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Eine verrückte Weltumseglung in der

Edition BoD

 

hrsg. von Vito von Eichborn

 

Für Hannah

 

Ye olde sailor knowest for shure
that the oceans cast thee out
if the sailor‘s heart is nay but pure
and the sailor drinketh stout

[Eugene C. Montgomery, 1793-1818]

Bücher für Entdecker

Books on Demand bietet Autoren ein neues Verlagskonzept. Viele Debütanten, etablierte Autoren und engagierte Verleger nutzen den Publikationsservice von Books on Demand und bereichern den Buchmarkt mit interessanten und außergewöhnlichen Titeln. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, wählt als Herausgeber für die Edition BoD herausragende Neuerscheinungen aus. Lesen Sie selbst, welche Entdeckungen das Programm von Books on Demand möglich macht. Mehr Infos auch auf www.bod.de.

Andreas Puchebuhr schreibt, macht Krach und freut sich des Lebens. Mit liebevollem Dilettantismus überschwemmt der junge Heißsporn seit geraumer Zeit die Kunstszene mit epischer Prosa, nervenzerfetzendem Punkrock und Filmen, für deren Einstufung ein zusätzlicher Buchstabe erfunden werden müsste. Dabei beherrscht Puchebuhr wie kein Zweiter den Spagat zwischen absolutem Trash und großer Geste. Der Autor lebt heute unter falschem Namen im 2.Stock einer hochwertigen Immobilie und besteht zu 70 % aus Wasser.

Vito von Eichborn war Journalist, dann Lektor im S. Fischer Verlag, bevor er 1980 den Eichborn Verlag gründete, dessen Programm noch heute ein breites Spektrum umfasst: Humor, Kochbücher und Ratgeber, Sachbücher aller Art, klassische und moderne Literatur sowie die Andere Bibliothek. Nach seinem Ausstieg im Jahre 1995 war er u.a. Geschäftsführer bei Rotbuch/Europäische Verlagsanstalt und sechs Jahre Verleger des Europa-Verlags. Seit 2005 ist Vito von Eichborn selbständig als Publizist tätig und fungiert u.a. seit März 2006 als Herausgeber der Edition BoD.

Meine Buchhändlerin sagte mir,
„ja“, sagte sie …

Ja, ein neuer Münchhausen, das hört sich richtig gut an. Aber wenn das den Klassiker nur parodiert oder paraphrasiert, dann reicht das nicht. Das muss schon sehr ‚heutig‘ und eigenartig sein …“

„Aber ja, und wie“, fiel ich ihr ins Wort. „Die Münchhausen-Geschichten wurden ja immer mal wieder aufgegriffen. Enstanden sind sie aus anonymen Erzählungen, nach Bürger haben auch Immermann und Scheerbart das aufgegriffen. Doch diese Lügenmethode wurde immer auch viel weiter gedreht, zuletzt in dem wunderbaren Blaubär-Roman von Walter Moers, der mit Münchhausen nichts mehr zu tun hat; er schrieb ein großes literarisches ‚Kinderbuch für Erwachsene‘.

Unser Autor Puchebuhr nun fabuliert hemmungslos, und seine ausgeflippte Sprache ist absolut ‚heutig‘. Die durchgeknallten Abenteuer auf dieser irrwitzigen Seereise sind weit weg vom Klassiker, und er greift auch Personen der Zeitgeschichte auf …“

„Nun aber mal der Reihe nach“, unterbrach sie mich trocken. „Wie ist der Plot?“

„Also: Unser Held startet in Holstein, findet mit Hulapoko einen Deutsch radebrechenden Indio als Gefährten – und sie düsen auf seinem alten Schiff, genannt ‚Sea Fart‘, buchstäblich rund um die Welt: Polen, Island, Südamerika, Afrika, Indien, trinken ständig Bier und Rum und Wodka, spielen auf einer Panflöte und geraten von einem Abenteuer ins nächste …“

Ich zögerte, denn so hörte sich das nicht nach einer Münchhauseniade an (gibt‘s diesen Begriff überhaupt?).

„Mal anders: Sie prügeln sich in Helsinki und gewinnen in der Spielothek Berge von Plüschtieren, werden Weltmeister im Eisschnitzen auf Spitzbergen, werden Filmdarsteller auf dem Traumschiff im Hafen von Recife und flirten mit Heide Keller, überleben den Kampf mit einer Riesenkrake und mit einem Hurrikan, treffen auf Kuba Castro und Margot Honecker, die sich Hulapoko angelt, erleben haarsträubende Abenteuer mit dem Enkel von King Kong in Gabun. Hulapoko verschwindet, erwürgt vor Hunger eine Kuh in Kalkutta und taucht mit einem ADAC-Hubschrauber hinter Madagaskar wieder auf, während unser Held von Mandela begrüßt wird und sich mit Möwe Horst anfreundet …“

„Halt, das reicht!“, rief meine Buchhändlerin, „das klingt ja wirklich völlig beknackt.“

„Aber ja, wie beim großen Vorbild reiht sich ein unglaubliches Abenteuer ans andere. Und dann wird nämlich die Möwe vom Rotor zerfetzt, weshalb der Hubschrauber abstürzt. Der Pilot Dieter, der den Hubschrauber geklaut hat, stellt sich als der Vater unseres Helden heraus, der …“

„Jetzt reicht‘s aber wirklich – das muss ich selbst lesen“, fuhr sie mir dazwischen, griff das Buch, las, lachte, lachte immer lauter – und steckte es energisch in ihre große Handtasche, als eine Kundin sie grinsend ansah.

