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Nr. 2730

 

Das Venus-Team

 

Terraner ergründen ein Geheimnis – und Ameisen sorgen für Verwirrung

 

Oliver Fröhlich

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

Kommentar

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.

Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung steht die Milchstraße vor einer schweren Prüfung: Auf der einen Seite droht ein interstellarer Krieg zwischen Tefrodern und Blues, auf der anderen Seite beansprucht das Atopische Tribunal die Rechtshoheit über die Milchstraße. Die Atopen verurteilen Perry Rhodan und Imperator Bostich zu einer 500-jährigen Isolationshaft und verfügen, dass das Arkon-System an seine eigentliche Urbevölkerung, die Naats, zurückzugeben sei.

Das selbstherrliche Gebaren der Atopen lockt zum einen Speichellecker und Krisengewinnler an, weckt aber zum anderen den Widerstand in der Galaxis.

Insbesondere die Menschen wollen sich nicht länger fremdbestimmen lassen. Um mehr über das Tribunal zu erfahren, entsenden sie DAS VENUS-TEAM ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Attilar Leccore – Der TLD-Chef hat einen Plan.

Bruce Cattai, Baucis Fender, Tacitus Drake, Patrick St. John, Benner – Das Venus-Team erhält einen gefährlichen Auftrag.

Gucky – Der Mausbiber macht einen Hausbesuch.

Farye Sepheroa – Rhodans Enkelin hat Probleme mit Ungeziefer.

Internanalyse XTX-1 nach Initialisierung: Ich bin erwacht. Geweckt von einem höheren Wesen, bevor es selbst einschlief. Oder starb. Ich rufe es und bekomme keine Antwort. Das war zu erwarten. Ich rufe die anderen, die so sind wie ich, und empfange nur schwache Echos wie aus großer Entfernung.

Ich begreife. Ich bin auf mich allein gestellt, doch die Aufgabe – mein einziger Existenzzweck! – ist klar.

Mein Name ist X-Trylissa-X, und ich halte stand.

 

 

1.

Frohes neues Jahr

Venus, 1. Januar 1515 NGZ

 

Einen Schritt weiter, und Benner wäre in den Abgrund gestürzt. Abrupt blieb er stehen, stützte sich an der Tunnelwand ab und sah nach oben, wo er das Geräusch hörte.

Für einen Augenblick herrschte Ruhe, dann ertönte erneut das Schaben eines Zuckerkrauchers – dieser charakteristische Laut, wenn das Tier mit seinen Mundzangen Holz herausbrach, es sich ins spitze Maul schaufelte und mit den Gaumenplatten zermahlte. Trotz ihrer mörderisch aussehenden Beißwerkzeuge gehörten die Zuckerkraucher zu den friedlichen Spezies der Venus.

Das half Benner allerdings herzlich wenig, wenn er zufällig in die Zangen eines dieser Wesen geriet. Oder wenn das Vieh, das über ihm einen Weg in das Colohd-Holz fraß, durch die Tunneldecke brach und ihn unter sich begrub.

Vor Schreck im Laufen nach oben zu schauen und deswegen in einen senkrecht in die Tiefe abknickenden Tunnel zu stürzen war allerdings auch nicht besser.

Gewiss, die paar Schrammen, die er davongetragen hätte, wären nach medizinischer Behandlung nicht besonders schmerzhaft gewesen. Der Kommentar von Patrick St. John hingegen schon! Zwar überaus höflich vorgetragen, wie es Pats distinguierter Art entsprach, aber gerade deshalb – und natürlich, weil er mit seinem kameradschaftlichen Spott völlig recht hätte – umso nagender.

»Nimm es dir nicht zu Herzen! Selbst als Mitglied eines Eliteteams ist man vor Fehlern nicht gefeit. Nicht einmal vor Anfängerfehlern.« So oder ähnlich hätte Benner es zu hören bekommen.

Er schob den Gedanken beiseite. Es stand zu viel auf dem Spiel, um sich ablenken zu lassen.

Seit gut einer Stunde kämpfte er sich durch das hölzerne Tunnellabyrinth durch natürliche Höhlungen und die von Zuckerkrauchern angelegten Gänge. Er zwängte sich durch Spalten, überwand überraschende Anstiege und – wie in diesem Fall – noch überraschendere Gefälle.

