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Herausgeber und Lektoren der Schriftenreihe: Dres. Eleonore und Jürg Baumberger, Sirnach

In der SGGP-Schriftenreihe werden interessante Texte publiziert, ohne dass die SGGP damit zu deren Inhalt Stellung nimmt.

Des textes intéressants sont publiés dans la collection SSPS, sans que la SSPS ne prenne position quant à leur contenu.

Copyright © 2015 SGGP

ISBN 978-3-85707-127-0

Inhalt

1 Einleitung

Stephan Hill, Geschäftsführer SGGP

2 Synthese der Herausgeber

Eleonore und Jürg Baumberger, Herausgeber der Schriftenreihe der SGGP

3 Gesundheitspolitik im föderalen System

Reformansätze von Bund und Kantonen

Dr.rer.pol. Stefan Spycher

Dr. med. MPH Margreet Duetz Schmucki

4 Un parcours de quarante ans

Fédéralisme et politique suisse de la santé

Philippe Lehmann, Vice-Président de la SSPS, Spécialiste en santé publique et politique de santé

5 Public Health zwischen Föderalismus und Chancengleichheit

Ursula Zybach, Public Health Schweiz

Yvan Rielle, polsan – Büro für Politikanalyse und -beratung

Denise Felber Dietrich, Public Health Schweiz

6 Stärken bewahren, Chancen nutzen

Entwicklungsmöglichkeiten des Schweizer Gesundheitssystems im Föderalismus

Stefan Kaufmann, EKG-Gesundheitskasse

Felix Schneuwly, comparis.ch

7 Kompetenzen neu verteilen

Die Nachteile des Föderalismus im Gesundheitswesen überwinden

Erika Ziltener, Dachverband Schweizerische Patientenstellen

8 Zwischen gesundem Wettbewerb und kranker Versorgung

Die Patienten im föderalistischen Gesundheitswesen

Patrick Imhof, Krebsliga Schweiz

Ursula Zybach Public Health Schweiz

9 Ergebnisse messen, Versorgungsregionen optimieren, Ziele definieren

Föderalismus im Gesundheitswesen aus der Sicht der forschenden Pharmaindustrie

Heiner Sandmeier, Stellvertretender Generalsekretär Interpharma

10 Handlungsbedarf

Die sinnvolle Nutzung des Föderalismus im Gesundheitswesen erfordert Anpassungen

Rolf Lüthi, Generalsekretär der Privatkliniken Schweiz PKS

11 Politische Steuerung im schweizerischen Föderalismus am Beispiel der stationären Gesundheitsversorgung

Adrian Vatter, Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern

Christian Rüefli, Büro Vatter AG

12 Anhang

12.1 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Plattform Föderalismus

12.2 Fragestellungen der Plattform Föderalismus

12.3 Autorenverzeichnis

1 Einleitung

Stephan Hill, Geschäftsführer SGGP

Die SGGP, die sich in ihren Statuten dafür einsetzt, dass „grundsätzliche, übergeordnete sowie mittel- und langfristige Ziele der Gesundheitspolitik vermehrt untersucht und berücksichtigt werden“, will auch den Austausch unter den Akteuren im schweizerischen Gesundheitswesen fördern. 2009 hat die SGGP deshalb erstmals eine Stakeholder-Plattform durchgeführt zum Thema „Gesundheits- und Präventionsziele für die Schweiz“. Die Ergebnisse sind in Band 97 der Schriftenreihe zusammengefasst.

2011 hat die SGGP erneut die wichtigsten Organisationen und Institutionen des schweizerischen Gesundheitswesens zu einer Plattform eingeladen, um Fragen des Föderalismus im Gesundheitswesen zu diskutieren.

Die Diskussion um Chancen und Risiken des Föderalismus im Schweizer Gesundheitswesen ist ein aktuelles Thema. Der Bund erlässt immer mehr Gesetze, die von den Kantonen ausgeführt und durchgesetzt werden. Beispiele dafür sind das Humanmedizingesetz, das Fortpflanzungsmedizingesetz, die Spitalfinanzierung und die Spitalplanung. Die Kantone beklagen, sie müssten zahlen, ohne mitbestimmen zu können, und sie sehen ihre Hoheit gefährdet. Die Kleinräumigkeit der Schweiz mit ihren 26 Gesundheitssystemen hat zwar Vorteile: Bürgernähe, kurze Wege, Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten etc. Sie kann aber auch Entwicklungen behindern. So gibt es grosse Qualitätsunterschiede (z.B. in der Brustkrebsfrüherkennung und -behandlung), Doppelspurigkeiten (z.B. in der Spitzenmedizin), Verschwendung von Ressourcen durch den Protektionismus.

