Andreas Schlüter

Level 4.3

Der Staat der Kinder

 

Deutscher Taschenbuch Verlag

 

Ungekürzte Ausgabe 2010
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Lizenzausgabe mit Genehmigung des Arena Verlags
© für ›Level 4.3 – Der Staat der Kinder‹ 2006 Arena Verlag GmbH, Würzburg
© für ›Level 4.3 – Aufstand im Staat der Kinder‹ 2007 Arena Verlag GmbH, Würzburg

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40865 - 3 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 71429 - 7
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www.dtv.de/​ebooks

Inhalt

Der Staat der Kinder

Das Projekt

Nichts und niemand

Geisterstadt

Das Labyrinth

Die Frogs

Hunger

Geheimes Level

Essen

Kolja

In der Schule

Signale

FROGS

Feuer

Cops

Verfolgung

Eine Stadt entsteht

Outside

Einschnitt

Sarah

Gefahr

Überleben

Falsche Flucht

Der Staat der Kinder

Die Macht im Staat

Entscheidung

Die Insel der Verdammten

Miriam

Oberstadt

Rikscha

Bankgeschäfte

Das Programm läuft

Gewappnet

Aufstand im Staat der Kinder

Mitternachtstreff

Der Wald

Die Entscheidung

Cop-Revier

Cops verwirren

Nachts im Wald

In der Oberstadt

Verhör

Tiere

Kronleuchter

Ein kühnes Angebot

Hauptquartier

Neue Waffen

Beobachtung

Geldregen

Flucht aus Outlaw

Verbindung mit der Oberstadt

Armee

Spion

Die Höhlen

Flucht der Frogs

Vorbereitung auf das Kinderfest

Höhle des Löwen

Vereinigung

Chaos-Tage

Der Löwe ist los!

Schaltzentrale

Die Rettung

Geldregen und Tortenschlacht

Machtlos

Angriff

Die Schlacht geht weiter

Master X' letztes Aufgebot

Kolja

Geschrei

Erwachen

Die letzten Vorbereitungen

Ruhe vor dem Sturm

Der letzte Kampf

Und nun?

Master X

|5|Der Staat der Kinder

|7|Das Projekt

Miriam war von Kopf bis Fuß verschmiert. Sie hatte gerade mal drei Pinselstriche an die Wand gemalt, und schon sah sie aus, als hätte sie mit der Farbe geduscht. Weder die Mütze, die sie sich aus einer Zeitung gefaltet hatte, noch ihre Arbeitshandschuhe hatten das verhindern können.

Frank schüttelte den Kopf. Er selbst sah aus wie aus dem Ei gepellt. Miriam hätte glatt behauptet, Frank habe sich vor der Arbeit gedrückt. Doch sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie er die Decke gestrichen hatte. Die Decke! Und nicht einen Spritzer hatte er abbekommen! Sie dagegen hatte nur die rosa Farbe angerührt, den Farbton mit wenigen Pinselstrichen an der Wand ausprobiert, und schon war sie vollkommen ruiniert.

»Ich hasse das!«, stöhnte sie. »Weshalb können nicht richtige Maler unseren Klassenraum neu streichen wie an anderen Schulen auch?«

»An anderen Schulen werden die Klassenräume überhaupt nicht gestrichen«, behauptete Thomas. »Viel zu teuer!«

»Außerdem konnten wir auf diese Weise die Farbe aussuchen!«, sagte Jennifer. Die Mal-Aktion war Teil eines großen Schulprojekts. Sämtliche |8|Schulklassen verpassten ihren Räumen einen neuen Anstrich. Die Eltern hatten die Farbe spendiert.

Thomas grinste Miriam breit an. Er trug einen zerfledderten Blaumann und darüber einen Arztkittel, den er mal aus der Mülltonne einer Klinik gezogen hatte.

»Ey, da ist noch voll das Blut dran!«, behauptete Achmed. Aber das stimmte natürlich nicht. Es war nur die rote Lackfarbe, mit der Thomas den Türrahmen gestrichen hatte.

Achmed hielt das für eine Ausrede und begann zu schildern, wie der Arzt in dem Kittel jemandem das Bein abgesäbelt hatte . . .

»Alles Quatsch. Die Flecken stammen von Achmeds Gehirnamputation!«, stichelte Kolja. Achmed stürzte sich auf ihn, und schon rollten die beiden ringend durch den Raum, bis sie gegen Ben rempelten.