Der Lichtreif um seine Stirn leuchtete die Umgebung aus, ohne ihn zu blenden. Auf einen Schutzanzug hatte er verzichtet. Der hätte in der Enge mehr behindert als geholfen.

Wieder ertönte das Schaben des Zuckerkrauchers. Täuschte sich Benner, oder klang es näher als zuvor?

Er betrachtete die Decke über sich eingehender: die typische Maserung von Colohd-Holz, die Wirbel und Strudel, die sich zu bewegen schienen, wenn man sie ansah. Die goldenen Adern aus Harz.

Was war das?

Ein haarfeiner Riss zog sich quer über die Tunneldecke. Für einen normalen Menschen mit bloßem Auge nicht zu erkennen, aber für Benner klar und deutlich zu sehen. Und es war nicht der einzige.

Benner stellte sich vor den senkrecht in die Tiefe führenden Schacht und aktivierte den Höhenmesser, den er am oberen Handgelenk des rechten Armpaars trug. Gleich darauf projizierte das Armband eine holografische Darstellung des Abgrunds mit allen Daten in die Luft.

Über 28 Meter.

Na schön, vielleicht hätte er sich doch mehr als nur ein paar Schrammen geholt. Dennoch zögerte er nicht, trat einen Schritt nach vorn und stürzte in die Tiefe.

Er verstärkte die Wirkung des Miniabsorbers, der die Schwerkraft um seinen Körper bereits von den venusüblichen 0,88 Gravos auf die 0,25 Gravos seiner Heimat reduzierte. Nach und nach verlangsamte sich der Fall, bis Benner dem Schachtgrund entgegenschwebte.

Die Laute des Zuckerkrauchers veränderten sich, und ein Krachen mischte sich darunter. Benner musste es nicht sehen, um zu wissen, was geschehen war: Die Tunneldecke über ihm war geborsten. Der Druck des durchbrechenden Zuckerkraucherleibs sprengte Holzsplitter und größere Stücke ab.

Die ersten Trümmer rasten an ihm vorbei.

Benner drückte sich gegen die Schachtwand, rutschte dank der verringerten Gravitation nur langsam an ihr hinab, verschmierte seinen Körper mit den zähflüssigen, klebrigen Resten des Colohd-Harzes, blieb einmal fast daran hängen und wartete, bis der Holzregen endete.

Damit stand eines fest: Der Rückweg war ihm versperrt. Aber er hatte ohnehin nie vorgehabt, das Labyrinth auf dem gleichen Weg zu verlassen.

Er setzte am Ende des Schachts auf und regelte den Miniabsorber wieder auf 0,25 Gravos hoch. Ein letzter Blick nach oben. Der Zuckerkraucher ließ sich nicht sehen. Das Tier hatte sich also nicht dazu entschlossen, Benner nachzukriechen, sondern fraß lieber einen neuen Gang ins Holz.

Benner ging weiter. Immer wieder entdeckte er erstarrte goldene Pfützen auf dem Boden. Sie zeigten ihm, dass er die richtige Route eingeschlagen hatte. Er kam seinem Ziel näher.

Der Rest der Strecke war ein Kinderspiel. Nur einmal musste er sich durch einen engen Spalt zwängen, wo der Tunnel des Zuckerkrauchers in einen natürlichen Riss im Holz überging.

Benner glaubte, den süßen Duft bereits riechen zu können, wegen dem er unterwegs war. Ein Duft, wie ihn nur die Colohd-Bäume der Venus hervorbrachten.

Eine Biegung nach links, ein sanftes Gefälle – und plötzlich weitete sich der Tunnel in eine große Höhlung. Ein geronnener Goldsee bedeckte den Grund. Der betörende Geruch war von beinahe unerträglicher Intensität.

»Benner!«, erklang Patrick St. Johns Stimme aus dem Akustikfeld des Stirnreifs. »Alles in Ordnung da drinnen? Du bist schon lange unterwegs.«

»Alles bestens«, antwortete er. »Ich habe die Quelle gefunden.«

Wobei Quelle der falsche Ausdruck war. Vielmehr handelte es sich um ein Sammelbecken, in dem sich das Harz staute, das die Wände der Zuckerkraucherschächte ausschwitzten. Wenn er die geronnene Masse anbohrte, würde dickflüssiges Harz aus dem Loch treten. Dann musste er mit dem Handthermostrahler nur noch eine Öffnung nach draußen in die Holzwandung brennen, und sie konnten das zähe Gold absaugen: feinsten, frischen Colohd-Honig.

