Table of Contents

Alltag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Fieber

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Auflösung

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Friedrich Glauser

Gourrama

Ein Roman aus der Fremdenlegion

ISBN 978-3-95670-013-2

Umschlaggestaltung, ungekürzte, neu durchgesehene

und partiell überarbeitete Ausgabe

©2013 AtMe Verlag, Dinslaken

www.atme-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten.








Alltag

La solitude bleue et stérile a frémi… Mallarmé, Don du poème

1. Kapitel

Der vierzehnte Juli

Nur noch zwei Kilometer«, sagte der alte Kainz. »Du kannst schon den Turm vom Posten sehn… Jetzt! Schau! Dort, wo's blitzt, liegt das Zimmer vom Alten.«

Er hielt sich am Steigbügel fest und keuchte, denn er war alt.

»Wüllst net du jetzt reiten?« fragte Todd, während er sich den Schweiß aus den spärlichen Barthaaren wischte. – »Na, na!« Kainz schüttelte den vertrockneten Kopf und fuhr mit seinem Nastuch unter den Tropenhelm. Es war erst neun Uhr morgens, aber die Sonne brannte schon heiß. Die dritte Sektion der 2. Compagnie montée vom 3. Fremdenregiment hatte ein Detachement von zwanzig Mann, das aus Algerien zur Verstärkung gekommen war, von Atchana abgeholt. Die Truppe marschierte nach Gourrama zurück, einem kleinen Posten im südlichen Marokko.

Grau war die Ebene und tiefe Gräben zerteilten sie. Die Ränder fielen steil ab, und es sah aus, als habe Hitze und Trockenheit die Erde auf weite Strecken gespalten. Aber im Winter flossen in den Spalten Bäche – herab von den Bergen aus rotem Stein, die fern in der Sonne flimmerten. Und im Osten, hinter ihnen, bauten sich die Schneegipfel des Hohen Atlas auf, weißblendend wie glühendes Silber, gegen den dunkelblauen Himmel.

An der Spitze der Kolonne ritt Sergeant Hassa, ein Böhme mit falschen Augen, der in Colomb-Béchar das Kommando über die ›Neuen‹ übernommen hatte. Freiwillige für Marokko aus Saida, Le Kreider, Bel-Abbés. Hassa selbst kam mit zwei Korporalen und drei Mann aus Géryville. Neben Hassa ritt der Adjutant Cattaneo, Befehlshaber der dritten Sektion, ein Piemonteser, der im aufgedunsenen Gesicht einen graugesprenkelten Schnurrbart trug; seine Haut hatte der Schnaps blau gefärbt – außerdem war er ein Analphabet, und nur mit großer Mühe gelang es ihm, seinen Namen zu unterzeichnen. Aber stets fand er Freiwillige genug, die ihm seine Rapporte schrieben, denn er war gefürchtet ob seiner Grobheit. Wie viele Ungebildete, denen unerwartet Macht zuteil wird, liebte er es, belehrende Vorträge zu halten. Und er war froh, daß Sergeant Hassa ein aufmerksamer Zuhörer war.

Adjutant Cattaneo erzählte von den Zuständen in der zweiten Compagnie montée. Capitaine Chabert führe sie, ein ruhiger, anständiger Mann, der jedoch nicht viel auf Disziplin halte. Mit den Unteroffizieren sei sein Benehmen manchmal unter jeder Kritik – unter jeder Kritik –, denn er gebe immer dem gemeinen Manne recht. Dann wurde die Stimme giftig, denn nun wurde Leutnant Lartigue durchgehechelt. Ein hocheleganter Herr sei dies – un moossiööö! – der sich viel mit Büchern beschäftige, ja, diese Bücher sogar lese! Und elegant sei dieser Herr Leutnant! Fünf weiße Uniformen besitze er und drei khakifarbene! Zum Zeitvertreib –, denn anders könne man wohl seine militärische Tätigkeit kaum nennen – befehlige er die Sektion der Maschinengewehre. Ein Herr, der den Größenwahn habe! Weiter sei über ihn wohl nichts zu sagen… Hassa nickte zu diesen Eröffnungen und sein Lächeln hatte die richtige Nuance der Untertänigkeit.

Nun kam ein anderer Mann an die Reihe, der, obwohl Korporal, doch eine gewisse Rolle in der Kompagnie zu spielen schien.

Lös heiße dieses Individuum, sagte der Fuhrmann aus dem Piemont –, denn dieses ehrliche Handwerk hatte Cattaneo betrieben, bevor er es zu einem kleinen Tyrannen in einem Söldnerheere gebracht hatte. Was diesen Korporal Lös angehe, so habe er vor zwei Monaten die Administration vom Sergeanten Sitnikoff übernommen. Und das Merkwürdige an dieser Verpflegung – an dieser Administration – sei, daß sie nicht eigentlich dem Kommandanten der Kompagnie, dem Capitaine Chabert, unterstehe, sondern dem Intendanzbüro in Bou-Denib. Bitter fuhr der Adjutant fort, sich über das Individuum Lös zu beklagen. Ihm, seinem Vorgesetzten –, denn es sei doch klar, daß dem Range nach ein Adjutant höher stünde als ein Korporal –, ihm also, seinem Adjutanten, habe dieser Lös den Morgenschnaps verweigert!… Und dabei lagerten in der Administration mindestens fünf Fäßlein zu je dreihundert Liter! Fünf Fäßlein!… Kartoffelschnaps!… Wie wohl tat es dem Adjutanten, seinen Grimm über diesen Administrationskorporal Lös auszuspucken! Und wie wohl taten ihm die Bestätigungen von einem Untergebenen! Sie hoben das Selbstbewußtsein, hoben es derart, daß Cattaneo seinen Wallach Trésor mit den Sporen kitzelte – das Roß griff aus und Hassas gemütliches Maultier folgte dem leichten Trab kopfschüttelnd, schnaufend und unwillig…

Die weißen Mauern des Postens waren schon nah und glitzerten in der Sonne wie Firnschnee.

»Ein paar anständige Leut' gibt's schon bei uns«, meinte der alte Kainz hinauf zum Reitenden, denn auch er fühlte sich verpflichtet, den neuen Freund aufzuklären… Sie verstanden sich gut, denn sie waren beide Wiener. Das hatten sie gleich festgestellt. »Der Chabert – das is der Capitaine, der schaut auf uns. Prison und Kriegsgericht –, das kennen mir net. Wenn einer beispülsweis an Rausch hat, so muß er ihn in der Zellen ausschlafen. Und dann laßt ihn der Alt' wieder springen. Dann ham mer noch den Leitnant Lartigue, an feinen Menschen! Groß, fest! Der nimmt dir a Mitraillös mitsamt dem Dreifuß auf eine Hand und stemmt's mit ausgestrecktem Arm; aber Fieber hat er halt immer! Des is schod! Aber wenn du einmal kane Spreizen mehr hast, so gehst einfach zu ihm. Dann schenkt er dir zwei oder drei Packerln… ja…!«

Todd verstand die Anspielung. Die algerischen Zigaretten, die ›Job‹ waren rar in Marokko… Darum suchte er in seiner Tasche, fand ein angebrochenes Paket und reichte es dein alten Kainz. »Na, na… Geh weg… Sei stad! So hab i's net g'meint! I hab noch genug zum Rauchen, und mein Korporal gibt mir, wenn ich brauche…« In der Verlegenheit verfiel er in ein komisches Hochdeutsch. Doch da Todd nicht nachgab, nahm er die Zigaretten doch an.