Der stolperte und landete mit dem Ellenbogen in einem Farbeimer.

»Mann, ihr Bekloppten!«, schimpfte er. »Seht euch die Sauerei an!«

Frank stand mitten im Raum, stützte die Hände in die Hüften und betrachtete das Chaos. »Okay!«, rief er. »Ich glaube, wir legen eine kurze Pause ein und putzen erst mal!«

Er schnappte sich einen der Putzeimer, die sie |9|vorsorglich mitgebracht hatten, und verschwand damit auf die Jungen-Toilette.

Zwei Minuten später war er zurück. »Im Klo ist das Wasser abgestellt!«, meldete er.

»Das kann nicht sein«, erwiderte Jennifer. »Ich hab doch vor zehn Minuten noch Wasser zum Farbmischen geholt!«

Frank zog die Schultern hoch. »Vielleicht geht's bei den Mädchen noch!«, mutmaßte er.

Jennifer schnappte sich den Eimer, um ihn auf der Mädchentoilette mit Wasser zu füllen. Doch auch sie kehrte nach wenigen Minuten ohne Wasser zurück.

»Na prima!«, stöhnte Miriam. »Ausgerechnet jetzt!« Sie hatte eigentlich hinüber zur Turnhalle gehen wollen, um sich dort die Farbe abzuduschen.

»Ich frage mal den Hausmeister!«, bot Ben sich an. Allerdings wusste er nicht, wo der Hausmeister in diesem Moment steckte. Vielleicht war er gar nicht zu erreichen. Es war schließlich Samstag. Natürlich hatte der Direktor das Projekt »Wir verschönern unsere Schule« aufs Wochenende verlegt, damit ja kein Unterricht ausfiel. Aber wenn jemand in der Schule war, musste eigentlich auch der Hausmeister anwesend sein, überlegte sich Ben. Sie waren auch nicht die einzige Klasse, die an diesem Wochenende ihr Klassenzimmer renovierte. |10|Alle fünften, sechsten und siebten Klassen waren zu diesem Zweck an diesem Wochenende in die Schule gekommen.

Seltsamerweise war von ihnen niemand zu sehen. Vorhin hatte in den Nachbarklassen noch reger Betrieb geherrscht.

Machten die alle eine Pause, weil das Wasser abgestellt war? Und wenn, wo verbrachten sie diese Pause? Weder in den Klassenräumen noch auf den Pavillongängen noch draußen auf dem Hof begegnete Ben irgendjemandem. Ein unheimliches Gefühl überkam ihn.

»Hallo?«, rief er über den Schulhof. »Ist hier jemand?«

Niemand antwortete. Es war gespenstisch.

»HALLO?«, rief Ben noch einmal.

Er wartete ab.

Nichts.

»HAAAAALLLOOOO?«

Er drehte sich um, sah zurück zum Pavillon, in dem sich seine Klasse befand. Sollte er schnell zurücklaufen, um nachzusehen, ob wenigstens seine Freunde noch da waren?

Natürlich waren die da. Wo sollten sie hingegangen sein, ohne dass er es mitbekommen hätte? Also entschied er sich, weiter zum Verwaltungsgebäude zu laufen. Der Hausmeister war bestimmt dort und ein paar Lehrer vielleicht, die |11|sich darum kümmerten, weshalb das Wasser abgestellt worden war.

Er stieß die Tür des Verwaltungsgebäudes auf und stand in einem leeren Flur.

»Hallo?«, rief er.

Niemand da.

Er sah sich um und . . .

Der Kopierer!, kam ihm in den Sinn. Wo war der Kopierer, der sonst dort in der Ecke stand? Wurde der Kopierer im Zuge der Renovierung auch gleich mit erneuert?

Er stieß die Tür zum Lehrerzimmer auf und – blickte in einen leeren Raum. Komplett leer! Renovierten die Lehrer auch ihr Zimmer? Davon war in der Vorbereitung nichts gesagt worden. Alle Klassenräume hatten sie am gestrigen Nachmittag leer räumen müssen. Aber beim Lehrerzimmer hatte Ben niemanden gesehen. Wann sollten die Lehrer ihr Zimmer ausgeräumt haben? Hier ging etwas nicht mit rechten Dingen zu! Ben machte auf dem Absatz kehrt, raste zurück zum Pavillon und riss die Tür seines Klassenzimmers auf. »Gott sei Dank!«, stieß er aus. »Ihr seid noch alle da!«

Jennifer sah ihn verwundert an. »Wo sollten wir denn sonst sein?«

»Was ist nun mit dem Wasser?«, fragte Miriam.

