Wolfram Hänel

Achtung, Steilklippe! – Trouble in Wales

Eine deutsch-englische Geschichte

 

 

Special thanks to Richie Thurlow

And everybody at

The Druidstone in Pembrokeshire, Wales

Preface

Angefangen hatte alles damit, dass Tommi im Sommer von seinen Eltern nach England geschickt worden war. In einen Sprachkurs irgendwo an der Südküste. Christchurch hieß das Kaff, in dem Tommi dann von seiner Gastfamilie drei Wochen lang mit grellgrünen Erbsen und fettigem Hammelfleisch gequält worden war. Ganz zu schweigen von den labberigen Weißbrotscheiben, die grundsätzlich nie einen Toaster von innen sahen. Und schon am ersten Tag hatte Tommis Plan festgestanden: Er würde so schnell wir möglich einfach krank werden. Schwer krank. Seriously ill. Am besten mit irgendeiner ansteckenden Krankheit. Grippe und gleich auch noch Gelbsucht und vielleicht noch ein bisschen Cholera dazu. Flu with jaundice and cholera. Oder so. Sodass sie ihn umgehend wieder nach Hause schicken müssten.

Aber dann war Tommi doch nicht krank geworden. Was damit zu tun gehabt hatte, dass erstens auch sein alter Kumpel Karl im gleichen Sprachkurs gewesen war. His mate from school. Womit sie also zweitens schon mal zu zweit waren. Und dass er drittens Lise kennengelernt hatte, die aus Dänemark kam, blonde Haare hatte und rote Clogs trug und in die er sich, viertens, schon nach ein paar Tagen verliebt hatte. In Lise natürlich, nicht in ihre Clogs. He had fallen in love with her, not with her clogs. Und plötzlich waren, fünftens, auch die grellgrünen Erbsen nur noch halb so schlimm gewesen! Sechstens hatte er Ron und Rosie, seine Gasteltern, einschließlich ihrer drei völlig durchgeknallten Söhne Ritchie, Mickey und Little David irgendwann sogar ganz sympathisch gefunden, siebtens war auch Ernest, der Englischlehrer, eigentlich ganz sympathisch gewesen, und achtens, neuntens und zehntens war Lise so ziemlich das Beste, was ihm jemals passiert war. Er hatte sogar ein bisschen Dänisch gelernt, «Mädchen» hieß auf Dänisch zum Beispiel «pige», «küssen» hieß «kysser» und «ich will dich gerne küssen» hieß «jeg vil gerne kysser dig». But he had also learned to speak English: «I’d like to kiss you».

Man könnte also eigentlich sagen, dass der Sprachkurs ein voller Erfolg gewesen war. Worüber sich natürlich besonders Tommis Eltern sehr gefreut haben, weil es ja genau das war, was sie immer gewollt hatten: Dass Tommi richtig Englisch lernt!

Obwohl Tommi ihnen natürlich nicht alles erzählt hat. Eigentlich hat er ihnen sogar nur ganz wenig erzählt. Nur das Allernötigste. Dass er gleich in der ersten Woche so eher nebenbei einen anderen Jungen vor dem Ertrinken gerettet hat und sogar in der Zeitung stand: BOY SAVES FRIEND FROM DROWNING! Und dass sie in der zweiten Woche in London waren, und er ihren «day trip» in die englische Hauptstadt total klasse fand. Was er lieber nicht erzählt hat, war, dass er in London Streit mit Lise gehabt hatte und sich erst Lise und dann er selber und Karl in Soho hoffnungslos verlaufen hatten und Ernest stinksauer gewesen war. Aber alles brauchten seine Eltern ja nun auch nicht zu wissen. It’s always better to keep a secret.

Wie überhaupt die ganze Geschichte mit Lise. Obwohl seine Eltern irgendwas ahnten, zumindest seine Mutter, so viel stand fest. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass nach den Ferien so ungefähr einmal pro Tag eine E-Mail aus Dänemark kam. Und dass ihre Telefonrechnung plötzlich ziemlich hoch war. Vielleicht war es auch nicht unbedingt schlau von Tommi gewesen, dass er seinen Eltern dann beim Abendessen seinen neuesten Plan mitgeteilt hat. Was er vielleicht in den Herbstferien so machen könnte 

«Ich war ja jetzt in England», ließ er wie zufällig zwischen zwei Bissen Leberwurstbrot fallen, «und das war ja gar nicht so schlecht, wisst ihr ja. I met some very nice people over there and made new friends. Aber es gibt ja auch noch andere Länder als England, wisst ihr ja auch. Und Skandinavien wäre vielleicht gar nicht so verkehrt, also zum Beispiel Dänemark. Die sollen da auch eine ganz schöne Hauptstadt haben, Kopenhagen, habt ihr ja sicher schon mal gehört. Heißt auf Dänisch übrigens ‹Købnhavn›, aber das ist eigentlich auch völlig egal, weil sie in Dänemark sowieso alle ganz gut Englisch können. Jedenfalls dachte ich …»

«Ja?», fragte sein Vater.