Wie könnte ein neues Steuerungsmodell für das Gesundheitswesen in der Schweiz aussehen? Zentralgesteuert, harmonisiert, kantonal gesteuert, multipartnerschaftlich entwickelt? Auf diese Fragen sollten die Akteure in der Schweizer Gesundheitspolitik Antworten finden.

Das Echo auf die Einladung zur Plattform war gross: Teilgenommen haben Vertreterinnen und Vertreter von Verbänden öffentlicher und privater Spitäler, der Pharmaindustrie, der Ärzte und Apotheker, des Roten Kreuzes, der Krankenversicherungen, der Patientenorganisationen, des Bundesamtes für Gesundheit, der Gesundheitsdirektorenkonferenz, von Gesundheitsligen und Public Health sowie Gesundheitsökonomen. In einem ersten Treffen wurden unter den Teilnehmenden Inhalt, Ablauf, Fragebogen und Input-Referate abgestimmt. Es folgten drei Workshops mit Referaten und Diskussionen. Im vorliegenden Band legen Autorinnen und Autoren der wichtigsten Stakeholder ihre Sicht über Stärken und Schwächen, Chancen und Gefahren des Föderalismus im schweizerischen Gesundheitswesen dar. In einer Synthese werden die verschiedenen Ansichten, Anliegen und Vorschläge zusammen gebracht.

Da sich das Thema in keiner Weise entschärft hat, entschloss sich die SGGP, diesen Sammelband in einem zeitlichen Abstand zu veröffentlichen. Die Beiträge dieses Bandes wurden von Plattformteilnehmern nach Abschluss der Plattform erstellt und für die Veröffentlichung aktualisiert.

Es geht der SGGP dabei nicht darum, eigentliche Ziele zu setzen, sondern sich mit den Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen und Grundlagen für neue Steuerungsinstrumente zu erarbeiten. Weitere angeregte Diskussionen zum Thema stehen bevor. Diese sollten sich um die Frage drehen, wie die Vorteile des Föderalismus (Bürgernähe, Labor und Wettbewerb für neue Ideen und Konzepte) besser genutzt werden können, ohne seinen grossen Nachteilen (regionaler Protektionismus in der Spitalversorgung, unheilsame Mehrfachrolle der Kantone als Regulator und Betreiber/Eigner von Spitälern und als Regulator derer Konkurrenz, teilweise technische Inkompetenz, teilweise Qualitätsdefizite, fehlende Datenlage, etc.) ausgesetzt zu sein?

Ohne die aktive Eliminierung der bestehenden Nachteile des Föderalismus riskieren seine Befürworter zu Recht, dass er durch zunehmende Bundeskompetenzen weiter ausgehöhlt wird. Dabei liegen die Chancen für einen neuen und aktiven Föderalismus auf der Hand: Durch Koordination von und Austausch über die kantonalen Initiativen und Tätigkeiten könnten die Kantone ein Knowledge-Management aufbauen und nutzen, in welchem gerade die vielen kantonalen Bestrebungen allen interessierten Kreisen – auch dem Bund – nutzbar gemacht würden: eine willkommene Quelle für Erneuerungen und Innovation in unserem Gesundheitswesen! Worauf warten wir?

2 Synthese der Herausgeber

Eleonore und Jürg Baumberger, Herausgeber der Schriftenreihe der SGGP

Im Zusammenhang mit dem Entwurf des Bundesrates zum Präventionsgesetz (2009) und der folgenden Parlamentarischen Debatte wurden verschiedene Steuerungsinstrumente einer Präventionsstrategie diskutiert. So sollten erstens Nationale Ziele (für acht Jahre) aufgestellt werden, die von Bund und Kantonen unter Mitwirkung von Fachkreisen verabschiedet werden sollen. Zweitens erarbeitet der Bundesrat eine Strategie für vier Jahre, die Anliegen und Meinungen von Kantonen und Fachkreisen berücksichtigt. Drittens sollen nationale Programme von Bund, Kantonen und Fachkreisen erarbeitet und umgesetzt werden. Viertens soll ein Kompetenzzentrum für Qualität, Evaluation, Support usw. eingesetzt werden.

An die Teilnehmer der Gesundheitsplattform der SGGP 2011 (s. Anhang) wurden grundsätzlich zwei Fragen gestellt:

  1. Sollte ein gleiches Steuerungsmodell im kurativen Bereich eingeführt werden? Und wie wäre es möglich, diese Bestimmungen auf Gesetzesbasis zu verankern? Gibt es dazu überhaupt seitens Bund und Kantonen sowie der weiteren Akteure einen politischen Willen?
  2. Wie sollte eine neue Kompetenzordnung in der Gesundheitspolitik aussehen und welche Chancen bestehen, dass sie realisiert wird?

