Gerhard J. Rekel

Die chinesische

Dame

Ein Roman
über Lügen,
die verletzen,
und Wahrheiten,
die töten

Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

Darum leget die Lügen ab und redet Wahrheit.

8. Gebot – Epheser 4.25

Die Wahrheit ist eine Waffe, die wie ein Schwert wirkt.

Konfuzius

Das biblische Versprechen

Als Kindsvater wollte Christian bei der Geburt dabei sein. Er saß neben Sonja im Kreißsaal, hielt ihre Hand. Sonjas engelsgleiches Gesicht war blass, unter ihren hellblauen Augen lagen dunkle Schatten. Sie atmete schwer, röchelte, zuckte. Besorgt schauten ein Arzt und eine Schwester auf den EKG-Bildschirm. Plötzlich begann Sonja zu schreien. Immer lauter. Der Arzt zog einen Wagen mit OP-Besteck heran. Zwei Helfer in blauen Kitteln drängten Christian von ihrem Bauch weg. Presswehen. Der Arzt zückte ein Skalpell. Christian rückte zu ihrem Gesicht, wollte ihr nahe sein. Die Blaukittel schoben ihn auf einen Stuhl. Sonja brüllte. Christian sprang hoch. Die Helfer drückten ihn nieder. Sonja bäumte sich auf. Verzweifelt rückte Christian mit dem Stuhl heran, er beugte sich nach vorne, griff nach ihrer Hand. Die Blaukittel stülpten ihm eine Zwangsjacke über, fixierten ihn. Eine Schwester stellte einen Metalleimer zwischen Sonjas Beine. Christian konnte ihre Scham nicht sehen, nur den Eimer. Der Arzt griff zu einem größeren Skalpell. Blut spritzte. Auf die Kittel. Auf den Boden. Auf Christians Füße. Sonja hechelte, stöhnte, verstummte. Das EKG zeigte einen Strich und piepte. Sofort wollte Christian zu ihr, doch die Zwangsjacke fesselte ihn. Je mehr er zuckte, umso fester. Sonja atmete nicht, ihre Augen starrten zur Decke, leblos. Da bemerkte Christian: Etwas kam aus ihrem Bauch, flutschte in den Metalleimer. Es war klein und bewegte sich. Schwarz. Oval. Faltig. Mit dünnen Beinen. Und langen Fühlern. Eine Kakerlake. Und noch eine. Sie fielen in den Eimer. Wenn ihr Panzer am Metallboden auftraf, hörte Christian ein „Klong“. Jedes Mal. „Klong, klong, klong.“ Bis ihm die Schwester den vollen Eimer brachte. Brutal riss der größere Blaukittel Christians Kiefer auf. Jetzt erst sah Christian das Gesicht des Mannes: Es war sein Vater. Im kleineren Blaukittel erkannte er die Gesichtszüge seiner Mutter. Sie klemmte Christian einen Metallspreizer in den Mund. Über seinem geöffneten Schlund ließ die Mutter eine Kakerlake zappeln. Der Vater grinste ihn verächtlich an: „Mörder!“ Die Schabe fiel auf Christians Zunge. Er spürte, wie sie in seinen Hals krabbelte, ihm den Atem nahm, in seine Arterie eindrang, sein Herz fraß.

Nacht für Nacht quälte Christian diese Szene. Und jedes Mal starb Sonja! Seit Wochen war er mit dem Albtraum aufgewacht. Zumeist gegen drei Uhr früh. Schweißgebadet wälzte er sich dann im Bett.

Neben ihr.

Einmal bemerkte Sonja sein Zittern, sein Hochfahren, seine nasse Stirn. Besorgt fragte sie, was los sei.

Christian konnte es nicht erzählen, wollte sie nicht kränken, niemals. Er hatte sich vor wenigen Monaten mit ihr verlobt, wollte sein Leben mit ihr verbringen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und ging zu einer Psychotherapeutin: Was hat der Albtraum zu bedeuten, warum diese Qual jede Nacht?

Die Frau residierte in einer Villa im noblen Grinzing am Rande Wiens. Die fünfzigjährige Dame war ihm nicht sympathisch; zu schrill ihre Stimme, zu unverblümt ihre Neugierde, der Habitus eines Kindes im Körper einer reifen Frau. Sie appellierte: Er müsse Geduld haben, eine schnelle Lösung sei unwahrscheinlich.

Christian aber hoffte zumindest auf eine Linderung, auf längere Abstände zwischen den Albträumen, auf ein Verblassen der Bilder. Und eine Antwort, warum ihn gerade jetzt, im Alter von 37 Jahren, nach abgeschlossenem Architekturstudium, mit sicherem Einkommen in der väterlichen Firma und mit einer wunderbaren Frau an seiner Seite, eine solche nicht enden wollende Albtraumserie überfiel.