»Gut! Wenn d'es wüllst… Aber ich revangschier mi dann. Heut am Abend kommst mit mir in die Administration, es is eh vierzehnter Juli – und dann stell i di meim Korporal vor, dem Lös. Der wird dir g'folln… Weißt, i bin in der Administration Fleischhauer…«

»Tränken!« rief der Adjutant, denn die Truppe kreuzte einen Einschnitt, auf dessen Grunde ein spärlicher Bach sickerte. Verkrümmte Oleanderbüsche säumten seine Ufer ein. Die Tiere schwärmten aus, senkten den Kopf, während die Reiter sich nach hinten lehnen mußten, weit zurück, um nicht abzurutschen. Dann hoben die Esel wieder ihre Schnauzen, und die Wasserfäden, die von ihren Mäulern hingen, schillerten in allen Regenbogenfarben…

Während das Detachement im Gänsemarsch weiterzog (vorn die Fußgänger, dann die Reiter), fragte Cattaneo:

»Und wie sind die Leute, die Sie mitgebracht haben?«

»Die meisten kenne ich zu wenig.« Hassas Französisch war gut, denn er diente schon seit sechs Jahren. »Ich habe sie erst in Colomb-Béchar übernommen. Aber von denen, die sich in Géryville gemeldet haben, kann ich wenig Gutes berichten. Meistens Kranke, und der Capitaine war froh, sie abzuschieben…«

»Die will ich in meine Sektion«, unterbrach der Adjutant. »Die werd' ich mir kaufen! Ich kenn' nämlich keine Kranken und will sie schon dressieren – die Bürschlein, die Vögelein!«

Er lächelte ein ziemlich häßliches Lachen, die Zähne unter seinem Schnurrbart waren gelb und abgefressen, und die Falten, die das Lächeln entstehen ließen, gaben dem Gesicht einen dumm-grausamen Ausdruck – bei Schwachsinnigen läßt sich ein ähnlicher beobachten. – Dann spuckte Cattaneo kunstgerecht durch eine Zahnlücke und traf das Pferd auf die Nüstern. Trésor wollte bocken, aber ein Ruck an der Kandare zwang das Roß wieder zu zitternder Untergebenheit.

Ein kahler Platz – ein richtiger Exerzierplatz. Rechts niedere Häuser mit gelbgestrichenen Lehmmauern – ein vorstehendes Gebäude war mit einer Veranda geschmückt.

»Das ist unsere Pinte«, erklärte der Adjutant. »Und die schöne Farbe, die zum Anstrich verwendet worden ist, habe ich entdeckt… Eine Art Erde, die ganz in der Nähe zu finden ist. Schön! Finden Sie nicht?« Hassa nickte.

»Und dort«, Cattaneo wies auf ein einzelstehendes Haus, das hinter der roten Mauer, die es umgab, kaum zu sehen war, »das ist unser Kloster! Hahahaha!« Er ließ sein Lachen scheppern, zog die Luft geräuschvoll ein und begann es dann von neuem… Hassa stimmte devot ein. »Jaja, Sie werden es nicht glauben! Schöne Weiber haben wir hier! Zehn für zweihundertfünfzig Mann – ohne die durchziehenden Truppen zu zählen. Glauben Sie mir das, mein lieber Sergeant – wie war doch Ihr Name? – Hassa! Ganz richtig! Mein lieber Hassa! – Natürlich, diese Weiber sind nur da für die Mannschaft. Wir (es lag eine Welt von Hochmut in dem ›wir‹), wir Offiziere haben unsere Frauen hier im Dorf (er wies auf die paar Lehmbaracken), die Sergeanten auch, wenn sie es nicht vorziehen, sich eine nette Ordonnanz auszusuchen.« Er verschluckte sich und mußte lange husten. Schweratmend fuhr er fort: »Ich sage Ihnen, Sergeant, diese Weiber! Vergiftet sind sie bis in die Knochen! Zwar kommt der ›Toubib‹ (und ich brauche Ihnen wohl nicht zu erklären, daß wir den Arzt hier ›Toubib‹ nennen) von Rich, um sie zu untersuchen. Aber was nützt das? Sie kümmern sich den Teufel drum, ob sie konsigniert sind oder nicht. Wenn sie nur Geld einnehmen! Und die Alte, die das B.M.C. führt…«

»B. M.C.?« unterbrach Hassa fragend.

»Man könnte meinen, Sie seien ein Neuling, lieber Hassa. Ah, Sie haben nur Tonkin gemacht? Dann, ja dann… Nun das B. M. C. ist das ›Bordel militaire de campagne‹. Untersteht der französischen Administration, auf Marsch werden ihm Zelte und Saumtiere zur Verfügung gestellt. B.M.C. Kürzer könnte man es nicht benennen… Die Alte war seinerzeit die Freundin des Sergeanten, der vor dem Vorgänger jenes Lös die Administration führte. Ein dickes Weib!… Aber Liebe macht blind – sagt man nicht so? Der Sergeant nannte die Alte: ›Mutatschu Guelbi!‹ – ›Mein kleines Herz!‹ Prächtig, nicht wahr?«

Der alte Kainz zeigte auf einen Bau, links am Rande des großen Platzes – Feigenbäume wuchsen hinter seinen Mauern. Der Bau glich in der Form dem Posten – nur war er kleiner und nicht von drei Reihen Stacheldraht umgeben. »Schau«, sagte der Metzger. »Das dort ist das ›bureau arabe‹ – Dort darf sich der Bicot über uns beschweren…« Ein Trupp grauer Kapuzenmäntel flatterte aus dem Tor, zerstreute, ballte sich dann wieder zu einer festen Masse… Vor ihr spazierte ein schlanker Mann hin und her, barhaupt, aber die schwarzblauen Haare wirkten wie ein stählerner Kettenhelm.

»Das is der Capitaine Materne«, sagte Kainz. »Auch ein Bicot… Ein Araber… Sein Vater soll Scheich gewesen sein in der Gegend von Rabat – und reich is er a, der Materne… Weißt, unser Alter muß ihm folgen, denn der Materne is Platzkommandant –. Die grauen Leit hinter ihm des san Maghzen; die wern aufbotten ›zu Aufklärungsdiensten‹, wenn mir unterwegs san… Aber der Materne zahlt sie schlecht. Darum muß er si mit eana streiten. Aber ihm kann nix passieren. Denn in dem Bau dort liegen no Gums – marokkanische Kavallerie – aber eigentlich folgen's nur ihrem Sultan in Fez. Das is auch so a G'schicht, wo niemand sich auskennt. Mir kommen gut aus mit die Gums – denn unser Korporal, der Lös, der gibt eane guets G'wicht. – Das Häuserl, das du dort siehst, is das Schlachthaus. Da geh i jeden Morgen meine acht Schaf abstechen… Was für Viecher! Haut und Knochen! I sag dir: zwölf Kilo Lebendgewicht. Und Würm in der Leber! So groß!« Kainz streckte den Zeigefinger aus.