Präziser wurde sodann gefragt:

Welche Themen, Bereiche, Verantwortungen in der Gesundheitspolitik sollten sinnvollerweise

-  zentralisiert, d.h. national gesteuert werden?

-  harmonisiert/standardisiert, aber nicht zentralisiert werden, d.h. national einheitlich, aber kantonal bzw. interkantonal gesteuert werden?

-  regionalisiert, aber nicht zentralisiert werden, d.h. auf der Ebene von Regionen von ein bis zwei Millionen Einwohnern gesteuert werden?

-  in Form einer Mischung von public-privat multipartnerschaftlich entwickelt werden?

Der Föderalismus im Gesundheitswesen steht in der Schweiz zur Diskussion (viel mehr als in anderen föderalen Ländern wie Deutschland, Österreich, Belgien, USA, Kanada, Australien usw. oder in dezentralisierten Ländern wie Italien und Spanien). Auf dieser Basis wurde auch bei der Gesundheitsplattform der SGGP fundiert debattiert. Zusammenfassend kann aus den Antworten und Vorschlägen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer folgendes Fazit gezogen werden:

Stärken und Schwächen des Föderalismus im Gesundheitswesen

Der Föderalismus im Gesundheitswesen, der in der Schweiz sehr stark ausgeprägt ist, wird von den Teilnehmenden im grossen und ganzen positiv bewertet, bei durchaus unterschiedlichen Standpunkten in Teilaspekten.

Positiv hervorgehoben werden der Wettbewerb unter 26 Kantonen, die Möglichkeit der staatlichen Steuerung, verbunden mit demokratischer Aufsicht. Örtliche Gegebenheiten fänden Berücksichtigung. Die Steuerung medizinischtechnischer Innovationen, die Investitionssteuerung sowie die Steuerung der Ressourcen (Ausbildung, Forschung, Innnovationen) führten zu gutem Einsatz des Knowhows sowie zu guter Handhabung der Belastungen, der Ausgaben und der Finanzierung. Bürger- und patientennahe massgeschneiderte Versorgung, Partizipation und Diversität ermöglichten hohe Qualität und Dienstleistung am Patienten. Diesen – nicht unumstrittenen – positiven Aspekten stehen die Probleme gegenüber, die die Teilnehmer im Föderalismus des Gesundheitswesens ausmachten, und die sich auch in den Beiträgen dieses Sammelbandes widerspiegeln.

Die Schwächen des Föderalismus im Gesundheitswesen, die von den Teilnehmenden aufgelistet werden, sind eine Spiegelung dieser Stärken. Der Wettbewerb führe zu Konkurrenz und regionalem Protektionismus. Der Preiswettbewerb und Qualitätswettbewerb, die Berücksichtigung örtlicher Gegebenheiten führten zu mangelnder Planung vor allem in der Spitzenmedizin und zur Bevorzugung des Einheimischen. Hervorgehoben werden auch Doppelspurigkeiten, Überversorgung, die kleinräumige, zersplitterte Spitallandschaft sowie die Reproduktion der Strukturen in Organisationen.

Der Diversität des schweizerischen Gesundheitssystems stehen nach Ansicht der Teilnehmenden an der Plattform auch technische Inkompetenz, Qualitätsdefizite (uneinheitliche bzw. fehlende Qualitätsstandards), fehlende Daten über Ergebnisqualität sowie ein grosses regionales Qualitätsgefälle (Beispiel Brustkrebs) gegenüber. Die Zersplitterung und die Kleinheit der 26 Systeme führten zu Ineffizienz, sowie zu ungenügenden intellektuellen und personellen Ressourcen für die Steuerung der Gesundheitspolitik. Sie verteuerten die Leistungen. Verwiesen wird auch auf den Widerstand der Kantone bei der Umsetzung von übergeordnetem Recht wie etwa bei der freien Arzt- und Spitalwahl sowie des vom eidgenössischen Parlament gewollten regulierten Wettbewerbs. Es gebe häufig Widerstand gegen die Empfehlungen der Gesundheitsdirektorenkonferenz GDK bzw. gegen gemeinsame Entwicklungen in Nachbarkantonen. Die Entscheidungsträger in den Kantonen wichen häufig dem lokalen Druck. Gleichlange Spiesse für Privatspitäler würden verhindert. Der Föderalismus im Gesundheitswesen sei ungeeignet zur Lösung nationaler Probleme sowie für den Umgang mit den Folgen des demographischen Wandels.