Die Therapeutin erforschte mit ihm innerhalb einiger Wochen das vermutlich ursächliche Erlebnis: Vor einem Jahr hatte er sich in einer Hautklinik ein Muttermal entfernen lassen. Die Voruntersuchung seines HIV-Tests war positiv. Christian konnte es nicht fassen: Ja, er hatte Sonja einmal mit einer Praktikantin betrogen. Ein Fehler, für den er sich tags darauf schämte. Die hübsche Neunzehnjährige galt als schüchtern, war alles andere als promiskuitiv. Christians Vater hatte eingeladen zum 30-jährigen Firmenjubiläum, die Mitarbeiter machten den Abend zu einem bacchantischen Fest. Christians höflich-galante Art, sein jugendliches Aussehen und seine Position als Sohn des Patriarchen halfen ihm, schnell die Sympathien der Gäste zu gewinnen. Spätnachts musste er die Praktikantin nach Hause fahren. Vor ihrer Wohnung fragte sie, ob er noch mit auf einen Espresso komme: „Nach so einer Party kann ich Alleinsein einfach nicht ertragen … verstehen Sie doch, oder?“ Verschämt lächelte sie, weiße Zähne blitzten, an ihren Ohren baumelten rote Perlen, tiefschwarze Augen strahlten ihn an.

In Christian tobte ein Kampf. Er versuchte, ihr Begehren abzuschmettern. „Ich glaube, meine Verlobte würde das nicht so gut finden“, sagte er lachend.

Doch in der Art, wie er sie dabei ansah, und in der Stille, die darauf folgte, musste sie seine Zweifel geahnt haben.

Hatte Christian sich bei ihr angesteckt?

Der Arzt beruhigte, die Analyse sei nicht hundertprozentig, eine weitere Blutabnahme nötig. Das Ergebnis würde in zwei Tagen vorliegen.

An diesem Abend kam Sonja von einem philosophischen Seminar aus Salzburg zurück, die beiden hatten einander vier Wochen nicht gesehen. Ihre Sehnsucht war groß, sie konnte Alleinsein kaum ertragen, wollte mit ihm schlafen. Er gab vor, Kopfschmerzen zu haben. Sie versuchte ihn zu trösten, liebkoste und verführte ihn. Christian gelang es nicht sie abzuweisen. Im letzten Moment griff er zu einem Präservativ, obwohl er wusste, dass sie den Geruch des Gummis nicht mochte und die beiden seit ihrer Verlobung auf Kondome verzichtet hatten.

„Warum plötzlich?“, fragte Sonja lauernd, „hast du mich betrogen? … Oder glaubst du gar, ich war dir in Salzburg nicht treu?“ Er schüttelte den Kopf.

„Na dann …“ Sie schob das Kondom zur Seite.

Er schaffte es nicht, ihr die Wahrheit zu sagen. Schlief mit ihr. Dachte an seine Lüge. Mühte sich ab. Kam ins Schwitzen. Zwang sich durchzuhalten. Ertrug es kaum. Verdammt, warum hatte er bloß bei der Praktikantin nicht nein gesagt? Er quälte sich, bis sie endlich kam. Und hasste sich dafür.

Am nächsten Tag zitterte er dem Kliniktermin entgegen. Der Arzt lächelte, der HIV-Kontrolltest war negativ. Auch davon erzählte er Sonja nichts.

Die Therapeutin aber meinte: Christians Problem liege tiefer, er sei nicht ehrlich. Mit sich und anderen. Er habe ein zu schwaches Selbstwertgefühl. Mitten in der Sitzung durchflutete ihn eine unangenehme Hitze, sein Herz pochte.

Später las er, wie die meisten Psychologen ihre Behandlungen strukturieren: Erst zeigen sie Empathie, dann werden sie normativ. Die Therapeutin mit der kindlichen Mimik sah Christian in die Augen: „Sie sind zu nett, Herr Selikowsky!“

Der Satz ärgerte ihn. Einen Moment lang wollte er die Therapie abbrechen, doch noch mehr ärgerte ihn, dass sie Recht hatte: Er war tatsächlich zu nett. Zu seiner Familie, zu seinen Freunden, ja sogar zu Praktikantinnen. Manchmal verleugnete er sich, bloß um im Moment zu gefallen. Wäre er tatsächlich mit Aids infiziert gewesen, hätte er aus Angst vor der Wahrheit in dieser Nacht seine Verlobte angesteckt. Seine Lüge hätte ihn zum Mörder gemacht!

Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, ein Schuss vor den Bug. Deshalb legte er in der letzten Therapiesitzung ein Versprechen ab: Er verinnerlichte das achte Gebot und nahm sich vor, nach der Wahrheit zu leben, sich von Lügen fernzuhalten, den eigenen und den fremden.

Doch dieses Versprechen beruhte auf einem Irrglauben. Einem fatalen.

˘ ˘ ˘

Der Gang nach Canossa

Mit eingeschäumten Wangen stand Christian vor dem Spiegel. Die Rasierklinge schuf glatte Bahnen. Je mehr er sich vom Schaum befreite, umso zweifelnder betrachtete er sein Gesicht: Ja, seine schlanke Nase, seine blauen Augen und sein schwarzer Wuschelkopf gaben ihm einen jugendlich-verspielten Charme, doch an den Koteletten entdeckte er Silberfäden und seine wilden Locken verschleierten kleine Geheimratsecken.