Glaubte man den Legenden, verfügte er über erstaunliche Heilkräfte. Ob Schlangenbisse oder dionisches Wildgrasfieber, alles vermochte dieses Wunderzeug zu kurieren.

Benner interessierte jedoch mehr, dass Colohd-Honig phantastisch schmeckte. Süß und zugleich herb, exotisch und doch mit einer vertrauten Note. Nach frisch gegerbtem Leder, der Schale von Molonisken-Beeren, wie sie an manchem Südhang von Dione wuchsen, trotz seiner Mürbheit erfrischend saftig und fruchtig.

Mit anderen Worten: so einzigartig, dass keine Sprache des Universums über ein ausreichendes Vokabular verfügte, um den Geschmack jemandem zu beschreiben, der nie Colohd-Honig gekostet hatte.

Benner schwebte mithilfe des Mikroabsorbers der Quelle entgegen. Kurz bevor seine Füße aufsetzten, dröhnte Pats Stimme aus dem Akustikfeld. »Vorsicht! Du bekommst ...«

Der Rest der Nachricht ging in ohrenbetäubendem Krachen und Splittern unter.

Die Wandung jenseits des erstarrten Honigsees brach auf. Colohd-Holzsplitter sirrten umher. Ein riesiges Stück traf Benner und schleuderte ihn quer durch die Höhle.

Das feste Harz knackte und bekam Risse. Colohd-Honig quoll hervor, bedeckte drei von Benners Armen, spritzte ihm ins Gesicht.

Mit aller Kraft versuchte sich Benner aus der klebrigen Masse zu befreien. Aus seiner hilflosen Position schielte er nach oben. Dorthin, wo die Wand aufgebrochen war. Plötzlich bestand die Welt nur noch aus riesigen Krallen, nicht minder riesigen Zähnen und einer bleichen Zunge, die auf Benner zuschnellte.

 

*

 

Sergeant Patrick St. John bog einen Zweig mit den fleischigen dunkelgrünen Blättern des Colohd-Baumes zur Seite und zeigte in Richtung Osten, wo die Sonne hinter den Wolkenmassen unterging. Das ohnehin düstere Dämmerlicht, das tagsüber auf der Venus herrschte, wurde noch düsterer.

Unterhalb des Beobachtungspunkts, den er und Leutnant Baucis Fender auf einem hoch gelegenen Colohd-Ast eingenommen hatten, erstreckte sich ein Meer aus Grün, Rot und Braun. Diese unendlich erscheinende Fläche von Baumwipfeln und gigantischen Farnwedeln wurde nur vereinzelt von noch gewaltigeren Baumriesen unterbrochen, die wie Speere aus der Masse ragten.

Gelegentlich stiegen Srilleon-Flugechsen von der Größe eines Sperlings aus dem Pflanzenmeer. Sie jagten Stech-Luramis, hornissengroße Insekten, deren Flügel in Form eines Propellers über ihrem bläulich schimmernden Leib surrten.

Gerade bei Sonnenuntergang schwirrten sie in kleinen Schwärmen über den Bäumen, als wollten sie sich von der letzten Helligkeit des Tages verabschieden. Auf diese Weise boten sie sich den zierlichen Echsen als schmackhaftes Abendbrot dar. Ein Angebot, von dem dennoch nur die wagemutigsten Srilleons Gebrauch machten, nämlich jene, die sich nicht fürchteten, selbst im Magen einer großen Flugechse zu landen, etwa eines Tektono.

Fressen und gefressen werden, dachte St. John. Eines der ältesten Prinzipien des Universums. Im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne.

Wenn sie Glück hatten und die Wolkendecke nicht so dicht über der Venus lag wie an anderen Tagen, würde sich ihnen gleich ein einzigartiges Schauspiel bieten.

»Sieh nur!«

Leutnant Baucis Fender schob sich von hinten an ihn heran und drückte ihm den Tornister, den er auf den Rücken geschnallt trug, fest gegen den Leib. »Ich sehe nichts«, behauptete sie.