«Ja?», fragte auch seine Mutter.

«Na ja, ich dachte, ich könnte da in den Herbstferien vielleicht mal kurz hinfahren. Nur so, um mich mal ein bisschen umzugucken. Ich hab’s ja schon gesagt, mal andere Länder sehen und so. It’s always good to move around and go some places.»

Blöd war nur, dass seine Mutter wohl das Foto von Lise entdeckt haben musste, obwohl er es sicherheitshalber extra in seinem Erdkundebuch versteckt hatte. In dem Kapitel über Dänemark 

«Aha», sagte seine Mutter denn auch prompt, «es geht also um dieses Mädchen!»

«Was für ein Mädchen?», wollte Tommis Vater sofort wissen.

«Die ihm mindestens einmal am Tag eine E-Mail schickt! Ich glaube, sie kommt aus Dänemark …»

«Ach, Lise meint ihr», sagte Tommi schnell. «Nee, da müsst ihr euch keine Sorgen machen. Da ist nichts weiter. Und das ist eher zufällig, dass Lise auch in Kopenhagen wohnt.»

Aber seine Eltern machten sich doch Sorgen. They worried about him. Und egal, was Tommi noch alles an Argumenten vorbrachte, sie wollten einfach nicht begreifen, dass er nach Kopenhagen MUSSTE. He had to go. Im Gegenteil, sie teilten ihm sogar mit, dass er sich seinen Plan ein für alle Mal aus dem Kopf schlagen sollte.

«Schlag dir das aus dem Kopf», sagte sein Vater. «Daraus wird nichts.»

Was wieder mal einer von diesen Momenten war, in denen Tommi gehörig an den erzieherischen Maßnahmen seiner Eltern zweifelte. Immerhin würde er im Herbst schon sechzehn! Und da wäre es ja wohl das mindeste, dass sie ihm mal ein bisschen Freiheit gönnten. Schließlich ging es ja um sein Leben! Aber das wollten seine Eltern einfach nicht begreifen.

Also musste sich Tommi hinsetzen und einen Brief an Lise schreiben. In dem er ihr erklärte, dass er nicht kommen würde. Weil seine Eltern voll daneben waren und er kein Geld hatte, um die Reise alleine zu bezahlen. Weil er pleite war.

«My parents are nuts», schrieb er. «They don’t understand anything. They think I’m still a baby. I’d love to leave home forever and never come back. But I can’t even make it to Copenhagen because I haven’t got the money to pay the trip myself. I’m broke. But please wait for me. I miss you. Love, Tommi.»

Zwei Tage später war die Antwort da. Dachte Tommi jedenfalls, obwohl er sich gleich hätte wundern müssen, warum ihm Lise diesmal keine E-Mail, sondern einen Brief geschrieben hatte. Aber dann kam der Brief auch gar nicht aus Dänemark. Und die Schrift auf dem Umschlag war auch nicht Lises Schrift, sondern – der Brief war von Ernest, dem Englischlehrer aus dem Sprachkurs.

«Hi, Tommi», hatte Ernest geschrieben. «I have just had an idea. Friends of mine are running a hotel on the coast in Wales. And they’re always looking for a helping hand. If you don’t have any plans for your October holidays yet, why not get your gear together and go there? I reckon they would appreciate having you there. Maybe you could do some shopping and serve the guests with breakfast and dinner, or work in the bar. There are always lots of things to do. They probably won’t be able to pay you a fortune, but anyhow you’ll like it, and it might be an adventure for a boy your age. If you don’t care to go alone, just ask them if you could bring Karl as well. Tell them you’re a friend of mine. Best wishes, take care, Ernest.»

Und dann noch eine Adresse mit einer Telefonnummer.

Tommi musste den Text ein paar Mal lesen, bis er alles kapiert hatte. Also Ernest kannte da irgendwelche Leute in Wales, die ein Hotel hatten. Und die brauchten immer jemanden, der ihnen half. Mit den Gästen und so. Beim Essen bedienen und in der Bar arbeiten. Und er würde kein Vermögen verdienen. Aber das heißt ja trotzdem, dass ich überhaupt was verdiene, dachte Tommi. Und vielleicht würde es ja reichen, um dann von dem Geld nach Kopenhagen zu kommen. Vielleicht zu Weihnachten oder so. Und Karl konnte er auch gleich noch mitbringen! Nicht nach Kopenhagen, sondern nach Wales. Karl und ich als Barkeeper, dachte Tommi, nicht schlecht! Er sah sie beide schon vor sich, wie sie in silbernen Shakern ganz cool irgendwelche Cocktails mixten und dabei ein bisschen Smalltalk mit den Gästen machten.

