Epub cover

Editorische Notiz

Mit der Verleihung des Italo-Svevo-Preises an Giwi Margwelasch­wili wurde im Juni 2013 dessen »ästhetischer Eigensinn« honoriert. Die Jury ehrt und fördert mit dem Preis das »literarische Lebenswerk« des deutsch-georgischen Autors, »dessen Rang sich bereits abzeichnet, dem es jedoch vorerst am breiten Zuspruch der Zeit mangelt.«

Ganz im Sinne des Preises präsentiert der vorliegende Band ungedruckte oder bislang nur in Zeitungen und Magazinen publizierte Texte Margwelaschwilis erstmals in Buchform. Dieses Lesebuch gibt einen guten Einblick in das literarische Schaffen des Ontotextologen.

Wir danken der Jury des Italo-Svevo-Preises, Wolfgang Hegewald, Insa Wilke und Joachim Scholl, sowie dem Mäzen des Preises, der den Italo-Svevo-Preis ermöglichte und den Druck des vorliegenden Bandes unterstützte und der, darin ganz in Hanseatischer Kaufmannstradition stehend, anonym bleiben möchte, für sein Engagement.

Berlin, August 2013 Kristina Wengorz und Jörg Sundermeier

Das Nashorn. Ein Kindergedicht

Nein, Kinder, nein, ich bin nicht froh.
Ein normales Nashorn steht im Zoo.
Ich aber steh auf dem Papier
Und frage mich, was soll ich hier.

Immer muß ich um mein Dasein beben.
Denn gelesen werdend leben
Ist sicher das Beschwerlichste
Und auch noch das Gefährlichste.

Was mach ich armes dickes Biest, 
Wenn mich keiner liest? 
Auf meinem miesen Zeilengrund 
Sterb ich noch am Leserschwund.


Ach, ich fürchte den Lesertod! 
Drum, Kinder, hört mein Angebot: 
Für mein Überleseleben 
Möchte ich mich euch zum Reiten geben. 
Doch dazu braucht es Phantasie. 
Kleiner Leser, hast Du sie?

Giwi Margwelaschwili

VERFASSER UNSER

Ein Lesebuch

Herausgegeben von Kristina Wengorz und Jörg Sundermeier


Eine gute Textweltwirklichkeitsverdrehung

»Was ist das?« ruft Mephisto verblüfft. Er hat sich zufällig umgesehen und ein ihm völlig unbekanntes Paar hinter sich und Marthe auf dem Gartenweg erblickt. »Wer sind die zwei? Wo … wo sind denn Faust und Margarete?«

»Schon in ihrem Stübchen«, kichert die Marthe, »die haben’s gut. Margarete sagt schließlich zu allem ja. Und Sie, mein Herr, wußten wohl noch nichts davon? Nein? Na, dann kann ich Ihnen sagen: Faust und Margarete müssen nicht mehr hier umhergehen. Das ist der neueste Beschluß der Buch- und Versweltverwaltung.«

»Wieder diese Verwaltung!« schnauzt der Teufel. »Was mischt die sich hier ein? Der Spaziergang von Faust und Margarete im Garten ist Vorschrift. Er ist die Lese-Lebensregel in diesem buch- und realweltberühmten Versweltbezirk. Wie kann man sich erdreisten, sie aufzuheben!«

»Tja«, sagt Marthe, »ich hab’ mich auch nicht wenig darüber gewundert, habe gewettert, habe gefragt: Warum? Weshalb? Wieso jetzt das? Aber Sie wissen ja, mit der Versweltverwaltung läßt sich nicht reden. Die macht am Ende, was sie will.«

»Aber sie muß doch einen Grund für die Veränderung angegeben haben«, wundert sich Mephisto, »man kann doch nicht so mir nichts, dir nichts die ganze altherkömmliche Lese-Lebensordnung umstoßen. Das finde ich reichlich unverschämt!«

»Warten Sie!« Marthe hat ihren Schritt verlangsamt und starrt grüblerisch in den Garten. »Irgend etwas haben die Beamten der Versweltverwaltung dazu gesagt. Was war das noch? Ach ja! Jetzt weiß ich’s wieder. ›Dieser Versweltbezirk gehört zu den humanistischsten‹, haben sie erklärt, ›folglich dürfen ihm auch alle neuen humanen Entwicklungen in der Buch- und Verswelt nicht fremd bleiben.‹ Genau! Das waren ihre Worte.«

