ISBN 9783990401903

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LEKTORAT: Prof. Rainer Lendl

UMSCHLAGGESTALTUNG: Bruno Wegscheider

BUCHGESTALTUNG: Maria Schuster

COVERFOTO: Peter Habereder/www.pixelio.de

REPRODUKTION: Pixelstorm, Wien

1. DIGITALE AUFLAGE: Zeilenwert GmbH 2013

Roland

Reitmair

Innergebirg

Roman

I

„Gib ihm das auch noch“, hallte eine weit entfernte, fremde Stimme, „zur Vorsicht.“

Kurz war ein metallisches Kratzen zu hören und ein kleiner Löffel schob sich zwischen Arthurs Lippen. Er schluckte unwillkürlich.

„Das sind ziemlich schlimme Verletzungen“, erklärte die Stimme weiter, während sanfte Finger an seiner Halsschlagader vorsichtig den Lebensfluss prüften. „Wir müssen uns beeilen, das Mittel wirkt bald und seine Kraft, sein Wille lässt nach … Komm. Jetzt: entweder – oder.“

„Was hast du ihm gegeben?“ fragte die gleiche Stimme.

Aber es war unlogisch.

Das konnte nicht nur eine Person sein, warum sollte sie sich selbst fragen, was sie verabreichte?

Auf Arturs Lidern lag eine unmenschliche Schwere. Er konnte nicht einmal blinzeln, geschweige denn schauen, was hier vor sich ging.

Er versuchte seine Finger zu bewegen. Es gelang nicht.

Nur das eine Ohr schien der Stimme um vieles näher zu sein als das andere und funktionierte vertraut. Es hörte. Laute formten sich zu Wörtern und es gelang Arthur, dem Sinn zu folgen.

Irgendwas brannte höllisch. Aber wo? Unten. Brustkorb, oder noch weiter weg. Wo genau, blieb ihm verborgen.

Sein Mund war so trocken.

„Ist da Bilsenkraut dabei?“ fragte die Stimme wieder.

„Ja. Er fällt jetzt in eine Art Wachkoma, dann müssen wir schnell sein“, antwortete sie sich selber in gleicher Tonlage.

„Es ist ein spezieller Sirup mir Kamille, Mandragora, Teufelskralle und Honig. So ist das besser verträglich.“

Manche Worte wiederholten sich unnatürlich oft und verebbten in einem mehrfachen Echo.

Das Rezept wollte Arthur aufschreiben. Es klang interessant. Was auch immer mit Honig, er mochte Honig.

Der Stift, seine Reisenotizen? – Es war ihm dann doch egal. Es brannte. Lichterloh brannte es. Unten im Brustkorb. Mittendrin.

„Hier, schneid die Hose auf, schneid das ganze Hosenbein ab.“ Hosen Bein ab. Bein ab. ab. Die Silben verlangsamten, wie in Zeitlupe.

Es säbelte an seinem Unterschenkel.

„Sieht nicht gut aus, das geht bis auf den Knochen … Wir müssen das gut desinfizieren, wo ist der Alkohol mit Johanniskraut?“

Ein hoher, gellender Ton überlagerte mit einem Mal alles Gesprochene, klang nach einiger Zeit aber wieder ab und hinterließ ein beruhigendes Rauschen.

Schlecht erzogen erschien Arthur ein kleines Mädchen, das auf seinem Knie saß und immer wieder mit irgendwas Spitzem seinen Unterschenkel malträtierte.

„Kannst du das Hemd da auf seiner rechten Seite ablösen? – Vorsichtig, dass keine Textilfasern drinnen bleiben … Die Wunde müssen wir nähen … die Rippen sind gebrochen.“

Beruhigend legte sich eine zarte, klamme Hand auf Arthurs linke Seite, während kundige Hände die tiefen Schnitte daneben versorgten.

Arthur spürte plötzlich einen kühlen Hauch. Feuchtkalt näherte sich Bedrohliches.

