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Inge Patsch / Sebastian J. Schmidt
Mehr als glücklich

topos taschenbücher, Band 1040

Eine Produktion der Verlagsanstalt Tyrolia

Inge Patsch / Sebastian J. Schmidt

Mehr als glücklich

Den Sinn des Lebens entdecken
mit Viktor E. Frankl

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Eine Initiative der
Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8367-1040-4

E-Book (PDF): ISBN 978-3-8367-5027-1

E-Pub: ISBN 978-3-8367-6027-0

Originalausgabe

2016 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Das © und die inhaltliche Verantwortung liegen bei der

Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck

Umschlagabbildung: Uwe Brunken

Einband- und Reihengestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart

Satz: GrafikStudio HM, Hall in Tirol

Herstellung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

Inhalt

Statt einem Vorwort ein Dank und eine Empfehlung

I.

Mehr als glücklich – geht das überhaupt?

II.

Mehr als ein Verbrennungsprozess – gegen mechanistisches Denken

III.

Mehr als äußere Freiheit – was Eltern ihren Kindern wünschen

IV.

Mehr als perfekt sein – Vertrauen trotz der Nöte unserer Zeit

V.

Mehr als bewusst – was das Bewusstmachen von Unbewusstem bedeutet

VI.

Mehr als sehen – ein Zwerg auf den Schultern von Riesen

VII.

Mehr als selbstverwirklichen – weil nur ich verantwortlich bin

VIII.

Mehr als wieder nur ich selbst – was Selbsttranszendenz meint

IX.

Mehr als lächeln – von der Fähigkeit zur Selbstdistanz

X.

Mehr als beschwichtigen – Hilfe gegen schlaflose Nächte

XI.

Mehr als Pflichterfüllung – den Sinn finden oder erfinden?

XII.

Mehr als glücklich werden – das Glück als Nebeneffekt

XIII.

Mehr als Tradition – von der Zukunft der Menschheit

XIV.

Mehr als das Zählbare – wider den Reduktionismus

XV.

Mehr als eine Therapie – was ist der Mensch? Eine Logotheorie

XVI.

Mehr als Schicksal – vom Umgang mit den Härten des Lebens

XVII.

Mehr als erfahren – religiöse Spurensuche

XVIII.

Mehr als fragen – dem Leben antworten

XIX.

Mehr als ein Gefühl – lass dich nicht einlullen

XX.

Mehr als politisch – vom Gewissen als Sinnorgan

XXI.

Mehr als fortschrittlich – von der Moralität des Menschen

XXII.

Mehr als alt werden und sterben – was am Ende zählt

Anmerkungen

Gewidmet Elly Frankl.

Ihr Lachen und ihr Erinnern

sind gut gehütete Schätze

in unseren „vollen Scheunen“.

Statt einem Vorwort ein Dank und eine Empfehlung

„Eigentlich braucht ein Buch wie dieses gar kein Vorwort“ – dieser Gedanke kam mir, als ich überlegte, ob ich das Angebot, dieses Vorwort zu schreiben, annehmen oder ablehnen sollte. Ich wusste auch nicht, was ich zu diesem Buch noch beitragen oder was man noch hinzufügen könnte – es ist so stimmig und klar und zeigt im Text eben jene bewundernswerte Kombination aus Schlichtheit und Tiefe, die man sich von existentiell ausgerichteter Lektüre oft wünscht und noch öfters vermisst. Daher soll an dieser Stelle auch kein Vorwort stehen, sondern ein Dank und eine Empfehlung.

