Inhaltsverzeichnis
Die Sanfte
Vorrede des Autors
Wer ich war und wer sie war
Der Heiratsantrag
Bin der edelste Mensch, glaube aber selbst nicht daran
Lauter Pläne und Pläne
Die Sanfte revoltiert
Eine schreckliche Erinnerung
Ein stolzer Traum
Die Binde fiel
Begreife es nur zu gut
Nur fünf Minuten zu spät
Über den Autor
Impressum
Hinweise und Rechtliches
E-Books im Reese Verlag (Auswahl):
E-Books Edition Loreart:

 

 

 

Fjodor M. Dostojevski

 

Die Sanfte

 

Fantastische Erzählung

 

Reese Verlag

 

Herausgegeben von Lothar Reese

 

 

 

Die Sanfte

 

 

Vorrede des Autors

 

 

Ich nenne diese Erzählung eine »fantastische«, obwohl ich sie für durchaus real halte. In gewisser Hinsicht ist sie aber auch wirklich fantastisch: das Fantastische liegt hier in der Form, über die ich mich verpflichtet sehe einiges vorauszuschicken.

Es ist nämlich weder eine Erzählung noch ein Bruchstück aus einem Tagebuch. Denken Sie sich einen Mann, der vor der Leiche seiner Frau steht, einer Selbstmörderin, die sich erst vor wenigen Stunden aus dem Fenster gestürzt hat. Er ist noch ganz bestürzt und hat noch nicht Zeit gehabt, seine Gedanken zu sammeln. Er geht in seinem Zimmer auf und ab und bemüht sich, das Geschehene zu fassen, »seine Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren«. Er gehört obendrein zu jenen Hypochondern, die mit sich selbst sprechen. So spricht er mit sich selbst, erzählt sich den Sachverhalt, und sucht ihn sich zu klären.Trotz der scheinbaren Folgerichtigkeit seiner Rede widerspricht er sich einige Male wie in der Logik so auch in den Gefühlen. Er rechtfertigt sich und beschuldigt sich zur gleichen Zeit und gerät zuweilen in durchaus nebensächliche Erklärungen; neben einer gewissen Rohheit der Gedanken und des Herzens verrät er auch hier und da tiefes Gefühl. Allmählich gelingt es ihm auch wirklich, sich den Sachverhalt zu klären und seine Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren. Eine Reihe von Erinnerungen, die er in sich weckt, zwingt ihn schließlich, die Wahrheit zu sehen; und diese Wahrheit wirkt erhebend auf seinen Verstand und sein Herz. Gegen das Ende verändert sich sogar der Ton der Erzählung im Vergleich zu dem so verworrenem Anfang. Die Wahrheit zeigt sich dem Unglücklichen recht klar und eindeutig; jedenfalls glaubt er sie so zu sehen.

Das ist das Thema. Der Prozess der Erzählung dauert, selbstverständlich mit Unterbrechungen, einige Stunden, und ihre Form ist höchst verworren: bald spricht er zu sich selbst, bald wendet er sich an einen unsichtbaren Zuhörer, gleichsam an seinen Richter. So spielt es sich auch immer in Wirklichkeit ab. Wenn ein Stenograf ihn belauscht und alle seine Worte rein mechanisch aufgezeichnet hätte, so wäre die Erzählung etwas unordentlicher und holpriger geworden, als sie bei mir ausgefallen ist; ich glaube aber, dass die psychologische Entwicklung in der gleichen Folge vor sich gegangen wäre wie bei mir. Diese Fiktion eines Stenografen, der alles ausgezeichnet hat (und dessen Aufzeichnungen ich überarbeitet habe), ist eben das, was ich an dieser Erzählung fantastisch nenne. Dieser Kunstgriff ist übrigens nicht neu: So hat ihn schon Viktor Hugo in seinem Meisterwerk »Der letzte Tag eines Gerichteten« angewandt. Hugo sagt zwar nichts von einem Stenografen, lässt aber eine noch viel größere Unwahrscheinlichkeit zu, indem er annimmt, dass der zum Tode Verurteilte die Kraft (und auch die Zeit) hat, nicht nur an seinem letzten Tag, sondern auch in seiner letzten Stunde, ja sogar in der letzten Minute Aufzeichnungen zu machen. Hätte er aber auf diese fantastische Voraussetzung verzichtet, so wäre auch das ganze Werk, das realste und wahrste von allen seinen Werken, nie zustande gekommen.