Als er am späten Morgen über den Stephansplatz schlenderte, wehte ihm der kalte Märzwind entgegen. Er stellte den Kragen seines Wolljacketts hoch und wickelte den roten Kaschmirschal fester um den Hals. Weil die Espressomaschine im Büro gerade in der Reparatur war, steuerte er auf ein Café zu. Gleichzeitig mit ihm kamen drei chinesische Touristinnen ins Geschäft. Einer fiel das Halstuch zu Boden. Reflexartig beugte sich Christian danach und zögerte mitten in der Bewegung: War er schon wieder zu nett? In diesem Moment griff auch die Chinesin nach dem Tuch – die beiden stießen ums Haar zusammen. Die junge Frau kicherte, die beiden anderen Chinesinnen lächelten; schüchtern, verlegen, naiv. Irgendwie alle nett. Nicht nett sein, konnte doch unmöglich bedeuten, wie ein Rüpel durchs Leben zu trampeln. Nein, er wollte nett im Stil und ehrlich in der Sache sein, das war’s!

Er ließ sich zwei Becher mit Cappuccino geben, querte den Stephansplatz und ging auf das Haas-Haus zu, auf dessen Glasfassade sich die Morgensonne über mehrere Etagen spiegelte. Im sechsten Stock betrat er das Büro mit der Aufschrift Selikowsky – Abteilung Marketing & Werbung. Seine Sekretärin stand von ihm abgewandt am Fenster und telefonierte. Jenny bemerkte ihn nicht, lachte, flirtete, plauderte. Ihrer bequemen Haltung nach zu schließen schon sehr lange.

Sollte er einfach in sein Büro huschen und ihr Privatgespräch ignorieren? Das wäre nett. Und verlogen!

Sollte er sich räuspern und dezent auf ihren Schreibtisch voller unerledigter Akten deuten? Das wäre nett. Und pädagogisch! Sollte er ihr Arbeitspensum aufzählen? Mit Kündigung drohen? Sie zusammenschimpfen? Nicht seine Art.

Schließlich schlich er sich an und stellte den Cappuccino auf ihren Schreibtisch. Kaum erreichte Jenny der Duft des Kaffees, drehte sich die hagere Blondine um – und wurde rot. Doch Christian war schon in seinem Zimmer verschwunden und nahm vor seinem Computer Platz.

Er hatte mit Jenny nicht das übliche Chef-Sekretärinnen-Verhältnis. Sie erinnerte ihn, wann er wo zu sein hatte, versorgte ihn mit Interna aus der Tiroler Firmenzentrale und brachte seine Hemden zur Putzerei. Im Gegenzug sah er großzügig darüber hinweg, dass sie jeden zweiten Tag zu spät und unausgeschlafen zur Arbeit erschien. Trotz des lockeren Umgangs redeten sie nie über private Dinge und siezten einander.

Das Büro war in die Jahre gekommen, der graue Teppichboden abgestoßen, Christians Stuhl quietschte, die Neonröhren blendeten. Am Computer stellte er einen neuen Werbekatalog zusammen: Fotos von Teddybären, Lodenmänteln und Filzhüten lagen auf seinem Schreibtisch. Christian sollte für die Tiroler Firma seines Vaters die Werbemaßnahmen für Filzprodukte gestalten. Sein Brotjob. Doch wie er die Bilder von Filzhüten, Teddys und Trachtenmänteln auch anordnete, er war wenig begeistert, musste sich zur Arbeit zwingen. Schließlich starrte er verzweifelt aus dem Fenster, sein Blick flüchtete zum Stephansdom, immer wieder schossen ihm die Worte der Therapeutin durch den Kopf: „Sie sind zu nett, Herr Selikowsky!“

Genervt schob er die Katalogbilder zur Seite, griff zu einem Zeichenstift und skizzierte mit wenigen Strichen ein würfelförmig verschachteltes Gebäude. Christians Stimmung hellte sich auf, der Stift flog geradezu über das Papier, neue Räume, Formen und Perspektiven entstanden, er machte, was er am liebsten tat: zeichnen, entwerfen, skizzieren. Allzu gerne würde er sich nur der Architektur widmen.

Von hinten hörte er Jennys Stimme: „Herr Selikowsky? Ihr Vater hat gestern Abend noch angerufen und gefragt, wann er endlich das Layout für den neuen Werbekatalog anschauen kann. Er hätt’ gern einen Termin für eine Videokonferenz!“ Sie stand an der Tür und wartete auf eine Antwort.

„Sagen Sie ihm, ich bin so gut wie fertig“, raunte Christian.

Besorgt betrachtete Jenny das Chaos auf Christians Schreibtisch und seinem Bildschirm.

In diesem Moment wurde Christian klar: Er war im Begriff, sein Versprechen zu brechen: „Nein, sagen Sie ihm, nichts ist fertig. Gar nichts. Überhaupt nichts!“

Verwundert sah Jenny ihn an.

˘ ˘ ˘

Eine Woche nach dem Ende der Therapie hatte Christian bereits begonnen, sein Versprechen peu á peu umzusetzen. Schon am übernächsten Tag saß er mit Sonja im Großraumwaggon. Die Sonnenstrahlen wurden von vorbeiziehenden Strommasten gebrochen und ließen den winzigen Glasstein an Sonjas Nasenflügel schillern. Er liebte ihr warmes Lächeln, ihren Humor und ihre Marotte, zwanzigmal am Tag das lange, rote Haar aufzustecken und wieder zu öffnen.