»Weiß nicht«, antwortete Ben.

Miriam glaubte sich verhört zu haben. »Was soll |12|das heißen: weiß nicht?«, blökte sie los. »Deshalb bist du doch zum Hausmeister gelaufen. Um ihn nach dem Wasser zu fragen. Mann, ich muss dringend duschen!«

Sie streckte Ben ihre farbverschmierten Arme entgegen.

»Ich habe den Hausmeister nicht gefunden«, sagte Ben und erzählte, was ihm auf der Suche nach dem Hausmeister passiert war. Die Schule stand leer.

»Willst du uns vergackeiern?«, fragte Kolja. Es gab drei fünfte, vier sechste und vier siebte Klassen. Das waren insgesamt elf Schulklassen, die am Morgen mit der Renovierung begonnen hatten. Rund dreihundert Personen. Die konnten doch nicht alle von einer Minute auf die nächste verschwinden!

Kolja stieg von der Leiter, schob Ben beiseite und ging hinaus auf den Flur, um sich persönlich davon zu überzeugen, ob Ben geschwindelt hatte oder nicht.

Auch Kolja erblickte niemanden.

»HEY!«, rief er laut durch den Flur. »Ist hier jemand?«

Er erhielt keine Antwort.

»Sag ich doch!«, wiederholte Ben. »Es ist niemand da! Wir sind allein in der Schule. Und die Möbel sind auch weg!«

|13|Nichts und niemand

Die Freunde hatten die ganze Schule abgesucht und niemanden gefunden. Sämtliche Räume der Schule standen leer – als sollte sie nicht renoviert, sondern abgerissen werden. Die ausgestopften Tiere im Biologieraum – fort. Die Landkarten im Kartenraum – weg. Die Bücher in der Bibliothek – nicht mehr da. Kein Schreibtisch im Büro, keine Turngeräte in der Sporthalle, keine Computer im Computerraum, nichts. Nur die nackten Gebäude waren geblieben. Und sie selbst: Ben, Jennifer, Miriam, Frank, Thomas, Kolja, Achmed. Sieben von dreiundzwanzig aus ihrer Klasse. Genau jene sieben, die sich zu dem Zeitpunkt, als Ben losgegangen war, im Klassenraum aufgehalten hatten. Von den anderen Schulklassen ebenfalls keine Spur.

»Moment mal!«, merkte Jennifer auf. »Das stimmt nicht! Kathrin hat erst nach Ben den Raum verlassen! Sie wollte die Blaustrumpf etwas fragen.«

Vier waren nicht zur Renovierung erschienen. Die anderen elf aus ihrer Klasse hatten zusammen mit Gesine Blaubert, der Lehrerin, den Musikraum streichen wollen. Dorthin also war Kathrin |14|gegangen. Doch im Musikraum war keine Menschenseele. Mehr als eine Stunde lang suchten Ben und seine Freunde jeden Winkel der Schule ab. Dann versammelten sie sich auf dem Hof in der Nähe des Fischteiches. So unglaublich es auch erschien, es war bittere Realität: Während sie innerhalb ihres Klassenraumes mit der Renovierung beschäftigt waren, war außerhalb des Raumes irgendetwas Furchtbares passiert.

»Aliens!«, vermutete Thomas.

Kolja tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. »Wie blöd müssten die Außerirdischen denn sein, wenn sie Millionen Kilometer weit fliegen, um hier ein paar Schulmöbel zu klauen?«

Thomas verstand den Einwand nicht.

