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Eva Hierteis

Vanilla aus der Coladose

Eva Hierteis

Vanilla
aus der Coladose

Zeichnungen von

Annabelle von Sperber

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Für meine Eltern

Veröffentlichung als E-Book 2010
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2009
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Constanze Guhr
ISBN 978-3-401-80012-7

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

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Vor dem Haus in der Krawallskistraße 17 flatterten 17 Unterhosen an der Wäscheleine. Eine ganze, lange Leine voller riesiger zitronengelber Schlüpfer, die sachte im warmen Sommerwind schaukelten. Von der Buche vor dem Haus segelte das erste gelbe Blatt zu Boden und von einem Ast ebenjener Buche ließ ein kleiner graubrauner Vogel trällernd seinen Vogelschiss geradewegs auf eine ebenjener Unterhosen fallen. Es war auch schwer, sie zu verfehlen.

In der Krawallskistraße 17 herrschte Ruhe. Himmlische Ruhe. Wunderbare Schlafe-friedlich-ein-Ruhe und traumhafte Schlafe-lange-aus-Ruhe, bis . . .

Ja, bis ein großes dreckig weißes Taxi vorfuhr, alle Türen gleichzeitig aufflogen und plötzlich der schmale Gehsteig voller Leute und Taschen und Koffer stand: Da war Mama – urlaubsbraun gebrannt und in ein farbenfrohes Flattergewand gehüllt. Papa mit Jeans, einem Hawaiihemd und einem Sonnenbrand auf der Nase. Der 13-jährige Olaf – wie immer ganz in Schwarz und mit Totenkopfschlabber-T-Shirt, aus dessen zu weiten Ärmeln seine zu dünnen und zu langen Arme ragten. Die Kapuze hatte er sich trotz der Vorgewitterschwüle über den Kopf gezogen. Zwischen den Beinen der Großen krabbelte die dreijährige Mathilda laut bellend auf allen vieren auf dem Gehsteig auf und ab, sodass ihre dünnen aschblonden Zöpfe im Wind wedelten. Als Letzte stieg Laili aus. Die wilde rotbraune Wuschelmähne stubbelte ihr ums Gesicht und aus ihrer abgeschnittenen, knielangen Jeans hingen unten zwei Fäden heraus. Stopp – das waren ja ihre langen, dürren, neuneinhalbjährigen Beine. Sie hatte eine Himmelfahrtsnase, die so stupsig war, dass es fast hineinregnete (sagte zumindest Olaf), und Augen wie das Meer – aber da wo ein dreckiger Fluss reinmündete. Sagte auch Olaf. Papa nannte es Nordseegrüngraublau. Das klang viel schöner, fand Laili. Nordseeaugen . . .

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Während es auf dem Gehsteig wimmelte und wuselte und winselte, wurde im Erdgeschoss des Hauses Nummer 17 unauffällig ein Vorhang zur Seite gezogen.

»Oh nein, Hermännchen! Nachtweh und seine Meute!«, stöhnte eine dicke Frau mit gelben Locken. Alles an Frau Speckfett war gelb: die Dauerwellen, die Zähne, die riesigen Schlüpfer. Auch ihr Hermännchen trug eine gelbe Schleife im Haar. Jetzt gab er ein klägliches Jaulen von sich und zog den Schwanz ein. Er war ein Yorkshireterrier.

Mit Nachtweh meinte Frau Speckfett nicht etwa, dass sie unter nächtlichen Schmerzen litt. Sie meinte Lailis Vater Bernd Nachtweh und seine Familie. Unter der litt sie allerdings auch. Dabei hieß seine Frau gar nicht Nachtweh, sondern Ulrike Brot, die sich aber, um es noch komplizierter zu machen, überall Ulaya Papaya nannte. Und die Meute, das waren dann wohl Olaf, Laili und Mathilda.

»Die Hauszelte von der Speckfett hängen schon wieder vor der Tür. Damit alle Nachbarn was von ihrem Elefantenarsch haben«, lästerte Olaf hinter seinem Pony, der ihm wie ein Vorhang übers Gesicht hing. Es war eine seiner seltenen Äußerungen. Manchmal hörte Laili tagelang kein Wort von ihrem Bruder.

