Sophie Seeberg

Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey

Aus dem Leben einer Familienpsychologin

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Sophie Seeberg

Sophie Seeberg ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit fast zwanzig Jahren als Sachverständige für Familiengerichte. Ihre Aufgabe ist es, Gutachten für das Gericht zu erstellen, regelmäßig arbeitet sie dabei auch eng mit dem Jugendamt zusammen. Von ihren skurrilsten und außergewöhnlichsten Fällen berichtet sie in diesem Buch.

Impressum

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 2013 Knaur Taschenbuch

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-426-42133-8

Hinweise des Verlags

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Vorwarnung

Kürzlich war ich auf dem Weg zu einem Gesprächstermin. Ich sollte einen Vater treffen, der einen nicht ganz normalen Beruf ausübt: Er verdiente seinen Lebensunterhalt als Kleinkrimineller. Zu unserem ersten Gesprächstermin tauchte er nicht auf, was nicht ungewöhnlich ist. Hinterher werden mir dann oft die wildesten Ausreden aufgetischt. Dieser Vater aber war tatsächlich verhindert. Er hatte sich in der Nacht ein paar Schnäpse zu viel genehmigt, war dann auf der Straße neben seinem Bollerwagen voller Diebesgut eingeschlafen und wurde so von der Polizei aufgefunden.

 

Eine kuriose Geschichte? Auf jeden Fall! Trotzdem ist der Job einer Gerichtsgutachterin in Familien- und Sorgerechtsangelegenheiten zunächst einmal alles andere als lustig. Schließlich werde ich immer erst dann mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt, wenn sich getrennt lebende Eltern darüber streiten, bei wem ihr Kind in Zukunft wohnen soll, oder wenn es Hinweise darauf gibt, dass das Wohl eines Kindes in seiner Familie gefährdet ist. Nicht lustig.

Manche Fälle beinhalten aber bei aller Ernsthaftigkeit, die selbstverständlich immer die Grundlage meiner Arbeit darstellt, eine unfreiwillige Komik, der ich mich oft nicht entziehen kann.

Genau genommen habe ich im Laufe der Jahre einen speziellen Blick für solche skurrilen Situationen entwickelt. Damit bin ich nicht allein. Das ist eine bekannte Reaktion, die sich bei vielen Berufsgruppen einstellt, um die Belastungen des Jobs besser aushalten zu können.

Einmal konnten wir bei unserem Psychologen-Stammtisch kaum das eigene Wort verstehen, weil die zwölf Menschen am Nebentisch so unfassbar oft und laut gelacht haben. Es handelte sich um einen Ärzte-Stammtisch. Ich weiß aber auch von Fließbandarbeitern, denen stillschweigend erlaubt wird, eine kleine, harmlose Portion Wahnsinn auszuleben, um der Monotonie zu entfliehen: Das können kleine Streiche sein, die sich die Kollegen untereinander spielen, oder Übersprunghandlungen, bei denen alle Toilettentüren herausgeschraubt werden, bis hin zu einer improvisierten Strandbar aus Bastmatten zwischen zwei großen Maschinen mitten in der Werkshalle.

Der Mensch versucht offenbar, Stress so gut es geht zu verarbeiten oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Bei mir funktioniert das meist, indem ich innerlich einen Schritt zurücktrete, um Distanz zur jeweiligen Situation zu gewinnen. Und meist wird mir dann bewusst, wie komisch oder skurril das Geschehen gerade ist.

 

Es gibt natürlich auch andere Wege, mit emotional belastenden Arbeitsbedingungen umzugehen. Neben einer guten Ausbildung und sogenannten Supervisionsgruppen, in denen man sich mit Kollegen austauschen kann, gibt es auch individuelle Mechanismen, die helfen, mit den Belastungen fertig zu werden.

Manche meiner Kollegen gehen regelmäßig joggen, andere machen am Feierabend etwas Kreatives wie Malen oder Musizieren, wieder andere gehen gerne Holz hacken und schreien dabei. Gerade Letzteres erschien mir immer wieder als eine sinnstiftende Alternative, und ich tat es nur deswegen nicht, weil ich bei der Handhabung von gefährlichen Werkzeugen wie einer Axt generell eher zur Ungeschicklichkeit neige. Die Vorstellung, im Wald herumzuhumpeln, um meinen abgetrennten Fuß zu suchen, entspricht nicht meiner Vorstellung von Stressreduktion.

Da ist mir die Fähigkeit, die Dinge durch die Brille der Skurrilität zu sehen, deutlich lieber – und das ist auch weniger schmerzhaft.

 

Aber damit Sie nachher nicht sagen, ich hätte Sie nicht gewarnt, tue ich jetzt genau das: Achtung, Achtung! Dieses Buch ist eine emotionale Achterbahnfahrt! Einige Fälle, die ich in diesem Buch schildere, sind schockierend und stellenweise traurig – manchmal ist Humor einfach nicht angebracht. Andere werden Sie, liebe Leser, vielleicht wütend machen oder Sie dazu veranlassen, eine Axt zu kaufen, um damit in den Wald zu gehen. Tun Sie das nicht, bevor Sie weitergelesen haben, denn daneben werde ich Ihnen eben auch Geschichten erzählen, die rührend sind und zeigen, dass Menschen zum Wohl ihrer Kinder Großartiges leisten können. Und Geschichten, die Sie bei aller Dramatik zum Lachen bringen werden.

 

Aber was hat mich letztlich dazu veranlasst, ein Buch über meine Arbeit zu schreiben?