„Pardon, liebe Freundin, pardon, aber das ist so gnadenlos komisch, das müssen Sie auch lesen. Wenn das erscheint, bekommen Sie ein Exemplar und brauchen es nicht zu bezahlen, wenn Sie kein Riesenvergnügen an diesem buchstäblichen Un-Sinn haben.“

Ich wusste wie sie, dass sie ihr Geld bekommen würde. Ich kann mir niemanden vorstellen, der an diesem raffiniert zubereiteten Blödsinn kein Vergnügen hat.

Mister Puchebuhr, kochen Sie weiter an diesem Rezept, wünscht fröhlich

Vito von Eichborn

Prolog

Meine Seefahrerkarriere begann 1982. Auf einem Kiesteich in der Nähe von Nordhausen, Bezirk Erfurt. Der heißt inzwischen Thüringen. Also nicht der Teich, sondern der Bezirk. Genau genommen heißt auch nicht der Bezirk Thüringen. Vielmehr ist der Bezirk Erfurt im Land Thüringen verschwunden. Neben einigen anderen. Ähnlich wie Götz Hatzlhofer. Nur dass ich von dem nicht weiß, wo er sich heute befindet. Auf dem letzten Klassentreffen war Hatzlhofer nicht. Auf dem davor ging er allen mit seinen großkotzigen Bestellungen der Marke „Schampus, aber zackig!“ auf den Sack. 1982 war alles anders. Der 82er-Herbst wusste noch nicht so recht, ob er ein typischer Scheißherbst oder so eine Art verlängerter Sommer sein wollte. Als wir uns auf den Weg gemacht hatten, schien die Sonne. Zwei, drei Stunden später hatten sich schmutziggraue Wolken vorgeschoben und der Wind bekam eine unangenehme Schärfe. Aber es war zu spät, unsere waghalsige Expedition abzubrechen. Der Kiesteich wartete darauf, auf dem Seeweg erobert zu werden. Zunächst lief alles nach Plan. Später entglitt uns die Kontrolle.

„Mehr nach backbord!“ Ich höre mich noch heute mit der original Stimme von vorm Stimmbruch schreien. Vergebens. Das mühevoll gezimmerte Floß versank mit dem Bug voran in den Fluten. Dabei war ich lediglich auf der Suche nach einer geeigneten Stakstange an Land gehüpft. Die hatte Hatzlhofer vergessen. Als Matrose ein Totalausfall. Zu allem Überfluss war das Floß bereits über 1,80 Meter vom Ufer entfernt. Ich setzte zum Sprung an und landete gerade so auf der Kante. Unser Floß überschlug sich. Der pummelige Junge klatschte neben mir ins Wasser, ging aber nicht unter und zeterte gleich los: „Oh Scheiße, Mann! Aaargghhh! Neeee, nech? So eine Scheiße! Mein Alter versohlt mir den Arsch!“ Das tat der dann auch.

Und doch hat die christliche Seefahrt an diesem Tag in mir einen ihrer glühendsten Verehrer gewonnen. Weil es nicht mein Arsch war.

Jahre später habe ich die erste Segelyacht erworben. Mit Westgeld, das ich aufgrund des glanzlosen Untergangs der DDR nunmehr ganz offiziell verdiente. Die „Sea Fart“ war ein Schnäppchen. Aber ich bin sicher, dass der Verkäufer mich trotzdem beschissen hatte. So entdeckte ich zum Beispiel erst nach dem Entfernen des albernen Entenaufklebers am Bug den darunter verborgenen Haarriss. Es gab noch einiges zu werkeln, bis ich endlich zu nautischen Höchstleistungen wie dem Aufstellen des Negativrekords für die Strecke Neustadt / Holstein − Grömitz fähig war. Dreizehn Stunden gegen den Wind. Umkehren? Niemals!

Kurz darauf beschloss ich, die Welt zu umsegeln. Als hätte der Meeresgott in mir einen Schalter umgelegt. Unaufhörlich rief der Ozean meinen Namen. Auf Toilette, im Büro, im Bett. Im Auto, in der Kneipe, beim Kegeln. Sogar bei Lidl an der Kasse! Ich musste hinaus. Jede Faser meiner gestählten Muskulatur schrie nach Abenteuern. Zur Vorbereitung auf das waghalsige Unternehmen las ich ein Buch von Tristan Jones und mehrere Fachzeitschriften. Ich übte Knoten und trainierte mit einem Messer und dem Aufblasdelfin der Nachbarskinder, einen Hai auf offener See zu erlegen. Einerseits, um Angriffe abzuwehren. Zum anderen, um dem geschundenen Körper wertvolle Proteine zuzuführen. Ich besorgte mir eine Videokassette der Dokumentation „Tsunamis und Monsterwellen“ und zwang meine Lungen im örtlichen Thermalbad, die Luft bis zu drei Minuten anzuhalten.

Anfang Mai 2002 fühlte ich mich ausreichend gewappnet. Abschied ist ein scharfes Schwert. Behauptet zumindest Roger Whittaker. Ein weiser Mann. Ein Philosoph gar. Trotzdem rockt der Typ nicht für fünf Cent. Egal. Mit herzlichem Gelächter wurde mein Vorhaben zur Kenntnis genommen. Meine Freundin und die Kollegen simulierten unabhängig voneinander Hustenanfälle. Menschen aus dem privaten Umfeld reagierten zum Teil belustigt, teils befremdet. Andere ignorierten mich einfach. Ich begann, mir ein Ei auf die Zivilisation zu pellen. Das andere behielt ich als guter Pokerspieler in der Hinterhand.