Chancen und Gefahren des Föderalismus im Gesundheitswesen

Dennoch sehen die Teilnehmenden an der Gesundheitsplattform SGGP 2011 auch Chancen des Föderalismus im Schweizer Gesundheitswesen. Der Föderalismus sei ein Labor für Innovationen, denn es sei leicht möglich, die richtigen Partner zu finden. Eine schnelle Reaktion auf Bedarf und Lücken sei möglich. Der Föderalismus könne ein Katalysator für kleine Reformen im Gesundheitswesen sein. Das bestehende Knowhow könne optimal genutzt werden, massgeschneiderte Lösungen, ausgerichtet an lokalen und regionalen Bedürfnissen seien möglich. Bürger- und Patientennähe führten zu Legitimation und häufig zu Akzeptanz – ausser bei Spitalschliessungen.

Diesen Chancen stehen viele Unzulänglichkeiten gegenüber. Die Vervielfachung der Institutionen und Kosten, die Zersiedelung des Gesundheitswesens führen nach Ansicht der Teilnehmenden an der Gesundheitsplattform zu Ineffizienz und zur Verhinderung von Synergien. Die Kantone seien zu kleine Einheiten für sinnvolle medizinische und ökonomische Versorgungsregionen. Die Kantone nähmen zu viele, zum Teil widersprüchliche Rollen ein. Die Komplexität der Systeme behindere die Bewältigung der anstehenden Probleme. Die Kantone seien sehr oft Reform unwillig, was beispielsweise auch die klinische Forschung gefährde.

Reformanliegen an den Föderalismus im schweizerischen Gesundheitswesen

Aus dieser Analyse der Stärken und Schwächen, der Chancen und Gefahren des Föderalismus im Gesundheitswesen ergeben sich Anliegen nach gezielten Reformen unter Verwendung verbindlicher und messbarer nationaler Ziele

Es gilt dabei in erster Linie die Rolle der Kantone zu klären. So könnten die Kantone entweder auf die Rolle des Mitspielers verzichten und nur noch behördliche Aufgaben übernehmen, oder Mitspieler bleiben und auf die Rolle als massgebende Behörde verzichten. Die vertikale und horizontale Kooperation zwischen Bund und Kantonen und unter den Kantonen müsse gestärkt werden. Nationale Rahmenbedingungen, erarbeitet in einem nationalen Dialog, sollten vorgegeben werden, um einheitliche Gesundheitsziele zu erreichen und durchzusetzen. Der Ausbau nationaler Programme (zurzeit – seit 1986 – mehr als zwanzig und oft in harter Konkurrenz untereinander stehend, darunter: HIV-Aids, eHealth, palliative care, Krebsprogramme) könnte dabei helfen, soweit sie von der Mehrheit der Kantone umgesetzt werden, wie es heute in den Bereichen Tabakprävention und Bewegung/Ernährung der Fall ist. Die Evaluation von Leistungen durch Einführung eines Health Technology Assessments würde zu mehr einheitlicher Qualität und Effizienz führen. Planungsmechanismen für grössere Regionen über die Kantonsgrenzen hinweg könnten dazu beitragen, die Nachteile der Kleinräumigkeit und des „Kantönligeistes“ zu überwinden.

Lösungen aus dem Dilemma zwischen regionaler und lokaler Beharrlichkeit einerseits und überregionaler oder zentraler Steuerung und Koordination andererseits muss quasi in der Schnittmenge von Bund und Kantonen gefunden werden. Aus dieser Position des gleichsam top-down-bottom-up heraus können die Vorteile des Föderalismus genutzt und die Nachteile in den Griff bekommen werden. Nur hier kann der notwendige Konsens entstehen.

Positive Ansätze dazu gibt es im Bereich des seit 2003 geführten „Dialog nationale Gesundheitspolitik“. Ein mögliches Vorgehen wird in der Forderung nach Stärkung der GDK deutlich, die verbindlichere Beschlüsse zur Verpflichtung der Mitgliederkantone fassen können und mehr fachliche Ressourcen haben sollte.

Das Beharrungsvermögen der auf föderaler Autonomie und Selbstbestimmung beharrenden Kräfte ist jedoch gross: dessen Überwindung erfordert Kraft und Ausdauer. Die Plattform Föderalismus der SGGP war ein Beitrag dazu.

