Ernst Jünger
Sturm
Novelle
J.G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger GmbH
Klett-Cotta
© Werner Schwarze
Ernst Jünger, am 29. März 1895 in Heidelberg geboren. 1901–1912 Schüler in Hannover, Schwarzenberg, Braunschweig u. a. 1913 Flucht in die Fremdenlegion, nach sechs Wochen auf Intervention des Vaters entlassen 1914–1918 Kriegsfreiwilliger 1918 Verleihung des Ordens »Pour le Mérite«. 1919–1923 Dienst in der Reichswehr. Veröffentlichung seines Erstlings »In Stahlgewittern«. Studium in Leipzig, 1927 Übersiedlung nach Berlin. Mitarbeit an politischen und literarischen Zeitschriften. 1936–1938 Reisen nach Brasilien und Marokko. »Afrikanische Spiele« und »Das Abenteuerliche Herz«. Übersiedlung nach Überlingen. 1939–1941 im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich. 1944 Rückkehr Jüngers aus Paris nach Kirchhorst. 1946–1947 »Der Friede«. 1950 Übersiedlung nach Wilflingen. 1965 Abschluß der zehnbändigen »Werke«. 1966–1981 Reisen. Schiller-Gedächtnispreis. 1982 Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/Main.1988 Mit Bundeskanzler Kohl bei den Feierlichkeiten des 25. Jahrestags des Deutsch-Französischen Vertrags. 1993 Mitterrand und Kohl in Wilflingen. 1998 Ernst Jünger stirbt in Riedlingen.
ERSTDRUCK 1923
Die Stunden vor der Abenddämmerung pflegten die Zugführer der dritten Kompanie gemeinschaftlich zu verbringen. Zu dieser Zeit waren die Nerven frisch, die Kleinigkeiten bekamen wieder Wert und wurden in endlosen Gesprächen hin- und hergereicht. Traf man sich morgens nach Nächten voll Regen, Feuer und tausend verschiedenen Aufregungen, so waren alle Gedanken unzusammenhängend und spitz, man ging mürrisch aneinander vorbei oder trieb die Mißstimmung zu Entladungen, die im Frieden Stoff zu wochenlangen Ehrengerichtssitzungen geboten hätten.
Nach vierstündigem Schlaf dagegen erwachte man als anderer Mensch. Man wusch sich im Stahlhelm, putzte die Zähne und steckte die erste Zigarette an. Man las die von den Essenholern mitgebrachte Post und ließ sich das Kochgeschirr aus der heugefüllten Wärmekiste geben. Dann steckte man die Pistole ein und verließ den Unterstand, um im Graben entlangzuschlendern. Das war die Stunde, zu der man sich beim Leutnant Sturm, dem Führer des mittelsten Zuges, zu treffen pflegte.
Diese Stunde war wie eine Börsenzeit, während deren alle Dinge, die hier von Wichtigkeit waren, gewertet wurden. Der Körper der Kompanie glich einem im Sande verbissenen Tiere, unter scheinbarer Ruhe vibrierend vor Muskelspiel. Der Vormarsch war ein Sprung gewesen, der alle Kraft in die Bewegung gelegt hatte, nun in der Verteidigung waren wieder Menschen untereinander und übten alle Schattierungen des Verkehrs. An dünnen, stets bedrohten Fäden nur hing man mit der Menschheit zusammen, man war isoliert wie ein winterliches Dorf in einem Alpental. So gewann der Einzelne an Interesse: der psychologische Erkenntnistrieb, der in jedem Menschen lebt, mußte sich stets an denselben Erscheinungen befriedigen und wurde stärker dadurch.
Diese Männer, deren Zusammenleben in der Vorstellung des Hinterlandes mit wenigen Worten wie »Kameradschaft« und »Waffenbrüderschaft« abgetan wurde, hatten nichts zu Hause gelassen von dem, was sie im Frieden erfüllt. Sie waren die alten in einem anderen Lande und in einer anderen Form des Seins. Und so hatten sie auch jenen eigentümlichen Sinn mit herausgebracht, der das Gesicht eines anderen, sein Lächeln oder selbst den Klang seiner Stimme bei Nacht erfaßt und daraus eine Gleichung zieht zwischen Ich und Du.