Wer ich war und wer sie war

 

 

Solange sie hier liegt, ist noch alles gut: Ich trete jeden Augenblick hinzu und sehe sie an; morgen wird man sie forttragen — wie werde ich dann allein bleiben können? Sie liegt jetzt im Gastzimmer auf dem Tisch; man hat zwei Kartentische zusammengeschoben; den Sarg wird man erst morgen bringen, einen weißen, mit weißem Gros de Naples ausgeschlagenen Sarg; eigentlich wollte ich gar nicht davon sprechen ... Ich gehe immer auf und ab und will mir über alles klar werden. Seit sechs Stunden gebe ich mir die größte Mühe, kann aber noch unmöglich meine Gedanken sammeln. Die Sache ist nämlich die, dass ich immer auf und ab gehe, immer auf und ab ... Die Sache war so ... Ich werde alles ordentlich der Reihe nach erzählen. (Ja, die Ordnung!) Meine Herren, ich bin ja gar kein Literat, Sie sehen es ja selbst. Das ist ja auch ganz gleich. Ich will einfach so erzählen, wie ich es eben verstehe. Das ist ja gerade so entsetzlich, dass ich alles verstehe!

Das war, wenn Sie es durchaus wissen wollen, d. h. wenn ich von Anfang an erzählen soll, das war nämlich so: Sie kam ganz einfach zu mir, um ihre Sachen zu versetzen. Mit dem Geld wollte sie in der Zeitung annoncieren: Eine Gouvernante sucht eine Stelle, ginge auch nach auswärts, wäre unter Umständen bereit, auch einfach Stunden zu geben usw., usw. So war es ganz zu Anfang, und sie war für mich nur eine von den vielen, die zu mir kamen. Später begann ich sie aber von den anderen zu unterscheiden. Sie war so schmächtig, blond, von mittlerem Wuchs, im Verkehr mit mir etwas ungelenk und verlegen (ich glaube, dass sie zu jedem Fremden so gewesen ist; ich war für sie natürlich auch ein Fremder wie jeder andere, d. h. wenn man mich als Mensch und nicht als Pfandleiher nimmt). Kaum hatte Sie das Geld in der Hand, als sie mir sofort den Rücken kehrte und ging. Und machte alles schweigend. Die anderen feilschen mit mir, zanken, wollen mehr haben; sie sprach aber nie ein Wort und nahm, was ich ihr gab ... Mir scheint, ich werfe alles durcheinander ... Ja: zuerst fielen mir die Sachen auf, die sie mir brachte: silbervergoldete Ohrringe, ein kleines billiges Medaillon — lauter Gegenstände zu zwanzig Kopeken. Sie wusste auch selbst, dass ihre Sachen nicht mehr wert waren, ihrem Gesicht aber konnte ich es ablesen, dass das Zeug für sie einen viel größeren Wert hatte; das war nämlich alles, was sie noch von ihren Eltern besaß; später habe ich s erfahren. Nur einmal erlaubte ich mir, über ihre Sachen zu lächeln. D. h. ich muss Ihnen sagen, dass ich mir sonst so etwas nie erlaube. Ich benehme mich der Kundschaft gegenüber immer wie ein Gentleman: wenig Worte, höflich und streng. »Ja, streng, streng, streng ...« Einmal erlaubte sie sich aber, mir die Überreste (es waren tatsächlich nur Überreste) einer alten Jacke aus Hasenfell zu bringen, und ich konnte mich nicht enthalten, eine Bemerkung fallen zu lassen, die vielleicht wie ein Scherz klang. Du lieber Himmel, wie sie da rot wurde! Sie hatte so große, blaue, verträumte Augen — wie die plötzlich aufblitzten! Sie sagte aber kein Wort, packte ihre »Überreste« ein und ging. An diesem Tag erst hatte ich auf sie mein Augenmerk gerichtet und mir so ganz gewisse Gedanken, ja ganz besondere Gedanken über sie gemacht. Ich kann mich noch auf einen anderen Eindruck besinnen; wenn Sie wollen, war es sogar der Haupteindruck, die Synthese des Ganzen. Nämlich, dass sie furchtbar jung war, so jung, dass man ihr vierzehn Jahre geben konnte. In der Tat war sie damals noch nicht volle sechzehn Jahre alt, es fehlten noch drei Monate. Übrigens wollte ich gar nicht das sagen, und nicht darin lag die Synthese, von der ich eben sprach. Am nächsten Tag kam sie wieder. Sie war inzwischen, wie ich später erfuhr, mit ihrer Pelzjacke bei den anderen Pfandleihern Dobronrawow und Moser gewesen; diese nehmen aber nur Goldsachen, wollten mit ihr gar nicht reden. Ich hatte aber von ihr schon früher einmal eine Gemme (ein ganz wertloses Ding) genommen; wunderte mich später selbst darüber, dass ich es getan hatte. Denn ich nehme ja sonst auch nichts als Gold- und Silbersachen an; hatte also bei ihr mit der Gemme eine Ausnahme gemacht. Das war eben der zweite Gedanke, den ich mir über sie machte, ich weiß es noch genau. Diesmal, nachdem sie also bei Moser gewesen war, brachte sie mir eine Zigarrenspitze aus Bernstein. Der Gegenstand war gar nicht so übel, hatte vielleicht einen Liebhaberwert, für mich aber war er ganz wertlos, denn ich nehme ja nur Goldsachen. Sie kam also nach der gestrigen Revolte wieder, daher empfing ich sie streng. Meine Strenge ist Trockenheit. Ich gab ihr für die Zigarrenspitze zwei Rubel, konnte mich aber nicht enthalten, ihr mit etwas gereizter Stimme zu sagen: »Ich tue es nur für Sie. Moser würde einen solchen Gegenstand gar nicht annehmen.« Die Worte »für Sie« betonte ich ganz besonders und gerade in einem gewissen Sinne. Denn ich war wütend. Als sie dieses »für Sie« hörte, wurde sie wieder rot, sagte aber kein Wort, warf mir das Geld nicht vor die Füße, sondern steckte es ein — diese Armut! Wie rot sie aber wurde! Ich sah, wie sehr ich sie verletzt hatte ... Und als sie schon fort war, fragte ich mich plötzlich: War denn dieser Triumph über sie zwei Rubel wert? Ha, ha, ha! Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich mir diese Frage sogar zweimal vorlegte: »Ob es sich lohnte?« Und ich entschied sie lachend im bejahenden Sinne. Denn das Ganze erschien mir gar zu amüsant. Es war aber kein schlechtes Gefühl. Ich tat es mit Absicht ja, mit einer ganz bestimmten Absicht. Ich wollte sie prüfen, denn es waren mir plötzlich gewisse Gedanken in Bezug auf sie gekommen. Das war eben das dritte Mal, dass ich über sie in einem ganz bestimmten Sinne nachdachte.