3 Gesundheitspolitik im föderalen System

Reformansätze von Bund und Kantonen

Dr.rer.pol. Stefan Spycher
Dr. med. MPH Margreet Duetz Schmucki

In der Schweiz wird die Politik vom Föderalismus geprägt. Dieser Umstand wird sowohl breit getragen wie auch konstant diskutiert und in Frage gestellt. Die Gesundheitspolitik ist diesbezüglich keine Ausnahme, auch hier zeichnet sich kein stabiler Konsens bezüglich der „richtigen“ föderalen Organisation ab.

Das föderalistische System weist Stärken und Schwächen auf – auch in der Gesundheitspolitik. Positiv ist beispielsweise, dass die regionsspezifischen Bedürfnisse Berücksichtigung finden und dass „bottom-up“ innovative Projekte entstehen können. Zudem ist – wo notwendig – eine differenzierte, kantonsspezifische Optimierung möglich. Die Akzeptanz des föderalistischen Systems ist in der Bevölkerung und bei vielen Akteuren entsprechend hoch. Dennoch wird oft auch auf Schwächen hingewiesen. Genannt werden etwa die Ineffizienzen, die durch die Kleinräumigkeit entstehen können, die mangelnde Steuerbarkeit des Gesamtsystems sowie die grossen Unterschiede zwischen den Kantonen, welche die Rechtsgleichheit in Frage stellen könnte. Die OECD und WHO haben in ihren Berichten 2006 und 2011 pointiert auf diese Punkte hingewiesen.

Die Rollen von Bund und Kantonen1

Die Prinzipien des Föderalismus – Subsidiarität und Liberalismus – prägen die Aufgabenteilung in der schweizerischen Gesundheitspolitik. (Achtermann/Berset, 2006, 29 ff.). Gemäss der Verfassungsordnung (Art. 3 BV) übt der Bund lediglich diejenigen Aufgaben aus, die ihm explizit übertragen wurden. Die übrigen Aufgaben kommen entweder den Kantonen und Gemeinden oder nichtstaatlichen Akteuren zu. Im Gesundheitssystem nehmen sowohl der Bund als auch die Kantone zentrale Aufgaben wahr.

Der Bund hat im Gesundheitsbereich namentlich folgende Kompetenzen:

Die gesundheitspolitischen Zuständigkeiten des Bundes wurden während der vergangenen 30 Jahre ausgebaut. Zum einen wurden dem Bund ausdrücklich neue Kompetenzen zugeteilt, sei es durch die Verschiebung von den Kantonen an den Bund (z.B. die Heilmittelkontrolle), sei es durch die Definition ganz neuer Aufgaben (z. B. die Regulierung der Fortpflanzungsmedizin). Zum anderen übernahm der Bund aus eigenem Antrieb Aufgaben im Rahmen verschiedener nationaler Programme in den Bereichen Gesundheitsförderung und Prävention (Achtermann/Berset, 2006, 31 ff. und 129).

Die Kantone üben ihre gesundheitspolitische Rolle auf zwei Ebenen aus. Zum einen gestalten sie die eigene kantonale Gesundheitspolitik bzw. – Gesetzgebung und setzen sie um. Die betrifft insbesondere die folgenden Bereiche (Achtermann/Berset 2006, 32):

Zum anderen wirken die Kantone an der Gesundheitspolitik des Bundes mit: Sie vollziehen gewisse bundesrechtliche Vorgaben, insbesondere in den Bereichen der Krankenversicherung, des Gesundheitsschutzes und der Berufsbildung.

Zusammenarbeit von Bund und Kantonen

Die starke Aufgabenverflechtung und die steigende Komplexität gesundheitspolitischer Fragestellungen haben den Bund und die Kantone seit den 1990er Jahren dazu veranlasst, Mechanismen zur gemeinsamen, koordinierten Problemlösung zu entwickeln. (Achtermann/Berset, 2006, 130 ff.). Seit 2003 besteht mit dem «Dialog Nationale Gesundheitspolitik» eine Austauschplattform zwischen Bund und Kantonen, die dabei als gleichwertige, aber eigenständige Partner auftreten. Der Dialog dient dem regelmässigen Informationsaustausch, der Identifikation von gesundheitspolitischen Themenfeldern, an denen Bund und Kantone ein gemeinsames Interesse haben, sowie der Förderung von gegenseitigem Verständnis und Vertrauen. Der «Dialog» legt die erforderlichen Grundlagen-, Vorbereitungs- und Entwicklungsarbeiten fest und beschliesst gemeinsame Stellungnahmen und Empfehlungen an den Bund und an die Kantone. Aus dem «Dialog» sind in diversen Themenbereichen gemeinsame Aktivitäten von Bund und Kantonen, teilweise unter Einbezug von Dritten, hervorgegangen:

Der Föderalismus als Ursache der aktuellen Probleme?