»Nein? Erkennst du nicht, wie sich die Sonne jenseits der Wolken abzeichnet? Dort, der etwas hellere Fleck mit den ausgefransten Rändern. Ein seltener Anblick, vor allem auf einem Planeten, auf dem die Sonne nur alle zweihundertvierzig Stunden untergeht.«

»Findest du? Irgendwo auf der Venus geht die Sonne immer gerade unter.«

Er drehte sich um und verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen. »Was will man anderes von einer Frau erwarten, die über eine breit gefächerte wissenschaftliche Bildung verfügt, darüber hinaus aber den Sinn fürs Mysteriöse verloren hat.«

»Habe ich gar nicht! Ich kann an einem Sonnenuntergang nur nichts Mysteriöses erkennen. Das hat mit der Rotation der Planeten zu tun und nicht mit einem geheimnisvollen Zauber oder mächtigen Göttern, weißt du? Etwas, das man auf Terra übrigens bereits vor Tausenden von Jahren herausgefunden hat.« Wie immer, wenn sie ihn wegen seines Hangs zum Aberglauben gutmütig verspottete, schienen ihre meergrünen Augen zu funkeln.

»Banausin! Wenn die Sonne an Neujahr durch den Schleier dringt, das nächste Jahr nur Gutes bringt. Sag nur, du hast noch nie davon gehört.«

Für einen Augenblick geriet sie sichtlich ins Zweifeln. Doch dann lächelte sie ihn breit an. »So schlecht, wie das gereimt ist, hast du dir den Spruch gerade erst ausgedacht. Gib's zu!«

Patrick St. John schwieg.

»Ehrlich gesagt hätte ich nichts gegen ein gutes Jahr einzuwenden«, fuhr sie fort, als sie erkannte, dass sie keine Antwort bekommen würde. »Eines, in dem nicht eine selbst ernannte Gerichtsbarkeit Leute für Verbrechen, die sie noch nicht begangen haben und vielleicht nie begehen werden, anklagt, aburteilt und wegsperrt. Eines, in dem man uns einfach in Ruhe lässt. So ein richtig schönes langweiliges Jahr, in dem nichts Besonderes passiert.«

Der Sergeant lachte. »Und ich soll glauben, dass dir das gefallen würde?«

»Du erwartest ja auch von mir, dass ich dir deinen schlecht gereimten Sinnspruch abkaufe.«

»Wer von uns hat vorgestern denn am lautesten geschimpft, als die Solare Premier uns auf die Venus bestellt hat? Bruce? Tacitus? Benner? O nein, das warst du.«

Das stimmte. »Ausgerechnet die Venus!«, hatte sie gesagt. »Wir sind Elite-Raumlandesoldaten des Terranischen Liga-Dienstes. Was können wir auf einem Planeten erreichen, der im Augenblick keinerlei Rolle auf der kosmischen Bühne spielt? Aus der Ferne die Daumen drücken, dass alles gut ausgeht?«

»Als ob es dir schmeckt, so weitab vom Schuss zu sein.«

St. John grinste. »Mir wäre auch lieber, wenn wir uns in einem gemeinsamen Unternehmen mit der LFT-Flotte ein Onryonen-Schiff schnappen und bis in den letzten Winkel untersuchen könnten. Die Kenntnis der onryonischen Technik würde uns einen gewaltigen Schritt voranbringen.«

»Nur hält Attilar Leccore das Risiko leider für zu groß.«

Patrick St. John seufzte. In der Tat hatte der Chef des TLD dieses Ansinnen mit ruhigen Worten abgewiesen. Natürlich könnten wir nach Tefor fliegen und versuchen, eines der Schiffe in die Finger zu bekommen. Aber du weißt, wie gut sich der Tamaron offenbar mit den Onryonen und dem Atopischen Tribunal versteht und mit welcher Hingabe er sich zuletzt in den Medien präsentiert und produziert hat. Es gäbe nichts Schlimmeres als einen gescheiterten Einsatz mit anschließendem öffentlichen Vorführen der gefangenen Terra-Spione.

Den Einwand, dass man eben nicht scheitern dürfe, hatte Leccore nicht gelten lassen.