Zwei Tage lang belud ich mein prächtiges, 22 Fuß messendes Schiff. Mehrere PET-Flaschen Astra, Erbsensuppe mit Mettendchen in Dosen, eine Tüte Sonntagsbrötchen, Salami, ein dickes Stück Käse, Oldesloer Weizenkorn und noch dies und das. Dazu meine Lieblingsklamotten. Fetzige T-Shirts, Hosen in drei Größen, da ich vorausschauend Gewichtsverlust einkalkulierte (Tristan Jones war in Südamerika auf 35 kg abgemagert!). Eine Regenjacke und meine verwegenste Mütze. Socken, Schlüpfer, Hygieneartikel. Die Duschmarken meines Heimathafens konnte ich dagegen getrost vergessen. Den würde ich so bald nicht wiedersehen. Fast hätte ich noch ein paar Kanister Benzin für den 6 PS starken Suzuki-Außenborder vergessen!

Am Tag X drückte ich um 4:00 Uhr morgens meiner Freundin einen Kuss auf die Stirn: „Bis bald. Bin auf Weltreise.“ „Hmm.“ Im Auto auf der Fahrt nach Neustadt hörte ich die letzten Neuigkeiten und Hits eines Landes, dem ich nun für unbestimmte Zeit den Rücken kehren würde. Auf Wiedersehen Uelzen und Nordhausen! Tschüss Bad Grund! Machs gut Visselhövede! Mit vor Erregung aufgerichteten Härchen an den Unterarmen freute ich mich auf die Freiheitsstatue, den Zuckerhut, die Hängenden Gärten der Semiramis und den Koloss von Rhodos. „Hoffentlich stimmt der alte Schulatlas noch“, dachte ich aufgeregt. Die ehemalige Grenze DDR/BRD hatte ich sorgfältig mit Tipp-Ex überpinselt.

Beim Auslaufen war noch keine Sau im Hafen. Außer ein paar Fischern, die ihre heutige Jagd nach Heringen vorbereiteten. Ich würde bald ganz andere Fische sehen! Vielleicht sogar einen Nacktaugenkalmar. Enthusiastisch eröffnete ich mit säuberlicher Handschrift mein Logbuch. Dieses habe ich in Vorbereitung des vorliegenden Buches leicht modifizieren müssen. Irgendwann im Verlauf meiner Reise verlor ich jegliches Zeitgefühl. Demzufolge wurden die Datierungen immer schlampiger, verdreht und zum Teil sogar vergessen. Um dennoch ein ansprechendes Erscheinungsbild und den Anschein von Systematik zu wahren, habe ich die Einträge mit mehr oder weniger sinnreichen Überschriften versehen. Außerdem ist mir aufgefallen, dass mein Stil mit zunehmender Reisedauer immer blumiger wurde. Das schreibe ich vor allem der Entfremdung von der Zivilisation zu. „Wenn Einsamkeit die Feder führt, entstehen der Worte viele“, habe ich dieses Phänomen später einmal treffend umschrieben. Trotzdem habe ich davon abgesehen, mein Werk wesentlich nachzubearbeiten, um den werten Leser unverfälscht, zeit- und hautnah an meinen unglaublichen Abenteuern teilhaben zu lassen. Dieses edle Ansinnen wird hoffentlich gewürdigt.

Aufbruch

Verdammt bin ich müde. Wäre ich nur noch ein Stündchen liegen geblieben. Aber dann hätte meine Freundin sicher Fragen gestellt. Neustadt / Holstein dunstet in der Frühmorgensuppe vor sich hin. Der Kirchturm scheint hinter einer Milchglasscheibe zu stehen. Als ob er nicht will, dass ich seine Abschiedstränen sehe. Die Laternen an der sanierungsbedürftigen Hafenpromenade leuchten noch, was in Anbetracht der wirtschaftlichen Gesamtlage pure Verschwendung ist. Die sollen mal lieber den Fußweg pflastern! Dauernd muss man das Boot waschen. Eine scheiß Arbeit. Außerdem sind meine Luken undicht, sodass ich jedes Mal nasse Polster habe, wenn ich die „Sea Fart“ mit dem Schlauch abspritze. Bloß weg hier!

Das Meer rauscht wie seit Millionen Jahren schon. Damals hat das nur noch kein Schwein interessiert. Gott hatte noch nicht mal die Ohren erschaffen. Heute ist das anders. Die ersten Vögel zwitschern. Hier und da hört man vereinzelt Autogeräusche in der Ferne. Irgendwo rattert ein Güterzug. Das ist in unserer modernen Zivilisation schon recht nah an der absoluten Stille. Umso explosiver klingt mein beherzter Sprung an Bord. Der GFK-Rumpf meiner „Sea Fart“ bebt erwartungsfroh. Ein letzter prüfender Blick unter Deck. Ärgerlich registriere ich, dass sich schon wieder etwas Furnier von der kleinen Küchenkonstruktion gelöst hat. So was nennt sich Alleskleber! Doch für derlei Nebensächlichkeiten ist jetzt keine Zeit mehr. Die Schlacht wird auf dem Wasser gewonnen. Daher flugs die weißen Kunstlederpolster rausgelegt, Motor an und Leinen los.

Routiniert meistere ich das Ablegmanöver. Mein Nachbar von der „Ursula“ hat schon wieder vergessen, die Flagge einzuholen, obwohl er gar nicht an Bord ist. Ich lasse einen ungepflegten Fischer auf steuerbord liegen. Mein Außenborder brüllt um Gnade. Zunächst visiere ich das Nichts links neben dem Hochhaus Travemünde an. Der Wind lispelt zarte 2-3 Beaufort in die vom Alter ausgebeulten Segel, nachdem ich den Motor endlich ausgeschaltet habe. Eine Möwe linst gefährlich in meine Richtung. Das erste Abenteuer? Nein. Eingeschüchtert von meinem entschlossenen Gesichtsausdruck dreht sie bei. Das kann ja heiter werden!

