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Byung-Chul Han
Im Schwarm. Ansichten des Digitalen

Byung-Chul Han

IM SCHWARM

Ansichten des Digitalen

imageMatthes & Seitz Berlin

»Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder.«

Faust

VORWORT

Angesichts des rasanten Aufstiegs des elektrischen Mediums bemerkte der Medientheoretiker Marshall McLuhan 1964: »Die Technik der Elektrizität ist aber mitten unter uns, und wir sind benommen, taub, blind und stumm bei ihrem Zusammenprall mit der Technik Gutenbergs.«1 Ähnlich verhält es sich heute mit dem digitalen Medium. Wir werden durch dieses neue Medium umprogrammiert, ohne dass wir diesen radikalen Paradigmenwechsel gänzlich erfassen. Wir hinken dem digitalen Medium hinterher, das unterhalb bewusster Entscheidung unser Verhalten, unsere Wahrnehmung, unsere Empfindung, unser Denken, unser Zusammenleben entscheidend verändert. Wir berauschen uns heute am digitalen Medium, ohne dass wir die Folgen dieses Rausches vollständig abschätzen können. Diese Blindheit und die gleichzeitige Benommenheit machen die heutige Krise aus.

OHNE RESPEKT

Respekt heißt wörtlich Zurückblicken. Er ist eine Rücksicht. Im respektvollen Umgang mit anderen hält man sich zurück mit neugierigem Hinsehen. Der Respekt setzt einen distanzierten Blick, ein Pathos der Distanz voraus. Heute weicht er einer distanzlosen Schau, die charakteristisch ist für das Spektakel. Das lateinische Verb spectare, worauf Spektakel zurückgeht, ist ein voyeuristisches Hinsehen, dem die distanzierte Rücksicht, der Respekt (respectare) fehlt. Die Distanz unterscheidet das respectare vom spectare. Eine Gesellschaft ohne Respekt, ohne Pathos der Distanz führt in die Skandalgesellschaft.

Der Respekt bildet den Grundstein für Öffentlichkeit. Wo er schwindet, verfällt sie. Der Verfall der Öffentlichkeit und die wachsende Respektlosigkeit bedingen einander. Die Öffentlichkeit setzt unter anderem ein respektgeleitetes Wegsehen vom Privaten voraus. Die Distanznahme ist konstitutiv für den öffentlichen Raum. Heute herrscht dagegen eine totale Distanzlosigkeit, in der die Intimität öffentlich ausgestellt wird und das Private öffentlich wird. Ohne Ab-Stand ist auch kein An-Stand möglich. Auch der Ver-Stand setzt einen distanzierten Blick voraus. Die digitale Kommunikation baut allgemein Distanzen ab. Der Abbau räumlicher Distanzen geht mit der Erosion mentaler Distanzen einher. Die Medialität des Digitalen ist dem Respekt abträglich. Es ist gerade die Technik der Isolierung und Abtrennung wie beim Adyton,2 die Ehrfurcht und Bewunderung generiert.

Die fehlende Distanz führt dazu, dass sich das Öffentliche und das Private vermischen. Die digitale Kommunikation fördert diese pornografische Ausstellung der Intimität und Privatsphäre. Auch die sozialen Netzwerke erweisen sich als Ausstellungsräume des Privaten. Das digitale Medium als solches privatisiert die Kommunikation, indem es die Produktion von Information vom Öffentlichen ins Private verlagert. Roland Barthes definiert die Privatsphäre als »jene Sphäre von Raum, von Zeit, wo ich kein Bild, kein Objekt bin«.3 So gesehen hätten wir heute gar keine Privatsphäre mehr, denn es gibt nun keine Sphäre, wo ich kein Bild wäre, wo es keine Kamera gäbe. Das Google Glass verwandelt das menschliche Auge selbst in eine Kamera. Das Auge selbst macht Bilder. So ist keine Privatsphäre mehr möglich. Der herrschende ikonisch-pornografische Zwang schafft sie komplett ab.