»Nicht so laut, Olaf!«, zischte Papa und winkte Frau Speckfett, die er hinter dem Vorhang erspäht hatte, freundlich zu, woraufhin der Vorhang an seinen Platz zurückglitt und Frau Speckfetts neugierige Nase vom Fenster verschwand.

Währenddessen stieß Mathilda ein Knurren aus und fletschte die Zähne. Mit wildem Gebell fuhr sie die Krallen aus und kratzte dem Taxifahrer übers Hosenbein. Der arme Mann zuckte zusammen und sah sehr verunsichert aus.

»Sie haben wohl keine Kinder?«, fragte Mama.

Er schüttelte den Kopf und machte ein Gesicht, als ob er jetzt auch keine mehr wollte. Mathilda hatte inzwischen mit ihren kleinen, scharfen Milchzähnen nach seinem Hosenbein geschnappt und zerrte daran.

Papa war das Ganze sichtlich unangenehm. Er zückte seinen Geldbeutel, zog hastig ein paar Scheine heraus und reichte sie dem verstörten Fahrer. Dann lud er weiter das Gepäck aus dem Kofferraum und hängte Mathilda ihre Kindertasche um den Hals. Endlich ließ sie von dem Taxifahrer ab und dackelte auf allen vieren zum Haus voran, wo sie hechelnd vor dem Eingang sitzen blieb und Mama auffordernd ansah. Als ihr nicht sofort jemand aufsperrte, begann sie zu winseln.

So eine Nervensäge! Laili fragte sich manchmal, ob sie die einzige Normale in dieser Familie war. Eigentlich fragte sie sich das sogar täglich. Stündlich. Minütlich. Olaf mit seinem Totenkopfdachschaden, Mama mit ihrem Orientfimmel, Papa, der sich für einen begnadeten Dichter hielt, und Mathilda . . . ohne Worte. Und Laili selbst? Sammelte nur Coladosen. Aber das war ja kein Unsinn. Das war cool. Einzigartig. Wunderbar.

Lailis Vater wuchtete die letzte Reisetasche aus dem Auto und wankte mit zwei schweren Koffern und einem riesigen Rucksack beladen zwei Schritte in Richtung Haustür. Lailis Mutter tippelte und tänzelte (so gehen Bauchtänzerinnen eben) mit einem kleinen Handtäschchen und ihren orientalischen Schnabelschuhen voran. Die silbernen Fußkettchen an ihren Knöcheln bimmelten fröhlich. Hinter ihr setzte sich die Karawane in Bewegung: Laili, die eine viel zu große Reisetasche hinter sich herzerrte. Danach kam Olaf, der zwei Reisetaschen geschultert hatte und sich immer wieder den zu langen Pony aus den Augen pustete, und als Letzter Lailis Papa mit feuerrotem Kopf – ob vom Sonnenbrand oder von der Anstrengung, ließ sich schwer sagen. Auf jeden Fall leuchteten die Hautfetzen, die sich von seiner Nase abschälten, dadurch umso weißer, was ihm etwas Fliegenpilziges verlieh.

Als Mama die Haustür aufsperrte, war es mit der himmlischen Ruhe für Frau Speckfett endgültig vorbei. Mit zusammengekniffenen Augen stand die gelb gelockte Frau hinter ihrer Wohnungstür und beobachtete durch den Spion, wie die Nachtwehs einer nach dem anderen im Gänsemarsch vorbeizogen. Dass Lailis Vater die Haustür an den Kopf bekam, weil Olaf vergaß, sie ihm aufzuhalten, entlockte ihr ein kleines Lächeln. Das erste an diesem Tag. Lailis Vater entlockte es ein Stöhnen.

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Frau Speckfett schnaubte walrossartig, als die Nachtwehs die Treppe hinaufpolterten. Im Stockwerk darüber vernahm sie das Quietschen eines Schlüssels und das Ächzen einer Wohnungstür. Dann stampfte die Elefantenherde durch den Flur direkt über ihr, dass ihre Gläser in der Vitrine klirrten.

Wummm!, machte es. Und poff! Und wummpoff!