Mein Vater schrieb schon immer wie ein Besessener: Tagebücher, Geschichten für uns Kinder, Reiseberichte, Gedichte, Fachbücher und vieles mehr. Als ich noch ein Kind war, sah das für mich nach »Arbeit« aus, aber er erklärte mir, dass das Schreiben seine allerliebste Beschäftigung sei und es ihm dabei und danach immer gutgehe. Beeindruckt davon, fing ich auch schon als Schulkind damit an und stellte fest, dass es mir ebenso guttat.

Nachdem ich einem guten Freund in mehreren E-Mails von dem einen oder anderen skurrilen Fall erzählt hatte, sendete er sie schließlich ungefragt an eine befreundete Lektorin. Meine ursprüngliche Fassungslosigkeit über diese infame Tat schlug schließlich um in Überraschung, denn die Lektorin war sehr angetan und schlug mir vor, ein Buch aus meinen Erfahrungen zu machen.

Nun ist es eine Sache, einem Freund etwas zu mailen, aber eine ganz andere, für viele fremde Menschen zu schreiben. Meine Sorge war – und ist – groß, dass man mir vorwirft, dramatische Fälle nicht mit der nötigen Ernsthaftigkeit zu behandeln.

Glauben Sie mir, das war und ist nicht der Fall. Während ich an Fällen arbeite, gehe ich ernsthaft und mit großer Sorgfalt vor. Den Blick für Skurrilitäten krame ich immer erst nach Feierabend hervor.

 

Die Familien in diesem Buch sind in keinem Fall ein direktes Abbild unserer Gesellschaft.

Natürlich präsentieren sich mir diese Fälle in konzentrierter Form, denn niemand braucht eine Gerichtsgutachterin, um festzustellen, dass die Wohnungen sauber und die Kinder glücklich sind.

Und seien Sie versichert: Einer auf den ersten Blick erschreckend großen Anzahl an demotivierten Jugendamtsmitarbeitern, ignoranten Anwälten und unfähigen Richtern steht in der Tat eine Legion an großartigen Fachkräften gegenüber, die hervorragende Arbeit leisten und so tagtäglich die Zukunft unzähliger Kinder retten und die Lebensumstände für viele verzweifelte Menschen entscheidend verbessern.

 

Sie passieren also jetzt den »Point of no Return«, ab diesem ich keine weiteren Warnungen mehr aussprechen werde.

Sollten Sie bei der Lektüre doch hin und wieder zweifeln, lesen Sie bitte dieses Vorwort noch einmal durch. Sie wurden hiermit gewarnt.

 

Sophie Seeberg, August 2013

Ein ganz normaler Tag

09:00 Uhr

Gespräch im Jugendamt mit einer Mitarbeiterin, die ich schon von einigen gemeinsamen Fällen her kenne. Sie ist engagiert, schreibt hervorragende Berichte und hat immer das Wohl der Kinder im Blick. Zudem wirkt sie stets rundum positiv, verfügt über einen tollen Humor, und man hat den Eindruck, als könne sie nichts erschüttern. Am Ende des Gesprächs berichtet sie mir launig, dass sie wegen Burn-out, Depressionen und Alkoholproblemen in stationärer Behandlung war, nun aber wieder alles gut sei und sie wieder richtig loslegen könne. Plötzlich wirkt ihr selbstsicheres Lächeln für mich aufgesetzt, und ich bemerke, dass sie zittert. Als sie lacht, weht eine Alkoholfahne zu mir herüber, und ich hoffe, dass sie von ihrem Mundwasser herrührt.

11:00 Uhr

Telefonat mit der zuständigen Erzieherin eines Geschwisterpaares im Grundschulalter, das im Heim lebt, nachdem sich die Eltern nicht mehr um sie kümmern konnten. Der Vater befindet sich im Drogenentzug, die Mutter ließ sich psychiatrisch behandeln, weil sie unter Depressionen litt. Sie hat mir außerdem gestern im persönlichen Gespräch mit ruhiger Stimme und wohlformulierten Argumenten erklärt, warum sie möchte, dass ihre Kinder wieder zu ihr ziehen. Gegen Ende des Gesprächs wechselte eine Krankenschwester die Bandagen, unter denen die frischen Wunden des dritten Selbstmordversuchs verheilen. Der Vater hätte auch gerne die Kinder bei sich, kann sich aber weder an die Namen noch das Alter der beiden erinnern. Er ist sich aber ganz sicher, dass es zwei waren.

14:00 Uhr

Termin in einer Grundschule. Es geht um einen verhaltensauffälligen achtjährigen Jungen und die Frage, ob ein Wechsel auf eine Schule mit besonderen Fördermöglichkeiten sinnvoll beziehungsweise notwendig ist. Im Rahmen der Begutachtung steht auch ein Gespräch mit der Lehrerin des Jungen und der Rektorin der Schule an.

Normalerweise sind Gespräche mit Fachleuten kaum bemerkenswert, eher angenehm und finden in den immer gleichen Besprechungszimmern statt, in denen sich ein runder Tisch befindet, auf dem Kaffee steht, zu dem es Süßstoff und »Kaffeeweißer«, also Milchpulver, gibt. Nicht so dieses Mal.