Vor dem Eingangstor war in die drei Reihen Stacheldraht eine Öffnung geschnitten. Aber an der Seite standen Gestelle, ebenfalls mit Stacheldraht überzogen, die genau in die Öffnung paßten. An der Mauerecke, die dem Eingang am nächsten war, drohte das Rohr einer Kanone gegen die Berge im Süden, und dort war der Himmel hell. »Die große Sahara…!« murmelte der alte Kainz noch mit zahnlosem Mund und sprach das Wort wie den bekannten jüdischen Vornamen aus. Dann ließ er Todd absteigen, nahm das Maultier am Halfter und folgte den andern zum Park.

Furchtsam drängten sich die Neuen zu einem Häuflein zusammen, mitten im Hof, den vier niedere Baracken einsäumten. Der Adjutant hatte sich unter einem vorspringenden Dächlein einen schattigen Platz ausgesucht und saß dort mit hochgezogenen Knien, die Hände auf den Schienbeinen gefaltet. Hassa flüsterte aufgeregt auf den buckligen Sergeanten Schützendorf ein, der schmierig aussah. An seinem Uniformrock fehlten Knöpfe, und seine Wangen waren unrasiert. Er kam aus Saida.

Plötzlich rollte um die Ecke der einen Baracke eine khakifarbene Kugel, die viel Staub aufwirbelte. Etwas schien ihren Lauf zu hemmen, denn sie hielt an und war ein kleiner, sehr kleiner und dicker Mann mit zerknitterter Uniform. Die Policemütze, ohne Schirm, aus dickem, resedagrünen Stoff, war tief über den Kopf gezogen. Die Wangen sahen aus wie rote Polster aus einem Puppenbett… Der Adjutant stand gemütlich auf, und sein Kommando: »Auf zwei Reihen!« klang mehr wie eine im Gesprächston gegebene Aufforderung. »Garde à…«, sagte er noch, aber das ›vous‹ mußte er verschlucken, denn die dicke Gestalt winkte ab mit müder Gebärde. Die Neuen betrachteten verwundert den Mann, der mit seinen kurzen Armen eine kreisförmige Bewegung beschrieb. Sie sammelten sich, und ihr Geflüster raschelte.

»Ich bin«, sagte der Unscheinbare, »euer Capitaine, meine Kleinen. Seid ihr gut gereist? Ja?« Erstaunte, fragende Blicke kreuzten sich. Wollte sich der Mann einen Spaß erlauben? Einen solchen Ton war man in der Legion nicht gewohnt. Als alle stumm blieben: »Ich möchte gern eine Antwort! Seid ihr gut gereist? Habt ihr eine Klage vorzubringen? Redet nur ruhig. Oder, wenn einer von euch nicht öffentlich reden will, so mag er sich melden und nachher zu mir ins Büro kommen. Ich bin da, um euch zu eurem Recht zu verhelfen. Nun, nochmals, seid ihr gut gereist?«

Zögernd, im Chor, die Antwort »Oui, mon capitaine.«

»So ist's recht. Ich merke, ihr müßt euch zuerst an meine Art gewöhnen… In Algerien, denk' ich, hat man euch nur angeschnauzt und sich dann nicht weiter um euch gekümmert. Nun, hier bei mir im Posten, ist das anders. Ich fühle mich verantwortlich für euch alle, ja für alle…« Wieder die kreisförmige Bewegung mit den Ärmchen. »Ihr sollt es gut haben hier. Wenn ihr euch Frankreichs Fahne verpflichtet habt, so sollen wir, eure Vorgesetzten, als Vertreter der großen Republik, euch Dank wissen dafür. Jawohl… Nun, heute habt ihr frei – ihr und meine Kompagnie… (das Wort ›meine‹ unterstrich der Capitaine mit stolzer Betonung und Gebärde)… Meine Kompagnie und ihr habt heute frei – der 14. Juli ist ein festlicher Tag, und feierlich wollen wir seinen Abend begehen. Was für ein Tag es ist – heut abend werd ich's euch erklären. Morgen wird der Chef eure Effekten nachsehen – jetzt könnt ihr abtreten.«

Er fuhr mit seiner feisten Hand ganz scharf zur Stirne, die versteckt war unter dem resedagrünen Stoff der Policemütze – aber weder auf ihr noch auf den Ärmeln glänzten die drei goldenen Borten seines Grades. Und dieser ungewohnt korrekte Gruß (in Algerien hatten gewöhnlich die zwei Finger eines Offiziers Mühe, sich in Schulterhöhe zu heben) schien die Zuhörer des kleinen, unscheinbaren Mannes zu begeistern. Es knallten die Absätze, als sie aneinanderprallten, gestreckt fuhren die Hände zu den Korkhelmen und blieben dort, die Handfläche nach außen.

Capitaine Chabert aber trollte sich wieder, ohne den Adjutanten beachtet zu haben.

Die Leitung des abendlichen Festes hatte Sergeant Baguelin übernommen, ein rothaariger Südfranzose, dessen zarte, mit viel Sommersprossen übersäte Haut die Sonne auch nach sechs Monaten noch nicht hatte braun brennen wollen. Er gehörte nicht der Fremdenlegion an, sondern der Kolonialtruppe, besorgte die Post und bediente das Telephon.

Mit Sergeant Hühnerwald von der Cooperative und Korporal Dunoyer (16 Dienstjahre, davon zwölf in den ›Travaux publics‹) hatte er am Nachmittag die Baracke der Mitrailleusensektion ausgeräumt und die Bühne auf zehn Fässern aufgestellt, die Korporal Lös von der Administration geliehen hatte. Wenig Sitzgelegenheiten: ein paar alte Feldbetten, deren Füße mit Draht befestigt waren. In der ersten Reihe standen drei wirkliche Stühle…

Die Vorstellung begann nach dem Nachtessen, das überaus reichlich gewesen war. Vier Mundharmonikabläser eröffneten das Programm: sie spielten die Marseillaise und stampften dazu im Takt über die Bretter, die sich in der Mitte bogen. Die Zuschauer hatten sich erhoben, der Capitaine sang laut mit, einige brummten die Melodie, die andern standen schweigend und gelangweilt, mit gefalteten Händen, wie in der Kirche. Dann traten die Spieler ab, und alles ließ sich wieder nieder. Die Feldbetten aber konnten das schwere Gewicht nicht tragen, sie brachen zusammen, worauf sich die Versammlung verpflichtet fühlte, ein lautes Lachen erschallen zu lassen. Auch der Capitaine, bequem zurückgelehnt auf seinem Stuhl, ließ ein überzeugtes Wiehern hören. Er hatte in der ersten Reihe Platz genommen. Rechts von ihm hockte seine Ordonnanz, der ungarische Kommunist Samotadji, dessen blonder Bart am Gürtel spitz auslief; links saß der Korporal Hans Lös mit verschränkten Beinen, in einer Stellung, die er vom Scheich des nahen Dorfes gelernt hatte. In weitem Halbkreis umgaben den Capitaine noch etwa zwanzig Mann, als eine Art Leibgarde, und unter dieser befand sich ein einziger Gradierter, eben jener Korporal Lös. Die Vorliebe des Capitaines für den gemeinen Mann war allzu bekannt. Er trug noch immer seinen verwaschenen Khakianzug, der nirgends die drei goldenen Streifen seines Grades sehen ließ.