Von Grömitz nach Großenbrode

Nach einer unruhigen Nacht im Grömitzer Hafen – Schlagernacht mit Andy Borg (!!! ) – begebe ich mich mit verspannter Nackenmuskulatur in unbekannte Gewässer. Kurs Fehmarn. So weit war ich noch nie. Zumindest nicht auf dem Seeweg. Die „Sea Fart“ kippt bedrohlich zur Seite. Im Fachjargon heißt das „Krängung“. Ist gut fürs Tempo, zehrt aber an den Nerven. Ständig hat man das Gefühl, gleich umzukippen. Außerdem bin ich immer in Sorge wegen meiner undichten Luken. Der Gedanke an klamme Unterwäsche erregt mich. „Hol mich doch!“, schreie ich dem Meer in seinen aufgerissenen Rachen. Meine Freundin ist bestimmt sauer.

Ich packe die Pinne noch fester und blicke mit zusammengekniffenen Augen in die vollen Segel. Der Wind würde meinen Bart zerzausen, wenn ich den schon hätte. Na ja, in zwei bis drei Wochen. Welt, ich komme! Warum mir ausgerechnet jetzt einfällt, dass „No Sleep ’Til Hammersmith“ von Motörhead mein absolutes Lieblingsalbum ist, vermag ich nicht zu erklären. Leider besitze ich davon nur eine schlechte Monoaufnahme auf Kassette. Wir hatten ja nichts!

Abends erreiche ich völlig durchgerüttelt Großenbrode und falle zu allem Überfluss beim Anlegen ins Hafenbecken. Das hat aber keiner gesehen, weil es schon so spät ist. Mein Astra-Vorrat neigt sich dem Ende entgegen. Habe ich falsch geplant?

Ich beschließe, morgen etwas Bier nachzutanken. Bisher ist noch nicht mal ein Fünfzigtausendstel meiner Seereise absolviert!

Hulapoko

Der Hafenmeister klopft mich aus wüsten Träumen. Acht Euro für eine Nacht! Duschen und Strom extra. Wucher! Dafür gibt es in der Nähe einen Lidl-Markt, wo ich neue AstraPET-Flaschen kaufen und mein Leergut abgeben kann. Der Anblick der Pfandflaschen bereitet mir Kopfzerbrechen. Wohin damit auf dem Atlantik? Spontan erfinde ich eine schwimmende Sekundärrohstoffannahmestelle, die man wahlweise in internationalen, aber auch küstennahen und Binnen-Gewässern einsetzen könnte, scheitere aber an der Frage nach der Finanzierbarkeit. Kommt Zeit, kommt Rat. Zurück im Hafen habe ich eine folgenschwere Begegnung.

Ein bunt gekleideter Indio spricht mich an. Behauptet in gebrochenem Deutsch, dass er Hulapoko heiße und von seiner Panflötengruppe vergessen worden sei. Auf meinen Einwand, dass dies eine Unverschämtheit wäre, verneint er. Das könne schon mal vorkommen, da sich alle Indios sehr ähnlich sähen und der Verlust eines Einzelnen oftmals erst nach vielen tausend Kilometern ins Auge falle. Dieses Problem kenne ich von Wäscheklammern. Dauernd muss ich neue kaufen. Hulapoko fragt, ob ich zufällig nach Peru segele. Ich überlege kurz und erinnere mich, dass Tristan Jones sehr gute Erfahrungen mit Indios als Matrosen gemacht hatte. „Nein, Hulapoko, aber ich könnte dich auf Hand gegen Koje-Basis bis Recife mitnehmen.“ „Senor, wie lange wohl dauern Fahrt?“ „Maximal bis Nikolaus.“ „Inne Ordnung.“ Wir ritzen mit meinem Schweizer Offiziersmesser unsere Zeigefinger an und werden Blutsbrüder. Gemeinsam setzen wir das Abenteuer in Richtung Fehmarn fort.

Flöten und Schnitzen

Ich habe die Gefährlichkeit der Panflöte unterschätzt. Hulapoko nutzt jede freie Minute, um auf dem Ding „El Condor Pasa“ zu dudeln. Selbst die Möwen fliegen schon einen Bogen um uns. Außerdem stinkt mein indianischer Bruder wie ein totes Lama. Habe ihn unter lautem Protest mit „Dulgon“-Deospray abgesprüht. Jetzt riecht das Boot wie ein Puff für schwule Lamas. Wenigstens reist Hulapoko mit wenig Gepäck, sodass er auf dem ohnehin recht beengten Boot nicht so viel Platz wegnimmt. Ich weise dem neuen Fahrgast die Spitzkoje im Bug zu, wo er sich zwischen diversen Seesäcken und zusammengeknülltem Zeugs häuslich einrichtet. Zwar hadert er etwas, da sein Reisekopfkissen – eine mit mystischen Stickmustern verzierte Nackenrolle – nur auf dem Deckel des Chemieklos Platz findet, dafür vereinbaren wir jedoch, dass ich nur groß mache, wenn er nicht schläft. Als angehenden Seefahrer muss ich Hulapoko früh daran gewöhnen, mit Kompromissen zu leben.

Wieder an Deck, brennt uns die Sonne unentwegt auf die Köpfe, während der Wind eher schwächelt. Ich lasse mir aus lauter Langeweile von Hulapoko Schnitzen beibringen und verziere das Notpaddel mit lustigen Indiogöttern. Einer heißt Tempeletl oder so ähnlich und ist gut für die Potenz. Als ob ich das hier bräuchte! Auf hoher See lässt der Sexualtrieb naturgemäß nach, da sich Körper und Geist des rastlosen Menschen in einer Art permanenter Umarmung der Urgewalten befinden. Soll heißen, die Erektion ist derart metaphysischer Natur, dass das rein gar nichts mit Porno zu tun hat.