Die ca. sechzigjährige Lehrerin empfängt mich mit einem kurzen bunten Kleidchen und verschiedenfarbigen Overknees. Sie hat rote Zöpfe und wahnsinnig viele Sommersprossen. Während ich noch staune, werde ich von einem blauen Bären bzw. der Rektorin begrüßt. Im Besprechungsraum stehen mehrere leere Sektflaschen auf dem Tisch. Weit und breit kein Kaffee. Dürfen Lehrer bei der Arbeit eigentlich Sekt trinken? Noch während ich darüber nachdenke, wird mir schwungvoll ein Tablett mit Mettbrötchen unter die Nase gehalten, wobei der Brötchenbelag ganz sicher einmal eine andere Farbe gehabt haben muss. »Greifen Sie zu!« Nein danke.

Immerhin habe ich inzwischen begriffen, dass die Grundschule heute wohl Karneval feiert.

Ich habe mit Konzentrationsproblemen zu kämpfen. Es ist nicht einfach, sich mit einem blauen Bären und Pippi Langstrumpf über pädagogische Inhalte und die möglichen Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten zu unterhalten. Aber man gewöhnt sich ja bekanntlich an alles, und nach einiger Zeit kann ich das Gespräch führen wie jedes andere Fachgespräch. Die Pädagoginnen erweisen sich glücklicherweise als kompetent und am Wohl des Kindes interessiert. Nur gegen Ende des Gesprächs komme ich noch einmal aus dem Tritt: Ein sehr, sehr dicker Fliegenpilz mit knallrosa Lippenstift reißt die Türe auf, schwenkt ein Tablett mit halb gefüllten Plastikbechern und trompetet ein fröhliches »Sektchen??!« in die Runde.

15:00 Uhr

Hausbesuch bei einem Ehepaar, dessen Kinder vor einigen Wochen vom Jugendamt in Obhut genommen wurden. Es bestand der Verdacht auf Vernachlässigung der Kinder. Die Eltern erklären, alle Vorwürfe seien erfunden. Wenn die Lehrer, Sozialarbeiter und die Kinder selbst etwas anderes behaupten würden, so sei das gelogen. Die Kinder hätten ja ohnehin schon »immer dauernd so Geschichten erzählt«. Das sei ihnen nicht »auszutreiben« gewesen. Nicht einmal »ein paar hintendrauf« hätten viel Wirkung gezeigt. Daraufhin brummelt der Vater, das sei ja »kein richtiges Schlagen«. Die Mutter nickt.

Schließlich geben sie zu, dass die Kinder tatsächlich mehrfach nachts alleine auf der Straße gewesen seien. Dies sei aber wirklich nicht ihre Schuld gewesen, schließlich seien die Kinder jedes Mal »heimlich abgehauen«. Was hätten sie denn da tun sollen? Ich werfe ein, dass man als Eltern ja nach dem ersten, spätestens aber nach dem zweiten Mal durchaus Überlegungen dazu anstellen sollte, wie man es zukünftig verhindern könnte, dass die vier-, sechs- und siebenjährigen Kinder nachts unbemerkt das Haus verlassen.

Daraufhin berichtet die Mutter stolz, dass sie die Kinder natürlich gleich nach dem ersten Mal in ihrem Zimmer eingesperrt hätten. Der Vater bemerkt trocken, dass die kleinen »Mistbälger« dann aber durchs Fenster entkommen seien. Danach, so beide Eltern, sei ihnen »echt nichts mehr eingefallen«. Schließlich hätten sie sich ja wohl kaum die ganze Nacht unterm Fenster auf die Straße stellen können. »Also, das kann ja nun wirklich niemand von uns verlangen! Wir müssen ja auch mal schlafen, verstehen Sie? Wir haben ja auch noch ein eigenes Leben! Es kann sich ja auch nicht immer alles nur um die Kinder drehen!« In dem zweistündigen Gespräch erkundigen sich die Eltern kein einziges Mal nach ihren Kindern.

17:30 Uhr

Verabredung mit meinem Schreibtisch, auf dem sich die noch unfertigen Gutachten in den oben genannten Fällen sowie einige Akten mit neuen Aufträgen stapeln. Die Fragestellungen der Familiengerichte in den Aufträgen sind oft ähnlich, teilweise wörtlich identisch. Doch hinter diesen immer gleichen Begrifflichkeiten stehen jeweils völlig unterschiedliche Fälle. Bei jedem einzelnen bin ich fest entschlossen, das Leben der entsprechenden Kinder so viel zu verbessern wie irgend möglich.

Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey!

Es roch nach Schweiß, Zigarettenqualm, Frittierfett und nassem Hund. Mal wieder.

Dieser Geruch fällt mir bei so vielen Leuten, zu denen ich als Gutachterin komme, auf. Manchmal mit mehr Zigarettenqualm, manchmal variiert durch Windel- und Erbrochenemaroma, falls kleine Kinder und/oder schwerste Alkoholiker im Haushalt leben. Aber irgendwie ist er doch immer ähnlich. Warum frittieren diese Leute alle ihr Essen? Ist das billiger? Geht das schneller? Oder handelt es sich um eine Familientradition? Jemand sollte diesen Zusammenhang einmal erforschen.

 

Es ging diesmal um eine Mutter und ihre siebenjährige Tochter, Schakkeline. Ja, genau. Schakkeline. Wird genauso geschrieben. Und gesprochen. Ja, auch geschrieben. Mit sch, zwei k und allem Drum und Dran: Schakkeline.

Wie in einer schlechten RTL II-Frauentausch-Parodie.