Aus seinem wohlausgestatteten Zimmer hatte Peschke, Leutnant Lartigues Ordonnanz, einen Klubsessel geschleppt, in dem der Leutnant mit langausgestrecken Beinen lag. Die weiße, gut gebügelte Uniform ließ seine massigen Glieder noch dicker erscheinen. Sein blondes Haar zitterte im Luftzug über der gelben Rundung seiner Stirne; Müdigkeit hatte rund um die Augen und um die trockenen, weißlichen Lippen Falten eingegraben. Am Morgen hatte er einen Fieberanfall gehabt und darum zwei Gramm Chinin geschluckt. Außerdem hatte ihm seine kleine arabische Freundin draußen im Dorf einen Aufguß von Hanfblättern bereitet. Deshalb glänzten seine starkvorgewölbten Augen im Flimmern der vielen Kerzen, die rings an den Wänden auf kleinen Holzbrettern brannten. Nur vorn an der Bühne waren Karbidlampen aufgestellt, deren Pfeifen in der bisweilen einsetzenden Stille deutlich zu hören waren. In einer Ecke, auch in der ersten Reihe, saßen, wie auf einer Insel, voneinander wie durch eine gläserne Wand getrennt, Leutnant Mauriot und Adjutant Cattaneo. Leutnant Mauriot, dessen glattes Bubengesicht vergebens versuchte, sich in verächtliche Falten zu legen – zu gespannt und jung war noch seine braune Haut – und des Adjutanten versoffenes Gesicht, das im gelben Licht grünlich leuchtete, wie das Gesicht eines Ertrunkenen, waren trotz dem Platzmangel von einem kleinen, leeren Raum umgeben, der unübersteigbar schien. Von Zeit zu Zeit warf Leutnant Lartigue aus seinen Kugelaugen einen spöttischen Blick nach den beiden, und ein andauerndes inneres Gelächter, das sich nicht entladen konnte, durchschüttelte seinen Körper.

Endlich, nach einer langen Pause, erschien Sergeant Baguelin auf der Bühne. Um seine knochige Hüften hatte er ein buntes Tuch gewunden, und um den nackten Oberkörper, in der Höhe der Brustwarzen, ein gepolstertes Bändchen geknüpft, das wohl einen Büstenhalter vorstellen sollte. Eckig, mit den Hüften pendelnd kreuzte er über die Bretter, wobei die hölzernen Absätze, die er an seine Tuchschuhe geleimt hatte, im Steptakt klappten. Er sang mit hoher Stimme:

»Et puis si par hasard, Tu voyais ma tante…«

Dazu zwinkerte er. Das Wort ›Tante‹ löste ein lautes Brüllen aus. Chabert beugte sich zu Lös, klopfte ihm auf die Schulter und kniff das linke Auge zu. Lös fühlte sich geschmeichelt; er war der einzige Unteroffizier, dem der Capitaine Freundschaft bewies, wahrscheinlich weil er kein Kommando hatte.

Leutnant Lartigues Gesicht war naß. Das endlich ausgelöste Gelächter hatte einen Schweißausbruch zur Folge gehabt, und seine Haare waren strähnig geworden. Sein Gesicht schien nun eingefallen, alt und durchfurcht, der Nasenknochen trat deutlich hervor, schmal und spitz, unter der dünnen Haut.

Aber der Lärm verstummte plötzlich, und eine schier ehrfurchtsvolle Stille legte sich auf die Köpfe der vielen, die wie abgelöste Kugeln auf der dunstigen Luft schwammen. Eine Frauengestalt stand auf der Bühne, in einem einfachen braunen Kleid, das von den Schultern geradlinig herabfiel. Die Haut, von einem warmen Braun, war wenig heller nur als die Augen, die ruhig und ein bißchen matt in die Ferne sahen.

Erst stand die Gestalt reglos und ließ die Arme entspannt herabhängen. Der Scheitel, der ihr dunkles Haar auf der rechten Seite teilte, war ein sehr weißer Strich, das einzige Weiße an der Erscheinung. Und sie begann zu singen, in deutscher Sprache, ohne merkliche Bewegung, nur der Kopf schwankte sanft auf langem Halse im Takte der Melodie:

»Wir sind die Dollarprinzessen, Mädchen aus lauter Gold.«

Deutlich war die Wirkung des Gesanges in der schweren Stummheit; die gespannten Körper der Lauschenden füllten den Raum mit einer harten Sehnsucht, und die Seufzer, die laut wurden, rissen bunte Fetzen aus den vielen Vergangenheiten und warfen sie in die Baracke, die umgeben war von einer hellen Nacht, einer fremden und feindlichen.

Als sie geendet hatte, verbeugte sich die Frauengestalt leicht und bescheiden, und hielt dabei die Hände in ihrem Schoß gefaltet. Nun schwoll Klatschen an und Füßegetrampel, immer stärker wurde der Lärm. Pfiffe zerschnitten ihn und begeisterte Schreie; all dies schien die Gestalt nicht zu berühren. Sie verbeugte sich noch einmal und ging dann ab, mit leicht wiegenden Schritten. Aber der Beifall rief sie noch einmal hervor. Mit gut gespieltem Zögern betrat sie die Bretter von neuem, verneigte sich, streckte beschwichtigend die flache Hand aus. Der Lärm brach ab.

Die gleiche Stimme, leise, farblos, ein wenig belegt, so, als müsse sie sich durch einen dünnen Stoff durcharbeiten, begann wieder zu singen: das gleiche Lied. So, ohne jegliche Begleitung, einzig getragen von ihrer eigenen Schwäche und unterstützt von den spärlichen Bewegungen des Kopfes, drang sie doch bis in die hinterste Ecke. Aber die braunen Augen verschmähten es, all die Blicke aufzufangen, die sich wie in einem Knotenpunkt auf ihrem Gesicht trafen. Sie waren in die Ferne gerichtet, sahen wohl nichts, enthielten weder Sehnsucht noch Erinnerung.

Als sie geendet hatte, beugte sich Chabert zu Lös. Recht anzüglich ließ er das linke Lid einige Male über das Auge klappen und meinte dann: »Hä, Lös, das wäre wohl was für diese Nacht, meinst du nicht, mein Kleiner?«

Lös schreckte auf und wunderte sich über die Sehnsucht, die ihn langgezogen seufzen ließ. Dann zuckte er mit den Achseln.

»Das ist ja nur Patschuli, mon capitaine, und der ist schon so gut wie verheiratet.«

»Verheiratet, haha, verheiratet. Hören Sie doch, Lartigue, was der kleine Lös mir da erzählt.« Der Capitaine beugte sich zum erschöpften Leutnant, um ihm hinter dem Handrücken den guten Witz zu erzählen. Aber Lartigues spröde Lippen blieben fest geschlossen, kein Lächeln vermochte sie zu biegen. Er schien taub zu sein, und der Capitaine wandte sich wieder der Bühne zu.