Nach einer leichten Linkskurve erblicken wir die Fehmarnsundbrücke! Hulapoko fällt auf die Knie und betet in einer Art Singsang. Auch ich erliege der Magie des Augenblicks und zwinkere meinem hölzernen Tempeletl schelmisch zu. Gemeinsam bewundern wir die perfekte Symbiose aus Stahlkonstruktion und Autos. Die meisten von ihnen haben noch keine Ahnung, dass sie am Ortseingang von Burg in einen tierischen Rückstau von der bescheuerten Ampel, wo man rechts zum Meerwasseraquarium abbiegt, geraten werden. Da habe ich schon so manches Mal ins Lenkrad gebissen. Heute stehe ich über den Dingen, weil ich mit der „Sea Fart“ einfach drunter durchfahre. Ein rücksichtsloser Motorbootfahrer bringt uns ganz schön ins Schaukeln. Obwohl es sinnlos ist, rufe ich ihm die hässlichsten Schimpfworte nach, die mir einfallen. Kretin ist nur eines davon. Zornig reiße ich mir ein Astra auf und nehme als Nachtisch einen beherzten Schluck aus der Kornpulle. Hulapoko dreht sich einen Joint. Wir regen uns ab, werden mutiger und beschließen, die Nacht über in Richtung Großbritannien zu segeln.

Kurs England

Zwei Uhr morgens. Himmel, ist das finster! Habe völlig die Orientierung verloren. Hulapoko steht leicht gereizt im Bugkorb und leuchtet mit meiner kleinen Taschenlampe das Meer ab. Ich steuere stur in die Richtung, in der ich die Queen vermute. Wir liegen sehr schief und sind schnell unterwegs. Dabei plumpst die „Sea Fart“ mit lautem Krachen von Wellental zu Wellental. Das fühlt sich ungefähr so an wie früher, wenn das garstige Nachbarskind in dem Moment, wo man selbst ganz oben war, von der Wippe gesprungen ist. Nur noch lauter. Ich danke dem Gott der Bierbrauer bei jedem Aufschlag für die Erfindung der PET-Flasche.

Mein Magen fühlt sich von dem ständigen Auf und Ab wie ein mit buntem Wasser gefülltes Kondom an. Auch Hulapoko hat die guten Cabanossi-Snacks vom Abend wieder ausgekotzt. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Das Radio kann ich nicht anmachen, weil dann meine alte Batterie gleich wieder runter ist. Die brauchen wir noch für die Dreifarbenlaterne an der Mastspitze, die allen da draußen verkündet: Hier kommt ein waghalsiger Weltumsegler mit seinem treuen, wilden Gefährten.

Ein lauschiger Abend

Einen Tag, eine Nacht und einen halben Tag haben wir nichts als die unbarmherzige, aufgewühlte See zu Gesicht bekommen. Ab und an einen Frachter, eine Fähre, dann wieder – mal links, mal rechts – silbrige Streifen Festlands, an denen wir bei frischer Brise vorbeiziehen. Ansonsten Wellenberge, Wellentäler, Gischt. Ich habe Hulapoko ein gesundes Halbwissen seemännischer Fertigkeiten beigebracht. Zwar misslingen ihm andauernd Halse und Wende, aber er bewahrt auf gerader Langstrecke stoische Ruhe. Außerdem kennt er sehr viele Sternbilder und hat einen gewissen Orientierungssinn bei Nacht. Ich dachte immer, das sei ein klassisches Karl-May-Klischee.

Im Gegenzug kann ich jetzt „El Condor Pasa“ und sogar „Smoke On The Water“ flöten. Wir erweisen uns beide als sehr lernfähig und segeln und flöten von nun an abwechselnd. Heute Abend gibt es die erste Dose Erbsensuppe mit Mettendchen. Dazu Astra. Hulapoko erzählt mir, dass seine Eltern ein kleines Fachgeschäft für Stickmustervorlagen – vornehmlich für Ponchos und Kissen – in der Nähe von Lima betreiben. Die Geschäfte gehen aber nicht sonderlich gut, sodass sie auch Lebendfutter für Terrarientiere ins Sortiment genommen haben. Ich öffne mich ebenfalls und berichte dem staunenden Indio von meiner Kindheit in der DDR, wo ich unter anderem mit der gekonnten Rezitation eines Pablo-Neruda-Gedichtes, der „Ode an das Kind mit dem Hasen“, auf dem Fest der deutschen Sprache zu gefallen wusste. Dabei verschweige ich, dass Pablo Neruda de facto idiotensicher ist, weil sich so rein gar nichts reimt und Fehler unmöglich als solche wahrgenommen werden können. Dabei möchte ich keineswegs meine, beziehungsweise die Bemühungen des Dichters in Frage stellen. Vielmehr hat mich so manches Mal bei Versungetümen wie:

„… hart
wie ein kleiner Stein
mit seinem Hasen
dort,

hob
eine Hand
zum Dunsthauch hin.
Niemand
hielt an.
… “

der leise Verdacht beschlichen, dass die Übersetzer ein paar ganz üble Spaßvögel waren. Spontan demonstriere ich Hulapoko am Beispiel des Marcus Antonius im 3. Aufzug, 1. Auftritt aus Shakespeares „Julius Cäsar“, wie einfach es ist, Klassiker mit ein wenig Bosheit zu verunzieren:

„Entschuldige, blutige Erde.
Ich habe Mist gebaut.
Männer!
Ich sage euch:
Nein!
Das gibt so richtig
Ärger.
Menschenaas!
Eigentlich
ist
KEIN
Wort.“

Hulapoko kann mir nicht folgen. Das liegt wohl daran, dass die dramatische Wirkung des Absurden etwas verpufft, weil ich die Verse lediglich vortrage. Geschrieben sieht das natürlich viel abgefahrener aus. Trotzdem verbringen wir mit derlei schöngeistiger Konversation einen harmonischen Abend an Bord.