Ihr sechs Jahre älterer Bruder, Dewid, lebte bei seinen Großeltern väterlicherseits im Harz. Dewid … Wenn man es laut liest, weiß man, welcher Name sich eigentlich dahinter verbirgt. Und auch dieser wurde genau so geschrieben, wie ihn seine Eltern aussprachen: Dewid. Tatsache.

Wahrscheinlich hieß der zuständige Standesbeamte Üffes und hatte im Laufe der Jahre einen perfiden Sinn für Humor entwickelt, weil er sich ständig die urbane Legende vom Üffes anhören musste, der eigentlich Yves heißt, von seinen Eltern aber »Üffes« genannt wird, weil die eben nicht wissen, dass Yves französisch ist und entsprechend ausgesprochen wird. Ich stelle mir vor, wie Üffes, mittlerweile Anfang vierzig, da hinter seinem dunkelbraunen Schreibtisch sitzt, der immer ein bisschen wackelt. Egal wie viele Bierdeckel Üffes Schneider – er hat sicher einen ganz langweiligen Nachnamen – darunterlegt, immer wackelt der Tisch ein wenig, ohne dass herauszufinden ist, wo genau die Ursache dafür liegt. Vielleicht hat sich der Tisch im Laufe der Jahre schlicht und ergreifend der Persönlichkeit seines Besitzers angepasst. Und weil sein Leben aus schlechtem Kaffee, einer unbefriedigenden Schwärmerei für die Dame, die in der Kantine an der Kasse sitzt, und dem ewigen Gewackel seines Schreibtischs besteht, begann Üffes Schneider eines Tages damit, bei der Anmeldung Neugeborener jeden, aber auch wirklich jeden Namen anzunehmen und keinerlei Korrekturen bezüglich deren Schreibweise vorzuschlagen. Im Gegenteil, er ging sicherlich irgendwann dazu über, den Leuten einzureden, dass man gewisse Namen tatsächlich so schreibe, wie man sie spreche. Das ist zwar niederträchtig vom Herrn Schneider und auch gemein, den wehrlosen Kindern gegenüber, aber ein bisschen tat er mir auch leid …

 

Aber nun zu Schakkeline beziehungsweise ihrer Mutter, Frau Höffers: Sie hatte nie mit Schakkelines Vater (dem Mann nach Dewids Vater) zusammengelebt, aber ihre Tochter hatte Kontakt zu ihm und auch zu dessen Eltern. Immerhin. Die Großeltern und der Vater schienen den Berichten des Jugendamtes und der Schule zufolge nicht ganz unfähig zu sein, so dass ich die Hoffnung hegte, Schakkeline dort unterbringen zu können. Denn, wie sich spätestens im Laufe der Interaktionsbeobachtung herausstellte, tat die Mutter dem kleinen Mädchen keineswegs gut – im Gegenteil.

Frau Höffers hatte dreifarbige Haare und ein Zungenpiercing, das den Blick ganz wunderbar auf ihren Mund lenkte, so dass man die verfaulten Zähne und den ständig vorhandenen Speichelfaden im Mundwinkel immer vor Augen hatte. Warum eigentlich? Ich habe mich wirklich bemüht wegzusehen, aber es war kaum möglich. Wenn ich es mir recht überlege, ist dieses Zungenpiercing in Verbindung mit verfaulten Zähnen ebenso typisch wie der Geruch der Wohnungen. Jedes Mal nehme ich mir vor zu googeln, ich meine natürlich: zu recherchieren, ob vielleicht Piercings zu verfaulten Zähnen führen können. Wenn aber zuerst die braunen Stumpen da waren, ist es dann nicht einigermaßen dämlich, dann auch noch durch eine Glitzerkugel darauf hinzuweisen?

 

Im Einzelgespräch berichtete mir Frau Höffers, dass Schakkeline nach den Sommerferien noch einmal die erste Klasse wiederholen solle. Die Lehrerin habe gesagt, sie könne noch nicht genug, um mit ihren Klassenkameraden in die zweite Klasse zu gehen, und müsse noch einmal von vorne anfangen. Sie habe das ihrer Tochter so weitergegeben, woraufhin diese »voll rumgeheult« habe. Es war offensichtlich, dass Frau Höffers keinerlei Verständnis für ihre Tochter hatte. Auf meine Frage, wie sie denn auf ihr Weinen reagiert habe, schaute mich Schakkelines Mutter leer an: »Wie jetz?«

»Na ja, haben Sie etwas zu ihr gesagt? Sie getröstet?«

Man konnte Frau Höffers zugutehalten, dass sie angestrengt in ihren Erinnerungen kramte und versuchte, etwas hervorzuholen, was als passende Antwort angesehen werden konnte. Schließlich wurde sie fündig und grinste mich samt braunen Zahnstumpen, Piercing und Speichelfaden im Mundwinkel an, als hätte ihr jemand eröffnet, dass sie gerade die goldene Fritteuse gewonnen hatte, und sagte stolz: »Na, ich hab ihr gesagt, sie soll da mal nicht so blöd rumheulen.«

Da ich wohl nicht mit der Begeisterung reagierte, die sie erwartete hatte, fügte sie hinzu: »Und dann hab ich ihr gesagt, dass sie ja später wieder eine Klasse überspringen kann. Hab ich ja auch gemacht. Zweimal. Also, ist das ja jetzt nicht so schlimm, wenn sie mal ’ne Klasse wiederholen muss, ey.«

Ich befürchte, dass mir kurzfristig die Gesichtszüge entgleisten. Ich fragte noch einmal nach …