Dort trat soeben ein sonderbares Wesen auf. Es schien auf einem Schiebkarren einen andern vor sich her zu fahren. Aber bei aufmerksamem Hinschauen erkannte man, daß der Mann den Oberkörper einer Puppe auf den Rücken geschnallt trug, die in seinen lebenden Beinen auszugehen schien, während ein Paar ausgestopfte Hosen auf dem Schiebkarren mit dem Oberkörper des Mannes verbunden waren. Das Ganze sah grob und grausam aus, die Züge der Puppe waren wild bemalt, sie zeigte scharfe Holzzähne und schlenkerte erschreckend mit den toten Armen. Der Mann selbst hatte auch sein Gesicht ganz weiß angemalt, mit schwarzen Kohlefurchen die Schatten nachgezogen, die durch die Wangen liefen und durch die Stirn, und der große, blutige Mund zog sich bis zu den Ohren. Niemand erkannte zuerst das furchtbare Doppelgeschöpf, bis schließlich einer, der Bescheid wußte, flüsternd die Aufklärung weitergab: »Das ist der Hühnerwald.«

Capitaine Chabert bearbeitete ununterbrochen seine Schenkel mit den Händen, er hüpfte auf seinem Stuhl und konnte nicht aufhören mit »Ah« und »Oh« und »épatant«. Selbst der Adjutant schien aus seiner Starrheit zu erwachen, ein lautes befriedigendes Grunzen ließ seine langen Schnurrbarthaare zittern.

»Enfin, j'ai une auto Et j'y proméne ma femme.«

sang oben das weiße Gesicht und stieß den Schiebkarren über die holprigen Bretter.

Als er nach einigen Reigen verschwunden war, erschienen wieder die vier Mundharmonikabläser; sie spielten nun den Sambre-et-Meuse-Marsch, traten dann ab, und Capitaine Chabert bestieg die Bühne. Breitbeinig stand er oben und winkte Lös und den Sergeanten Sitnikoff zu sich herauf. Er wirkte klein und unscheinbar zwischen seinen beiden Untergebenen. Mit zu kurz geratenen Bewegungen erzählte er von der Erstürmung der Bastille, sprach von der Freiheit, die Frankreichs Volk über ganz Europa gebreitet habe. Auch im vergangenen Krieg sei sein Blut für die Befreiung der Menschheit geflossen, und nun folge es weiter seinen edlen Traditionen, wenn es den Flüchtlingen aller Nationen ein Asyl gewähre gegen die Verfolgungen ihrer Regierungen: den Russen gegen die bolschewistische Diktatur, den Deutschen gegen die Reaktion. Frankreich genüge es, zu wissen, daß alle treu zu seiner Ehre stünden, die es aufgerichtet habe vor mehr als hundert Jahren: die Tricolore. Ob Sozialist, Kommunist oder Royalist, ob Verbrecher oder Unglücklicher, Frankreich frage nur nach Tapferkeit und Treue. Und diese Eigenschaften seien stets hochgehalten worden in der Legion.

»So«, sagte Capitaine Chabert und wandte sich zu seinen Begleitern, »nun erzählt ihr meine Geschichte in eurer Sprache, damit alle etwas davon haben.« Damit vergrub er seine Hände in den Taschen seiner verknitterten Hose und lauschte mit gekniffenen Augen den fremden Lauten, die den Mündern seiner Genossen entströmten.

Leutnant Lartigue suchte verschlafen nach Peschke, um sich heimführen zu lassen. Er fühlte sich allzu unsicher auf den Beinen. Und da er seine Ordonnanz nicht fand, winkte er Lös zu sich heran.

»Lös«, sagte er, »der Alte hat gut reden. Asyl! Lächerlich. Parlamentarierschlagworte. Und den armen Leuten spricht er von einer neuen Heimat. Ich bitte Sie! Nun ja, der Alte behandelt sie gut, aber… Na, im Grunde geht mich ja die ganze Sache nichts an.« Er seufzte laut, denn er mußte daran denken, daß er diese Nacht wohl würde allein schlafen müssen. Er war heute nicht stark genug, um seine kleine Freundin unter dem lang herabfallenden Mantel am grinsenden Wachtposten vorbeizuschleppen. Offen konnte er sie nicht in den Posten führen. Der Alte würde sich allzusehr aufregen: Anstand mußte gewahrt bleiben. Lös hatte sich auf die Armstütze des Stuhles gesetzt. Die schwere Hand des Leutnants legte sich auf seine Schulter: »Hören Sie, bringen Sie mir doch heute abend noch einen halben Liter Schnaps. Sie verstehen doch? Ich könnte ja in der Cooperative kaufen, aber dort gibt es nur edlen, den man fast Likör nennen müßte. Während Ihr Schnaps so durchaus gemein und giftig ist, daß er mein anständiges Gemüt erquickt. Auch habe ich die drei letzten Nummern der »Nouvelle Revue Française« erhalten. Sie stehen zu Ihrer Verfügung, zusammen mit ein paar allerneuesten Schmökern. Übrigens, große bittere Neuigkeit: Proust ist gestorben.« Des Leutnants Stimme klang traurig, fast, als habe er den Tod eines sehr nahen Freundes erfahren. »Ich habe ein Bild von ihm.« Lartigue schloß Daumen und Ringfinger zu einem Kreis und zerschnitt damit die Luft in kleine Zylinder. »Darauf sieht er aus wie eine weiße, dicke Spinne, die irgendwo in einem verdunkelten Raume sitzt und die schillernden Fliegen des Klatsches in silberne Fäden einspinnt.« Er schnalzte leise mit der Zunge, als sei er vom Geschmack seines Satzes richtig entzückt.

»Proust ist also tot?« wiederholte Lös, und auch seine Stimme klang traurig, denn ein Stück Vergangenheit flog an seinen Augen vorbei: eine Bank am See, ein weicher Wind, der mit den Blättern der Bäume spielt. Er liest die Geschichte Swanns, die ihn tröstet, irgendwie, weil er selbst gerade eifersüchtig ist. Vor drei Jahren war dies. Was ist nur seither geschehen, daß er hier in einem kleinen Posten sitzt, daß er den Liebenswürdigen spielen muß, um nur seinen Druckposten in der Verpflegung beizubehalten? Lieber nicht an Vergangenes denken! Lang sind die Nächte in dieser Verwaltung, weil der Körper den Tag über nicht genug Müdigkeit zu einem tiefen Schlaf hat aufspeichern können. Und darum sind die Nächte bisweilen angefüllt mit Verzweiflung, die sich nicht vertreiben läßt, sondern wieder kommt, wenn man sie verscheuchen möchte wie einen Fliegenschwarm. Ja, in Bel-Abbés hat er noch Angst gehabt, die fünf Jahre könnten zu schnell vergehen und er müsse wieder zurück in die Verantwortlichkeit und den Kampf, dort in Europa. Aber seit einem Jahre etwa ist diese Angst verschwunden, und nur die Sehnsucht ist geblieben: die Sehnsucht nach Städten, nach dem Asphalt der Straßen, den der Wind hobelt, nach einem Kaffeehaus, dem Klinglerquartett und vielleicht auch nach einer weißen Frau.

Lartigue hatte die Augen geschlossen, und Lös verließ ihn. Als er an der Bühne vorbeikam, hockte dort in einer Ecke die braune Frauengestalt, die vor kurzem gesungen hatte. Zerflossen war die Schminke, das Gesicht sah alt aus, mit bläulichen Schatten auf den Wangen. Die gefalteten Hände hielten die Knie umschlossen.