... Nun, von da ab hat das Ganze begonnen. Selbstverständlich bemühte ich mich sofort, auf Umwegen alles Nähere über sie zu erfahren; wartete auch mit besonderer Ungeduld auf ihr nächstes Erscheinen. Ich hatte das bestimmte Gefühl, dass sie bald kommen würde. Als sie kam, sprach ich sie mit ausgesuchter Höflichkeit an und versuchte, sie in ein Gespräch zu ziehen. Ich habe ja eine gute Erziehung genossen, habe auch gute Manieren. Hm! Da merkte ich sofort, wie gut und sanft sie war. Die Guten und Sanften widerstreben nicht lange. Wenn sie auch nicht gleich offenherzig werden, so verstehen sie es doch nicht, einem Gespräch auszuweichen. Sie sind wortkarg, antworten kurz, aber sie antworten, und je weiter, desto mehr. Man darf nur selbst dabei nicht müde werden, wenn man bei ihnen etwas erreichen will. Von ihr selbst habe ich natürlich nichts erfahren. Das von der Annonce und alles Übrige erfuhr ich erst viel später. Damals verwendete sie ihre letzten Kopeken auf die Annoncen. Zuerst hieß es noch ganz stolz: »Gouvernante sucht Stelle, auch nach auswärts, Angebote in geschlossenen Briefen ...« Später klang es viel bescheidener: »Nimmt jede Stelle, als Lehrerin, Gesellschaftsdame, Haushälterin, Krankenpflegerin, kann auch nähen usw.« Man kennt es ja! Selbstverständlich veränderte sich der Text ganz allmählich; und zuletzt, als sie schon verzweifelte, hieß es sogar: »Ohne Gehalt, gegen freie Station.« Nein, sie fand keine Stelle! Ich beschloss, sie zum letzten Mal auf die Probe zu stellen. Ich nahm plötzlich die letzte Zeitung und zeigte ihr folgende Annonce: »Junge Dame, ohne Anhang, sucht Stelle zu kleinen Kindern, am liebsten bei einem Witwer in mittleren Jahren. Kann auch in der Wirtschaft helfen.«