Der Bundesrat hat in seiner Strategie Gesundheit2020 (Bundesrat 2013) die aktuellen Probleme und künftigen Herausforderungen skizziert. Sie sind zahlreich und sollen an dieser Stelle nur stichwortartig angetönt werden: Die Zahl der älteren Menschen und damit der chronischen Krankheiten wird stetig zunehmen, die heutigen Strukturen sind zu sehr auf die Akutversorgung ausgerichtet. Die Transparenz des Gesundheitssystems ist beschränkt, es fehlt an gezielter Koordination. Die statistischen und analytischen Grundlagen sind lückenhaft. Es gibt Fehlanreize, die zu Ineffizienzen und unnötigen Kosten führen. Die Gesundheitskosten werden durch die demographische Entwicklung und den medizinisch-technischen Fortschritt weiter steigen; die hohen Krankenkassenprämien stellen schon heute für viele Menschen eine spürbare finanzielle Belastung dar. Die Schweiz investiert zu wenig Mittel in die Vorbeugung sowie in die Früherkennung von Krankheiten. Die vereinzelt ungenügende Qualität der Leistungen wird häufig nicht erkannt. Durch die aktuellen Entwicklungen mit der EU ist unsicher, ob wir auch zukünftig genügend Gesundheitspersonal haben werden.

Inwiefern sind diese Probleme und Herausforderungen auf die föderale Organisation des Gesundheitssystems zurückzuführen? Muss konsequenterweise für deren Lösung der Föderalismus reformiert werden? Die Antworten fallen differenziert aus. Manche Probleme stehen in keinem Zusammenhang mit dem Föderalismus, beispielsweise die blockierten Tarifverhandlungen TARMED, der Risikoausgleich oder die Zunahme der chronisch Kranken). Andere Schwierigkeiten sind aber sehr unmittelbar die Folge einer dezentralen Organisation, die sich nur beschränkt abstimmen und lokal politisch verantworten muss. Dazu gehören – nur zu Illustration des Gesagten – ewa die mangelnde Versorgung mit Palliativ-Care-Diensten oder die ungenügende Steuerbarkeit des Gesamtsystems.

Schwierigkeiten einer Föderalismusreform

Möchte man die letztgenannten Probleme angehen, dann würde es eine Föderalismusdebatte und -reform im Gesundheitssystem brauchen. Aber kann eine solche Debatte unabhängig von einer generellen Föderalismusdiskussion über alle Politikbereiche geführt werden? Die Schweiz ist historisch betrachtet von unten her aufgebaut: Die Kantone haben alle Kompetenzen, ausser sie geben sie ganz bewusst an den Bund ab. Reformen der föderalen Organisation im Gesundheitssystem haben daher zu berücksichtigen, dass hier eine grundlegend staatspolitische und nicht nur eine sektorpolitische Frage gestellt wird. Dies zeigt sich insbesondere auch mit Blick auf die Kosten des Föderalismus in Form von Doppelspurigkeiten und Ineffizienzen. Das Gesundheitssystem ist Teil eines Ganzen, das nicht nur nach Effizienzkriterien funktioniert. Partizipation und lokaler Einfluss sind stark verankerte Werte für sich selbst, mögliche negative Auswirkungen auf die Effizienz wurden in der Vergangenheit in Kauf genommen.

Eindrücklich belegt wurde dies mit der Diskussion um die Volksinitiative „Ja zur Hauszarztmedizin“ und dem bundesrätlichen Gegenvorschlag. Dieser sah vor, dass der Bund – in Analogie zur Bildungsverfassung – neu subsidiär eine Kompetenz erhalten sollte, die Grundversorgung mit geeigneten Massnahmen zu sichern, wenn dies die Kraft der Kantone übersteigt. Die Kantone lehnten eine solche in ihren Augen zu generelle Bundeskompetenz ab. Eine Kompetenzverschiebung könne nur dann ernsthaft diskutiert werden, wenn das Sachgebiet eng begrenzt und abgesteckt sei (wie etwa bei der hochspezialisierten Medizin). Geht die Kompetenzverschiebung aber über ein enger definiertes Feld hinaus und wird allgemeiner, so werden Grundsatzfragen des Föderalismus tangiert, für die zurzeit die Kantone nur schwer zu gewinnen sind.