»Was ist los, Patschuli, bist du traurig?« fragte Lös. Patschuli hieß eigentlich Erich Laumer. Er sei Damenimitator gewesen, früher, so erzählte er. Sonst war sein Ruf sehr eindeutig in der Kompagnie.

»Wie meinen Sie, Korporal?« Patschuli versuchte beleidigt auszusehen, runzelte die Stirne und gab seinem Mund die Form eines Halbmondes.

»Verzeihen Sie mir.« Lös verbeugte sich und legte die Hand auf die Brust. »Aber vielleicht gestatten Sie mir, Sie zu einem Glase Wein einzuladen.«

»Oh«, sagte Patschuli, stand auf und schlängelte seinen Körper. »Aber Sie müssen meinen Freund auch einladen. Fritz«, rief er, »ein Herr will uns zu einem kleinen Imbiß einladen. Hältst du mit?«

Zwischen den Fässern kam gelenkig Fritz Peschke hervorgekrochen, apfelgelb das Gesicht, als sei er leberkrank, eine schwarze Locke wie ein dickes Komma mitten in der Stirn.

»Kennen sich die Herren?« flötete Patschuli und legte seine Hand auf die Schulter des Freundes. Es lag doch viel echte Zärtlichkeit in dieser Bewegung.

»Laß die Faxen«, fuhr Peschke auf, seine Hand schnappte nach den Fingern des andern und preßte sie roh zusammen.

»Nein doch, du tust mir weh.« Der Ton dieser Worte war vorwurfsvoll und die Stimme so weibisch, daß Lös ein wenig zusammenzuckte: wieder wollte ihn Sehnsucht überkommen, Sehnsucht nach etwas Unbestimmtem, nach den Zärtlichkeiten einer Frau vielleicht, die man zum Weinen gebracht hat, und mit der man dann, versöhnt, Arm in Arm, durch helle Straßen geht, an erleuchteten Schaufenstern vorbei. Kleider bewundert man dort, während Hupen und Sirenen singen und Trambahnklingeln die Begleitung spielen. Ein breiter Fluß rauscht in der Nähe.

Aus der leeren Baracke rief eine müde Stimme: »Führen Sie mich zuerst in mein Zimmer, dann können Sie meinetwegen gehen.«

Patschuli und Lös sahen zu: Mühsam erhob sich Leutnant Lartigue, stützte sich schwer auf die Schulter des Kleineren, der gerade die richtige Höhe zu haben schien, und ging schwerfällig zur Tür. In der Türe wandte er sich um: »Auf später, Lös, Sie kommen doch noch?«

Aber Peschke drängte vorwärts, und der Leutnant mußte folgen. Bevor er die Türe schloß, warf Peschke noch einen eifersüchtigen Blick auf den zurückbleibenden Freund.

Lös mußte lächeln. Und er dachte wohl an ferne Dinge, denn er knallte mit der Stirn gegen den niederen Türbalken, als er die Baracke verlassen wollte.

Draußen war die Nacht weit und hoch. Der Wind hatte mit viel feinem Sand die Wellblechdächer glattgeschmirgelt, so daß sie nun spiegeln konnten, wenn der Mond sein weiches Licht über sie legte.

Der Hof der Verpflegung war ein Quadrat mitten im Rechteck des Postens. Drei niedere Schuppen enthielten Wein und Mehl und verschiedene Nahrungsmittel. Zwei kleinere Kammern, die sich an den Weinschuppen lehnten, wurden von Lös bewohnt. In einer Ecke des Hofes erhob sich ein Turm, der höchste Bau des ganzen Postens, auf dessen flachem Dach eine Fahne wehte. Dort wohnte der Alleinherrscher, Capitaine Gaston Chabert, der mit seinem Namensvetter aus Balzac weder das tragische Schicksal noch die grausame Frau gemeinsam hatte.

Eigentlich regierte die Frau des Capitaines die ganze Kompagnie, obwohl sie in Frankreich lebte. Im Turmzimmer stand ihre Photographie auf einem kleinen Tisch. Ein volles Gesicht mit Doppelkinn und engem Mund. Sehr vorwurfsvoll und unversöhnlich blickten die Augen. Capitaine Chabert war vor dem Kriege Kassenbote in Rouen gewesen; seine Frau stammte aus einer alten Hugenottenfamilie. Der Capitaine hatte dies seiner Ordonnanz Samotadji erzählt; da aber die Ordonnanz ihre Kenntnisse des Französischen aus den Briefen der Frau Chabert bereicherte, so erfuhr die Kompagnie nach und nach von der Güte dieser fernen Frau. Milde, schrieb die Gattin, sei den Soldaten entgegenzubringen, denn Menschen seien sie und Geschöpfe Gottes; unerbittlich werde der Höchste Rechenschaft verlangen über jede Grausamkeit, über jedes zugefügte Leid. Schwere Strafen seien vorgesehen für denjenigen, der einem dieser Unglücklichen (heimatlos seien sie und bisweilen von großer Schuld bedrückt) Leid zufüge und Schmerzen, schwere Strafen auch in einem unerbittlichen Jenseits. Dies war wohl der Grund, warum Capitaine Chabert selten jemand einsperrte. Auch seine angeborene Gutmütigkeit half ihm dabei. So kam es, daß das Arrestlokal, eine schmale Zelle mit einem Zementblock zum Liegen, meist leer stand; länger als eine Nacht war diese Zelle nie besetzt. Grund der Einkerkerung war dann gewöhnlich sinnlose Betrunkenheit. Am folgenden Morgen entließ der Capitaine den Verkaterten mit väterlichen Ermahnungen: »Das nächstemal, mein Kleiner, mußt du früher zu Bett gehen. Denke daran, der Zement ist hart und kalt, und mir bereitest du Schmerz, wenn ich dich nicht auf deiner Matratze schlafen lassen darf.« Klagte jedoch ein Unteroffizier über die Unbotmäßigkeit eines Mannes, so erhielt er zur Antwort: »Du hast Fäuste, mein Kleiner, gebrauche sie. Und wenn du eine Beleidigung deiner Schnüre fürchtest, kannst du ja den Rock ausziehen.«

Lös ging über den Hof. Die weißen Mauern beschien der Mond. Er war wie eine Milchglaslampe in der hohen Decke des Himmels eingelassen. An die Mauer der Verwaltung stieß der Park, der die Schafherde umschloß. Ein Lamm weinte leise und feucht.

Als Lös die Tür zu seiner Kammer öffnete, sprang ihm Türk entgegen. Die kalte Schnauze des Hundes berührte sein Kinn. Türk stieß ein rhythmisches Bellen aus, einen langgezogenen Ton zuerst, hoch und schrill, dann zwei tiefe knurrende Laute. Türk hatte große Ähnlichkeit mit einem Dackel, nur war er größer. Vor zwei Monaten war er in die Verpflegung gekommen, abgemagert und zerzaust. Seither hatte er sich satt essen können. Nun war er dick und walzenförmig geworden. Die gebogenen Beine vermochten den schweren Körper nur mühsam zu tragen; am meisten war ihm das langsame Gehen beschwerlich. Darum machte er meist Sätze, die ihn weit über das Ziel hinaustrugen; er kroch dann auf dem Bauche zurück.