Zunächst ein Dank an das Autorenteam dafür, dass sie in diesem Buch die seltene Gabe unter Beweis stellen, gleichermaßen idealistisch und realistisch (und leidenschaftlich) über die Höhen und Tiefen unserer Lebenswege schreiben zu können. Realismus kann man Büchern, die das Wort „glücklich“ im Titel führen, bekanntlich nicht immer unterstellen. Aber Lebensglück und menschliche Erfüllung können sich bei näherem Hinsehen ohnedies nicht recht einstellen, wenn man die Untiefen des Lebens ausblendet und nur seinen Blick auf die Höhen zu richten bereit ist. Die Autoren weisen aber einen anderen Weg, und er ist zutiefst heilsam: Sie zeigen, dass es wohl klüger wäre, sich für die ganze Vielfalt des Lebens bereit zu machen; wir kommen ihr ohnehin nicht aus. Dazu gehört neben allem Glück der Welt auch das Wissen, dass Leiden uns allen einmal begegnen wird, und sei es nur in der Angst davor, dass wir einmal von leidvollen Erfahrungen heimgesucht werden. Dabei zeigt auch die psychologische Forschung: Die bare Angst um unser momentanes ungestörtes Glück ist mit einem freien Glück und menschlicher Reife ohnehin kaum vereinbar; vor allem aber ist sie nicht nur nicht realistisch, sie macht auch schnell blind für das Leiden anderer, die vielleicht unsere Zuwendung und Ermutigung bräuchten. Paradoxerweise schafft das Ausblenden des Leidens also oft noch mehr Leid, statt es zu lindern. Die Autoren öffnen stattdessen das Tor zu einer klassisch logotherapeutischen Alternative: Mit einem gewissen Urvertrauen durch das Leben zu gehen, das von dem Grundwissen getragen ist: „Komme, was wolle; ich kann würdig Mensch bleiben bis zuletzt. Ich muss nicht alles verstehen, um dieses Leben zu bestehen“ – das ist nicht mehr die Stimme der Angst, sondern des Realisten. Er ist einerseits geborgen genug, um sein Glück voll zu erleben, und andererseits ist er stark genug, um mit den dunklen Seiten des Lebens besser umzugehen. Frankl prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des „tragischen Optimismus“.

Dieses Buch zeigt nun in 22 Kapiteln und anhand von zahlreichen Fallbeispielen und Alltagsbeobachtungen, dass der tragische Optimismus dem Grunde nach ein realistischer Optimismus ist – vorausgesetzt, wir sind bereit, nicht nur zu fragen, ob es uns gut geht, sondern wozu wir gut sind. Mehr als glücklich zu sein, bedeutet daher, als Realist am Leben teilzuhaben und als Idealist das Leben zu gestalten. Die Autoren haben verschiedene Wege zu diesem Bewusstsein zusammengetragen, die in den unterschiedlichsten Lebenslagen das zu leisten vermögen, was Viktor Frankls früher Lehrer, Rudolf Allers, als das erste und wichtigste Anliegen aller Lebenshilfe und Beratung definiert hat: den Menschen mit der Welt und seinem Leben wieder zu versöhnen. Soviel zum Dank an die Autoren, die Meisterleistung vollbracht zu haben, auf einhundertsechzig Seiten eine Art Landkarte existentieller Erfüllung zu zaubern, die – und damit sind wir auch schon bei der eingangs erwähnten Empfehlung – man immer wieder zur Hand nehmen kann, wenn man am Wegrand des Lebens sitzt und nicht recht weiter weiß, wohin.

Alexander Batthyány

Vorstand des Viktor-Frankl-Institutes in Wien

I. Mehr als glücklich – geht das überhaupt?

„Das suche ich im Internet“, sagen Menschen unserer Zeit, wenn ein schneller Tipp gefragt ist. Für die nächste Bahnfahrt hilfreich, die Information zum Kinoprogramm nützlich, aber für Fragen des Lebens leider weniger zielführend. Trotzdem ist die Sehnsucht des modernen Menschen nach wirkungsvollen Strategien zur Gestaltung eines glücklichen Lebens riesengroß. Immer mehr Menschen suchen nach einer verlässlichen Orientierung für ihr persönliches Leben.

„Glück“ allein ist kein Wert, es geht um ein Gelingen des Lebens, um Sinn – und das ist mehr, als „nur“ glücklich zu sein. Ein Spezialist für Fragen nach dem Sinn des Lebens war der Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse Viktor E. Frankl (1905–1997). Seine Gedanken aus Gesprächen mit Franz Kreuzer, die im ORF und ZDF in der Reihe „Zeugen des Jahrhunderts“1 ausgestrahlt wurden, sind auch nach 35 Jahren hochaktuell. In Buchform erschienen die Gespräche 1980 unter dem Titel „Im Anfang war der Sinn“2. Wir haben Teile daraus ausgewählt, die helfen können, eine persönliche Orientierung im Leben zu finden.