Interessant ist auch der Blick auf die Frage einer möglichen Verletzung der Rechtsgleichheit nach Artikel 8 der Bundesverfassung, wenn die interkantonalen Unterschiede in der Versorgung oder der Finanzierung zu gross werden. Man könnte sich beispielsweise vorstellen, dass der Bund für die Versorgung Minimal- und Maximalstandards vorgeben würde, um die Versorgungsdifferenzen anzugleichen und die Rechtsgleichzeit zu gewährleisten (z.B. bezüglich der Verfügbarkeit von mobilen Palliative-Care-Diensten in den Kantonen).2 Die geltende Rechtsauffassung geht allerdings aufgrund der geltenden Kompetenzverteilung dahin, dass die Rechtsgleichheit nur dann verletzt ist, wenn Kantonsbürger oder -bürgerinnen innerhalb eines Kantons ungleich behandelt werden. Unterschiede zwischen Kantonen seien demnach zulässig. Unzufriedene Bürgerinnen und Bürger könnten durch einen Wechsel des Kantons ihre Situation verbessern. Standards werden teilweise trotzdem erlassen, aber nicht um die Rechtsgleichheit herzustellen, sondern um beispielsweise eine Überversorgung zu verhindern (Zulassungsstopp nach Artikel 55a des KVG). Interessant ist ferner, dass in den Sozialversicherungen unterschiedliche Ansätze gewählt worden sind. Sowohl in der Arbeitslosen- wie auch in der Invalidenversicherung ist man darauf bedacht, einen schweizweit einheitlichen Vollzug zu haben, auch wenn regionale Besonderheiten – gerade bei der Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt – durchaus berücksichtigt werden.

Ferner gibt es einige Debatten und Konzepte in anderen Politikbereichen, die für eine aktivere Föderalismusreformdiskussion im Gesundheitswesen hinderlich sind. Beispielsweise begegnet man in der Diskussion rund um die Standortattraktivität Vereinheitlichungen und materiellen Harmonierungen zwischen den Kantonen (und zwischen den Gemeinden) mit grosser Skepsis, weil man sich vom Standortwettbewerb positive Wirkungen erhofft. Inwiefern diese tatsächlich vorhanden sind, sei dahin gestellt. In der politischen Debatte wird mehrheitlich davon ausgegangen.

Der Disput rund um „mehr Staat oder mehr Markt im Gesundheitssystem?“ ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu erwähnen. Er interferiert mit der Föderalismusdebatte, wenn etwa stärkere staatliche Rahmenbedingungen – unabhängig ob auf kantonaler Ebene oder auf Bundesstufe –mit dem Hinweis auf die „Tendenz zur Staatsmedizin“ abgelehnt werden. Allerdings könnten sich diese Diskussionen auch gut ergänzen: Intelligent gesetzte staatliche Rahmenbedingungen können nämlich erst die Möglichkeit schaffen, dass sich der regulierte Wettbewerb voll entfalten kann (z.B. mit einer guten Ausgestaltung des Risikoausgleichs).

Weiter hat das Reformprojekt der Neugestaltung des Finanzausgleichs (NFA) zwischen Bund und Kantonen grosse Auswirkungen. Seit die NFA in Kraft ist, erlahmen Debatten um eine Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen, weil in der Folge der NFA allenfalls angepasst werden müsste. Da die Kompromissarbeit um den NFA sehr viel Zeit in Anspruch genommen hat, möchte man aber verhindern, dieses Paket aufzuschnüren.

Beispiele für aktuelle Brennpunkte in der Kompetenzverteilung

Es gibt zahlreiche Themen, die heute die Frage der Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Kantonen bzw. die Frage der Form der Aufgabenteilung aufwerfen. Beispielhaft können drei genannt werden:

Die Strategie des Bundesrates

Der Bundesrat hat in seiner Strategie Gesundheit2020 eine pragmatische Sichtweise bezüglich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen eingenommen (Bundesrat 2013). Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind nicht die Zuständigkeiten, sondern die gesundheitspolitischen Probleme. Er will diese einer nachhaltigen Lösung zuführen. Sollte sich auf diesem Weg zeigen, dass eine Veränderung der Kompetenzordnung notwendig ist, dann wird man eine solche vorschlagen. Die Revision der Zuständigkeitsordnung ist aber kein Ziel per se. Diese Haltung drückt sich auch im neuen Artikel 117a der Bundesverfassung zur medizinischen Grundversorgung aus. Die Zuständigkeiten von Bund und Kantonen wurden grundsätzlich so belassen, wie sie heute sind. Beiden Akteuren zusammen werden aber neue und vor allem gemeinsame Ziele vorgegeben (Sicherung einer qualitativ hoch stehenden, medizinischen Grundversorgung), die sie zu einer geeigneten Zusammenarbeit und Abstimmung verpflichten.