Der Intercity würde sie in sieben Stunden in seine Tiroler Heimat bringen. Er wollte seinem Vater nicht nur persönlich die Fragmente des nächsten Werbekatalogs präsentieren, sondern ihm vor allem Sonja vorstellen. Weil sie so gar nicht zu seiner erzkonservativen Familie passte, hatte er zu Hause nichts von ihr erzählt, obwohl er sie schon seit vier Jahren kannte und fast zwei mit ihr zusammenlebte.

Schnell noch hatte er Sonja ein graues Kostüm und neue Stiefel spendiert. Die Entscheidung war natürlich schwierig gewesen: schwarze Stiefletten oder violette Overknees? Vor die Wahl gestellt zwischen stundenlangem Probieren oder dem Ziehen der Scheckkarte, hatte sich Christian für Letzteres entschieden. Ein schwarzes Lackkäppi musste auch noch mit, schließlich passte es zu ihrem grünen Lack-Anorak – Sonja liebte schrille Klamotten.

Er nahm sich vor, dem Vater die geplante Hochzeit als wohlüberlegte Entscheidung zu präsentieren. Auch wenn ihm das gelingen sollte, würde Vater auf einen Ehevertrag pochen. Das Wohl der Firma war ihm heilig. Mochte eine solche Regelung durchaus sinnvoll sein, so würde für Sonja der Vertragstext jegliche Romantik und alles Grenzenlose zerschmettern. Müsste sich Christian mit ihr vor einen Rechtsanwalt setzen und die finanziellen Optionen im Falle einer Scheidung erörtern, wäre das eine Katastrophe. Für Sonja bedeutete Liebe Fliegen.

Rechtsanwälte verhandeln Abstürze.

Christian hatte Sonja viel von seinem Vater erzählt: Der fünfundsechzigjährige Alfred war dank seiner Firma ein bekannter Mann in Tirol. Er galt als fleißig, leidenschaftlich und cholerisch. Was sie über den Senior erfahren hatte, verunsicherte Sonja. Sie griff nach den Keksen, die Christian mitgenommen hatte, und versuchte sich abzulenken. Süßes beruhigte sie. Immer.

Die Klimaanlage im Waggon funktionierte nicht, Christian kam ins Schwitzen. Weil es in Innsbruck im März normalerweise noch ziemlich kalt war, hatte er sein erdfarbenes Harris Tweed-Jackett, einen dicken Rollkragen und statt seiner üblichen Jeans eine Cordhose angezogen.

Im Speisewagen besorgte er sich Wasser. Mit jedem Schluck, mit jedem Kilometer, mit jedem Gedanken, der ihn näher nach Hause brachte, sah er seinen Vater deutlicher vor sich: ein energischer, herzkranker Mann, der sich leicht echauffierte. Besonders bei familiären Konflikten.

Schon jetzt fühlte er Vaters Zorn. Und sein Schweigen. Minutenlang. Tagelang. Wochenlang. Bis Mutter versuchen würde, den Familienfrieden zu retten. Er wusste, sie würde ihn abends zur Seite nehmen und auf ihn einreden: Sonja ist doch über zehn Jahre jünger als du. Die muss sich doch erst einmal ausleben, wer weiß, ob die wirklich für immer bei dir bleibt. Und ihr Studium! Philosophie konveniert ja gar nicht mit der Familie. Was wird die später einmal arbeiten? Du wirst sie dein Leben lang durchfüttern müssen, hast du dir das überlegt? Denk nach, du hast ja noch so viel Zeit.

Hatte er nicht. Seine private, empirische Untersuchung brachte ein ernüchterndes Ergebnis: Die begehrtesten Frauen in seinem Alter waren bereits vergeben! Er hatte Sonja vor vier Jahren beim Squash kennengelernt. Trotz ihres leichten Übergewichts war sie eine starke Spielerin: Geschmeidig, direkt und impulsiv. Obwohl er fast täglich joggte, hatte er Mühe, mit ihrem Spieltempo mitzuhalten. Manchmal zeigte sie eine Schwäche, die er zu nutzen versuchte, die sich aber oft als Finte herausstellte. Lang anhaltende Harmonie konnte sie nicht ertragen, da schon lieber mal eine Krise, heftige Emotionen, eskalierender Streit und leidenschaftliche Versöhnung – Letzteren war er verfallen. Ein wenig war sie eine Drama-Queen, sie hatte begonnen, Französisch, Japanologie und Geschichte zu studieren, hatte alles nach weniger als einem Semester wieder abgebrochen, um sich schließlich für Philosophie zu entscheiden. Weil sie sich da nicht auf ein spezielles Gebiet begrenzen musste, sondern durch die Art ihrer Fragestellungen mit allen Lebensbereichen beschäftigen konnte. Trotz ihres Wankelmuts mochte er ihre spontane Art, ihren Witz und ihren festen, wohlgeformten Körper.