»Das ist doch die Höhe!« poltert der Teufel laut heraus. Man merkt, wie schwer es ihm fällt, seine Wut zu bändigen. »Die stellt uns alles auf den Kopf! Diese … diese Verwaltung des Teufels!«

»Nicht wahr?« Marthe nickt eifrig. »Man müßte sich beschweren. Aber bei wem? Heute schützt Sie kein Thema mehr vor Übergriffen.«

»Und diese beiden?« knurrt der Teufel böse und wirft einen schiefen Blick über die Schulter. »Wer sind die?«

»Das ist auch ein Liebespaar«, sagt Marthe. Sie kichert, offensichtlich macht es ihr Spaß, den Teufel aufzuklären. »In der Buchbezirkswelt, so erzählten es die Beamten der Versweltverwaltung, sind die beiden absolute Neben- oder Hintergrundpersonen. Wissen Sie, was das bedeutet? Nein? Ich hab’ es auch nicht gewußt, aber es ist drollig genug: Der Herr kann der holden Dame keine förmliche Liebeserklärung machen. Als absolute Nebenperson kann er mit ihr ausschließlich über Nebensächliches reden oder sich nur sehr hintergründig äußern. Und ihr geht es – da sie als Buchperson ebenso nebensächlich und hintergründig ist wie er – nicht besser. Als für ihre Buchweltbezirksgeschichte thematisch völlig nebensächliche Buchwelthintergrundpersonen können sie in ihren privaten Angelegenheiten niemals das Hauptsächliche, das Wichtige direkt thematisieren, nie auf das zu sprechen kommen, was sie am meisten interessiert und bewegt.«

»Hol sie der Teufel!« schimpft Mephisto. »Was haben diese Überflüssigen mit uns zu schaffen? Doch gar nichts!«

»Die Versweltverwaltung denkt da anders«, sagt Marthe bedeutungsvoll. »Die sagt, daß allen solchen Nebenpersonen im Garten die Chance gegeben sei, ihre Liebe von Lesern beleben zu lassen, also mit den Gefühlen, Gedanken und Worten von gelesenen Hauptpersonen zu reden. Nur in ihrem Garten, sagt die Versweltverwaltung, könne die Liebe absoluter Neben- und Hintergrundpersonen von Buchweltbezirken eine echte, eben buchweltbezirksgedicht- und -geschichtsthematisch geprägte sein. Der liebende Nebensächliche fühle, denke und drücke sich nämlich im Garten aus wie Faust. Und sie, die Liebende, tue es dann genau so wie das Gretchen. Ihre verliebten Seelen, sonst sprachlos und stumm, fänden hier den für ihre Liebe so notwendigen Ausdruck. Denn erst im Garten der Versweltverwaltung können die Personen der Buch- und Verswelt zu richtigen Liebespaaren werden.«

»Also … also … ist das ein Liebespaar, das anstelle von Faust und Margarete hinter uns herspaziert?«

»So ist es«, Marthe nickt, »so will es die Versweltverwaltung heutzutage. Es werden hier, wie mir gesagt wurde, weiterhin Liebes­leute erscheinen, denn es gibt ja leider viel zu viele solcher unglücklichen, sprachlich verhinderten Paare in den Buchweltbezirkshintergründen. Aber, Achtung! Haben Sie auch nicht vergessen, was Sie mir thematisch zu sagen haben? Wir gehen gleich an unserem Leser vorüber.«

»Ich bin sprachlos!« stottert Mephisto entrüstet. »Ich bitte Sie: Ist das nicht eine gemeine Textweltwirklichkeitsverdrehung? Sind Sie, Faust, Margarete und ich nicht die Hauptpersonen, die alleine zu entscheiden haben, was sich im Garten abspielt und was nicht?«

»Tja«, meint Marthe, »so war es, aber so ist es jetzt nicht mehr.«

Mephisto grummelt zornig: »Ach, warum bin ich bloß eine Versweltbezirksperson! Warum bin ich nicht der wirkliche Teufel!«