»Wie auch immer«, sagte Sergeant St. John. »Cai Cheung hat uns hierher bestellt und wird uns morgen sicherlich sagen, worum es geht. Außerdem hat Bruce gemeint, uns könnte eine interessante Mission bevorstehen.«

»Weiß er mehr?«

»Das hat er im Gefühl, sagt er.«

Baucis Fender lachte. »Unser Einsatzleiter und sein berühmtes Gefühl. Hoffentlich hilft es ihm auch dabei, genug Springpilze für uns alle zu finden.«

Nachdem das Team seinen Termin mit der Solaren Premier Cai Cheung erst am nächsten Tag in einem Hotel in Dodona wahrnehmen musste, hatte es sich zu einem kleinen Neujahrsausflug in den Dschungel entschlossen.

Sightseeing à la Venus – oder das, was ein Eliteteam des TLD darunter verstand.

Der Swoon Benner war in ein Astloch des Colohd-Baums geklettert, um darin nach einem Harzreservoir zu suchen, das ihm jedes Mal, wenn er davon sprach, ein Leuchten in den Augen bescherte.

Patrick St. John hatte vor einem oder zwei Jahren erstmals von dem legendären Colohd-Honig gekostet. Er konnte nicht verstehen, was Benner an dem süßherben klebrigen Zeug so mochte.

Major Bruce Cattai, der Leiter ihres Einsatzteams, und Sergeant Tacitus Drake hatten sich aufgemacht, eine andere Venus-Spezialität zu ergattern: Springpilze. »Echtes Essen für echte Männer«, hatte Cattai vor dem Abschied gesagt – und darin auch die zierliche Baucis Fender mit eingeschlossen, die so gar nicht an einen Mann erinnerte, Benner hingegen trotz seines biologischen Geschlechts nicht.

St. John wünschte Bruce und Tacitus viel Glück bei der Suche, denn Springpilze waren tatsächlich eine Köstlichkeit. In Butter geschwenkt entwickelten sie ein einmaliges, zart-rauchiges Aroma.

Leider war es nicht leicht, sie zu pflücken.

Erstens, weil sie selten vorkamen. Zweitens, weil man sie wegen ihrer geringen Größe von höchstens zwanzig Zentimetern im Dschungelgestrüpp kaum entdeckte. Drittens, weil sie aus feuchtem, schwerem Venusboden und damit in der Nähe von Polypenfallen, Hornfressern und verschiedenen Sauriern und Echsen wuchsen. Und viertens, weil sie die unangenehme Angewohnheit besaßen, sich bei unvorsichtiger Berührung aus dem Boden zu katapultieren, dem unerfahrenen Pflücker ins Gesicht zu springen und dabei ein Hautgift abzusondern.

Deshalb sprach man auch nicht vom Pilzesammeln, sondern vom Jagen.

Eben ein »echtes Essen für echte Männer«.

»Wo bleibt Benner nur?«, fragte Baucis Fender. »Der kriecht schon seit ewigen Zeiten durch diesen Baum. Müsste er nicht langsam mal eine Quelle find...«

»Pssst!«, machte St. John.

Fender verstummte schlagartig.

Vorsichtig ließ der Sergeant den Ast in seine Ursprungsposition gleiten. Das Fenster aus der Baumkrone auf einen majestätischen Sonnenuntergang schloss sich, erlaubte aber noch immer, zwischen den Blättern hindurchzuschielen.

Über den Wipfeln der etwa siebzig Meter hohen Farnbäume und damit ungefähr zwanzig Meter unter ihnen kreiste ein Tektono. Offenbar hatte er die kleinen Srilleon-Echsen gesehen und wollte sich einen abendlichen Leckerbissen gönnen. Das riesige Vieh stieß ein ohrenbetäubendes Kreischen aus, das das allgegenwärtige Zirpen, Summen und Keckern für einen Augenblick verstummen ließ.

St. John und Fender schlossen gleichzeitig die Anzughelme und schalteten auf Nachtsicht.

»Was für ein Brocken!«, stieß Baucis Fender aus, nachdem die Flugechse sie nicht mehr hören konnte.