Warum Polen?

Ein Fiasko! Hulapoko flucht zum Glück in seiner Sprache. Es klingt sehr aufgebracht! Wir sind in den polnischen Zoll geraten. Polen! Wo zum Teufel ist Großbritannien? Ich bin einer Ohnmacht nahe. Was nun? Wo lag mein Fehler? Wir sind die ganze Zeit in die falsche Richtung gesegelt. Verflucht seiest du, Äolos, hinterlistiger Herr der Winde! Die Zöllner spüren unsere Verzweiflung und verhalten sich nachsichtig, jedoch leicht belustigt. Hulapoko will zu Fuß nach Hause. Erst mein Hinweis, dass Polen mit 451 Einwohnern pro Arzt und einer Überversorgung von 131 % der empfohlenen täglichen Kalorienaufnahme von 2345 kcal gar nicht mal zu den schlechtesten Reisezielen zählt, kühlt ihn etwas ab. „Aber klauen meine Panflöte!“, mault er noch rum. Ich verspreche ihm ausreichenden Versicherungsschutz über meine Reisegepäck- police, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob einfacher Diebstahl eingeschlossen ist. Das verdammte Kleingedruckte! Und was war noch gleich die Domizilklausel?

Auf jeden Fall ermahne ich meinen Kameraden, jeglichen Anflug von Vorurteilen oder Klischees schleunigst über Bord zu werfen, da Seefahrer als wahre Kosmopoliten der Welt mit offenen Armen entgegensegeln. Außer Sachsen-Anhalt. Da lebt wirklich ein seltsames Völkchen. Was für schlechte Autofahrer! Aber die haben auch kein Meer, sodass der tüchtige Seemann nicht in Gewissenskonflikte gerät.

In einem winzigen Hafenstädtchen machen wir fest und besaufen uns fürchterlich. Die günstigen Bierpreise versöhnen uns. Zur Freude der anwesenden Polinnen und Polen spielt Hulapoko ausgewählte Werke von Chopin, der bekanntlich 1810 in der Nähe von Warschau geboren wurde. Ich begleite ihn an einem aus Töpfen und Topfdeckeln gebastelten Schlagzeug. Unser erster gemeinsamer Auftritt. Wir bleiben vier Tage in dem freundlichen Städtchen und verplempern einen guten Teil der Reisekasse.

Die Pinne

Obwohl Hulapoko sich in die Tochter eines Gleisbauers verliebt hat, stürzen wir uns im Morgengrauen verkatert in den zweiten Teil unserer abenteuerlichen Weltumsegelung. Die Zöllner schenken uns zum Abschied eine polnische Flagge, die seitdem an der „Sea Fart“ neben der Spaßflagge mit dem Bierglas drauf flattert. Sie raten uns zudem, Kaliningrad zu meiden. Diesen Rat vergesse ich aber gleich wieder, da ich meinen Einfluss auf den Kurs der „Sea Fart“ in Anbetracht der misslungenen Fahrt nach Großbritannien nicht überbewerten möchte. Ich beschließe, die Pinne zukünftig als eine Art Tippgeber zu nutzen und dem Schiff weitestgehend seinen Willen zu lassen. Für Hulapoko ist dies eine neue, revolutionäre Sichtweise des Weltumsegelns. Ich erkläre ihm, dass es ja völlig egal sei, weil die Erde rund ist, und man immer irgendwo ankommt. Außerdem wollte selbst Kolumbus ursprünglich nach Indien. Stattdessen hat er das Heimatland von Mickey Mouse entdeckt. Das leuchtet Hulapoko ein und er ist fortan ein unkritischer Beifahrer.

Badetag

Noch bevor der Skorbut überhaupt eine Chance erhält, unsere Gebisse unbarmherzig zu zerstören, hat sich Hulapoko heute Morgen bei starken Böen ein Stück vom linken vorderen Schneidezahn am Bugkorb abgeschlagen. Das macht ihn schon wieder unleidlich, zumal er so die nächsten Tage nicht flöten kann. Ich biete ihm an, den Zahn zu ziehen, weil ich bei Tristan Jones gelesen habe, wie man so was auf hoher See am besten macht. Hierbei kommt es vor allem darauf an, den Kopf des Patienten vor der Extraktion in der Decksluke einzuklemmen und mit leichtem Druck des Knies zu fixieren. Dann ruckelt er nicht so, wenn die Zange angesetzt wird und die Schmerzen halten sich in Grenzen.

Aber der undankbare Indio will das nicht und flucht nur halblaut in seiner seltsamen Muttersprache. Für ein paar Stunden herrscht Funkstille zwischen uns. Dabei fliegen wir mit zum Bersten gefüllten Segeln durchs Baltikum. Gegen Abend flaut der Wind leicht ab und ich lege zur Aufbesserung der Stimmung einen Badestopp ein. Argwöhnisch von Hulapoko beäugt, werfe ich in einer einsamen Bucht den Anker, ziehe die modische Badehose an und schubse mit einem ausgelassenen „Partytime, Hulapoko!“ die verblüffte Rothaut über die Reling. Erst als ich gurgelnde, erstickte Schreie und den abtauchenden Indianerkopf wahrnehme, schlussfolgere ich, dass Hulapoko Nichtschwimmer ist. Herzlichen Glückwunsch! Kaum, dass es mir gelingt, den wild um sich schlagenden Burschen zurück aufs Boot zu zerren. Nur mühsam befreie ich mich aus der würgenden Umklammerung seiner muskulösen Arme. „Puta madre! Funghi al forno!“ „Hulapoko, ich gebe zu …“ „Misto perversione! Patria libre Iglesias!“ Wir schreien uns die ganze Nacht an, während die „Sea Fart“ friedlich vor Anker dümpelt.