»Ja, klar hab ich eine Klasse übersprungen, ey! Sogar zweimal!« Auf meine erneute Nachfrage stellte sich heraus, dass sie »einen ganz normalen Schulabschluss halt, normal halt« hat (nämlich keinen – sie war auf einer Sonderschule gewesen und ohne Abschluss abgegangen). Sie war aber dennoch der festen Überzeugung, dass sie zweimal eine Klasse übersprungen habe, »weil, da hätte ich wieder in die sechste gesollt und bin dann auf der anderen Schule in die siebte. Und das dann danach noch mal. Statt noch mal die siebte in die achte. Also eine übersprungen. Zweimal.« Sie rechnete mir wilde Sachen vor, bis sie zu dem Ergebnis kam, dass sie wahrscheinlich sogar dreimal eine Klasse übersprungen habe. Beeindruckend – auf eine Art …

Meine Tochter wäre sicher interessiert, den Rechenweg zu erfahren, um früher die Schule verlassen zu können.

 

Frau Höffers erklärte mir, dass auch ihre Schwester und ihr Bruder hochbegabt seien. Das liege bei ihnen in der Familie. So sei es auch bei ihrer Tochter. »Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey! Da kann man nix machen. Wir sind alle so. Die ganze Familie ist hochbegabt. Das ist so ein Genetik, das bei uns anders ist. Verstehen Sie? Das ist dann nur in unserer Familie. Okay, wenn die Schakkeline mal heiraten tut, kann der Mann das dann auch bekommen. Aber sonst bleibt das nur bei uns.«

Es war klar, dass Frau Höffers’ kognitives Niveau eher suboptimal war. So drücke ich das in Gesprächen mit Jugendamt und Gericht immer aus, um nicht sagen zu müssen, dass die Eltern leider strohdoof sind.

 

Ich war jedenfalls froh, als das Gespräch mit der Mutter beendet war und Schakkeline von der Schule nach Hause kam. Bei Interaktionsbeobachtungen muss ich den Leuten ja nicht ständig gegenübersitzen und sie anschauen.

Nach zehn Minuten wünschte ich mir jedoch die Gesprächssituation zurück. Denn Schakkeline tat mir so leid – und das nicht nur wegen ihres Namens.

Ihre Mutter gab ihr ständig widersprüchliche Anweisungen, was dazu führte, dass das Mädchen das einzig Richtige tat, nämlich gar nichts mehr. Nach den Aufforderungen, sowohl die Schultasche abzulegen als auch »jetzt gefälligst mal hierzubleiben«, die Schuhe sofort auszuziehen, sich »ja wohl mal als Allererstes die Hände zu waschen« und ihr »sofort wenigstens eiiiiin-maaaal« zu helfen, den Tisch zu decken, wäre ich auch verwirrt gewesen und hätte mich nicht mehr gerührt – zumal all das in einem extrem unfreundlichen Tonfall vorgetragen wurde und es wohl wahrscheinlich besser war, gar nichts zu tun anstatt das Falsche.

Schakkeline stand also da, schaute auf den Boden und bewegte sich nicht. Ihre Mutter packte sie an den Schultern, drehte sie um und schubste sie mit einem »Boooooah, ab, Hände waschen, wir ham Besuuuuuch!« in Richtung Bad. Endlich wusste das Mädchen, was zu tun war.

Die gesamte folgende Interaktion ging genau in diesem Stil weiter. Eine Anweisung nach der anderen, teilweise widersprüchlich, teilweise unverständlich: »Jetzt, boah, mach mal, hopp, da, mach doch das, da! Mann, ey!«

Das war wirklich ihr O-Ton! Ich habe mitgeschrieben.

Ich fand es schwer auszuhalten und habe mich mal wieder gefragt, warum ich eigentlich nichts Anständiges gelernt habe. Oder zumindest einen Job mache, bei dem ich einfach von vornherein und ausschließlich helfen kann und nicht ewig lange beobachten muss, um hinterher nur das Allerschlimmste abwenden zu können. Verdammt!

Die arme Kleine tat mir so leid. Ich glaube, sie hätte wirklich gern getan, was ihre Mutter von ihr wollte, aber es war einfach unmöglich herauszufinden, was zum Henker das sein sollte.

 

Ich habe die Interaktionsbeobachtung nach einer Stunde beendet – und denke im Nachhinein, dass das eigentlich noch viel zu lange war. Also, für mein Wohlbefinden war es definitiv zu lang. Für die Begutachtung natürlich nicht, denn es hätte ja sein können, dass sich doch noch was Positives entwickelt. Ein Spiel oder etwas in der Art … Ich hatte Frau Höffers mehrfach darauf hingewiesen, dass sie ruhig auch etwas mit Schakkeline spielen könne, aber ich befürchte, so etwas hatte sie noch nie gemacht.

Im Einzelgespräch, das ich mit Schakkeline in ihrem vollgestellten Kinderzimmer führte, war das Mädchen angenehm offen und gesprächig. Sie war keineswegs dumm, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie tatsächlich den Stoff der ersten Klasse nicht aufnehmen konnte.

Es musste einen anderen Grund für ihr schulisches Versagen geben. Dieses Kind hatte durchaus Potential, und niemand hatte es bemerkt! In solchen Momenten frage ich mich, was die Lehrer eigentlich tun. Na ja, die sind auch nur Menschen und haben dreißig Kinder in der Klasse. Und Schakkeline war kein auffälliges Kind. Dennoch … Die Lehrerin hätte sich nur einmal eingehend mit Schakkeline beschäftigen müssen, um zu bemerken, dass ihr Schulversagen ganz sicher andere Gründe hatte als mangelnde Begabung oder eine zu langsame Auffassungsgabe.