Der Respekt ist an den Namen gebunden. Anonymität und Respekt schließen einander aus. Die anonyme Kommunikation, die durch das digitale Medium gefördert wird, baut den Respekt massiv ab. Sie ist mitverantwortlich für die sich ausbreitende Kultur der Indiskretion und Respektlosigkeit. Auch der Shitstorm ist anonym. Darin besteht seine Gewalt. Name und Respekt sind aneinander gekoppelt. Der Name ist die Basis der Anerkennung, die immer namentlich erfolgt. An die Namentlichkeit sind auch solche Praktiken wie Verantwortung, Vertrauen oder Versprechen gebunden. Das Vertrauen lässt sich als ein Glaube an den Namen definieren. Verantwortung und Versprechen sind auch ein namentlicher Akt. Das digitale Medium, das die Botschaft vom Boten, die Nachricht vom Sender trennt, vernichtet den Namen.

Der Shitstorm hat vielfältige Ursachen. Er ist möglich in einer Kultur der Respektlosigkeit und Indiskretion. Er ist vor allem ein genuines Phänomen digitaler Kommunikation. So unterscheidet er sich grundsätzlich von den Leserbriefen, die an das analoge Schriftmedium gebunden sind und ausdrücklich namentlich erfolgen. Anonyme Leserbriefe landen schnell im Papierkorb von Zeitungsredaktionen. Und eine andere Zeitlichkeit zeichnet den Leserbrief aus. Während man ihn mühsam handschriftlich oder maschinell verfasst, ist die unmittelbare Erregung bereits verflogen. Die digitale Kommunikation macht dagegen eine sofortige Affektabfuhr möglich. Schon aufgrund ihrer Zeitlichkeit transportiert sie mehr Affekte als die analoge Kommunikation. Das digitale Medium ist in dieser Hinsicht ein Affektmedium.

Die digitale Vernetzung begünstigt die symmetrische Kommunikation. Die Kommunikationsteilnehmer konsumieren die Informationen heute nicht einfach nur passiv, sondern generieren sie selbst aktiv. Keine eindeutige Hierarchie trennt den Sender vom Empfänger. Jeder ist Sender und Empfänger, Konsument und Produzent zugleich. Eine solche Symmetrie ist aber der Macht abträglich. Die Machtkommunikation verläuft in einer Richtung, nämlich von oben nach unten. Der kommunikative Reflux zerstört die Ordnung der Macht. Der Shitstorm ist eine Art Reflux mit all seinen destruktiven Wirkungen.

Der Shitstorm verweist auf machtökonomische Verschiebungen in der politischen Kommunikation. Er schwillt in dem Raum an, der schwach mit Macht und Autorität besetzt ist. Gerade in flachen Hierarchien bewirft man sich mit Shitstorm. Die Macht als Kommunikationsmedium sorgt dafür, dass die Kommunikation in einer Richtung zügig fließt. Die Handlungsselektion des Machthabenden wird von dem Machtunterworfenen gleichsam geräuschlos befolgt. Das Geräusch oder der Lärm ist ein akustischer Hinweis auf beginnenden Zerfall der Macht. Auch der Shitstorm ist ein kommunikativer Lärm. Das Charisma als auratischer Ausdruck der Macht wäre das beste Schutzschild gegen Shitstorms. Es lässt sie gar nicht erst anschwellen.

Die Gegenwart der Macht reduziert die Unwahrscheinlichkeit der Annahme meiner Handlungsselektion, meiner Willensentscheidung durch andere. Die Macht als Kommunikationsmedium besteht darin, angesichts der Möglichkeit des Nein die Wahrscheinlichkeit des Ja zu erhöhen. Das Ja ist wesentlich geräuschloser als das Nein. Das Nein ist immer laut. Die Machtkommunikation reduziert Geräusch und Lärm, das heißt, die kommunikative Entropie erheblich. So beseitigt das Machtwort schlagartig den anschwellenden Lärm. Es erzeugt eine Stille, nämlich den Spielraum für Handlungen.