Aber es war das falsche Mittel dieses höllische Feuer zu löschen. Das war für ihn plötzlich gewiss.

Er krampfte.

„Irgendwie müssen wir ihn stabilisieren.“

„Das kommt von dem Sirup, vielleicht haben wir zu hoch dosiert.“

„Er kollabiert!“

Die Stimme schien jetzt höher zu singen, die Strophen wurden kürzer, ausdrucksstärker.

Endlich verstand Arthur, warum er ständig gegen diese Tür pochte. Es schmerzte bereits, manchmal setzten die Schläge aus. Aber es war taktvoll.

„Sein Puls rast.“ Rast. Rast. Rast, sagte die Stimme.

Wann hört das auf das Rasen, wann ist Ruhe – endlich Rast?

„Hier die feuchten Tücher! – Kühl’ seine Stirn und träufle ihm den Saft da in seinen Mund, nein nicht den, das ist der Arnika, den brauch ich für die Wunde ...“

„Hier.“ Hier ier ier ir ir ihr ihr bringt mich um, schrie Arthur. Doch so, als ob nur Totenschreine statt seiner Lippen geöffnet würden, grinsten schaurig lautlose Wortskelette aus leeren Augenhöhlen.

Von einem Moment auf den anderen erlosch das höllische Feuer.

„Um Himmels willen!“ Willen Villen Villen widerhallten Satzfetzen und einzelne Wörter im endlosen Kreuzbogengewölbe.

Hohe Töne verloren sich in schallschluckenden Katakomben zu dumpfen, schweren Silben als verdunkelnde Lautmalerei.

Arthur stand vor dieser Tür, hämmerte dagegen, wollte in die Grabesstille dahinter, wollte helfen helfen helfen elfen elfen.

Spürbar übertrug sich sein Pochen von der massiven Holztür auf die toten Steine. Auch dieses Pochen widerhallte aus jedem Winkel des Gewölbes. Es schmerzte im Kopf.

„Ich hoffe, er hält durch!“ durch durch durch.

Jetzt rollten die Silben nicht mehr lautmalerisch durcheinander, sondern schmiegten sich an das rasende Klopfen und zerbarsten wie Donner im endlosen Raum des Gewölbes.

Werte und Ideale verfallen in seltsam hastender Inflation,

seltsam unterminierender Indifferenz.

Grabesstille folgt auf die laute Revolution.

Müdigkeit auf das rastlose, unerhörte Missionieren.

Woher war jetzt dieses verfluchte Zitat, das sich wie in Stein gemeißelt als riesiger Obelisk durch seinen Brustkorb bohrte?

„Hier still’ das Blut, bind ab und dann Druckverband!“

Was genau da beruhigend klang, wollte nicht in Arthurs Hirn.

Und dieses Zitat? Dieses Zitat? Dieses Zitat! Zitaat! Zitaaat zittaat zittert.

„Er zittert am ganzen Leib. Ein hypovolämischer Schock, er krampft erneut!“

Die Stimme klang so aufgeregt und Arthur hätte so gern gesagt, was da nicht in sein Hirn wollte.

„Wir verlieren ihn!“ Das war ein hohes C. Die Arie schien sich dem Ende zu nähern.

Aber das Zitat? War es von Goethe, Schiller? Reitmair?

Die Nonne beobachtete betroffen den Patienten in seinen letzten Zuckungen. Sie machte ein Kreuzzeichen.

Ihre Mitschwester war aufgeregt.

„Schwester“ ester ester ester „ist er“ ister ister – und dann durchzuckte ein Wort wie ein Blitz diese graulethargische Unterwelt – „tot?“ tot. tot. tot. tot reflektierten die feuchtkalten Ziegel ein bedrohliches Echo.

„Was nun?“, schrie sie völlig schrill und misstönend.

„Das bereuen wir lebenslänglich!“ eben s länglich änglich l ich.

Sie schlug ihre Hände vors Gesicht.