Schakkeline war still und zurückhaltend, verschwand also wahrscheinlich komplett vom Radar der Lehrerin, wenn im gleichen Klassenverband fünf bis sieben hyperaktive Kevins den Hannahs ihre Lillifee-Jacken in die Jungentoilette stopften. Gelegentlich kam es vor, dass Lehrer nach Gesprächen mit Eltern wie Frau Höffers annahmen, dass deren Schakkelines auch eher suboptimal ausgestattet waren. Oder sie schlossen einfach von dem dämlich geschriebenen Namen auf das Potential des Kindes.

Schakkeline aber war wissbegierig und konnte sich im Eins-zu-eins-Kontakt auch viel länger konzentrieren, als mir beschrieben wurde.

 

Nun war ich gespannt auf den Vater, den ich als Nächstes treffen würde. Ich betete, dass er die Defizite der Mutter würde ausgleichen können.

Leider war es gar nicht von Belang, ob Herr Liedke dies können würde oder nicht. Er saß breitbeinig auf seinem leopardenimitationsdeckenbehangenen Sofa, rauchte eine Selbstgedrehte nach der anderen und hatte schlicht keinerlei Interesse an seiner Tochter. »Ja, die Schakkeline besucht mich immer mal wieder hier, aber ich hab da keine Zeit für. Die ist dann bei meinen Eltern und meiner Schwester oder so.« Er machte eine Handbewegung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. »Ich hab ja einen Job, und dann will man ja auch mal ein bisschen Freizeit haben! Man kann ja nicht immer nur arbeiten und dann das Kind da um sich haben. Das geht nicht. Das ist ja mal klar!«

Ja, stimmt … Wie konnte irgendwer nur auf die irrsinnige Idee kommen, dass ein Mann mit einem Job sich auch noch um seine Tochter kümmern könnte?

»Und dann hab ich ja auch eine Freundin. Da geht ja auch schon mal Zeit drauf. Und wo soll ich denn dann mit der Schakkeline hin, wenn die da ist? Also, das ist von mir aus schon irgendwie okay so, wie es jetzt ist, aber öfter kann die Schakkeline echt nicht zu mir kommen. Für so was fehlt mir echt die Zeit, wissen Sie.«

 

Das Gespräch mit Herrn Liedke war schnell beendet. Der Vollständigkeit halber erkundigte ich mich, ob er für den Fall, dass Frau Höffers sich nicht mehr um Schakkeline kümmern könne, sich vielleicht vorstellen könnte … Da unterbrach er mich schon. »Wenn die Frau Höffers ihren Arsch nicht hochkriegt, dann kann ich da auch nichts dafür. Die soll mal schön ihren Job machen. Immerhin kassiert die da Kindergeld und so was für. Dann soll die auch mal was machen, die faule Kuh, die. Also, das seh ich echt nicht ein, dass ich der dann auch noch helfen soll. Außerdem hab ich keine Zeit für die Schakkeline. Hab ich doch gesagt. Also, nee, echt nicht!«

 

Ich hatte mich gerade von ihm verabschiedet und das Haus verlassen, als eine junge Frau direkt auf mich zukam und mir ihre Hand hinstreckte. »Hallo, ich bin Manuela Liedke, Herrn Liedkes Schwester. Hätten Sie kurz Zeit?« Sie machte eine einladende Armbewegung in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Ich … Also, ich wohne gleich um die Ecke.«

Ich war mit Herrn Liedke schneller fertig geworden, als ich geplant hatte. Also hatte ich noch Zeit bis zum nächsten Termin. Und da ich nicht unhöflich sein wollte und zudem neugierig war, stimmte ich zu.

Manuela Liedke war etwa Anfang dreißig, wohnte in einer einfachen, aber netten Wohnung und knetete nervös ihre Hände. »Kommen Sie doch rein. Hier … Also, ich habe … wenn Sie wollen …« Sie machte eine fahrige Geste in Richtung Kaffeetisch. Sie hatte zwei Tassen samt Untertassen aus mit Rosen bedrucktem Porzellan hingestellt, eine passende Kanne (mit Kaffee, nahm ich an) sowie eine kleine Milchkanne samt Zuckerdose. Dazu einen Teller mit ordentlich drapierten Keksen und ebenso gefalteten Servietten.

»Ich hab gewartet, bis ich Sie … Also, ich hab vor dem Haus gewartet, damit ich mitkriege, wenn Sie sich verabschieden, weil … Also, ich wollte mit Ihnen reden und wusste nicht … Also, das ist mir alles ein wenig peinlich jetzt …«

Ich fand Manuela Liedke gar nicht peinlich, sondern erfrischend ehrlich und authentisch. Und zudem schien sie im Gegensatz zu ihrem Bruder ein irgendwie geartetes Interesse an Schakkeline zu haben. Sonst hätte sie diesen Aufwand nicht betrieben.

»Ich hab die Lina gerne hier, wissen Sie?«

»Verzeihung, wen?«

Lag eine Verwechslung vor? Trank ich in einer ganz falschen Wohnung nicht für mich bestimmten Kaffee?

Frau Liedke hatte offenbar ähnliche Gedanken, denn sie riss die Augen auf. »Na, die Lina! Wegen ihr waren Sie doch bei meinem Bruder, oder nicht? Sie …«

Aber dann lächelte sie erleichtert.