»Hör, Korporal«, sagte der alte Kainz und trat mit einem Unbekannten aus dem Schatten der Mauer. »Da ist ein Freund von mir, der heut mit den Neuen angekommen ist. Ich kenn ihn schon von Bel-Abbés. Ist ein lieber Kerl. Und da schau, Korporal, eine echte Job noch, ich hab sie für dich aufgehoben. Da, der Todd hat sie mir geschenkt. Mit seinen letzten. Ist kein geiziger Kerl. Kannst ihm auch ein Bidon Wein spendieren.«

»So, Todd heißt du.« Es war keine Frage, eher eine Feststellung. Lös betrachtete den Neuen im Scheinwerferlicht des Mondes. Das gelbe Gesicht war knochig und lang, mit spärlichen schwarzen Härchen, die aus dem Kinn wuchsen und das Gesicht noch länger und dünner machten. Lös streckte die Hand aus, der andere legte die seine darein. Sie war kalt und trocken. Die Hände blieben lange verbunden, wenigstens schien es den beiden so.

»Bleib doch hier«, sagte Lös, »dann kannst du ein paar Leute kennen lernen. Oder mußt du zum Appell?«

Todd nickte. Er schien nicht gern zu sprechen. Die beiden setzten sich nebeneinander auf den Boden und lehnten sich gegen die Mauer der Hütte.

»Du, Kainz, bring dem Leutnant Lartigue noch einen halben Liter Schnaps. Da hast du die Schlüssel.«

Sie blieben allein und schwiegen. Lös schätzte die Schweigsamkeit des andern. Sie war sonst nicht üblich in der Legion; im ersten Ansturm mußte gleich die ganze Lebensgeschichte erledigt werden, alle waren sie Grafen, Millionäre, große Verbrecher oder Anführer, Offiziere oder Revolutionäre gewesen. Todd aber schwieg; er hatte die Arme über der Brust verschränkt, und der Mond beleuchtete seine Handgelenke, die merkwürdig geformt waren, dünn, mit riesigen Gelenkkugeln, »Warum hast du diesen verrückten Namen gewählt: Todd?« fragte Lös. Dabei legte er zögernd die Hand auf die magere Schulter, die an seine streifte.

»Den Namen habe ich gewählt, weil ich wirklich Sehnsucht hatte nach dem Tod. Das klingt ganz blöd, ich weiß es schon. Aber du weißt vielleicht auch, wie es ausgesehen hat, drüben bei uns, in Wien besonders. Wir waren so ein paar nach dem Krieg und der Revolution. Haben nicht mehr recht gewußt, was machen. Ein wenig schieben, aber die Kabarette, wo man das Geld verplemperte, öd waren die. Und dann all die Leut', die auf der Straße umgefallen sind, weil sie nichts mehr zum Essen gehabt haben. Ganz gleichgültig war's uns auch nicht. Einer hat sich erschossen. Ich hab nur einen Scheck gefälscht, und wie sie mich packen wollten, war ich schon auf dem Bahnhof unter französischem Schutz, engagé pour la légion.« Wieder schwieg Todd und rieb seine langen Hände gegeneinander.

Vom Weinschuppen her kam ein scharfer Essiggeruch. Und dieser Geruch weckte in Lös eine Erinnerung. Er sah seinen Vater, der während des Mittagessens eigenhändig den Salat anmachte: Zwei Löffel Olivenöl, dann kommt auf den Grund des Holzlöffels eine Messerspitze Senf, die Höhlung wird mit Essig ausgefüllt, und die Holzgabel verrührt den Senf. Die braune Flüssigkeit spritzt in die Schüssel, und im warmen Zimmer verbreitet sich der Essiggeruch.

»Mich hat der Vater in die Legion geschickt«, hörte Lös sich sagen. Dabei schaute er auf die gegenüberstehende Mauer, über die das Mondlicht einen weißen Stoff gebreitet hatte, der ein Stück weit noch den Boden bedeckte. »Hingebracht sogar, bis ins Rekrutierungsbüro nach Straßburg. Weißt du, ich hab in der Schweiz gelebt und hab dort ein paar Dummheiten gemacht. Schulden und so. Und die Schweizer haben mich in eine Arbeitsanstalt stecken wollen. Liederlicher Lebenswandel. Und da bin ich zu meinem Vater nach Deutschland gefahren. Der hat mich zuerst wieder in die Schweiz schicken wollen. Und dann hat er gemeint, die Legion, das wird die Rettung sein. Und hat mir einen Paß verschafft, den er während der ganzen Reise in der Tasche behalten hat. Ja, in Mainz haben sie mich nicht nehmen wollen. Wegen den Zähnen. Und in Straßburg, beim Abschied, hat er dann geweint, der alte Mann. Ganz ehrlich geweint. Und fünfzig Franken hat er mir in die Hand gedrückt. Ja. Das war schon besser als die Tränen. Zum Korporal hab ich's ja gebracht. Höher langt's nicht. Mein Alter hat immer geglaubt, ich komm als Offizier zurück.«

Eine Signalpfeife gellte in langen Trillern durch den Posten, kam näher, entfernte sich wieder. Eine rauhe Stimme rief: »Appell.«

»Du mußt jetzt gehen. Komm dann später zurück. In welcher Sektion bist du? Mitrailleuse? Das ist gut. Der Lartigue ist ein feiner Kerl.«

Lös blieb allein. Es kam ihm sonderbar vor, daß er die Wahrheit gesprochen hatte. Sonst hatte er das Beispiel der andern befolgt und mit einer erfundenen Vergangenheit geprunkt. Schweizer Offizier, Liebschaft mit einer verheirateten Frau, Entdeckung durch den Mann, Flucht. Er stand auf und holte aus einer Kammer drei Blechflaschen, die er im Weinschuppen füllen ging.

Rund und schwer standen die Achthundert-Liter-Fässer in der hellen Dunkelheit. Der Essiggeruch war so scharf, daß er den Atem verschlug. Und während Lös den Wein in Flaschen füllte, steckte der Mond durch die Ritzen des Daches weiße Stäbe und tastete mit ihnen den feuchten Boden ab.

Als er sich umwandte, sah er fünf Gestalten über den Hof kommen und ging ihnen entgegen.

2. Kapitel

Geschichten in der Nacht

Voraus schritt das Paar, aneinandergeschmiegt und wiegend. Patschulis Gesicht sah im unbarmherzigen Lichte des Mondes gedunsen und nackt aus. Es war glatt, ohne jegliche Falte. Aufreizend wirkten auch die nackte Schulter und das braune herabfallende Gewand, das die rasierten Waden entblößte bis zum Knie. Peschke trug eines der seidenen Hemden seines Leutnants, am Halse geöffnet, mit umgeschlagenem weichen Kragen, dazu Breeches und schwarze Wadenbinden.

Den beiden folgten die Korporäle Smith und Pierrard, die derart verschieden waren, daß ihr Zusammengehen komisch wirkte. Smith war ein dicker Mecklenburger mit waagrechten Schultern, auf denen ein glattgeschorener Kugelschädel saß. Die Wangen hingen in Säcken herab, zu beiden Seiten des wulstigen feuchten Mundes, über dem die Nasenlöcher sich wie riesige Höhlen öffneten. So abgeplattet war die Nase, daß sie im Profil unsichtbar blieb.