„Gestorben wäre er so oder so, wir haben alles versucht. Es ist nicht unsere Schuld. Gott sei seiner Seele gnädig.“

bildchen

Während die Mitschwester Totenwache halten sollte, informierte die Nonne die Mutter Oberin. Sie war im Garten. Zögernd trat die Nonne näher und erzählte von der Operation.

„Vor 300 Jahren hätte man euch verbrannt dafür“, verweigerte die Mutter Oberin jedoch jeden Zuspruch. „Um Hilfe zu holen wäre es zu spät, das waren eure Worte …

Ihr hättet den Mann auf seinem letzten Weg begleiten sollen. Wir sind hier kein Krankenhaus. Und wunderbare Rettungen, Heilungen mit hexistischem Hokuspokus können wir nicht brauchen!

Der Herr wollte seine Seele und ihr wolltet das verhindern. Ich bin keine Ärztin, aber mit solchen Verletzungen …

Wirkliche Hilfe wurde ihm von uns verweigert – anstatt im Dorf einen Notarzt anzufordern habt ihr ihn hierher gebracht.

Ihr habt gesündigt Schwestern. Schwer gesündigt. Wir werden die Konsequenzen noch überlegen.

Jetzt aber reinigt ihr den Toten zuerst einmal. Ich werde inzwischen alles Notwendige veranlassen, den Sarg bestellen. Dann legt ihr den Toten hinein und bringt ihn zum Dorffriedhof. Mit dem Priester werde ich sprechen.

Betet, dass später niemand mehr den Sarg öffnet und euren Frevel sieht.“

„Er hat noch gelebt“, verteidigte sich die Schwester, „es war Christenpflicht.“

„Jetzt ist er aber tot“, erklärte die Oberin lakonisch, „und euer Versuch war schändlich. Statt für sein Seelenheil zu beten habt ihr sein Fegefeuer vorweggenommen.

Wenn alles schief geht, werden irgendwelche Kommissare in unser Kloster kommen, vielleicht noch einen Mordfall untersuchen.“

„Aber …“, versuchte die Schwester noch einmal auf Verständnis zu stoßen.

„Nichts aber!“

Die Augen der Oberin glänzten zornig, „Ihr wisst, dass unser Kloster nur durch die großzügigen Subventionen aus Rom Bestand hat, noch Bestand hat.

Es gibt viele – und nicht zuletzt den Bischof hierzulande – die das für reine Geldverschwendung halten und nur auf den geeigneten Anlass warten, um dieses Kloster zu schließen und für immer zu entweihen …“

bildchen

Arthur quälte sich immer noch mit dem Zitat. Es geisterte herum, wurde aber nicht greifbar. Lag ihm irgendwo auf seiner trockenen, rissigen Zunge. Eng schien es ihm zu werden, wenn ihm die Antwort nicht einfiel.

Lebens eng leben s läng l ich. änglich

Engl ich.

Wirre Fetzen eines geschriebenen Textes bemächtigten sich bildhaft seiner unzureichenden Wahrnehmung.

Frieden nur Frieden.

Verfluchte Todessehnsucht in Augenblicken des Schmerzes.

Ewiger Gott. Verweigere mir deine Absolution für die Unendlichkeit.

Ewig und unendlich waren nur unbrauchbare Worte mit unmenschlichen Assoziationen. Arthur wollte leben.

Zum Teufel mit Erlösung und Fegefeuer.

Er haderte mit seinem Schicksal: „Ich war nicht offen für die Welt, vergaß zu sehen, vergaß zu hören und zu spüren.

Himmel und Hölle waren mir eins und ich verbrannte in Selbstzerstörung.

Mich retten? Mich hinüber geleiten?

Helfende Hände bieten sich immer an.

Aus tiefgläubigen Fratzen springt Obsession entgegen.

Hohle, leere Augen erfüllen mit Furcht und Schrecken.“

Jene, die aus der Hölle kommen, sind in der Regel zufriedener als jene, die im Himmel wohnen ...

