdings erfaßte diese Welle der Begeisterung keineswegs alle Bevölkerungsschichten, wie kritische Studien ergeben haben. Es waren vielmehr vor allem junge Männer bürgerlicher Herkunft in den großen Städten, die sich vom Krieg begeistert zeigten. In Kleinstädten und auf dem Land, in kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten dagegen herrschten Skepsis und Angst vor. Am Beispiel Darmstadt hat Michael Stöcker gezeigt, daß sich der verbreitete öffentliche Aufruhr vielmehr aus einer Massenpsychose speiste. »Der wütende Eifer, mit dem Bürger in Darmstadt wie an anderen Orten Jagd auf vermeintliche russische Spione machten, spricht ebenso für diese These wie die schrille Gereiztheit, mit der sie auf das leiseste Anzeichen einer ›unpatriotischen Gesinnung‹ reagierten. Solche Erscheinungsformen einer kollektiven Hysterie zeigen, auf welch prekärer Grundlage der angeblich so lautere Patriotismus der Augusttage beruhte.«34