Pierrard war Belgier. Er sah groß aus neben dem kugelförmigen Smith. Über dem scharfen Gesicht standen die Haare borstig und silbern schimmernd in die Höhe. Sein Schritt war majestätisch, denn er hielt den Oberkörper mit auf dem Rücken verschränkten Armen stark nach hinten gebeugt.

Als letzter kam, mit schlenkernden Armen und Beinen, Todd.

Sie alle wurden einzeln begrüßt und ließen sich dann vor Lös' Hütte nieder. Es war der einzige Platz, der vom Fenster des Capitaines aus unsichtbar blieb. Lös füllte die Blechtassen. Andächtig wurden sie geleert. Dann schwieg die Versammlung.

Da ergriff Pierrard die Feldflasche und trank lange und ausgiebig. »Ich bin traurig heut abend«, sagte er. Seine Stimme klang heiser. Er rollte das Ende seines Schnurrbarts, zog es gedankenvoll durch den Mund und ließ die Blicke über die Gesichter der Sitzenden streifen, bis sie an Lös hängen blieben, der zwischen Patschuli und Smith saß. Dann begann Pierrard leise zu sprechen, in deutscher Sprache, die einen harten flämischen Akzent hatte. »Einmal, während des Krieges, auch an einem vierzehnten Juli, habe ich mit dem König aus derselben Flasche getrunken.« Er schwieg wieder. Der Wein schien zu wirken, das Blut drängte sich in die Haut seines Gesichtes, die Augen quollen vor zwischen den weitaufgesperrten Lidern. Der Oberkörper sank ein wenig nach vorne. Aber mit einem Ruck fuhr Pierrard wieder auf, sah sich im Kreise um. Und das Galliergesicht wurde verächtlich. Er begann zusammenhängend zu sprechen, wandte sich aber an Lös. »Ja, ich habe oft mit unserem König Albert gesprochen, denn ich war doch sein Adjutant. Capitaine war ich und habe dann eine Kompagnie geführt!« Noch einmal beobachtete er die Mienen seiner Zuhörer. Da er nur Gleichgültigkeit wahrnahm, schien ihn dies zu ärgern.

»Ihr glaubt mir wohl nicht? Aber Lös, du glaubst mir?

Haben wir uns nicht oft genug unterhalten über Racine und Goethe und Voltaire? Ha, und Latein verstehen wir auch, nicht?

Odi et amo quare id faciam fortasse requiris. Nescio sed fierim sentio et excrutior.«

Er schwieg wieder und blinzelte Lös zu. Da kam aus der Dunkelheit, wo im Schatten der Mauer Todd hockte, die leise Übersetzung:

»Ich hasse und liebe, warum ich dies tue, fragst du vielleicht, ich weiß es nicht, aber daß ich's tue, fühl ich, und leide.«

Flüstern. Wer ist das? Pierrard staunte. Lös mußte lächeln. Dann faßte sich Pierrard und drückte seine Freude darüber aus, daß noch ein Gebildeter hier unter ihnen weile. Da würde er doch auf Verständnis stoßen. Lös füllte wieder die Becher, alle stießen sie mit Todd an, näherten ihre Gesichter dem seinen, das plötzlich, im hellen Lichte, uralt und mumienhaft aussah. Er nickte nur mit halbgeschlossenen Lidern und versank dann wieder in den Schatten. Pierrard goß hintereinander zwei Quarte Wein in den Hals, wischte die Tropfen von den Mundwinkeln und vom Kinn, trocknete die Hände an den Haaren und fuhr fort. Seine Stimme war laut und prahlerisch.

»Eigentlich heiße ich Löwendjoul, Baron von Löwendjoul. Und mein Großvater war Balzacs intimer Freund. Du weißt doch, wer Balzac war, Lös? Der große französische Dichter.« Er blickte starr in Lös' Gesicht. Patschuli machte sich bemerkbar. Er war die ganze Zeit mit dem Kopf auf seines Freundes Knien gelegen. Nun setzte er sich auf, meckerte höhnisch, stieß Lös in die Seite, als wolle er ihn einladen, mit in das Gelächter einzustimmen, fuhr dann Peschke mit gespreizten Fingern durch die Haare. »Tu nicht so«, rief er Pierrard zu. Der schien ihn nicht zu sehen, denn er wartete auf Lös' Antwort. Da ließ Patschuli von ihm ab, rollte sich zusammen, drückte sich gegen seinen Freund und versank wieder in Schweigen.

»Warum bist du eigentlich in die Legion gekommen.« frug Lös, um einer Antwort zu entgehen.

»In die Legion bin ich vor zwei Jahren gekommen. Warum? Das ist eine lange Geschichte. Soll ich sie erzählen? Wenn ich nur sicher wäre, daß ich euch vertrauen darf. Dir schon, Lös, und auch Smith. Aber die andern?«

Zum erstenmal öffnete Peschke den Mund. Er übertrieb noch seine Berliner Aussprache: »Von wejen mia brauchst du keene Angst nich zu haben.« »Und ich bin schweigsam wie das Grab«, bestätigte Patschuli mit geschlossenen Augen und viel Schläfrigkeit in der Stimme.

»Ich bin ja zur selben Zeit wie du nach Bel-Abbés gekommen«, sagte Pierrard. »Aber, während du in die Unteroffiziersschule eingetreten bist, hab ich mich im Hintergrunde halten müssen. Denn, wenn man mich erkannt hätte, wäre ich ausgeliefert worden. Du weißt ja, wegen Diebstahls liefert die Legion nicht aus. Aber wegen Mord…« Pierrard ließ eine Pause eintreten und blickte Lös fest an. Der fühlte sich als Gastgeber verpflichtet, Aufmerksamkeit zu zeigen, und sah gespannt auf seines Kameraden Mund. Patschuli ließ ein hohes Kichern hören und spielte mit Peschkes Händen. Smith und Todd murmelten sich leise Bemerkungen zu, schenkten sich gegenseitig ein und stießen mit den Blechtassen an. Pierrard sprach aufgeregt weiter, mit weiten Bewegungen, als spiele er in einem Melodrama.

»Das Schloß unserer Familie liegt bei Ostende am Meer. Wir sind sehr reich und auch mit der ganzen internationalen Aristokratie bekannt. So kam es, daß ich vor dem Kriege oft zum Fürsten von Fürstenberg nach Deutschland eingeladen wurde. Und dort lernte ich meine Frau kennen. Während des Krieges wohnte meine Frau in unserem Familienschloß. Mit ihr waren dort auch englische Offiziere einquartiert. Sie selbst war eine Engländerin, eine Tochter des Lord, des Lord…« Pierrard zögerte kaum merklich, »des Lord Chesterfield«, stieß er heraus. Er machte eine Pause, trank aus der Flasche, räusperte sich. Es klang wie das Kratzen der Nadel auf einer Grammophonplatte vor Beginn eines Stückes.

»Ja, sie liebte die Engländer mehr als die Belgier. Nach dem Waffenstillstand kam ich heim. Die englischen Offiziere reisten ab, nur ein junger Hauptmann blieb noch. Er hatte sich bei meinem Vater eingeschmeichelt, und auch meine Frau schien ihn sehr zu schätzen. Sie spielte oft mit ihm Tennis und Golf.«