10 Mythologie.Ideologie.Mythokratie

Die unbegrenzten, sich selbst begründenden Möglichkeiten des Storytellings, seine Zeichenlosigkeit, seine perfekte Funktionalität, seine Permutationsfähigkeit – all das macht Storytelling zu einem Instrument, mit dem eine neue Form der Herrschaft begründet werden kann. Es ist eine Herrschaft, die unsichtbar ist und die sich den Anschein der Transparenz gibt. Man kann sie »Mythokratie« nennen, oder auch »Sozialdiktatur«. Das Ziel der Mythokratie ist die Herrschaft über den sich mythenlos und ideologiefrei wähnenden Schwarm, die Herrschaft über das ortlose Soziale.

Mythokratie verschlüsselt das als Enigma, was als Mehrwert in Sicherheit gebracht werden muss. Wertschöpfung tut sich nur noch in kryptischen Bildtypen wie Aktiencharts und Zahlenkolonnen kund. Wenn der Markt selbst spricht, dann tut er es in Rätseln. Da sich selbst meinende Geld wird durch seine Virtualisierung noch rätselhafter und ungreifbarer. Es wird überführt in bargeldlose Zahlung und in fiktive Währungen, die vollends das Gefühl für die haptische Relevanz des Monetären zerstören.

Das erste Herrschaftsstrategem der Mythokraten ist also die Erzeugung einer neuen mythischen Dunkelheit. Das Ökonomische ist der neue Mythos. Wir anerkennen diesen neuen Mythos, indem wir neue Orakel akzeptieren. Nicht umsonst sprechen wir von »Wirtschaftsweisen«. Das Enigmatische des Marktes ist das Problem, und nicht seine Transparenz. Die mythische Gestalt des Marktes ist das Geld. Geld als Objekt der Spekulation bezieht sich nicht mehr auf etwas anderes, für dessen Wert es steht, sondern es bezieht sich nur auf sich selbst. Es wird zu einem sich selbst symbolisierenden Symbol und verliert seine Evidenz als Tauschmedium. Auf der einen Seite wird Sprache im Storytelling zur Währung, auf der anderen Seite wird Geld zum Rätsel. Hieran zeigt sich, wie die Mythokratie die Wirklichkeit hinter den Geschichten, die sie erzählt, verbirgt.

Das zweite Herrschaftsstrategem der Mythokraten besteht darin, das Erzählen als Tarnung zu instrumentalisieren, den neuen Mythos hinter einer Transparenz zu verstecken, die sich immer wieder selbst erzeugt. Geld und Markt geben der Gemeinschaft keine Verbindlichkeit mehr, sondern zerstören das Soziale durch Manipulation, die in ökonomischer Narration (»Markenbildung«) und Enthemmung (»Shopping-Erlebnis«) besteht. Damit wird das Soziale, das sich erzählend mit sich selbst beschäftigt, zu einer zentralen Ressource. Die Umwandlung des Erzählens als einer Geste der Freiheit und des Widerspruchs in ein Moment des Systems ist perfekt.

In den sozialen Medien und auf anderen Plattformen des Storytellings muss sich allerdings eine neue Figur des Sozialen konstituieren, die nicht sofort an der Differenz zwischen Lohn und Wertschöpfung zerbricht – jene Differenz, die den Arbeiter zum Angestellten machte und den sozialen Raum durch totalen Konsum und totalen Wohlstand zersetzte. Anders ausgedrückt: Eine Marktressource kann das Soziale nur dann sein, wenn es sich der Denkbarkeit durch den Markt verweigert, das heißt, wenn es als Idee des Sozialen erhalten bleibt. 

Das Soziale als Idee zu einem Teil seiner Wertschöpfung zu machen: diese Ratio steht hinter dem Konzept des Storytellings. Wenn es gelingt, die Idee des Sozialen zu erhalten, dann ist diese Ressource unendlich. Denn wo sollte sich das Soziale als Grunddynamik je erschöpfen? Die Entdeckung einer nicht-endlichen Ressource ist das disruptive Motiv, das der Kapitalismus im Storytelling als seine Rettung ahnt.

Damit hat die Logik des Marktes den Antagonismus der sozialen Marktwirtschaft aufgelöst und das Soziale ins System hineingenommen. Wenn das System dem Sozialen Spielraum lässt und den Schein von Autarkie aufrechterhält, dann ordnet sich dieses widerspenstige Soziale freiwillig dem System unter, das es zugleich stillschweigend als leitend anerkennt.

Das Bewusstsein des Sozialen diffundiert in einem System, das dem Sozialen etwas Raum zur Selbstentfaltung lässt, sich aber das soziale Chaos, das durch diese plötzliche Freiheit entsteht, sofort zu eigen macht. Man könnte das Storytelling in der Sprache des Marktes als »Hedgefonds des Sozialen« bezeichnen, weil sie die Risiken, die das Soziale birgt, durch einen spekulativen Umgang mit diesem Sozialen selbst absichern.

Die Paradoxie besteht aber darin, dass dieses Soziale gar nicht existiert. Der ökonomische Umgang mit dem Sozialen in diesen Medien ist nichts anderes als ein Leerverkauf. Der Markt handelt hier mit etwas, über das er zum Zeitpunkt dieses Handelns nicht verfügt. Und weil die Ressource des Sozialen unbeschränkt ist, ist dieser Leerverkauf unendlich. Die Steigerung eines Leerverkaufs ist ein unendlicher Leerverkauf. Dies ist die Überhöhung des Spekulativen ins Absolute. Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem dieser Hedgefonds des Sozialen verkauft werden muss. Deshalb lässt sich unendlich mit ihm spekulieren, ohne dass es auffällt, das heißt: ohne dass sichtbar wird, dass er leer ist.