In Gesundheit2020 macht der Bundesrat aber auch klar, dass das Gesundheitssystem bewusster beeinflusst und koordiniert werden soll. Die bisherige Entwicklung wird stark als endogen, als bottom-up eingeschätzt und somit als weitgehend ungesteuert wahrgenommen. Hier möchte der Bundesrat einen Gegenpunkt setzen: Es soll klar werden, wohin sich das System entwickeln soll. Dieser Weg wird ganz bewusst angestrebt. Dabei ist es von untergeordneter Bedeutung, welche Funktionen dabei der Bund oder die Kantone einnehmen. Die Gouvernanz soll sachgerecht organisiert sein und Anreize eine zentrale Rolle spielen.

Fazit und Ausblick

Stimmt die eingangs erwähnte Analyse der OECD-WHO? Sollten wir eine Föderalismusreform durchführen? Wir denken, dass dies kein erfolgsversprechender Weg ist. Eine grundsätzliche Debatte über den Föderalismus im Gesundheitswesen ist für die Lösung der aktuellen gesundheitspolitischen Herausforderungen wenig zielführend. Dies hat mehrere Gründe: Über den Föderalismus kann man nicht in den Farben Schwarz und Weiss nachdenken, die Hauptfarbe ist Grau, weil er sowohl Vor- wie Nachteile hat. Weiter ist der Föderalismus in der Schweiz generell und im Gesundheitswesen ganz besonders tief verankert. Eine Revision auf breiter Basis käme somit nicht nur einer Änderung von Zuständigkeiten in einem spezifischen Politikfeld gleich, sondern einer grundsätzlichen Veränderung des schweizerischen Staatsaufbaus und seines Funktionierens. Zurzeit gibt es wenig Hinweise dafür, dass dies von einer Mehrheit der Bevölkerung gewünscht würde. Die mit dem Föderalismus einhergehenden Ineffizienzen und Ungleichheiten werden zwar intensiv diskutiert, aber nach wie vor auch von einer klaren Mehrheit akzeptiert. Die Zukunft wird somit nicht in einer Radikalreform, sondern in den für unser System üblichen, aber eben auch bewährten kleinen Optimierungsschritten bestehen. Dies kann auch bedeuten – wie in der Vergangenheit schon verschiedentlich passiert –, dass einzelne Felder der Gesundheitspolitik neu organisiert werden. Weiter zunehmen werden auch die interkantonalen Kooperationen und Planungen. In anderen Worten: Optimierungen sind dringend und an zahlreichen Stellen notwendig, eine Föderalismusreform im Gesundheitssystem ist dazu aber nicht eine zwingend notwendige Voraussetzung. Vielfach reichen die bestehenden Instrumente und Formen der Zusammenarbeit aus, um die Probleme – vorausgesetzt, dass der politische Wille zur Lösungsfindung vorhanden ist – angehen zu können.

Spannend dürfte sein, ob Innovationen aus Technik und Wissenschaft die diskutierten Herausforderungen des Föderalismus beeinflussen. Wir denken hier insbesondere an die Digitalisierung des Gesundheitssystems. Könnte es beispielsweise sein, dass ein universelles elektronisches Patientendossier oder der mögliche Einsatz von Big Data die kantonalen Grenzen mit der Zeit aufweicht? Wie dem auch sein wird: Über die Vor- und Nachteile einer föderalen Organisation des Gesundheitssystems und deren konkrete Ausgestaltung wird wohl kaum je ein länger andauernder, stabiler Konsens bestehen. Es wird immer wieder Gründe geben, um das aktuelle Arrangement in Frage zu stellen und neue Ansätze zu diskutieren.

Literatur

Achtermann Wally und Christel Berset (2006): Gesundheitspolitiken in der Schweiz – Potential für eine nationale Gesundheitspolitik. Band 1: Analyse und Perspektiven. Bern: Bundesamt für Gesundheit.

Bundesrat (2013): Die gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates.

OECD-WHO (2006): Switzerland. OECD-Review of Health Systems. OECD and WHO, OECD Publishing, Paris.

OECD-WHO (2011): Switzerland. OECD-Review of Health Systems. OECD and WHO, OECD Publishing, Paris.

Rüefli Christian, Margreet Duetz, Michael Jordi und Stefan Spycher (2015): Gesundheitspolitik, in: Oggier Willy (2015): Gesundheitswesen Schweiz 2015-2017, Paul Huber Verlag, Bern.

Sager Fritz und Christian Rüefli (2005): Die Evaluation öffentlicher Politiken mit föderalistischen Vollzugsarrangements. Eine konzeptionelle Erweiterung des Stufenmodells und eine praktische Anwendung, Swiss Political Science Review, 11 (2), 101 – 129.