Als er sie ein paarmal zum Squashen getroffen hatte, rammte sie nach dem Spiel mit ihrem Fahrrad eine Absperrung. Unterschenkelbruch. Heftige Schmerzen. Komplizierte Heilung. Ein Marknagel musste ihr zur Stabilisierung eingesetzt werden. Für 18 Monate. Ihren Restaurantjob, mit dem sie ihr Studium finanziert hatte, konnte sie nicht mehr wahrnehmen. Verzweifelt wollte sie ihr Studium hinschmeißen. Doch Christian munterte sie auf und pflegte sie gesund. Vor allem aber bezahlte er ihr den Studienabschluss, denn er bewunderte ihr Talent, Fragen zu stellen und Thesen zu entwickeln. Dafür war sie ihm unendlich dankbar.

Hoffte er zumindest.

Das Treffen in Vaters Büro hatte Christian für 15:30 Uhr vereinbart. Danach erst wollte er mit seiner Familie über die Hochzeit sprechen. Am Innsbrucker Bahnhof stieg er mit Sonja ins Taxi. Er nannte das Fahrziel.

„Selikowsky, die Filzfabrik?“, fragte der Fahrer.

Christian nickte und blieb mit seinem roten Schal an der Autotür hängen. Rasch zog er ihn zurück und stopfte ihn in seine braune Daunenjacke.

„Schöne Mäntel machen die da“, setzte der Mann im blauen Holzfällerhemd nach, „tolle Qualität.“

„Und?“, fragte Sonja, „haben Sie einen?“

Er lenkte den Wagen vom Bahnhofsplatz und schüttelte abfällig den Kopf: „Können sich nur Gschtopfte leisten!“ Sonja sah zu Christian, er glaubte einen Vorwurf in ihrem Ausdruck zu erkennen und zuckte die Schultern: „Für die Preise bin ich nicht verantwortlich!“

Sie erreichten das Werksgelände am Rande Innsbrucks. Die steilen Gipfel des Patscherkofels legten einen breiten Schatten über das Werkstor. Arbeiter und Angestellte strömten aus zwei großen Backsteinbauten. Christian blickte auf seine Armbanduhr: Freitag, kurz nach vier. Feierabend. Sie waren zu spät.

„Beeil dich“, raunte er zu Sonja, schulterte ihren Rucksack und zog raschen Schrittes seinen Trolley hinterher. „Manno, komm ja schon …“

Sonjas Stiefelabsätze klapperten die alte Holztreppe empor, in der gründerzeitlichen Firmenvilla befanden sich nur Büros. Christian schob Sonja auf eine Glastür im ersten Stock mit der Aufschrift Geschäftsführung Alfred Selikowsky zu. Er ärgerte sich: Der Zug hatte über eine Stunde Verspätung gehabt, er konnte nichts dafür, aber es passte wieder mal genau zu Vaters Bild von ihm – immer zu spät, immer ein wenig chaotisch. Er gab sich einen Ruck und öffnete die Tür.

Eine fünfzigjährige Frau saß hinter einem Flachbildschirm, sie hatte ein feines, ebenmäßiges Gesicht, ihre brünetten Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt. Sie trug einen beigefarbenen Pullover und einen langen, braunen Rock. Auf ihrem Schreibtisch herrschte penible Ordnung. Eine in silber gefasste Brille umrandete ihre blaugrünen Augen. Freundlich sah sie die Besucher an: „Guten Tag, Christian. Wir haben Sie schon erwartet.“

„Tut mir leid, Frau Armbrust, der Zug hatte …“

„Kein Problem“, unterbrach sie ihn, „Ihr Vater hat noch Besuch. Wenn Sie bitte kurz Platz nehmen.“

Frau Armbrust deutete auf ein rotes Sofa im Besucherbereich. Christian zögerte: Warum empfing Vater gerade jetzt jemand anderen? Warum ließ er ihn warten? Wollte er ihn wegen der Verspätung bloßstellen?

„Schön, dass Sie uns wieder mal beehren“, setzte Frau Armbrust nach. Christian verstand die leise Kritik, er reiste ungern nach Innsbruck, ein- bis zweimal im Jahr vielleicht, wenn überhaupt. Was ihm seine Eltern übel nahmen. Offensichtlich vertrat Frau Armbrust nicht nur die beruflichen Ansichten seines Vaters. Lächelnd streckte sie Christians Begleiterin die Hand entgegen: „Bettina Armbrust, ich bin die persönliche Assistentin des Chefs.“

„Sonja Baldur.“

Frau Armbrust musterte Sonja neugierig. Christian vermutete, dass sie eine Erklärung erwartete, in welcher Funktion Sonja ihn begleitete, doch er sagte nichts.

Indes bemerkte Sonja im Besucherbereich eine Vitrine – darin Filzprodukte: Hüte, Teddybären und Modellpuppen mit Lodenmänteln. Darunter stand in rot-weiß-roten Lettern: Seit fünf Jahrzehnten Qualität aus Österreich.