Es war nur die Kehrseite des Obelisken. Arthur sinnierte, wie eine Kehrseite vom selben Standpunkt aus so einfach zu lesen war. Offenbar drehte jemand an diesem Stein.

Noch während die Oberin in ihrem Garten Instruktionen gab, überlagerten sich die Töne des in den entferntesten Gewölbewinkeln reflektierten Pochens und das Echo respondierte hochenergetisch zum Ausgangspunkt in der kleinen Kammer des Klosters, wo der fremde Wanderer auf einem hölzernen Tisch notdürftig operiert lag.

Wie durch ein Wunder begann das Herz erneut zu schlagen. Physikalisch – medizinisch war es nicht zu erklären. Aber plötzlich zuckte Arthur und öffnete ein Auge.

In dem Moment hatte die Schwester Oberin bereits beim Schreiner den Sarg bestellt und den Dorfpriester über den Tod des fremden Wanderers informiert.

bildchen

Schreiend kam die Mitschwester durch den Kreuzgang gelaufen.

„Er … lebt“, kreischte sie schrill und brach totenbleich zusammen.

„Schnell – bringt sie in ihre Kammer“, jetzt wirkte die Oberin tatsächlich beunruhigt. Das muss geheim bleiben, das durfte nicht nach außen dringen. Zwei Schwestern, die nach mittelalterlichen Vorlagen eine Operation erfolgreich durchführten, waren gefährlicher für ein Kloster, als wenn der Patient verstorben wäre.

Sie nahm ihre wenigen Vertrauten zur Seite. „Ihr füllt mit Stoff umwickelte Steine in den Sarg und vernagelt ihn gut.

Aber ihr wartet noch … bis wir sicher sind, ob der Fremde überlebt oder nicht. Ich will nicht sozusagen zwei Tote beim Pfarrer melden müssen.

In frühestens einer Woche bringt ihr ihn wie vereinbart zum Dorffriedhof. Sagt dem Pfarrer, dass seine Angehörigen erst ausfindig gemacht werden und wir ihn deswegen hier lassen. Eine Aufbahrung ist dann nicht mehr notwendig, es handelt sich um einen uns völlig Fremden. Zudem sei der Mann auch sehr entstellt …

Gott vergebe uns diese Notlügen.

Den Fremden pflegt noch einige Tage, oben in der Kammer, dann muss er weg von hier, egal wohin.“

Arthur war beruhigt und gleichzeitig beunruhigt. Das Pochen hatte stark nachgelassen. Nur mehr von Ferne hörte er ganz leise rhythmische Schläge. Er war beruhigt, denn es schien nicht mehr wichtig, die massive Tür zu öffnen. Er war aber beunruhigt, weil ihm irgendwas entgangen war. Wahrnehmungen hatten sich verflüchtigt. Er war sich dessen sicher. Für kurze Augenblicke war Ungewöhnliches vor sich gegangen, und es wäre wichtig gewesen, alle Sinne beisammen zu haben.

„Wird er sich erinnern können?“, fragte eine ältere Nonne an der Tür. Schwestern umsorgten ihn. Gaben dem Fremden stärkende Getränke aus Ei und Wein, verabreichten Haferbrei und Weißbrot.

Eine schüttelte den Kopf: „Bei der Dosis an Sirup ist eine generelle Amnesie wahrscheinlicher. Er wird nach den Tagen hier nicht wissen, was passiert ist.“

„Gut“, sagte die Nonne bei der Tür nach einigem Überlegen, „dann wird es kein Risiko sein, ihn nicht weit zu transportieren, sondern hier in der Gegend zu lassen. Wir wollen seine noch schwache Lebenskraft nicht überstrapazieren.

Es wird sich so oder so herausstellen, ob Gott ihn führt, oder ob er zeitlebens ein schlechter Mensch gewesen ist.

Entweder findet er jemanden, der ihm hilft – oder aber er findet dort eben doch noch sein Ende. Wie Gott will …“