Der Respekt als Kommunikationsmedium übt eine ähnliche Wirkung aus wie die Macht. Die Ansicht oder die Handlungsselektion der Respektsperson wird oft ohne Widerspruch und Widerrede angenommen und übernommen. Die Respektsperson wird sogar als Vorbild nachgeahmt. Die Nachahmung entspricht dem vorauseilenden Gehorsam im Falle der Macht. Gerade da, wo der Respekt schwindet, entsteht der lärmende Shitstorm. Eine Respektsperson überzieht man nicht mit einem Shitstorm. Der Respekt bildet sich durch Zuschreibung personaler und moralischer Werte. Der allgemeine Wertezerfall lässt die Kultur des Respektes erodieren. Die heutigen Vorbilder sind frei von inneren Werten. Vor allem äußere Qualitäten zeichnen sie aus.

Die Macht ist ein asymmetrisches Verhältnis. Sie begründet eine hierarchische Beziehung. Die Machtkommunikation ist nicht dialogisch. Im Gegensatz zur Macht ist der Respekt nicht notwendig ein asymmetrisches Verhältnis. Respekt empfindet man zwar oft für Vorbilder oder Vorgesetzte, aber grundsätzlich ist ein gegenseitiger Respekt möglich, der auf einem symmetrischen Anerkennungsverhältnis basiert. So kann sogar ein Machthabender Respekt haben vor dem Machtunterworfenen. Der heute überall anschwellende Shitstorm weist darauf hin, dass wir in einer Gesellschaft ohne gegenseitigen Respekt leben. Der Respekt gebietet Distanz. Sowohl die Macht als auch der Repekt sind distanzschaffende, distanzierende Kommunikationsmedien.

Angesichts der Shitstorms wird man auch die Souveränität neu definieren müssen. Souverän ist, Carl Schmitt zufolge, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Man kann diesen Satz der Souveränität ins Akustische übersetzen. Souverän ist, wer eine absolute Stille zu erzeugen, jeden Lärm zu beseitigen, mit einem Schlag alle zum Schweigen zu bringen vermag. Schmitt konnte keine Erfahrung mit der digitalen Vernetzung machen. Sie hätte ihn bestimmt in eine totale Krise gestürzt. Es ist bekannt, dass Schmitt zeitlebens Angst vor Wellen hatte. Shitstorms sind auch eine Art Wellen, die jeder Kontrolle entgleiten. Aus Angst vor Wellen soll der alte Schmitt auch Radio und Fernseher aus seinem Haus entfernt haben. Er sah sich sogar dazu veranlasst, angesichts der elektromagnetischen Wellen seinen berühmten Satz der Souveränität umzuschreiben: »Nach dem Ersten Weltkrieg habe ich gesagt: ›Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.‹ Nach dem Zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: ›Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt.‹«4 Nach der digitalen Revolution werden wir Schmitts Satz der Souveränität nochmals umschreiben müssen: Souverän ist, wer über die Shitstorms des Netzes verfügt.

EMPÖRUNGSGESELLSCHAFT

Die Empörungswellen sind darin sehr effizient, Aufmerksamkeit zu mobilisieren und zu bündeln. Aufgrund ihrer Fluidität und Volatilität sind sie aber nicht dazu geeignet, den öffentlichen Diskurs, den öffentlichen Raum zu gestalten. Dazu sind sie zu unkontrollierbar, unberechenbar, unbeständig, ephemer und amorph. Sie schwellen plötzlich an und zerstreuen sich ebenso schnell. Darin ähneln sie den Smart Mobs. Ihnen fehlen die Stabilität, die Konstanz und die Kontinuität, die unverzichtbar wären für den öffentlichen Diskurs. So lassen sie sich nicht in einen stabilen Diskurszusammenhang integrieren. Die Empörungswellen entstehen oft angesichts jener Ereignisse, die eine sehr geringe gesellschaftliche oder politische Relevanz besitzen.

Die Empörungsgesellschaft ist eine Skandalgesellschaft. Sie ist ohne Contenance,Dialog,DiskursHaltungWir,gesamtgesellschaftliche SorgestrukturSorge um sich.