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Vorwort

Das Spiel gerät in Vergessenheit, das Ergebnis aber bleibt.
(Waleri Lobanowski)

 

Was ist der ukrainische Fußball, was war der sowjetische? Welche Namen sind geblieben? Welche Vereine gibt es? Was bedeutet ein Verein für seine Stadt und wem gehört er? Wer sind die ukrainischen Fans und wie leben sie? Ändert die EM 2012 das Leben in der Ukraine? Was denken die Ukrainer über ihre EM-Gegner?

Auf der mentalen Landkarte Europas nimmt die Ukraine noch immer eine Randposition ein. Da schaut man – mit Spannung und Interesse – schon eher nach Polen, EU-Mitglied und Mitveranstalter der EM 2012.

Fußball in der Ukraine

Dabei lieben die Ukrainer Fußball. Auch wenn Eintrittskarten ziemlich teuer sind, ziehen die Ligaspiele Tausende von Zuschauern an; oder man fiebert am Fernseher mit, die Erfolge und Niederlagen der Mannschaften – ob international oder bei der eigenen Meisterschaft – sind überall Gesprächsthema.

Die Ukraine kann auf eine große Fußballgeschichte zurück­blicken: Als sie noch Teil der Sowjetunion war, brachte das Land viele wichtige Spieler und erfolgreiche Vereine hervor. Man denke nur an den Trainer Waleri Lobanowski, an die Stürmer Oleg Blochin und Igor Belanow und natürlich Dynamo Kiew.

Auch furchtbare Kapitel der ukrainischen Geschichte sind eng mit dem Fußball verbunden. Legenden ranken sich um das so genannte „Todesspiel“ zwischen einer Wehrmachtauswahl und dem FC Start 1942 im besetzten Kiew. Die Spieler des FC Start ließen sich trotz Einschüchterungen den Sieg über die Wehrmacht nicht nehmen und etliche bezahlten dafür mit Lagerhaft und Tod.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gingen viele ukrai­nische Top-Spieler nach Russland oder Westeuropa; dort lockten sichere Karrieren und viel Geld. Trotzdem brachten ukrai­nische Vereine auch in den 1990er Jahren herausragende Spieler wie Andrij Schewtschenko, Anatolij Timoschtschuk oder Andrej Woronin hervor, die zu den besten der westeuropäischen Ligen zählten oder zählen. Bei der Weltmeisterschaft 2006 stieß die Nationalmannschaft, nach den Trikotfarben die „Gelb-Blauen“ genannt, bis ins Viertelfinale vor.

Nach ihren ersten Blütezeiten in den 1980er und 1990er Jahren spielen ukrainische Vereine wie Dynamo Kiew, Schachtar Donezk und Dnipro Dnipropetrowsk auch heute wieder international erfolgreich mit. Besonders Schachtar Donezk – gefördert vom reichsten Ukrainer, dem Oligarchen Rinat Achmetow – ist in den letzten Jahren regelmäßig in der Champions League oder Europa League aufgefallen. In der ostukrainischen Bergbauregion werden internationale Spitzenspieler eingekauft, im August 2009 wurde die neue Donbass Arena eröffnet, im gleichen Jahr gewann Schachtar den UEFA-Pokal. Damit stiften Oligarch und Verein auf regionaler Ebene Identität. Gleichzeitig stärkt Achmetow seinen politischen und wirtschaftlichen Einfluss. Da versteht es sich von selbst, dass Donezk einer der EM-Austragungsorte ist.

„Creating history together“– Die EM 2012

Vielleicht ist Fußball nur ein kleiner Ausschnitt der Gesellschaft. Jedenfalls wurde und wird die Ukraine bisher in Deutschland wenig beachtet: „Unsichtbar“ gar nennt sie der Slawist Walter Koschmal. Die Fußball-Europameisterschaft rückt das Land nun in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit im Ausland. Wie Ulrich M. Schmid in der Neuen Züricher Zeitung schrieb, darf man „jedoch annehmen, dass die Ukraine erst dann zu einer stabilen kulturellen Identität findet, wenn ihr Selbstbild in Europa auch durch ein passendes Fremdbild ergänzt wird. In diesem Prozess kann die ukrainische Literatur eine wichtige, wenn nicht entscheidende Rolle spielen.“ Oder auch der Fußball. So hofft die Ukraine auf ihr Sommermärchen, bei dem sie den Gästen und Fernsehzuschauern ein authentisches, klischeefreies Bild ihrer Kultur präsentieren kann.

Es ist eine wichtige Chance für das Land, nachdem die Hoffnungen der Orangen Revolution von 2004 auf Freiheit, Wohlstand und Anbindung an die EU durch jahrelange politische Grabenkämpfe geschwunden sind und mit der aktuellen Politik des Präsidenten Wiktor Janukowytsch vorerst keine Verbesserung in Sicht ist. Die Ukraine ist auf dem Weg zu einer „gelenkten Demokratie“ wie in Russland. Das zeigt sich unter anderem im Gerichtsurteil gegen die frühere Ministerpräsidentin und Ikone der Orangen Revolution Julia Tymoschenko, das deutsche und europäische Politiker heftig kritisiert haben.

Der vorliegende Band

Wir wollen in Fußball und Literatur ein Stück Ukraine zeigen – deshalb hat der Übersetzerverein translit mit finanzieller Förderung durch die Robert Bosch Stiftung und die DFB-Kulturstiftung elf namhafte Autorinnen und Autoren eingeladen, über ihr Land und den Fußball zu schreiben. Die Texte könnten unterschiedlicher kaum sein. Im Vordergrund stehen Geschichten über, um, mit dem Fußball. Aber auch Porträts von Regionen und Städten sind zu finden. Die elf Autorinnen und Autoren laden ein: zu einem Besuch im Land während der EM, aber auch zu Begegnungen mit Priesteranwärtern, mit KGB-Offizieren und Mafia-Bossen, mit versoffenen Ex-Profis und ganz normalen Fans im Fußballfieber.

 

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