Patrick St. John las die Maße ab, die der Anzug ermittelte und auf der Innenseite des Helms darstellte. »Eine Spannweite von 31,4 Metern. Sieh dir diesen spitzen Schnabel an! Bei diesem Burschen würde ich nur ungern auf dem Esstisch landen.«

»Ich möchte eigentlich bei niemandem auf dem Esstisch landen. Wird Zeit, dass wir uns zurückziehen. Zumindest bis unter die Wipfelgrenze der Farnbäume. Wenn er uns in dieser Höhe entdeckt, pickt er uns aus dem Blattwerk wie eine Beere.«

»Du hast recht. Aber behutsam! Meines Wissens reagieren diese Prachtstücke auf Bewegung.« Er aktivierte den Kommunikator. »Benner, alles in Ordnung da drinnen? Du bist schon lange unterwegs.«

»Alles bestens!«, erklang die Antwort. »Ich habe die Quelle gefunden.«

St. John ließ sich Benners Position innerhalb des Colohd anzeigen: ein Stück tiefer, noch unterhalb der Farnbaumwipfel.

Über ihm geriet das Astwerk in Bewegung. Für einen Augenblick fürchtete St. John, der Tektono hätte sie entdeckt und versuchte nun, sie mit seinem Schnabel aus dem Geäst zu pflücken. Ein Irrtum. Viel besser sah die Lage deshalb aber trotzdem nicht aus.

Aus der Krone über ihnen hangelte sich eine Greifschwanz-Baumechse herab, so schnell, dass das Auge kaum folgen konnte.

St. John wich zurück, da war das Vieh bereits vorbei, kletterte tiefer, packte mit seinem vier Meter langen Schwanz einen Ast, schwang sich auf den Stamm zu und klatschte mit dem behaarten, alligatorartigen Leib dagegen.

Genau auf der Höhe, auf der das Display Benner anzeigte! Das konnte kein Zufall sein. Die Echse musste entweder die Honigquelle oder deren Entdecker gewittert haben.

»Vorsicht, Benner!«, schrie St. John. »Du bekommst Besuch!«

Durch die Äste und Blätter hinweg vermochten sie nicht viel zu erkennen, aber das wenige, was sie sahen, reichte aus. Das Greifschwanz-Vieh nagelte seine Krallen in den Stamm, hielt sich auf diese Weise fest und brach mit zwei, drei Hieben seines gewaltigen Gebisses das Holz auf. Äste krachten, Splitter flogen.

Benners Schrei hallte durch St. Johns Helm.

Ohne zu zögern, sprangen die Soldaten von dem Ast, auf dem sie gekauert hatten. Sie aktivierten die Gravopaks ihrer Anzüge und stürzten dem Kameraden mehr entgegen, als dass sie schwebten. Aber zu besonnenem Vorgehen blieb keine Zeit.

St. John wich den an ihm vorbeijagenden Ästen aus, brach durch dünnere Zweige und Blätter und bremste erst im letzten Augenblick so stark ab, dass er mehr oder weniger sanft auf einem Ast knapp oberhalb der Greifschwanz-Echse landete. Beinahe in der gleichen Sekunde setzte Baucis Fender neben ihm auf – eine Spur eleganter, wie er neidlos anerkannte.

Er wollte den Strahler ziehen, da barsten Äste über ihnen, ein Regen aus Laub, Holz- und Rindestückchen ging nieder – und ein langer spitzer Schnabel zuckte auf sie zu.

Reflexartig trat Baucis Fender einen Schritt zur Seite, sonst hätte der Tektono sie durchbohrt. St. John machte einen Satz rückwärts, presste sich den Tornister auf den Rücken und sich selbst gegen den Baumstamm.

Baucis rutschte auf dem bemoosten Ast ab und kippte weg. Sofort übernahm der Gravopak und verhinderte einen tiefen Fall. Sie landete auf einem riesigen, tellerartigen Blatt. Sie sah nach oben, wo der Tektono durch die Äste zu brechen versuchte, daher erkannte sie die Gefahr nicht, in der sie sich befand.

»Vorsicht!«, rief St. John.

Zu spät.

Mit einer Geschwindigkeit, die Fender keine Zeit zum Reagieren ließ, klappte das Blatt zusammen und schloss sie ein.