Oben hatte Lailis Vater gerade mit letzter Kraft die Koffer im Flur fallen lassen. Er warf sein Hawaii-hemd von sich und sich selbst im weißen Feinrippunterhemd auf das abgewetzte grüne Ledersofa in seinem Arbeitszimmer. Sein Dichtersofa, wie er immer zu sagen pflegte.

Dabei war er Lehrer – was ihn aber nicht davon abhielt zu dichten. Leider. Er zupfte sich einen besonders großen Hautfetzen von der verbrutzelten Nasenspitze ab, rieb sich die Beule an der Stirn und begann, mit einem Zipfel seines Unterhemds seine runde Brille zu putzen.

Und schon machte das Dichtersofa seinem Namen alle Ehre und das erste Gedicht schwuppste über seine trockenen Lippen:

Oh, Sofa, hab ich dich zurück!

Mein Sofa ist mein größtes Glück!

Du bist so schön und ledern,

das vertraute Quietschen deiner Federn

lässt vor Glück mein Herzen erzedern!

»He, das ist gut. Richtig gut!«, sagte er beglückt und tätschelte das Sofa.

»Erzedern gibt’s nicht«, sagte Laili.

»Papperlapapp.« Ihr Vater machte eine Handbewegung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. »Das ist Kunst. Das verstehst du nicht.«

Laili lächelte nur gequält. Seine Gedichte waren ihr peinlich. Sie schämte sich dafür. Sehr.

Am allerschlimmsten war es aber, wenn er sie vor ihren Freunden zum Besten gab. Ihre beste Freundin Tine zum Beispiel lachte zwar immer artig – aber mehr über den Dichter als über seine Gedichte. Was Lailis Papa jedoch leider entging. Deshalb setzte er dann regelmäßig sein »Ich-bin-ein-großer-Poet«-Lächeln auf. Er hielt sich nämlich für ein verkanntes Genie. (Verkannt stimmte. Genie nicht.) Er träumte davon, eines Tages berühmt zu werden und die Schule an den Nagel zu hängen (also nicht die ganze Schule, sondern bloß sein Lehrerdasein). Dann wollte er nur noch auf seiner Dichtercouch liegen und vor sich hin dichten. Eine Horrorvorstellung!

»Ah, wartet!«, rief Bernd. »Eins hab ich noch!«

Ein Elefant

kam angerannt

und setzte sich mit seinem Po

auf ein viel zu kleines Klo.

Mathilda kicherte. Das war ganz nach ihrem Geschmack. Laili und Olaf wechselten einen Blick. Olaf verdrehte die Augen hinter seinem Ponyvorhang. Zeit, die Fliege zu machen. Poff, poff! Er warf die Reisetaschen in eine Ecke. Mit hängenden Schultern und schlurfenden Schritten, als habe nunmehr sein letztes Stündlein geschlagen, schleppte er sich und seinen Rucksack in sein Zimmer. Peng, fiel die Tür hinter ihm zu. Ein aufgemalter Totenkopf prangte darauf. Das bedeutete wohl so viel wie Betreten verboten.

»Annirosel! Lila! Kasti! Kokodril! Talita! Pupella! Fidimini-Maus! Dingo! Pingu! Ich bin wieder daha!«, schrie Matilda mit ihrer Kreischkrähenstimme ihren Stofftieren und Puppen zu. Sie hatte wirklich viele davon. Und alle hatten blöde Namen. Auch ihre Tür fiel unsanft ins Schloss.

»Hallihallo, Anita! Ich bin’s, Ulaya«, flötete Lailis Mutter, die unter Fußkettchen-Geläut ins Wohnzimmer verschwunden war, ins Telefon. Statt das Fenster zu öffnen, zündete sie drei Räucherstäbchen gegen die abgestandene Luft an. Ihr Lieblingsgeruch war Sandelholz. Laili fand, es sollte besser Sandelstink heißen.

»Ja, wir sind wieder da! . . . Ja, es war einfach himmlisch!«, schwärmte Ulrike. »Nein, echt? . . . Das ist ja nicht zu fassen! Erzähl!« Und damit versetzte sie der Wohnzimmertür einen Tritt mit dem Schnabelschuh.

Laili stand alleine da. Mit einem kratzenden Geräusch zerrte sie ihre hinkelsteinschwere Reisetasche über den Holzboden im Flur zu ihrem Zimmer und schloss ebenfalls die Tür hinter sich.