»Schakkeline.«

»Ah …«

»Schakkeline ist Lina. Wir sagen schon immer Lina zu ihr. Schakkeline … Also, das ist ja wohl ein schlechter Scherz, oder? Mal ehrlich! Ich kann nicht fassen, dass sie jetzt in der Schule auch noch so genannt werden muss. Das ist doch … Also, ich glaube, dass das nicht gut ist. Da denkt die Lehrerin natürlich gleich, dass sie ein bisschen dumm ist. Oder?«

Jetzt lächelte auch ich erleichtert. Ich saß in der richtigen Wohnung mit einer Frau am Tisch, die offensichtlich die Möglichkeit hatte, die Situation zu retten. Und das tat sie dann auch.

Schakkeline, also Lina, zog zu ihrer Tante, Manuela Liedke. Frau Höffers wollte dem zwar zunächst nicht zustimmen, konnte sich aber erstaunlich schnell damit anfreunden, als Frau Liedke ihr versicherte, dass sie das Kindergeld behalten und Lina weiterhin bei ihr gemeldet sein könne. Sie arbeitete als Sekretärin bei einem Steuerberater und erklärte mir, dass sie auch ohne Kindergeld für Lina würde sorgen können.

Lina wiederholte die erste Klasse auf einer neuen Schule im Wohnumfeld von Frau Liedke und kam dort sehr gut zurecht – sie übersprang zwar keine Klasse, bewältigte den Schulstoff aber mehr oder weniger mühelos, fand schnell neue Freunde und fühlte sich bei ihrer Tante offenbar sehr wohl.

Ihren Vater sah sie hin und wieder, und auch ihre Mutter besuchte sie ab und an. Allerdings nicht wirklich oft, was aber weder Vater noch Mutter störte. Und Lina ebenso wenig.

Das is normal!

Mein erster Gutachtenauftrag war eine recht harmlose Umgangsstreitigkeit mit gebildeten und später auch kompromissbereiten Eltern, ordentlichen Wohnungen und Kindern, um die ich mir im Nachhinein nicht wirklich Sorgen machen musste. Für mich war das Ganze dennoch anstrengend gewesen, weil ich zwar über eine gute Ausbildung, nicht aber über Routine, Erfahrung und Gelassenheit verfügte. Alles in allem war aber alles gut verlaufen. Die Mutter der Kinder hatte sich zwar eine andere Empfehlung gewünscht, aber sie war nicht gegen das Gutachten angegangen. Der Vater, die Rechtsanwälte, das Jugendamt und der Richter waren zufrieden, und ich irgendwie erleichtert gewesen.

Mein zweiter Fall war dagegen … anders.

 

Die Familie wohnte in einer Obdachlosenunterkunft. Bei meinem ersten Hausbesuch stand ich vor einem riesigen Gebäudekomplex ohne Klingelschilder oder sonstige Orientierungsmöglichkeit. Ich fragte mich also durch und hatte schon bald das Gefühl, allein von den Ausdünstungen, die mir da größtenteils entgegenschlugen, leicht benebelt zu sein. Ich fühlte mich wie in einer lieblos produzierten Fernsehserie, die schlicht ein Klischee nach dem anderen bedient.

Das Obdachlosenheim war verwahrlost, dreckig und chaotisch. Und die Bewohner, die ich traf, entsprachen genau der Vorstellung, die sich ein spießiger Versicherungsvertreter und seine Stammtischkumpane von Obdachlosen machen: ungepflegt, verwirrt und mit einer unangenehmen Alkoholfahne.

Endlich an der Wohnung der Familie Koch angekommen, wurde mir die Tür von einer Frau geöffnet, die mich mit den Worten »Aha, Sie sind die Frau vom Gericht. Das is alles normal hier. Sie können wieder gehen« begrüßte und sich anschickte, mir die Tür wieder vor der Nase zuzumachen.

Bei dem Geruch, der mir da aus der Wohnung entgegenschlug, wäre ich in der Tat gern umgedreht und irgendwohin gegangen, wo es nicht nach Schweiß, Urin, Alkohol, Erbrochenem und etwas roch, von dem ich gar nicht wissen wollte, was es war …

Dennoch erklärte ich Frau Koch, dass ich nicht wieder gehen, sondern mit ihr reden, die Wohnung sehen und die Kinder kennenlernen wolle.

Mit einem genervten »Dann kommen Se halt rein!« bedeutete sie mir, ihr ins Chaos zu folgen.

 

Aus der Gerichtsakte, die ich mit dem Gutachtenauftrag geschickt bekommen hatte, wusste ich, dass Familie Koch mit ihren drei Kindern schon mehrfach aufgefordert worden war, die ihnen zugewiesene Obdachlosenunterkunft in Ordnung zu bringen, da diese schon kurze Zeit nach dem Einzug der Familie in einen Zustand geraten sei, in dem Kinder nicht aufwachsen könnten. Eine Verbesserung war jedoch nicht eingetreten.

Das Jugendamt hatte schließlich einen Antrag auf Sorgerechtsentzug gestellt und wollte die Kinder schon vor Beginn des Gutachtens in Obhut nehmen. Die zuständige Richterin ermahnte die Eltern, die versprachen, sofort alles in Ordnung zu bringen. Deshalb wurde entschieden, dass die Kinder zunächst bei den Eltern bleiben sollten. Offenbar hatte die Richterin keine Vorstellung davon, wie die Unterkunft der Familie Koch aussah.