Professoren und Glasbläser, die zusammen auf Horchposten zogen, Landstreicher, Elektrotechniker und Gymnasiasten, die eine Patrouille vereinte, Friseure und Bauernburschen, die nebeneinander in den Minierstollen vor Ort saßen, Materialträger, Schanzer und Essenholer, Offiziere und Unteroffiziere, die in dunklen Winkeln des Grabens flüsterten – sie alle bildeten eine große Familie, in der es nicht besser und nicht schlechter zuging als in jeder anderen Familie auch. Da waren junge, stets fröhliche Burschen, an denen keiner vorübergehen konnte, ohne zu lachen oder ihnen ein freundliches Wort zuzurufen; väterliche Naturen mit Vollbärten und klaren Augen, die eine Zone des Respektes um sich zu breiten und jede Lage durch das richtige Wort zu klären wußten, handfeste Männer des Volkes mit ruhiger Sachlichkeit und hilfsbereitem Griff, windige Gesellen, die während der Arbeitszeit sich in verlassene Stichgräben und Unterstände zurückzogen, um zu rauchen oder zu schnarchen, die aber beim Essen Unglaubliches leisteten und während der Ruhestunden mit verblüffendem Humor das große Wort zu führen wußten. Manche wurden ganz übersehen, sie waren wie Kommas, über die man hinwegliest, und wurden oft erst bemerkt, wenn ein Geschoß ihr Dasein zerschlug. Andere, rechte Stiefkinder, hatten unangenehme Gesichter, saßen in den Ecken für sich, nichts, was sie anfaßten, hatte Schick, und niemand wollte mit ihnen zusammen auf Posten ziehen. Sie wurden durch Spitznamen gezeichnet, und wenn ihre Gruppe eine lästige Sonderarbeit, wie Munitionsschleppen oder Drahtziehen, zu verrichten hatte, so verstand es sich von selbst, daß der Korporal sie dazu aussuchte. Wieder andere wußten einer Okarina gefühlvolle Töne zu entlocken, abends kleine Couplets zu singen oder Führungsringe, Granatsplitter und Kreidesteine zu zierlichen Gegenständen zu verarbeiten; sie waren deshalb gern gesehen. Zwischen den Dienstgraden standen die Mauern einer norddeutschen Disziplin. Dahinter waren die Gegensätze schärfer, die Gefühle lebendiger, doch brachen sie nur in seltenen Augenblicken durch.
Im Grunde zeigte sich in dieser kämpfenden Gemeinschaft, dieser Kompanie auf Leben und Tod, das seltsam Flüchtige und Traurige des menschlichen Verkehrs besonders klar. Wie ein Geschlecht von Fliegen tanzte das durcheinander und war doch von jedem Winde so bald zerweht. Gewiß: wenn die Essenholer unerwartet Grog von der Küche nach vorn brachten oder wenn ein milder Abend die Stimmung schmolz, dann waren alle wie Brüder und zogen auch die Verlassenen in ihren Kreis. Wenn einer gefallen war, standen die anderen an seiner Leiche zusammen, ihre Blicke trafen sich dunkel und tief. Doch wenn der Tod als Wetterwolke über den Gräben hing, dann war jeder für sich; allein stand er im Dunkel, umheult und umkracht, von aufschießenden Blitzen geblendet, und hatte nichts in der Brust als grenzenlose Einsamkeit.
Und wenn sie dann mittags auf den braungebrannten Lehmbänken der Postenstände hockten und bunte Falter von den blühenden Disteln des verrotteten Landes über dem Graben schaukelten, wenn die Geräusche des Kampfes für kurze Stunden schwiegen, kleine Scherze von halblautem Gelächter begleitet wurden, dann schlich oft im glühenden Lichte ein Gespenst aus dem Stollen, starrte dem einen oder dem anderen fahl ins Gesicht und fragte: »Warum lachst du nur? Wozu putzt du dein Gewehr? Was wühlst du in der Erde herum, wie ein Wurm in der Leiche? Morgen vielleicht ist alles vergessen wie der Traum einer Nacht.« Ganz deutlich konnte man die erkennen, denen dieses Gespenst erschienen war. Sie wurden blaß und versonnen, und wenn sie auf Posten zogen, stand ihr Blick unbeweglich in der Richtung ihres Gewehrs auf dem Niemandsland. Wenn sie fielen, sagte wohl ein Freund den uralten Kriegerspruch über ihr Grab: »Fast, als ob er es geahnt hätte. Er war so verändert in letzter Zeit.«
Mancher war auch plötzlich verschwunden; in einer Ecke lagen Gewehr, Tornister und Helm, verlassen wie die abgestreifte Hülle eines Schmetterlings. Nach Tagen oder Wochen wurde er wiedergebracht, die Feldgendarmen hatten ihn auf einem Bahnhof oder in einer Taverne gegriffen. Dann kam das Kriegsgericht und die Versetzung in ein anderes Regiment.