Marthe flüstert plötzlich leise: »Achtung jetzt! Unser geschichts- und versweltbezirksthematischer Augenblick ist gekommen.« Und sagt laut: »Und Ihr, mein Herr, Ihr reist so immer fort?«

Mephisto, der, man sieht es an der furchtbaren Grimasse, die er zieht, etwas anderes sagen möchte, aber als buchpersonifizierter Teufel thematisch antworten muß, drückt zwischen den Zähnen hervor: »Ach, daß Gewerb und Pflicht uns dazu treiben!« Und er spricht seine Replik textgetreu zu Ende. Marthe antwortet ihm, wie vorgeschrieben. Dann verschwinden sie aus dem Blickfeld des Lesers, und es naht das von der Versweltverwaltung eingereihte buchwelthintergründige Liebespaar.

Die beiden sehen in der für sie ungewohnten Situation, also in der Lese-Lebenssituation von buchweltlichen Hauptpersonen, ziemlich verwirrt, aber zugleich sehr glücklich aus. Im logisch und thematisch konzentrierten Reden unerfahren wählen sie, um nicht zu stolpern oder den Faden zu verlieren, aus den Repliken ihrer illustren Vorgänger in diesem Garten die einfachsten Gedanken und Worte aus und rezitieren laut und sicher genug, aber doch mit kaum spürbar zitternder Stimme.

Er: »Was murmelst du?«

Sie (hat einen Strauß gepflückt, von dem sie die Blätter abzupft) halblaut: »Er liebt mich – liebt mich nicht.«

Er: »Du holdes Himmelsangesicht!«

Sie (fährt fort): »Liebt mich – nicht, liebt mich – nicht« (das letzte Blatt abzupfend, mit holder Freude) »Er liebt mich!«

Er: »Ja, mein Kind! Laß dieses Blumenwort dir Götterausspruch sein. Er liebt dich.« (Erfaßt ihre beiden Hände.)

Sie: »Mich überläuft’s!«

Sie stammeln nun, angestrengt und ermüdet davon, sich hauptpersönlich artikuliert zu haben, nur noch unverständliche und ungereimte Worte. Dem Leser aber erscheinen sie dichterisch ­genug.

Verfasser unser

In meinem Buch bin ich der Herr, bin der Verfasser. Da beten die Leute alltäglich: »Verfasser unser, der du bist in unserem Buchweltbezirkshimmel …«

Denn äußerlich tun sie ja noch sehr fromm, die Brüder. Aber daß sie nicht mehr mit Leib und Seele bei meinem Thema sind, weiß ich längst. Mein Buch liest sich nämlich nicht mehr so glatt wie ehedem. Manchmal streiken die handelnden Personen dort, oder sie demonstrieren mit Plakaten wie »Wir fordern eine bessere Verfassung!«, »Gebt uns eine bessere Geschichte!«, »Wir wollen mehr Hauptrollen!« und ähnlichem vor dem ungeduldig staunenden Leser. Hin und wieder explodiert auch mal etwas in einem Kapitel, eine Leitung, ein Warenhaus oder irgendeine Verwaltung. Neuerdings finde ich auch Flugblätter zwischen den Blättern meines Buches. Die sagen: »Es gibt gar keinen Verfasser!« oder »Buchpersonen, werft euer Thema ab und macht euch zu freien Realpersonen!«

Ein toller Unfug, was?

Über das Warten auf einen thematischen Kurswechsel

Wir sitzen im Bordell der argentinischen Buchweltbezirksstadt Morón. Pistolen knallen und Kugeln zischen von draußen durch unser kleines Zimmer.

»Keine Angst!« sage ich zu André, der käseweiß dasitzt. »Das sind Buchweltkugeln, und die tun uns Realpersonen ja nichts. Prost!«

Er nickt. Wir nehmen einen kräftigen Schluck Mate. Vor dem schmalen Fenster ist bald Christian, bald Eduardo zu sehen. Beide reiten Sturm auf das Bordell. Dabei feuern sie wie wild. Manchmal kommen ihre wutverzerrten Fratzen beängstigend nah ans Fenster. Ein Glück, daß die Brüder nur Buchpersonen sind, denke ich, und Morón nichts anderes als eine Buch­welt­bezirks­stadt. »Keine Angst!« wiederhole ich. »Die können diesen Puff nicht stürmen. Unten hängt ein reales Schloß vor der Tür, und auf dem Dach weht die Fahne der Buchweltverwaltung.«

Wir nehmen noch einen Schluck Mate. Dann öffnet sich die Tür, und Juliana Burgos kommt herein. Sie lächelt und bringt neuen Tee.