«Where are you from?»

«Germany.»

«Oh! I wouldn’t have thought you were German! Your English is perfect. You haven’t got the slightest accent …»

«Thank you. Your English isn’t too bad either.»

«And Germany must be cool.»

«Yes, it is. Dead cool. But Wales is also cool.»

Oder so ähnlich jedenfalls. Aber wo war dieses Wales überhaupt?

Tommi holte seinen Atlas. Wales war ganz im Westen von Großbritannien, und die Hauptstadt hieß Cardiff. Wenn das Hotel direkt an der Küste liegt, dachte Tommi, dann können wir da jeden Tag baden. Vielleicht haben sie sogar einen Privatstrand!

Als er den Atlas wieder wegstellen wollte, fiel ihm das Foto von Lise entgegen.

Mann, dachte Tommi, das ist überhaupt die Lösung! Wenn ich in Wales bin, kann sie mich da ja einfach besuchen. Irgendwas wird ihr schon einfallen, wie sie das ihren Eltern erklärt. Was sie so erzählt hat, scheinen dänische Eltern sowieso cooler zu sein als deutsche. Zumindest behandeln sie ihre fast erwachsenen Kinder nicht wie Babys 

Beim Abendessen präsentierte Tommi dann seinen Eltern den Brief von Ernest. Und diesmal ging es ganz glatt, fast zu glatt!

«Okay», sagte Tommis Vater nur, «das scheint mir doch ein gutes Angebot zu sein. Und so teuer wird es ja dann auch nicht, wenn du da gleich noch ein bisschen Geld verdienst. Siehst du, Junge», setzte er noch hinzu, «manchmal löst sich alles von ganz alleine. Man muss nur lernen, dass man nicht immer gleich mit dem Kopf durch die Wand kann. Und in Wales einen Ferienjob zu haben ist mit Sicherheit besser, als sich wegen irgendeinem Mädchen in Kopenhagen rumzutreiben!»

Aha, dachte Tommi, daher weht also der Wind! Sein Vater war nur einverstanden, weil Tommi auf diese Weise schön weit weg von Kopenhagen war. Und noch nicht mal seine Mutter hatte irgendwelche Einwände. Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund.

Er hat dann auch gleich am selben Abend noch in Wales angerufen, um alles klarzumachen.

«My name is Tommi», hat er zu der Frau gesagt, die sich am Telefon meldete. «I’m calling from Germany. You don’t know me, but I’m a friend of Ernest …»

«Yes, we know», unterbrach ihn die Frau. «Ernest has told us about you. When will you be here? The house is full, we need someone to help out in the bar and the breakfast room.»

«I’ve got two weeks holiday in October.»

«Perfect! How old are you?»

«Fifteen. But I will be sixteen by then …»

«Perfect!», wiederholte die Frau. «You are very welcome.»

«And my friend Karl, what about him? He’s very nice and gentle, and he would also like to come …»

«No problem. Bring him. The more temporary staff we can get, the better.»

Und das war’s auch schon.

Die Frau am Telefon versprach, eine E-Mail zu schicken, wie man am besten zu ihnen käme. Und Tommi sollte dann nur noch kurz anrufen, um zu sagen, wann genau sie da sein würden.

«Ich hab den Job», teilte Tommi seinen Eltern mit. «Und Karl auch. Ich geh mal kurz zu ihm rüber, um ihm Bescheid zu sagen.»

Wobei er Karl ja nicht nur Bescheid sagen musste, dass sie einen Ferienjob in der Tasche hätten, sondern erst mal erklären, worum es überhaupt ging. Karl hatte ja noch von nichts eine Ahnung! Aber er wäre auch nicht Karl gewesen, wenn er nicht schon nach den ersten Sätzen gebrüllt hätte: «Cool, Alter! Das machen wir. Und echt in der Bar und alles? Glaubst du, dass wir dann auch umsonst was trinken können? Echt cool. Und der Barkeeper kriegt auch immer die besten Frauen, weißt du ja. Mann, ich sehe phantastische Zeiten auf uns zukommen!»

So viel dazu, dass ich gerade am Telefon noch behauptet habe, Karl wäre nett und zurückhaltend, dachte Tommi. Von wegen, er denkt schon wieder nur an das eine! Girls and beer, typisch Karl! Ich fürchte, ich werde ein bisschen aufpassen müssen auf ihn 

«Was ist mit deinen Eltern?», fiel ihm dann ein. «Glaubst du, sie lassen dich fahren?»

«Aber logo! Seit ich in der letzten Englischarbeit eine Drei geschrieben habe, sind sie überzeugt, dass ich so was wie ein kleines Sprachgenie bin. Und wenn ich jetzt sage, dass ich noch ein bisschen mehr Übung brauche, ist die Sache gebongt. I need more practice, to chat up the chicks, you know?»