Die Logotherapie Frankls zeichnet aus, dass sie den Menschen die Möglichkeit bietet, sich selbst besser zu verstehen. Wer sich und seine Handlungen versteht, kann in Freiheit Verantwortung übernehmen. Dazu können die Gespräche Frankls Impulse geben, die wir mit unseren Erfahrungen und mit Erkenntnissen aus der modernen Wissenschaft ergänzen.

Gerade in einer Zeit, die von vielfältigen Ängsten geprägt ist, bietet die Logotherapie einen wohltuenden Gegenentwurf zu Vereinfachung und Verkopfung. Gelingendes Leben ist gerade angesichts von schmerzlichen Herausforderungen, die im Leben nicht vermieden werden können, mehr als ein glückliches Leben.

Ich bestreite auf das entschiedenste, dass der Mensch ursprünglich und eigentlich Glück sucht. Was der Mensch will, ist, einen Grund dazu zu haben, dass er glücklich wird. Hat er einmal den Grund, dann stellt sich das Glück von selber ein. Strebt er aber statt nach einem Grund zum Glücklichwerden nach dem Glück selbst, dann versagt es sich ihm, dann entzieht es sich ihm. Und das ist eine Sache, die wir als Nervenärzte bei unseren Sexualneurotikern ja täglich, stündlich, sprechstündlich sehen, dass gerade in dem Maße, in dem ein Patient seine Potenz demonstrieren will, er auch schon impotent wird. Dass in dem Maße, in dem eine Patientin versucht, ihre Fähigkeit, einen vollen Orgasmus zu erleben, zu demonstrieren, sie in demselben Maße schon gehandicapt ist und keinen Orgasmus haben kann: Wie Kierkegaard sagt … „Die Tür zum Glück geht nach außen auf …“ … Wenn man in den Raum hineindringt, verschließt sie sich. Oder wie Rabindranath Tagore einmal gesagt hat, in einem ganz kurzen epigrammatischen Gedicht: „Ich schlief und träumte, das Leben wäre Freude. Ich erwachte und sah, das Leben war Pflicht. Ich arbeitete – und siehe, die Pflicht war Freude.“3

Innehalten – wachsen lassen

Filmtipp: „Rhythm is it!“ Eine Dokumentation über ein Tanzprojekt mit Kindern und Jugendlichen aus 25 Nationen in Berlin, 2003. Im Film kommen einige der jungen Menschen zu Wort. Auf die Frage an den 19-jährigen Martin, ob ihm das Tanzen gefällt, antwortet er: „Noch fühlt es sich für mich fremd an, aber ich will das lernen.“

image Welche vergleichbaren Herausforderungen kenne ich?

image Was kann ich von den Jugendlichen lernen?

II. Mehr als ein Verbrennungsprozess – gegen mechanistisches Denken

Das Buch „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“ von Florian Illies zeichnet das Bild einer spannenden Zeit am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Viktor Emil Frankl war damals 8 Jahre alt. Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, war zu diesem Zeitpunkt 57 Jahre, Alfred Adler, sein Schüler, 43 Jahre. Es war eine Zeit des Aufbruchs in der Psychotherapie und Neurologie dank neuer Methoden und technischer Möglichkeiten. Für alle drei bedeutete der Erste Weltkrieg eine einschneidende Zäsur: Anfangs begrüßte Freud den Krieg ganz patriotisch, die Sorge um seine Söhne Martin und Ernst veränderte aber seine Einstellung. Adler arbeitete als Militärarzt in Krakau, Brünn und Wien. Viktor E. Frankl war ein kleiner Junge, der mitten im Krieg die Volksschule beendete und dann das Sperlgymnasium besuchte, wo schon zuvor Freud sein Abitur abgelegt hatte.