»Ein nettes Buchpersönchen, was?« sage ich, als sie wieder gegangen ist. »Man kann verstehen, daß die Brüder so wild nach ihr sind.«

»Warum brachten sie sie hierher?« wundert sich André. »Das ist doch ein Freudenhaus für die Buchpersonen des Ortes und …⁠«

»Um sie loszuwerden«, erkläre ich ihm. »Juliana Burgos ist die große Liebe beider Brüder. Eigentlich ist sie die Frau von Christian, dem älteren. Aber Eduardo verliebte sich auch in sie, und dann teilten sie sich die Dame. So ging es eine Weile. Doch dann prügelten sich die Brüder ihretwegen. Und um noch größeren Ärger zu vermeiden, verkauften sie Juliana an diesen Puff.«

»Das ist ja entsetzlich!« ruft André aus.

»Diese Geschichte geht noch weiter. Nach einer kurzen Buchweltzeit holen die Brüder Juliana hier heraus, und die fatale Ménage-à-trois beginnt von neuem. Die Situation spitzt sich weiter zu – und die Brüder beseitigen den Grund ihres Zwistes mit dem Messer und verscharren die Burgos am Rand ihrer Buchbezirksgeschichte. Dieses schlimme Schicksal hat die Arme unausgesetzt zu erleiden, denn Buchweltbezirksgeschichten drehen sich im Kreis, sie werden von ihren Lesern immer wieder neu entfacht.«

»Ach so«, murmelt André betroffen.

»Jetzt verstehst du, warum wir hier sitzen?« fahre ich fort. »Wir sind hier, damit das Buchweltmädchen Juliana überlebt. Dafür war es notwendig, das Bordell zu schließen, nachdem die Brüder sie abgegeben hatten.«

André nickt. Die Kugeln zischen noch immer durch den Raum.

»Die wollen Juliana zurück«, brumme ich, »aber das erlauben wir nicht mehr. Dieser Puff bleibt zu.«

»Schön«, sagt André. »So retten wir sie. Und die Brüder? Werden die uns etwa ewig belagern?«

»Nee!« Ich grinse. »Dies ist eine Buchweltbezirksgeschichte von Dieben. Da mangelt’s nicht an saftigen Themen. Die Brüder werden sehr bald ein neues Buchweltmenschenschicksal für sich finden. Bis dahin hältst du hier Wache. Zu tun gibt’s nicht viel. Du gibst acht, daß Juliana sich nicht am Fenster zeigt. Jemand von der Buchweltverwaltung muß hier sein, bis die Brüder sich beruhigen und ihre Geschichte einen anderen thematischen Kurs einschlägt.«

»Und was wird aus ihr?«

»Die Buchweltverwaltung steckt sie in eine friedlichere Geschichte«, sage ich. »Das ist jedoch nur möglich, wenn diese hier thematisch auseinanderbricht, wenn also die beiden Brüder ein neues thematisches Leben anfangen.«

»Schade für die Brüder«, murmelt André. »Immerhin lieben sie sie doch.«

»Nein!« sage ich. »Jetzt erst beginnt ihre Liebe zu Juliana wirklich.«

»Wie meinst du das?« André ist überrascht.

»Die Liebe zu Juliana ist in diesen Buchpersonen thematisch eingezeichnet«, erkläre ich. »Die werden sie nicht los. Doch ohne Juliana wird sie sich mit den Jahren bestimmt ein wenig veredeln. Sie wird sich in eine ideale Erinnerung verwandeln, mit der sie leben werden und die vielleicht ihre Roheit etwas glättet.«

Ich sehe auf die Uhr. Es wird Zeit, daß ich gehe.

»Wie kommst du hier raus?« fragt André. »Die schießen doch immer noch.«

»Wie gesagt, als Realpersonen sind wir stich-, hieb- und kugelfest«, sage ich. »Aber hier! Nimm noch das!«

»Ein Buch?«