Einen von diesen stillen Leuten fanden die Kameraden eines Morgens tot auf der Latrine, er schwamm in seinem Blut. Sein rechter Fuß war nackt, es stellte sich heraus, daß er sein Gewehr gegen das Herz gerichtet und mit den Zehen den Abzug niedergedrückt hatte. Es war gerade am Tag vor der Ablösung, eine fröstelnde Gruppe stand im Nebel um die hingestreckte Gestalt, die wie ein Sack in dem schmierigen, mit Papierfetzen durchmischten Lehmbrei lag. In den zahlreichen, von Nagelstiefeln hineingebohrten Löchern schillerte ein schwarzbrauner Teer, darauf perlten Blutströpfchen wie rubinfarbenes Öl. War es der ungewöhnliche Tod in dieser Landschaft, zu der das Sterben gehörte wie die Blitzwölkchen der Geschosse, oder war es der ekelhafte Ort: heute empfand jeder besonders peinlich den Hauch von Sinnlosigkeit, der sich über einer Leiche wölbt.
Endlich warf einer eine Betrachtung hin, wie man ein Korkstückchen ins Wasser wirft, um die Strömung zu prüfen: »Da schießt sich nun einer aus Angst vorm Tode tot. Und andere haben sich totgeschossen, weil sie nicht als Freiwillige angenommen wurden. Ich verstehe das nicht.« Sturm, der dabeistand, dachte an das Gespenst. Er konnte wohl verstehen, daß einer, der dahintanzte zwischen Leben und Tod, plötzlich wie ein Nachtwandler zwischen Abgründen erwachte und sich fallen ließ. Lenkten nicht Fixsterne seine Bahn, Ehre und Vaterland, oder war sein Leib nicht gehärtet durch die Lust am Kampfe wie durch ein Schuppenhemd, so trieb er als Molluske, als zuckendes Nervengeflecht im Hagel aus Feuer und Stahl.
Freilich – dachte er – wer so die Zügel schleifen ließ, der mochte zum Teufel fahren: Hier wurde allen Kräften auf den Zahn gefühlt. Zu sehr war Sturm Kind seiner Zeit, um in solchem Falle Mitleid zu empfinden. Doch gleich schaltete ein anderes Bild sich ihm ins Hirn: ein feindlicher Angriff nach tollem Feuerstoß.
Wie sprangen da die Besten und Stärksten aus ihren Deckungen hervor und wie wurde die Auslese im letzten Eisensturze zerstampft, während unten in ihren Stollen die Schwächlinge zitterten und den Spruch zu Ehren brachten: »Lieber fünf Minuten feige als ein ganzes Leben tot.« Kam hier der Tüchtigste noch zu seinem Recht?
Ja, wer sich darauf verstand, ertastete hier manchen Faden, an den sich eigenartige Gedanken knüpfen ließen. Kürzlich noch hatte Sturm seiner Grabenchronik, die er in den Wachtpausen stiller Nächte zu führen pflegte, die Bemerkung einverleibt: »Seit der Erfindung der Moral und des Schießpulvers hat der Satz von der Auswahl des Tüchtigsten für den Einzelnen immer mehr an Bedeutung verloren. Es läßt sich genau verfolgen, wie diese Bedeutung allmählich übergegangen ist auf den Organismus des Staates, der die Funktionen des Einzelnen immer rücksichtsloser auf die einer spezialisierten Zelle beschränkt. Heute gilt einer längst nicht mehr das, was er an sich wert ist, sondern nur das, was er in bezug auf den Staat wert ist. Durch diese systematische Ausschaltung einer ganzen Reihe an sich sehr bedeutender Werte werden Menschen erzeugt, die allein gar nicht mehr lebensfähig sind. Der Urstaat als Summe nahezu gleichwertiger Kräfte besaß noch die Regenerationsfähigkeit einfacher Lebewesen: Wurde er zerschnitten, so schadete das den einzelnen Teilen wenig. Bald fanden sie sich zu neuem Zusammenschluß und bildeten leicht im Häuptling ihren physischen, im Priester oder Zauberer ihren psychischen Pol.
Eine schwere Verletzung des modernen Staates dagegen bedroht auch jedes Individuum in seiner Existenz, zum mindesten den Teil, der nicht unmittelbar vom Boden lebt, also den weitaus größten. Aus dieser riesenhaften Gefahr erklärt sich die erbitterte Wut, das atemlose ›jusqu’au bout‹ des Kampfes, den zwei solcher Machtgebilde miteinander führen. Bei diesem Zusammenprall werden nicht mehr wie zur Zeit der blanken Waffe die Fähigkeiten des Einzelnen, sondern die der großen Organismen gegeneinander abgewogen. Produktion, Stand der Technik, Chemie, Schulwesen und Eisenbahnnetze: das sind die Kräfte, die unsichtbar hinter den Rauchwolken der Materialschlacht sich gegenüberstehen.«
An diesen Gedanken erinnerte sich Sturm, als er vor dem Toten stand. Hier hatte wieder ein Einzelner gegen die Sklavenhalterei des modernen Staates nachdrücklich protestiert. Der aber stampfte als unbekümmerter Götze über ihn hinweg.