Über der Vitrine hing hinter Glas der Artikel einer renommierten Wirtschaftszeitung. Eine Fotostrecke zeigte den Patriarchen stolz in seinem holzvertäfelten Büro. Sonja überflog ein Interview: Ich führe zweimal wöchentlich Krieg, erzählte Alfred Selikowsky. Dann schlage ich Teddybären ins Gesicht, zerre an ihren Knöpfen, versenke Filzhüte im Wasser und grille sie unter UV-Licht! Ich schütte Rotwein auf Hüte und kokle mit meinem Feuerzug die Ärmel von Lodenmänteln an. Nur wenn unsere Produkte alles schadlos überstehen, genehmige ich persönlich die Auslieferung. Deshalb ist in unserer Firma eine Tradition besonders wichtig: Seit Jahrzehnten produzieren wir ausschließlich in Österreich! Das erst ermöglicht uns die lückenlose Kontrolle! Danach wetterte der Patriarch gegen die asiatische Billigkonkurrenz.

Als Sonja merkte, wie Christian sie beim Lesen beobachtete, witzelte sie: „Was für ein patriotischer Österreicher, dein Herr Papa.“ Für einen Moment glaubte sie, in Christians Gesicht einen Hauch von Stolz zu erkennen, doch sie war nicht ganz sicher.

Abrupt wurde die Tür neben Vaters Büro aufgerissen. Ein Mann im dunkelblauen Zweireiher kam auf die beiden zu; er sah Christian ähnlich, war aber korpulenter und einige Jahre älter. Rasch knöpfte er sein elegantes Jackett zu, das seinen Schmerbauch verdeckte. Der feine Zwirn, die sparsame Mimik und eine rahmenlose Kunststoffbrille deuteten darauf hin, dass dem Mann eine mondäne Wirkung wichtig war.

„Hallo Brüderchen!“

„Hallo Lutz.“

Christians Bruder hielt ein Smartphone in der Hand; er hatte es ständig im Blick, als würde er auf eine dringende Nachricht warten.

„Na, wirst du diesmal Papa dein Werbekatalogerl persönlich präsentieren? Nix Videokonferenzerl, wie sonst immer?“ Lutz’ Verkleinerungsformen nervten Christian. Er hatte sich vorgenommen, jeden Streit zu vermeiden und mit Lutz nur das Nötigste zu bereden. Christians Werbeabteilung in Wien war unterbesetzt, aber vermutlich würde der Junior-Direktor – wie sich Lutz gerne nannte – dafür kein Verständnis aufbringen. „Reiß dir einfach mehr dein Arscherl auf, Brüderchen, wir sind nicht auf der Uni!“, war seine Lieblingsantwort. Ein oft benützter Seitenhieb, denn Christian durfte sechs Jahre Architektur studieren, während Lutz nur eine dreijährige Handelsschule absolviert hatte und in Innsbruck die Stellung halten musste. Dass Christian seit über fünf Jahren vergeblich einen Job als Architekt suchte und keine einzige Bauausschreibung gewann, war ein Joker in einem Bruderkampf, der Christian immer wieder verletzte. Vater erfand schließlich für Christian die Werbeabteilung in Wien, „um die Familie zusammenzuhalten und weil der Christian ja so ein Kreativer ist, da kann er sich mit den Katalogen austoben“. Lutz war nicht begeistert, aber er fügte sich dem Patriarchen. Wie fast immer.

Lutz’ Blick fiel auf Sonja: „Und die hübsche Dame ist deine neue Praktikantin?“ Er streckte ihr die Hand hin.

Bevor Christian antworten konnte, sagte Sonja schnell: „Wir sind verlobt.“ Sie schüttelte Lutz die Hand.

„Ach, du willst heiraten?“

„In drei Wochen“, präzisierte Christian.

Lutz fixierte seinen Bruder: „Schön, dass die Familie auch davon erfährt!“

„Deshalb sind wir ja hier!“

„Herzlichen Glückwunsch. Mama und Papa werden sich bestimmt freuen!“ Lutz lächelte erst Christian zynisch, dann Sonja charmant an. Schließlich wandte er sich zu Christian: „Und ich freu mich auf dein Katalogerl. Wart schon seit zehn Tagen drauf!“ Das war eine Lüge, denn Lutz kümmerte sich nie um die Werbung, die Information hatte er von Frau Armbrust und er ließ keine Gelegenheit aus, Christian runterzumachen.

„Dann darf ich deiner Liebsten ja mal das Werk zeigen“, setze Lutz nach, „damit die zukünftigte Frau Selikowsky selbst sieht, auf welchen Club sie sich da einlässt.“ Grinsend verbeugte er sich vor Sonja und bat sie, ihm zu folgen. Im Rausgehen raunte er gerade so laut, dass es Christian noch hören konnte: „Und wovon mein lieber Herr Bruder sein schickes Wiener Penthouserl bezahlt!“

Christian fühlte eine Mauer zwischen sich und seinem Bruder. Obwohl sich Lutz immer gerne cool gab, hegte Christian den Verdacht, als stünde er permanent unter Spannung, was auch seine leicht geröteten Wangen bestätigten. Fast ein Jahr hatte er Lutz nicht mehr gesehen und nun fiel ihm auf, wie stark sein Bruder zugenommen hatte: Ein Doppelkinn hatte sich herausgebildet, seine Wangen waren fleischig geworden und ein leichter Stiernacken hob sich ab. Einen Moment überlegte Christian, analog seines Ehrlichkeitsversprechens, Lutz zu sagen, wie fett er geworden war. Doch sofort wurde ihm klar: Absolute Ehrlichkeit ist immer an der Grenze zur Einfältigkeit. Vor allem, wenn man Leute damit konfrontiert, wie dumm oder hässlich sie sind. Er sollte Lutz besser mal fragen, was mit ihm los war, wie es ihm wirklich ginge.

