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Joe Elox

A ghost's life

Die Geschichte von Gloria und Jimmy


Vielen Dank an die lieben Damen Jessica Johanna Winter und Angela Williner für die Prüfung der Tauglichkeit der Geschichte und für das unglaublich gute Cover (anschidesign.com). Danke an alle, die an mich glauben.


BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Prolog

Kalte Mauern bilden einen Komplex, dessen Gitter vor den Fenstern die Bedeutung des Gebäudes unmissverständlich enthüllen. Ich befinde mich auf dem Weg ins Hochsicherheitsgefängnis eines Staates, in dem die Todesstrafe zumindest nicht ausgeschlossen wird. Wie ich mir vorstellen kann, wird der Gefangene aus Zelle 411 gerade in den Verhörraum gebracht. Verhörraum. Dieses Wort will sich mir nicht positiv einprägen. Für mein Vorhaben sollte ich diesen Raum umbenennen in "Anhörraum". Ich bin Reporter der „Cases-Times X“, einer Zeitung, die sich mit außergewöhnlichen Fällen auseinandersetzt. Der Gefangene von Zelle 411 soll ein solcher Fall sein. Ich komme gut durch die Kontrolle des Gefängnisses, schließlich bin ich nur mit Stift, Papier und Diktiergerät bewaffnet. Außergewöhnliche Phänomene habe ich zuhauf gesehen und niedergeschrieben. Nichts mehr kann mich schockieren, möchte man meinen. Außerdem soll der Gefangene, Mr. Jimmy Red, schon sehr lange sitzen. Er dürfte also nicht weiter gefährlich sein. Was seine Geschichte angeht, tappe ich im Dunkeln. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, den Menschen und ihren Stories unbefangen zu begegnen. Das Gefühl ist ein anderes, wenn du ein außergewöhnliches Geschehen zum ersten Mal hörst und es sogleich niederschreiben kannst. Es gibt Menschen, bei deren Lebenserzählungen sich dir die Haare vom ersten Moment an aufstellen und das Gefühl noch zwei Stunden später andauert. Bei anderen meinst du einfach im falschen Raum zu sitzen und befürchtest, eine Sackgasse betreten zu haben, weil die Geschichte keineswegs außergewöhnlich erscheint, bis dann endlich die Pointe kommt. Die Gänsehaut hält länger an und kehrt immer wieder zurück, wenn du daran denkst. Also bleibt es spannend, wenn die Akte erst nach dem Treffen gesichtet wird.

 

„Cases-Times X“ hat bereits Erzählungen veröffentlicht, die an Unglaublichkeit nicht zu übertreffen sind; Zumindest dachten das zu dem Zeitpunkt alle. In der Redaktion sprechen wir nicht darüber, wenn wir einen Text niederschreiben und bearbeiten, bis er ins Lektorat geht. Genau wie bei der Sichtung der Akten würde auch hier das Gefühl verloren gehen. Zeitgleich mit der Mail an die Lektoren geht die Story dann auch an die Kollegen. Staunende Gesichter gibt es bei uns im Überfluss. Das A und O aber bei uns ist: Übertreibe es nicht. Wir sind darauf bedacht, Konkurrenzkämpfe auszublenden und uns darauf zu konzentrieren, so authentische Geschichten wie möglich zu schreiben. Es sind Biographien. Biographien über Menschen, deren Leben unheimlich und besonders waren.

 

Ich betrete den Raum mit der großen Glasscheibe und treffe dort auf den Kommandanten der Sicherheitsleute, den Sicherheitschef der Anstalt. Sein Händedruck zwingt mich fast zu Boden. Der Mann ist zwar kleiner als ich, jedoch um einiges kräftiger. Er strahlt eine heftige Autorität aus, welche ich noch selten bei Menschen gesehen habe. Ich denke mir, dass das für diesen Job unverzichtbar ist. Nach einem kurzen Floskelaustausch beteuert er mir, dass der Direktor, der sich bezüglich Mr. Red bei „Cases-Times X“ gemeldet hat, etwas später kommen wird. Für mich kein Problem.