»Da sehen Sies, die hat heute früh annonciert und findet bis heute Abend sicher eine Stelle. So muss man eben annoncieren!« Sie wurde wieder rot, in ihren Augen blitzte es auf, sie kehrte mir den Rücken und ging. Das gefiel mir sehr. Ich war übrigens schon damals meiner Sache sicher und fürchtete nichts mehr. Niemand anders würde ihr ihre Zigarrenspitzen abnehmen. Es war übrigens auch mit den Zigarrenspitzen schon zu Ende. Ich hatte mich nicht getäuscht. Am dritten Tag kam sie wieder, ganz bleich und aufgeregt — ich merkte sofort, dass bei ihr zu Hause etwas vorgefallen war; es war auch in der Tat etwas vorgefallen. Ich werde gleich darauf zurückkommen, will zuerst nur noch erzählen, wie es mir damals gelang, ihr zu imponieren und in ihren Augen zu wachsen. Der Entschluss dazu war mir so ganz plötzlich gekommen. Sie brachte mir nämlich dieses Mal ein Heiligenbild — da hängt es noch ... So weit war es mit ihr gekommen ... Ach, hören Sie! Hören Sie! Jetzt fange ich erst mit der Geschichte an; was ich bisher erzählte, war nicht das Richtige. Ich will mich jetzt nämlich an jedes Detail, an jede Kleinigkeit erinnern. Ich will alle meine Gedanken auf einen Punkt konzentrieren, und kann es nicht, denn diese Einzelheiten, diese nebensächlichen Details ...

Es war ein Muttergottesbild. Die Jungfrau mit dem Kind, ein altes Erbstück mit silbervergoldeten Beschlägen; wert ... nun, sechs Rubel war es wert. Ich sehe, sie hängt sehr an dem Bild, versetzt es als Ganzes, mit den Beschlägen. Ich sage ihr: »Lassen Sie doch lieber nur die Beschläge da, das Bild können Sie gleich wieder mitnehmen, denn ein Heiligenbild zu versetzen, ist ja immerhin, wie soll ich es nur sagen ...«

»Ist es Ihnen verboten, Heiligenbilder als Pfand zu nehmen?«

»Nein, verboten ist es nicht, ich meine nur, dass es vielleicht Ihnen selbst ...«

»Nehmen Sie also die Beschläge ab.«

»Wissen Sie was, ich werde sie doch nicht abnehmen, sondern das Bild, wie es ist, in meinen Heiligenschrein stellen«, sagte ich nach einer Pause, »zu den anderen Heiligenbildern, unter das Lämpchen (seitdem ich mein Geschäft eröffnet habe, brennt bei mir immer das Lämpchen vor dem Heiligenschrein), und nehmen Sie ganz einfach zehn Rubel.«

»Ich brauche keine zehn Rubel, geben Sie mir nur fünf. Ich werde das Bild ganz bestimmt auslösen.«

»Zehn Rubel wollen Sie also nicht? Das Bild ist so viel wert«, fügte ich hinzu, als ich merkte, dass es in ihren Augen wieder aufblitzte.

Sie erwiderte kein Wort. Ich gab ihr fünf Rubel.

»Verachten Sie niemand. Ich bin ja selbst einmal in solcher Klemme gewesen, habe sogar noch Schlimmeres erlebt, und wenn Sie mich jetzt bei einem solchen Gewerbe sehen, so ist es doch, nach allem, was ich durchgemacht ...«

»Sie wollen sich an der Gesellschaft rächen? Nicht wahr?«, unterbrach sie mich plötzlich mit ziemlich spöttischer Miene. Ihr Spott erschien mir aber recht harmlos (d. h. unpersönlich, denn damals hatte sie noch keinen Grund, mich von den anderen zu unterscheiden. In ihrer Bemerkung lag also nichts Verletzendes).

Aha — dachte ich — so eine bist du also! Zeigst deinen Charakter, gehörst also auch zu der neuen Richtung!

»Sehen Sie«, sagte ich halb scherzend und halb geheimnisvoll, »ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.«

Sie blickte schnell mit großer Neugierde, in der etwas Kindliches lag, zu mir auf.

»Warten Sie ... Was ist das für ein Ausspruch? Woher haben Sie ihn? Er kommt mir bekannt vor ...«

Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf; mit diesen Worten stellt sich Mephistopheles dem Faust vor. Haben Sie den Faust gelesen?«

»Ja ... ganz flüchtig ...«

»Das heißt, Sie haben ihn gar nicht gelesen. Sie sollten ihn lesen. Ich sehe jetzt auf Ihren Lippen wieder so eine spöttische Falte. Halten Sie mich, bitte, nicht für so geschmacklos, dass ich vor Ihnen, um meine Rolle als Pfandleiher zu beschönigen, etwa als Mephistopheles auftreten will. Ein Pfandleiher bleibt immer Pfandleiher. Das wissen Sie ebenso gut nie ich.«

»Sie kommen mir so sonderbar vor ... Ich habe es durchaus nicht so gemeint ...«