Christian musste sein Versprechen präzisieren: Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten konnte nicht bedeuten, in jedem Moment zu sagen, was man denkt – nicht die absolute Wahrheit oder die absolute Ehrlichkeit waren seine Ziele, sondern Wahrhaftigkeit. Er musste einen wahrhaftigen Zugang zu sich selbst und anderen finden, fern von gesellschaftlichen Erwartungen und Fremdbestimmung. Nur dann ergab sein Versprechen Sinn.

Als Christian an das Fenster trat, beobachtete er, wie Sonja mit seinem Bruder über den Hof schlenderte. Im Gehen fingerte Lutz mit der einen Hand an seinem Smartphone herum, die andere deutete mit großer Geste zu den Fabrikhallen. Mit stämmigen Schritten folgte Sonja in ihrem grünen Lack-Anorak seinem Bruder. Sie drehte sich um, sah einen Moment zu Christian hoch, dann forderte Lutz ihre Aufmerksamkeit.

Ein leiser Summton unterbrach die Stille im Büro. Frau Armbrust sprang auf und verschwand in Vaters Arbeitszimmer. Zurück kam sie mit einer chinesische Dame im schwarzen Businesskostüm. Christian versuchte ihr Alter zu schätzen: Ende Zwanzig. Nein, Fünfundreißig. Vielleicht sogar Vierzig. Ein zeitlos schönes Gesicht, eingerahmt von schwarzen, halblangen Haaren. Braune Augen, der Mund fein geschnitten, ihre Lippen dunkelrot, die Nase vielleicht eine Spur zu klein, doch sie hatte eine solch anmutige Form, dass die Kleinheit den Reiz nur verstärkte. Über ihrer Schulter hing eine Notebooktasche. Frau Armbrust reichte ihr vom Kleiderständer einen schwarzen Wollmantel. Dankend lächelte die Dame. Doch es war nicht dieses naiv-kindliche Lächeln, das Christian von vielen Chinesinnen kannte. Sie lächelte anders: dezent, selbstbewusst, kühl.

Er wartete, ob sie zu ihm sah. Doch sie schien ihn nicht bemerkt zu haben.

Sie griff zu ihrem Smartphone und wählte eine Nummer: „Guten Tag. Können Sie mich bitte mit der South-China-Bank in Frankfurt verbinden … danke.“

Christian war beeindruckt von ihrem akzentfreien Deutsch. Er gab vor, in seinem Katalog zu lesen. Bis er sie neuerlich hörte.

„Hello, … speaking.“ Ihren Namen konnte er nicht verstehen. „May I talk to Doctor Wang Chen, please. He’s waiting for my call.“

Bestes Oxford-Englisch. Seltsamerweise hatte Christian das Gefühl, diese Frau zu kennen. Woher bloß? Schließlich hörte er sie ins Smartphone Chinesisch sprechen. Nach einigen Sätzen sprach sie schneller, ihr Ausdruck veränderte sich; für eine Sekunde glaubte Christian, unter ihrer harten Oberfläche etwas Warmes, Zerbrechliches zu erkennen, aber vielleicht bildete er sich das auch nur ein.

Frau Armbrust langte nach ihrem Lodenmantel: „Ich bring unseren Gast ins Hotel – und mach dann Feierabend. Ihr Vater hat gebeten, dass Sie ihn noch fertig telefonieren lassen. Ein dringendes Gespräch! Er kommt dann selbst raus, nicht wahr?“

Ob es wahr ist, musste sie doch selbst wissen, durchfuhr es Christian. Diese in Tirol weitverbreitete Floskel kam ihm angesichts seines Versprechens völlig absurd vor.

Frau Armbrust führte die chinesische Dame zur Tür, drehte sich noch mal zu Christian. In der Eile verfiel sie in Dialekt: „Der Herr Vata isch glei soweit!“

Beim Rausgehen traf ihn der Blick der Chinesin. Sie lächelte nicht, schaute ihn nur kurz an: freundlich, bestimmt, durchdringend. Lag es an der ungewöhnlich schlanken Gesichtsphysiognomie, dass Christian die Frau bekannt vorkam? Was machte sie bei Vater, wer war sie?

Durch das Fenster sah er, wie sie in ihrem eleganten Wollmantel aus der Bürovilla kam, nein, sie schritt nicht wie Sonja über den Hof, sie schwebte. Gingen Chinesinnen immer leichter, geschmeidiger, graziler; hatten sie alle in der Schule gelernt, wie man über einen Platz schwebt? Seine Augen hafteten an ihr, bis sie hinter dem Werkstor in Frau Armbrusts blauem Polo verschwand.