Viktor E. Frankl selbst erzählt, wie er als Dreizehnjähriger ein für ihn einschneidendes Erlebnis hatte. Im Biologieunterricht der Mittelstufe ging der Lehrer im Raum auf und ab „und dozierte: ‚Das Leben ist letzten Endes nichts anderes als ein Verbrennungsprozess – ein Oxydationsvorgang.‘ Woraufhin ich, ohne mich zu Wort zu melden, aufsprang und ihm leidenschaftlich die Frage ins Gesicht schleuderte: ‚Ja, was für einen Sinn hat denn dann das ganze Leben?‘“ 4

Schon an dieser Episode wird deutlich, dass der junge Viktor E. Frankl sich mit einfachen Antworten nicht zufrieden geben wollte. Er war ein Suchender, ein Fragender schon als Heranwachsender:

Ich glaube, man könnte sagen, dass ich meine Lehre zunächst einmal für mich selbst entdeckt habe. Man sagt ja für gewöhnlich, dass jeder, der ein System der Psychotherapie begründet hat, letzten Endes seine eigene Krankengeschichte geschrieben und darin niedergelegt hat. Man weiß, dass Sigmund Freud an kleinen Phobien gelitten hat, man weiß, dass Alfred Adler darunter gelitten hat, dass er als Kind nicht besonders kräftig und gesund war. So kam Freud zu seiner Lehre vom Ödipuskomplex, Adler zu seiner Lehre vom Minderwertigkeitsgefühl. Ich muss sagen, dass ich keine Ausnahme von dieser Regel bin. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich als junger Mensch in den Reifejahren sehr mit dem Gefühl zu ringen hatte, dass letzten Endes vielleicht doch alles gänzlich sinnlos sei. Und dieses Ringen hat dann schließlich zu einem Sich-Durchringen geführt. Und ich habe gegen den eigenen Nihilismus ein Gegengift entwickelt.5

In einer Zeit, in der die Bücher von Friedrich Nietzsche Bestseller waren, musste auch der Teenager Viktor E. Frankl sich mit dieser „Lehre vom Nichts“, dem Nihilismus, auseinandersetzen. Diese einflussreiche philosophische Strömung kämpfte gegen alle absoluten Wahrheiten und Werte an. Nietzsche selbst war tragisch in geistiger Umnachtung 1900 gestorben, aber gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden seine Bücher und Aphorismen massenhaft verbreitet. Die Nationalsozialisten rechtfertigten mit seinen Aussagen die unmenschliche Verfolgung und Vernichtung. Viktor E. Frankl war wichtig, dieser Sichtweise einen anderen Ansatz entgegenzusetzen. Gegen das „nichts als“ wendet sich die Lehre der Logotherapie:

Sie hat sich nur begrifflich immer mehr herauskristallisiert. Sie musste mit der Zeit, im Laufe der Jahrzehnte, zu einem System werden, damit sie eine lehrbare und lernbare Behandlungsmethode werden konnte. Aber innerlich musste ich zunächst einmal den eigenen Nihilismus überwinden. Und das ist so bei jedem, der unter irgendetwas leidet – es muss ja keine Krankheit sein; Nihilismus, Sinnlosigkeitsgefühl ist ja wesentlich eine menschliche Leistung und keine Krankheit, keine Neurose, aber immerhin etwas, worüber man hinwegkommen muss. Und jenes Gedankengut, mit dessen Hilfe ich darüber hinwegkommen konnte, wollte ich nicht für mich behalten. Es ist selbstverständlich, dass man den Impuls fühlt, auch anderen so etwas mitzuteilen, auch anderen zu helfen. Und so wurde dieses System langsam, im Laufe von Jahrzehnten, entwickelt, und es ist nun so, dass man sich fragen muss: Woran leidet die Menschheit, woran leidet der durchschnittliche Mensch im Alltag heute am meisten? Leidet er noch so sehr unter den Folgen ödipaler Situationen? Leidet er heute noch so sehr unter den Nachwirkungen von Minderwertigkeitsgefühlen? Und dann kommt man darauf: Nein – heute und immer mehr hat sich generell ein Sinnlosigkeitsgefühl der durchschnittlichen Menschen bemächtigt. Und hier stellt sich die Frage: „Was hilft da?“, und da kann eine sinnorientierte, ja sinn-zentrierte Psychotherapie wie die Logotherapie – Logos heißt ja Sinn in diesem Zusammenhang – unter Umständen sehr ins Spiel kommen. Wie die Amerikaner immer sagen: „It speaks to the needs of the hour“ – sie spricht zu den Nöten der Zeit.6