Eisige Aussichten

Erst gegen 5:00 Uhr morgens, bei der vorvorletzten Bordflasche „Oldesloer Weizenkorn“ und nachdem ich ihn laufend beim Mau-Mau habe gewinnen lassen, hat sich Hulapoko wieder abgeregt. Wir lichten den Anker und trudeln an der unbekannten Küste lang. Gegen Mittag kommen wir an einem Nacktbadestrand vorbei und reißen uns abwechselnd das Fernglas aus der Hand. Ob das noch polnische Nackedeis sind, oder schon welche aus den neuen baltischen Ländern oder gar französische, wage ich nicht zu prognostizieren. In Anbetracht der Tatsache, dass die Küste rechts von uns liegt, tippe ich nach wie vor auf einen Ostkurs. Die schreckliche Konsequenz daraus verheimliche ich Hulapoko: Wir müssen vermutlich durchs Nordpolarmeer!

Aus diesem Anfangsverdacht heraus entstehen Szenarien in meinem Gehirn, die jeder Beschreibung spotten. Mal sehe ich vor meinem geistigen Auge Hulapoko, der sich einen erfrorenen Zeh abbricht und irgendwelchen Seeungeheuern zum Fraß ins Wasser wirft. Dann wieder stehe ich neben mir und betrachte mich in einem riesigen Eisblock. Mein linker Arm ist leicht erhoben, als sei ich gerade im Begriff, ein lästiges Insekt zu verscheuchen. Verwirrt öffne ich eine Flasche Korn und gebe mich dem Verdrängen hin, obwohl ich weiß, dass Verdrängen keine Lösung ist. Salzwasser schon, denke ich überflüssigerweise. Aber was nützt mir hier draußen schon mein Wissen aus dem Chemieunterricht?

Die Schlampe aus Ipanema

Begeistert entdecke ich bei der Morgentoilette an Bord den ersten Anflug eines verwegenen Bartes im Spiegel. Hulapoko ist entweder neidisch oder noch verstimmt ob des kleinen Missgeschicks vom Vortag. Ich bin wild entschlossen, sein Vertrauen zurückzugewinnen und scheiße klug rum: „Eine achterliche Brise, mein Freund. Kurs wie geplant. Ich werde noch ein wenig auffieren. Dann frisch auf Nord/Nordost, der Nadel nach.“ Dass mein Kompass seit ein paar Tagen spinnt, verschweige ich lieber. Hulapoko lässt sich von meinem Enthusiasmus anstecken und spielt trotz Zahnschmerzen seit Langem mal wieder „El Condor Pasa“. Übermütig frage ich, ob er auch „Girl From Ipanema“ kann, und trete schon wieder ins Fettnäpfchen. „Ist Schlampe, Puta!“, mault der schwierige Charakter und wirft die unschuldige Flöte ins Cockpit.

Das möchte ich so nicht im Raum, beziehungsweise im Boot stehen lassen und verlange eine Erklärung für diese diffamierende Aussage. Hulapoko erzählt mir, dass ein Neffe seines Nachbarn drei Monate mit einer angeblichen Ernährungsberaterin aus Ipanema liiert war. Gerade noch rechtzeitig bemerkte die Familie des Unglücksraben, dass die Frau eine hochgradig gefährliche Betrügerin war. Der Neffe war bereits auf 50 Kilo abgemagert, als es einem von der Verwandtschaft alarmierten Sonderkommando der Bereitschaftspolizei gelang, ihn zu befreien. Das fadenscheinige Weib hatte sich darauf spezialisiert, ihre Opfer zu Tode zu beraten, um an das Erbe zu gelangen. Schaudernd beiße ich in ein Leberwurstbrot und gelobe, einen großen Bogen um Ipanema zu machen. Obwohl mir ein paar Kilo weniger gut zu Gesicht stünden.

Helsinki

Nach ein paar Tagen erreichen wir Helsinki. Ich weiß, dass es hier ein bekömmliches Bier namens „Lappin Kulpa“ gibt. Meine Freundin hatte mir mal zwei Büchsen von einer Dienstreise mitgebracht. Der Hafen präsentiert sich mit einem einladenden Postkartenmotiv. Unter großem Hallo, begleitet vom schönsten „El Condor Pasa“, das ich von Hulapoko seit Wochen vernommen habe, fahren wir in die finnische Metropole ein.

Wir finden ein ruhiges Liegeplätzchen neben einem Salzsäurefrachter und gehen von Bord, um die Formalitäten zu erledigen und anschließend die Stadt zu erkunden. Das erste, was uns auffällt, ist die frappierende Ähnlichkeit der männlichen Finnen mit Mika Häkkinen. Außerdem bekommt Hulapoko beim Klang der finnischen Sprache Heimweh. Sie erinnert ihn an das Meckern der Anden-Gämse. Als Nächstes erleiden wir einen Schock nach dem ersten Kneipenbesuch. Wir versaufen in nur einer Stunde nahezu den Wert unseres gesamten Schiffes! Zum Glück kann ich mit meiner Kreditkarte die Reisekasse nachhaltig auffüllen, denn ich habe mal ausnahmsweise meine PIN-Nummer nicht vergessen. Ganz offensichtlich ist die frische Seeluft gut für mein Gehirn. Doch auch Hulapoko leistet mit insgesamt drei Auftritten in der Fußgängerzone einen erheblichen Beitrag für unser Portemonnaie. Es hat den Anschein, dass er einer der ersten Indios auf finnischem Boden ist und somit Exotenbonus genießt.