 

Mit dem Kopf deutet er auf den Mann hinter der Glasscheibe. Ich sehe bloß seinen Rücken. Er sitzt auf einem Stuhl zwischen zwei überaus kräftigen Sicherheitsleuten. Red schwankt vor und zurück, das Gesicht vermutlich in seine Hände gelegt. Der Kommandant meint, er wäre zwar sehr froh, seine Geschichte erzählen zu dürfen, doch die Auseinandersetzung damit hätte ihn in den letzten Stunden ziemlich aufgewühlt.

 

Es geht los. Einer der Sicherheitsleute holt mich aus dem Kommandozimmer und führt mich in den „Anhörraum“ auf der anderen Seite der Glaswand. Direkt gegenüber Mr. Red steht ein Stuhl für mich bereit, auf dem ich etwas nervös Platz nehme. Jetzt sehe ich zum ersten Mal das Gesicht von Jimmy Red.

1. Gloria

Ein alter Mann sitzt mir gegenüber. Der Bart ist lang und weiß und sein Gesichtsausdruck vermittelt ein Gefühl von Mitleid und Empathie. Doch die Tatsache dessen, was er gemäß der Akte getan hat, verwirft jegliches Gefühl der Einfühlsamkeit bei mir. Mit Spannung warte ich seine unglaubliche Geschichte ab.

 

                        *****

 

„Sie war doch mein Ein und Alles! Ich hatte keine andere Wahl!“

 

                        *****

 

Seine Stimme klingt weinerlich und er erinnert mich ein wenig an einen armen alten Obdachlosen, der einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort war.

„Mr. Red, bitte fangen Sie doch am Anfang der Geschichte an.“ Ich will ihn ein wenig daran erinnern, dass dies seine beste und vielleicht letzte Möglichkeit ist, der Welt noch einmal zu veranschaulichen, warum er hier im Gefängnis sitzt, zu zeigen, ob es für sein Handeln eine Rechtfertigung gibt. Dies soll seine Chance sein, sich von dem vergänglichen Leben zu verabschieden und sich in seiner Version den Schmerz von der Seele reden zu können. Erneut holt er tief Luft und fängt dann an zu sprechen.

 

                        *****

 

„Ich  war Anlagewächter in der Gruselbahn vom Fun-Ride-Park drüben in der Camptonstreet. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr arbeitete ich dort. Der Direktor des Parks, Cliff, war immer sehr gut zu mir. Er war ein sehr freundlicher und netter Mensch. Ich sah ihn in der ganzen Zeit bloß zweimal verunsichert, enttäuscht und wütend. Das erste Mal war vor sehr, sehr langer Zeit: An dem Tag, an dem die süße Gloria in der Gruselbahn des Parks durch eine fatale Fehlfunktion der Gerätschaften gestorben war.

 

 

 

„Was dann?“ Meine Stimme scheint ihn aus einer Art Trance zu reißen. Der Blick wird zusehends düster und nach einem Räuspern spricht er ernst weiter.

                        *****

„Ein Jahr danach hat sich der Anlagewächter der Gruselbahn in seinem Keller gehängt. Wir alle sahen während dem Jahr seit dem Unfall, wie er dünner wurde und wie sich dicke Ränder um seine Augen gebildet hatten. Cliff mahnte ihn mehrmals, sich versetzen zu lassen, doch der alte Sturkopf wollte dort nicht weg. Jedenfalls wurde ich sein Nachfolger. Mit Stolz überreichte Cliff mir symbolisch den Schlüssel zur Bahn. Die Angestellten klatschten und gratulierten mir zu meinem schnellen Aufstieg. Ich war mit unglaublichem Hochmut erfüllt und eine Träne der Freude bahnte sich ihren Weg an meiner großen Nase hinunter. Mit Begeisterung ging ich von da an jeden einzelnen Tag in mein neues Reich. Ich konnte Knöpfe bedienen, Apparate und Frankensteine reparieren und war stets Teil des Fortschritts. Neue, verbesserte und grusligere Elemente bedurften meiner fähigen Hände um installiert zu werden. Firmen wie Constaine und Globs kamen beinahe im Jahrestakt um das von Cliff eingekaufte Gruselmaterial mit mir zusammen aufzubauen. Cliff war sehr stolz auf sein Haus des Schreckens und zeigte dies mit gebührendem Respekt mir gegenüber. Er wusste, diese Anlage war eine Goldgrube.