Plötzlich war es vollkommen ruhig im Büro. Er betrachtete die Industriegebäude, niemand schien mehr zu arbeiten. Wo blieb eigentlich Sonja mit seinem Bruder, was sahen sich die beiden überhaupt an?

Ihm stach an der Hallenwand gegenüber ein Plakat ins Auge: Ein männliches Modell posierte mit Tiroler Filzhut und Lodenmantel. Erotisch verspielt warf der junge Mann einen Teddybären in die Luft. Darunter stand: Selikowsky – only made in Austria!

Vor einem Jahr hatte Christian seinem Vater vorgeschlagen, neben der Folklore eine moderne Kollektion zu kreieren. Er bat junge Couturiers um Ideen für eine neue Modelinie. Viel Geld und Zeit wurden verbraten. Schließlich lehnte der Patriarch alle neuen Entwürfe kategorisch ab, einzig das jüngere Modell auf dem Plakat durfte Christian realisieren. Er empfand die Absage als Demütigung, sogar sein Bruder war damals auf seiner Seite, doch auch das half nicht.

Da hörte Christian ein Geräusch. Als ob leise eine schwere Tür geschlossen würde oder ein dumpfer Gegenstand umfiele. Er konnte aber keine Tür sehen, die geöffnet oder geschlossen wurde – weder hinter ihm die Empfangstür noch gegenüber der Zugang zu Vaters Büro. Offiziell war außer Vater niemand mehr auf der Etage. Das Geräusch kam am ehesten aus dem Zimmer neben Vaters Büro. Jetzt erst fiel ihm auf, dass an dieser Tür das Schild Konferenzraum durch eines mit Vice Lutz Selikowsky ersetzt worden war. Vice was? Vicepräsident? Vice versa? Miami Vice? War Lutz jetzt größenwahnsinnig geworden?

Sein Bruder hatte also den Raum neben seinem Vater bezogen. Offensichtlich wollte Vater seinen Ältesten in Griffweite haben. Wenn es nach dem Patriarchen ginge, hatte Lutz immer richtig entschieden: richtige Berufswahl, richtige Stadt, richtige Ehefrau. Lutz hatte vor zwei Jahren eine Mitarbeiterin aus der hauseigenen Buchhaltung geheiratet. Die Tochter eines Finanzbeamten. Vater hatte gejubelt, denn mit dieser Schwiegertochter hatte er einen direkten Draht zu den Steuerprüfern. Vor einem Jahr hatte sie Lutz Zwillinge geschenkt.

Christian aber wollte sich nicht instrumentalisieren lassen und wie Lutz eine Hochzeit im Trachtenkostüm mit Blaskapelle und halber Firmenbelegschaft feiern. Er hatte Sonja versprochen, in Wien zu heiraten. Eine stille Hochzeit. Sechs Personen. Höchstens. Danach hatten sie geplant, nach Italien zu reisen.

Vorsichtig näherte sich Christian der Tür von Vaters Büro. Warum kam der alte Herr nicht endlich raus? Christian hatte mit ihm schließlich einen Termin. Vater hielt sich immer an Abmachungen. Warum ließ er ihn nun warten, warum telefonierte er so lange, wollte er ihn wegen seiner Verspätung demütigen?

Christian ging zur Toilette. Als er zurückkam, war die Tür zu Vaters Büro noch immer verschlossen. Genervt schaute er auf die Uhr und lauschte. Kein Telefonieren. Kein Geräusch. Nichts. Er sah sich um und fluchte leise: Diese Warterei war Schikane! Seine Familie schikanierte ihn immer, wie lächerlich! Da bemerkte er, wie am Ende des Flurs Sonja auftauchte. Vor ihr empfand er diese Schikane noch unerträglicher – er riss die Bürotür auf. Der wuchtige, braune Lederchefstuhl war leer. Christian machte ein paar Schritte in den dunkel möblierten Raum und entdeckte hinter dem Schreibtisch seinen Vater: auf dem Boden liegend, bewegungslos, mit Blut an der Schläfe. Seine dicke Brille lag neben ihm. Christian hockte sich hin, suchte Vaters Puls – kein Schlag. Er strich über seine Wange, berührte die Falte unter dem Auge, auf die er als kleiner Junge immer gesehen hatte, wenn Vater wütend war. Vaters Haut fühlte sich kühl an. Zu kühl. Christian schrie nach Hilfe, nach einem Arzt. Er hörte, wie Sonja an der Telefonanlage von Frau Armbrust hantierte. Panisch öffnete er Vaters Krawatte. Er legte seine Handballen zwischen Herz und Lunge, presste den Brustkorb seines Vaters nieder. Lange und kräftig. Nach zehn Stößen wollte er Vater beatmen, doch er zögerte, denn aus den Augenwinkeln bemerkte er Lutz an der Tür. Statt zu helfen, griff Lutz zu seinem Smartphone und begann zu plappern. Christian drückte weiter. Warum kam Lutz nicht näher, warum unterstützte er Christian nicht, warum telefonierte er? Christian verstand seinen Bruder nicht. Hatte ihn nie verstanden. Schweiß brach aus ihm heraus. Er presste und ließ los. Immer schneller, immer fester, immer verzweifelter.

˘ ˘ ˘