Wie konnte die Richterin entscheiden, dass die Kinder in einer solchen Umgebung bleiben sollten?

Es war dunkel, weil die Fenster mit Möbeln oder Kisten vollgestellt waren, überall standen Tüten herum, aus denen Kleidung, Kabel und Müll quollen. Der Boden war übersät von ausgetretenen Zigaretten, leeren Bierdosen, Flaschen und Essensresten. Doch das Schlimmste war der Geruch. Ich bemühte mich, nur durch den Mund zu atmen, hatte dann aber das absurde Gefühl, all das, wonach es hier roch, auf der Zunge zu haben. Ich wünschte mir zum ersten Mal in meinem Leben einen dieser Auto-Duftbäume herbei. Am besten direkt unter meine Nase!

 

Es schepperte.

Etwas, das ich für einen großen Schrank in der Funktion eines Raumteilers gehalten hatte, fiel um und stellte sich als Sperrholzplatte heraus. Dahinter kam im Halbdunkel der Wohnung ein dürrer Mann in Unterhose zum Vorschein.

»Klaus! Du sollst dir was anziehen, hab ich gesacht!«

Frau Koch schüttelte den Kopf und wandte sich dann wieder mir zu. »Das is normal! Da müssen Se sich nichts denken. Der zieht sich jetz an. Alles is gut. Das is normal!«

Hinter ihr bemühte sich der Mann, die Sperrholzplatte wieder aufzustellen. Offenbar bestand die Technik darin, die Platte so an zwei Stühle zu lehnen, dass sie stehen blieb. Der Unterhosenmann beherrschte diese Technik aber nicht. Schon zum dritten Mal kippte die Platte mit einem lauten Rums wieder um.

»KLAUS! HÖR AUF JETZ! MACH NICH SO ’N KRACH

Klaus stand reglos da und schien zu überlegen, was nun zu tun war.

Frau Koch ließ sich an einem Campingtisch nieder. Sie zündete sich eine Zigarette an und sah mich herausfordernd an. »Also? Was soll das hier? Das is alles normal hier. Kein Problem. Nix. Was will das Jugendamt von uns? Die sollen sich mal schön um ihren eigenen Mist kümmern!«

 

Klaus hatte sich inzwischen angezogen und kam zu uns an den Tisch. Er gab mir die Hand, und ich erschrak. Die Hand fühlte sich an wie die Klaue eines riesigen Vogels.

»Tach! Ich bin der Herr Koch.«

Ich sah ihn an und vergaß das Klauengefühl umgehend. Klaus Koch sah aus wie ein Monster. Das Gesicht war voller Brandnarben. Er hatte weder Augenbrauen noch Wimpern. Seine linke Gesichtshälfte war gelähmt, und sein rechtes Ohr war nicht mehr als solches zu erkennen. Der arme Mann konnte nicht anders, als beim Reden zu spucken und zu sabbern. Und obwohl er ganz offensichtlich nichts dafürkonnte, wurde mir übel.

Natürlich dachte ich nicht, dass Herr Koch als Mensch weniger wert war, weil mir sein Anblick und seine Art zu sprechen auf den Magen schlugen. Im Gegenteil: Er tat mir furchtbar leid, und am liebsten hätte ich ihn sofort in eine Klinik gefahren, um das Ganze in Ordnung zu bringen. Jetzt aber sollte ich doch die Frage des Gerichts beantworten, ob das Kindeswohl hier gefährdet sei oder nicht.

 

Ich hatte an mich den Anspruch, völlig wertfrei auf die Menschen zuzugehen, die ich zu begutachten hatte. Ich wollte mir unvoreingenommen ihre Sicht der Dinge anhören und dann ein Bild von ihnen machen. So weit die Theorie. Aber wie geht das, wenn ein Großteil der Konzentration dafür benötigt wird, ruhig zu atmen, den Würgereiz zu unterdrücken und sich an den eigenen Namen zu erinnern?

Heute, nach vielen Jahren als Sachverständige, wäre so eine Situation kein wirkliches Problem mehr für mich gewesen. Mittlerweile habe ich so viel gesehen (und auch gerochen), dass ich das meiste schnell ausblenden oder mir eine Strategie zurechtlegen kann, um die Situation so zu verändern, dass die Begutachtung besser möglich ist.

Aber damals war ich schlicht und ergreifend überfordert.

 

Herr Koch klopfte mir auf die Schulter und spuckte ein »Setzensesichmal« in meine Richtung.

Ich nahm auf einem wackeligen Campingstuhl Platz, auf dem irgendetwas klebte. Ich wollte gar nicht wissen, was das war. Herr Koch begann das Gespräch, ohne auf Fragen meinerseits zu warten. Das war auch gut so, denn ich hatte massive Akklimatisierungsprobleme und hätte wohl nur ein »W…?« von mir geben können.

Wenn ich Herrn Koch beim Sprechen nicht ansah und auch keine Speicheltröpfchen in mein Gesicht flogen, konnte ich ihm recht gut zuhören. Er nuschelte leise vor sich hin, aber nach einer Weile hatte ich mich daran gewöhnt.

Herr Koch erzählte von seiner Kindheit in einem Dorf im Osten, von seinen Eltern, die ihn nur als Fremdkörper empfanden, und davon, dass er sich mit Anfang zwanzig das Leben nehmen wollte. »Mit Benzin. Hab mich übergossen und angezündet. Ich fand das damals eine gute Idee. Hat aber nicht geklappt. Sieht man ja.«