Allerdings behauptet er das Gegenteil und berichtet, dass seine Vorfahren schon Partys vor hiesigen Höhlen gefeiert hatten, als die alten Finnen noch darin hausten. Angeblich war ein gewisser Welrodebrekl um 2000 vor Christus mit seinem gigantischen Einbaum in der Bucht des heutigen Helsinki gelandet und hatte dort den Wodka erfunden. Ursprünglich sollte die Substanz zum Abbeizen der vom Salzwasser angegriffenen Holzstruktur des Einbaums dienen. Aber beim Ansaugen mit dem Schlauch verschluckte Welrodebrekl einige Tropfen des Gebräus und wurde so ordentlich blau, dass er das Rezept der Nachwelt zum Verzehr weiterempfahl. Ich bin etwas skeptisch, möchte allerdings die Stimmung nicht verderben. Im Gegenteil.

Abends suchen wir ein finnisches Feinschmeckerrestaurant auf, um uns auf Empfehlung des Salzsäurefrachter-Kapitäns die Bäuche mit Kloetemääkii, einem Nationaleintopf aus gekochten Rentierhoden, vollzuschlagen. Hulapoko beweist einmal mehr, dass er ein elender Ignorant ist: „Schmecken wie tote Eier!“ „Das sind tote Eier, Hulapoko.“ „Aaarghhh…! Los Animales, perversos ….“ Obwohl ich erwartet hatte, dass in seiner Heimat so ziemlich alles verzehrt wird, kriegt er sich gar nicht mehr ein. Die ersten Gäste blicken uns gewaltbereit an. Ich versuche, die Situation mit witzigen Grimassen zu retten. Hulapoko dagegen wird immer unsachlicher und beginnt, auf den finnischen Fußball zu schimpfen: „… Kotzekicker … alle Flasche leer. Nie qualifizieren. Los Rumplos ….“ Die ersten Bierflaschen werden nach uns geworfen. Ich habe Mühe, den tobenden Anden-Roland aus dem Raum zu zerren. Dieser greift in der Rückwärtsbewegung in den Eintopf und bewirft die Gäste mit den delikaten Hoden. „Selber fressen Mist! Muchachos … Axolotl ….“ Sekunden später ist die Hölle los.

Hinter Gittern

Hulapoko hockt kleinlaut in einer Ecke der winzigen Gefängniszelle. Ich kühle mein zugeschwollenes Auge. Der Polizist ist zuvorkommend, nachdem er den Grund unserer Auseinandersetzung erfahren hat. Er selbst ist liberaler Jude und verabscheut jeglichen Verzehr von Genitalien. In meckerndem Englisch radebrecht er, dass gegen uns keine Anzeige vorliegt und wir nur der Form halber noch 3 Stunden bis zum Mittag einsitzen müssen. Der Gastwirt war selbst mal Seemann und hat ein Auge zugedrückt, zumal wir selbst den größten Schaden davongetragen haben. Trotzdem hadere ich mit Hulapoko, der sich wie ein devoter Pudelwelpe vor meinen zusammengeketteten Füßen windet. „Schorry, Käp’m … “ Ein gezielter Faustschlag hat den Rest seines ohnehin lädierten Schneidezahns extrahiert.

Das geschieht ihm recht und sieht auch reichlich bescheuert aus. Ich muss lächeln, was mein Blutsbruder freudig zur Kenntnis nimmt. Wenigstens wedelt er nicht mit dem Schwanz, denke ich schon milder gestimmt. Und wenn ich es recht überlege, bin ich dem Schicksal sogar dankbar. Ich sitze im Knast! Ich, der fast bis zur 9. Klasse immer diese demütigende, beschissene Eins in Betragen auf dem Zeugnis hatte. Das Kainsmal der Uncoolness, das seinen Träger zum Tabu für jedes halbwegs attraktive Mädchen auf dem Schulhof machte. Gabi, Cornelia, Diana und wie sie alle hießen. Sie flüchteten in die starken Arme übler Schläger und ließen die schmierigen Pranken von Mopedersatzteildieben unter ihre T-Shirts grapschen. Ich war nur gut zum Abschreibenlassen bei Klassenarbeiten. Ich war nur „der mit der Eins in Betragen. Tuschel, tuschel … “ Wenn die mich hier und heute sehen könnten! Hinter Gittern. In Ketten. Mein Brustkorb weitet sich euphorisch. Was für ein Abenteuer! Trotz der eisernen Stäbe, die ich theatralisch umklammere, fühle ich mich frei wie ein Vogel. Ich bin ein harter Mann. Ein Globetrotter auf den Spuren der furchtlosesten Helden aller Zeiten. Bereit, sich mit dem Tod und anderen schlimmen Typen anzulegen. In Hochstimmung rufe ich aus der Zelle mit dem Handy des Wärters zum ersten Mal meine Freundin an und kriege einen ziemlichen Einlauf.

Plüschtiere

Zur Verbesserung der Gruppendynamik gehe ich mit Hulapoko heute in eine Spielothek. Sechs Stunden am Stück spielen wir Zombiesabschießen, Autorennen und an Flugsimulatoren. Hulapoko hat den meisten Spaß am vorsintflutlichen „Hau den Lukas“ und am Plüschtiere mit Greifarmen Angeln. Hierbei bringt er es zu erstaunlicher Meisterschaft, sodass wir das Boot Stunden später mit zwei großen Tüten voller rosa Elefanten, kitschigen Bären mit und ohne Mützen, Elchen und undefinierbaren Plüschaliens vollstopfen. Jeder Versuch, Hulapoko zu überreden, das Gedöns irgendwelchen Kindern oder Bedürftigen zu schenken, stößt auf Granit. Ich gebe auf. Als der Kerl jedoch versucht, die Plüschtiere draußen an der Reling zu arrangieren, bleibe ich hart. „Die Viecher bleiben unter Deck!“ „Faschisto! Garstiges Aleman! Böse!“ „Wer hat wegen dir im Knast gesessen? Wer ist hier immer noch der Käpt’n? Wem gehört das Schiff?“