Um die Welt verstehen zu können, etwas plastisch zu erläutern oder Zusammenhänge zu erkennen, braucht es oft modellhafte Vereinfachungen. Im Alltag sprechen Menschen, die sich etwas merken wollen, davon, dass sie sich das auf der „Festplatte abspeichern“. Wenn der Patient vom Kardiologen kommt, sagt er: „Die Pumpe läuft nicht mehr richtig.“ Der Versuch aber, diese Modelle auf das Leben zu übertragen, scheitert häufig. Es kann daraus entstehen, dass sich der Patient beim Arzt wie in einer Werkstatt fühlt. Der Student, der sein Studium abbricht, ist nur noch eine Zahl in der Statistik und wird zum Problem für die Hochschulpolitik. Der Bewohner eines Pflegeheims, der nachts durch die Gänge geht, wird „chemisch ruhiggestellt“, damit das System funktioniert.

Rahmenbedingungen, die geprägt sind von Effizienz und Kontrolle, erschweren zusätzlich den Blick auf die wirklichen Lebensfragen des Menschen.

Die Frage nach dem Sinn lässt sich nicht mechanisch-technisch beantworten. Wir vertrauen unser Leben Maschinen an, wenn wir uns ins Auto setzen oder in der Bahn unterwegs sind. Dann erwarten wir, dass sie funktionieren. ABS und Airbag vermitteln Sicherheit in Gefahrensituationen. Wir wissen, dass unser Computer funktioniert, weil er logischen Prozessen von Richtig und Falsch folgt. Auf das Wissen der Menschheit kann ich in Bibliotheken oder mit Hilfe des Internetlexikons Wikipedia zurückgreifen. Diese technischen Errungenschaften stehen uns Menschen heute zur Verfügung. Allerdings übertragen manche diese Erfahrungen zu schnell auf alles, was unser Leben betrifft.

Damit bleiben aber wichtige Lebensbereiche offen, die uns Menschen auszeichnen und nicht in dieses mechanistische Denken von Richtig oder Falsch, von A oder B, von „funktioniert“ oder „defekt“ hineinpassen.

Menschen sehnen sich nach Beziehungen. Darin suchen sie Geborgenheit und Annahme. Für die Entwicklung eines Kindes ist es fundamental, dass andere Menschen da sind, die sich mit dem Kind über jede neue Entdeckung freuen können. Wir benötigen Begeisterung, um uns weiterzuentwickeln. Dazu haben wir Menschen das einzigartige Zusammenspiel eines vielseitigen Körpers, eines plastischen Großhirns und einer Intuition, einer Gefühlswelt, die uns ermutigt, warnt oder auch verzweifeln lässt. Die Menschen, in deren Nähe wir heranwachsen, können unsere Entwicklung fördern oder einschränken, sie können uns ermutigen oder entmutigen. Niemand kann sich die Rahmenbedingungen aussuchen, in denen optimales Wachstum der eigenen Möglichkeiten gelingt. Umso wichtiger ist es, „trotz“ mancher Widrigkeiten, die daraus entstehen können, alles dafür zu tun, dass es ein gelingendes Leben ist oder wird. Dabei helfen keine „Wenn-dann-Überlegungen“, sondern nur die immer neue Frage: Was ist für mein Leben und das Leben der Menschen, die mir wichtig sind, bedeutsam, also WERTvoll?

Ein altes Wort für die Erfahrung, die wir im Leben sammeln, ist „Weisheit“. Seit der antiken Philosophie gehört Weisheit zu den vier Kardinaltugenden. Thomas von Aquin nennt sie sogar die Mutter (Gebärerin) der anderen drei Tugenden Gerechtigkeit, Maß und Tapferkeit.

In der Weisheit steckt das Erkennen dessen, was gut ist und was dem Leben dient. Zugleich ist damit aber auch die Aufforderung verbunden, das Erkannte umzusetzen. Im Rheinland spricht man vom „Rheinischen Imperativ“ des „Man-müsste“ (frei nach Konrad Beikircher). So kann zum Beispiel der Keller voller Gerümpel der ganzen Familie auf die Nerven gehen, weil jeder sucht, ohne zu finden, und immer wieder jemand fluchend an einen Gegenstand stößt. Der einfache Weg, mit dem Aufräumen zu beginnen, wird vertagt auf irgendwann.