Endlich zu Hause. Laili war heilfroh, wieder ihr eigenes Zimmer zu haben – nach drei Wochen Türkei-Urlaub, in denen Papa, Olaf, Mathilda und sie praktisch Tag und Nacht aufeinandergesessen waren. Nur Mama hatte sich abgeseilt und jeden Vormittag an einer Bauchtanz-Fortbildung teilgenommen. Sie war nämlich Bauchtanzlehrerin und hatte unten im Keller ihre eigene kleine Bauchtanzschule.

Laili riss ihr Fenster auf und ließ sich aufs Bett fallen. Nach der langen Reise erst im Bus, dann im Flugzeug und zuletzt noch im Taxi war sie ziemlich erschöpft. Zufrieden sah sie sich in ihrem kleinen Reich um. Alles war ganz zauberhaft weiß: das Bett, die Tagesdecke, der Schrank, der Schreibtisch, die Wände, der dicke Flauscheteppich, der so schön an den Füßen kitzelte. Ein paar gar zu bunte Bücher in ihrem Regal hatte Laili sogar mit silberweißem Geschenkpapier eingebunden. Das war ihre Art, gegen die kunterbunten Wände in der übrigen Wohnung zu protestieren, die mit noch mehr kunterbunten Tüchern, Spiegeln, Lampions und Lichterketten behangen waren. Sie schleuderte ihre Flipflops von sich und streckte ihre langen Beine mit den langen Füßen mit den langen Zehen aus. Ihre Zehen fand sie voll doof. Die sahen aus wie dürre Finger. Und wie bei Fingern war die mittlere die längste. Ein gefundenes Fressen für ihren Bruder, der sich ständig darüber lustig machte. Genau wie über ihre Haare, die ihr rotbraun und strubbellockig vom Kopf abstanden. Widerborsten nannte Papa sie zärtlich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, weil er unheimlich stolz auf sein tolles, selbst ausgedachtes Wort war. Bei Olaf hatten sie ihr den weniger schmeichelhaften Namen Wischmopp eingebracht und die Jungen in der Schule sagten manchmal Struppi zu ihr. Nur Marvin aus ihrer Klasse hatte noch nie was Blödes gesagt. Dafür guckte er sie immer mit so einem treudoofen Hundeblick an. Fehlte nur noch, dass er hechelte wie Mathilda.

Im Zimmer war es dunkler geworden. Laili sah auf. Draußen hatten sich dunkle Wolken zusammengeballt. Auf einmal zuckte ein Blitz über den Himmel und streckte seine Krakenarme aus, als wolle er sich etwas packen. Ein Haus? Einen Baum? Dann tat es einen gewaltigen Schlag und gleich darauf prasselte der Regen los. Dicke Tropfen platschten aufs Fensterbrett. Warum musste eigentlich immer so ein mistiges Mistwetter sein, wenn man aus dem Urlaub zurückkam? Laili schloss das Fenster und sah in den Vorgarten hinunter. Dort zwängte Frau Speckfett ihren dicken Hintern hektisch zwischen den Wäscheleinen hindurch und riss ihre Unterhosen-Hauszelte von der Leine. Ja, es war in der Tat ein schlechter Tag für Frau Speckfett – erst kamen die Nachtwehs und dann auch noch ein Gewitter. Papa ging gerade mit der Einkaufstasche durchs Gartentor und spannte seinen Regenschirm auf. Nach drei Wochen Urlaub herrschte im Kühlschrank gähnende Leere. Hinter ihm her schlurfte Olaf, der sich die Kapuze noch etwas tiefer ins Gesicht gezogen hatte. Für Regenschirme war er zu cool. Lieber sich nass regnen lassen. Aber wahrscheinlich ging er sowieso zu Atze, der nur zwei Häuser weiter wohnte. Atze war Olafs bester Freund und hatte während des Urlaubs seine Schlange gehütet. Wenn es nach Laili gegangen wäre, hätte Atze sie gern behalten können. Blödes Giftvieh!

Laili ging wieder zurück zum Bett und begann, in ihrer Reisetasche herumzukramen. Sie schob TShirts zur Seite, Shorts und Jeans, zerrte ihren Kulturbeutel – oder Kulburbedeutel