St. John wollte ihr zu Hilfe kommen, doch der Tektono hinderte ihn daran. Höchstens eine Handbreit vor St. Johns Helm schnappte er mit dem Schnabel, präsentierte eine Reihe nadelfeiner Zähne auf den Schnabelkanten, stieß ein Kreischen aus und klappte mit einem lauten Klacken zu.

Der Sergeant schielte an dem mörderischen Fresswerkzeug vorbei und dankte der dicken Astgabel über ihm, dass sie den Tektono nicht weiter vorstoßen ließ. Zumindest vorerst.

Über dem Schnabel glotzten ihm rote Telleraugen entgegen.

Er wollte sich zur Seite schieben. Vergeblich. Der Tornister musste sich irgendwo verfangen haben.

In dem Blatt, das Baucis Fender geschnappt hatte, entstand unvermittelt ein faustgroßes, qualmendes Loch. In der nächsten Sekunde peitschte die Blattfalle hin und her, auf und ab, vor und zurück. Sie krachte gegen einen Baumstamm, schüttelte sich, erbebte. Dann begann der Tanz von vorn. Eine sämige Flüssigkeit wie Speichel klatschte aus der Öffnung auf die umliegenden Bäume und den Tektono-Schnabel. Sie rann hinab und hinterließ eine flache Mulde in dem hornigen Material.

Eine schwache Säure!

»Baucis? Alles klar bei dir?«

»Wie man es nimmt«, ertönte die gehetzt klingende Antwort. Das Blatt zuckte weiter umher. Mit jedem Schlag gegen einen Stamm oder bei einem überraschenden Richtungswechsel stöhnte Fender auf. »Ich habe meine Waffe fallen lassen. Hilfe wäre gut.«

»Ich arbeite dran. Benner?«

Eine Antwort blieb aus, dafür erzitterte der Leib der Greifschwanz-Echse. Der lange Schwanz peitschte um sich und verfehlte St. John nur um Haaresbreite.

Die Astgabel über ihm gab ein alarmierendes Knacken und Ächzen von sich.

Es wurde höchste Zeit.

Vorsichtig tastete Patrick St. John nach dem Strahler. Leider schränkten der ständig nach ihm schnappende Tektono-Schnabel vor ihm, der verhakte Tornister hinter ihm und der unberechenbar zuckende Greifschwanz auf der Seite seiner Waffenhand die Bewegungsfreiheit erheblich ein.

Endlich berührten seine Fingerspitzen den Strahlergriff. Gleich hatte er es geschafft!

Von der Seite flirrte ein bläulicher Schemen heran, hieb gegen den Schnabel und umkreiste ihn einmal vollständig. Dabei hinterließ er eine Scharte, die nicht wesentlich tiefer ging als die der Blattsäure, dafür umso schmerzhafter ausfiel. Der Flugsaurier stieß ein wütendes Kreischen aus und zog sich zurück.

Der Schemen fiel auf einen Ast, entpuppte sich dort als silbrig blauer Bumerang, rutschte zwischen den Zweigen hindurch und stürzte dem Urwaldboden entgegen.

Nun bekam St. John den nötigen Spielraum. Er trat einen Schritt nach vorn, löste mit einem kurzen Ruck den verhakten Tornister vom Colohd-Stamm und zog den Strahler.

Unnötig, wie sich gleich darauf herausstellte.

Von unten schwebte zwischen den Ästen der Besitzer des Bumerangs herauf: Bruce Cattai, der Leiter ihres Teams. In der Darstellung des Nachtsichtgeräts leuchteten die weißen Zähne in dem dunkelhäutigen Gesicht. In der Hand hielt Cattai einen Paralysestrahler, den er auf die Greifschwanz-Echse abfeuerte.

Das Tier versteifte sich, die Krallen lösten sich aus dem Holz, und die Bestie fiel in die Tiefe. Mit Erstaunen sah St. John, dass die Zunge des Biests nur noch ein verkohlter Klumpen war.

»Baucis!« Er deutete auf die Blattfalle.

Da war das fünfte Mitglied ihres Teams heran. Mit nacktem Oberkörper sprang Tacitus Drake von einem Ast zum nächsten, hechtete mit einem gewaltigen Satz zu dem Blatt und klammerte sich daran fest wie ein Ertrinkender an Treibgut.