Klagen über den Beruf, der doch so unerträglich ist, den Partner, der mal nett war und jetzt ein Ekel ist, die Kinder, die so selten anrufen … Diese Liste der Klagen ließe sich beliebig erweitern, wo dieses „man müsste“ als billige Ausrede angewendet wird.

Innehalten – wachsen lassen

Erinnerungshilfe für Veränderungen:

image Statt eines komplizierten Passwortes aus Zahlen denken Sie sich ein Motto aus. Wenn Sie es jeden Tag bei verschiedenen Systemen nutzen, wird es Veränderungen in Ihrem Leben stärken. Dabei kann Englisch sehr hilfreich sein. Das Passwort für den Satz Johannes XXIII. „Nur für heute werde ich mich bemühen“, heißt dann: „only4today“.

image Oder wer sich mehr bewegen möchte und eine Erinnerungshilfe braucht, könnte das Passwort verwenden: „standup@run“.

Die Erfahrung „weiß“ aber auch um die Grenzen der Realität, die dieser Umsetzung im Weg stehen können. Um beim harmlosen Beispiel des unaufgeräumten Kellers zu bleiben: Berufliche Aufgaben oder körperliche Einschränkungen können gerade jetzt hinderlich sein, das Projekt „Keller“ anzugehen. Dann braucht man die Einstellung, die momentane Situation anzunehmen, oder andere um Hilfe zu bitten.

Die Fülle der Situationen unseres Alltags sind Sinnfragen an den Einzelnen und die Menschen seines Beziehungsnetzes. Sinnerfahrung betrifft den Keller genauso wie eine berufliche Entscheidung oder die Frage nach der Partnerschaft. Es ist eine Entdeckungsreise, die nur jeder selbst täglich neu unternehmen kann. Dabei geht es gar nicht zuerst um „den Sinn des Lebens“, sondern um das sinnvolle Leben jetzt. Dann ist der „Sinn des Lebens“ nicht mehr ein Ziel, sondern ein „Nebeneffekt“ im Rückblick auf ein erfülltes Leben.

III. Mehr als äußere Freiheit – was Eltern ihren Kindern wünschen

In Mitteleuropa leben wir seit mehr als siebzig Jahren in der Freiheit demokratischer Staatsformen und im Frieden zwischen den Völkern. Die Großelterngeneration der heute Dreißigjährigen hat äußere Not, Hunger und Elend am eigenen Leib erfahren müssen. Ihre Kinder sollten es besser haben, so war der Wunsch derer, die zur Schule gingen, als der Zweite Weltkrieg begann.

Eltern wünschen zu allen Zeiten, dass es ihre Kinder besser haben. Dabei geben viele Mütter, Väter und Großeltern fast alles, damit ihre Kinder und Enkelkinder jene Dinge genießen können, welche sie selbst nie gehabt hatten. Was vielfach übersehen wird, ist, dass das Leben im „Rundum-sorglos-Paradies“ oft die Chance, sehr Kostbares – wie Begeisterung, „Biss“, Handwerkszeug und Durchhaltevermögen zu entwickeln – untergräbt. Dies alles braucht man aber, um es mit der Welt aufnehmen, den Menschen begegnen und seinen eigenen Weg gehen zu können.

Frau G., 52 Jahre, erinnert sich gut an ein Gespräch, welches sie im Alter von 14 Jahren mit ihrer Mutter führte. Es ging um die Entscheidung, welche weiterführende Schule sie besuchen sollte. „Das Einzige, was dir niemand nehmen kann, ist Bildung und das, was du aus deinen Fähigkeiten machst. Talent haben viele, worauf es ankommt, ist Standvermögen. Vergiss nicht, welchen Weg du auch wählst, dir wird nichts geschenkt.“ Frau G. nahm diese Aufforderung ernst und entwickelte ein bemerkenswertes Standvermögen für die unterschiedlichen familiären und beruflichen Lebenssituationen. Seit über vierzig Jahren schenkt ihr dieser Gedanke immer wieder Lebenskraft.