Trotz der ernsten Lage musste Achmed kurz lachen. »Thomas als Außerirdischer würde das fertigkriegen. Der sammelt doch ohnehin jeden Mist. Der würde auch fett durch drei Galaxien jetten, um sich hier 'ne Packung Kreide zu krallen. Der ist so krass, der Typ, ey!«

»Darf ich mal daran erinnern, dass nicht nur eine Packung Kreide fehlt, sondern fast dreihundert Menschen!«, wehrte sich Thomas. »Vielleicht waren das außerirdische islamische Terroristen, die alle entführt haben und . . .«

Achmed sprang sofort auf ihn zu. Mit einem schnellen Griff bekam er Thomas am Kragen zu |15|fassen. »Wir Muslime sind keine Terroristen, du Schwachkopf!«

Thomas blickte erst auf Achmeds linke Hand, die ihm den Kragen zuschnürte, dann auf dessen rechte, die zur Faust geballt vor seinem Gesicht herumfuchtelte.

»Nee«, sagte er ruhig. »Voll friedlich. Sieht man ja!«

Jennifer ging dazwischen und trennte die beiden. »Ihr habt sie wohl nicht mehr alle! Kriegt euch mal wieder ein. Wir haben hier echt andere Probleme! Islamische Außerirdische! Also wirklich, Thomas!« Sie schüttelte den Kopf.

»Wer sagt denn, dass mit den anderen etwas passiert ist?«, fragte Ben in die Runde. »Und nicht mit uns?«

Miriam fand den Gedanken interessant. »Du meinst, nicht die anderen sind verschwunden, sondern wir?«, fragte sie nach.

Achmed drehte sich einmal um sich selbst und ließ seinen Blick durch die Schule schweifen. Was Ben sagte, war nur schwer vorstellbar. Schließlich standen sie eindeutig in ihrer Schule. Die Gebäude waren alle da. Nur leer. Kein Zweifel, wer hier fehlte: die anderen. Wenn sie selbst verschwunden wären, würden sie doch nicht hier in der Schule stehen. Es sei denn . . .

Es sei denn, sie wären wieder in das Computerspiel ›|16|Die Stadt der Kinder‹ katapultiert worden! Die Stadt der Kinder war eine exakte Kopie der wirklichen Stadt. Doch sie funktionierte nach den programmierten Regeln des Computerspiels. Ben und seine Freunde waren Figuren des Spiels.

»Aber dann müssten doch die Kinder noch da sein«, wandte Frank ein. »Und die Einrichtungen auch. In der ›Stadt der Kinder‹ verschwinden nur die Erwachsenen.«

Ben nickte. So war es früher in dem Spiel gewesen. Aber wer sagte, dass das noch immer so sein musste? Vielleicht hatte jemand das Spiel umprogrammiert, zu welchem Zweck auch immer!

»Ich vermute, wir befinden uns in einer leeren Stadt!«, sagte Ben schließlich.

»Was?«, entfuhr es Jennifer. »Du glaubst . . .« Sie musste eine kleine gedankliche Pause einlegen, um sich zunächst einmal selbst zu vergegenwärtigen, was Bens Worte bedeuteten, ehe sie fortsetzte: ». . . eine wirklich leere Stadt. Nur leere Gebäude? Ohne . . .« Wieder dachte sie nach.

». . . ohne Duschen«, ergänzte Miriam.

Kolja stöhnte. Duschen! Woran Miriam als Erstes dachte!

». . . ohne Möbel«, setzte Jennifer nun fort. »Ohne Betten!«

|17|»Und ohne Essen?«, fiel Frank ein.

»Ohne Töpfe oder Herde, um etwas zu kochen!«, rief Thomas.

Jennifer begriff als Erste, wie ernst ihre Lage war, wenn sie mit ihrer Vermutung recht hatten. »Wir müssen das sofort prüfen!«, schlug sie vor.

Gemeinsam rannten sie los zum Einkaufszentrum.

|18|Geisterstadt

So ein Einkaufszentrum hatte noch kein Mensch gesehen, war Ben sich sicher. Das Einkaufszentrum war vollständig leer. Es gab zwar Läden mit Leuchtschildern und allem, was dazugehörte. Aber diese Läden standen ganz und gar leer.

Aufgereiht wie eine Fußballmannschaft während der Nationalhymne standen die sieben Kinder nebeneinander inmitten des Zentrums und betrachteten die seltsame Leere mit offenen Mündern und großen Augen.

Ben gab Thomas insgeheim recht. Es sah tatsächlich ganz so aus, als ob Außerirdische am Werk gewesen wären.

Thomas zeigte auf den Gemüseladen. Nichts außer dem Schild ›Obst und Gemüse‹ erinnerte daran, dass hier jemals etwas verkauft worden wäre.

»Das kann nicht sein!«, sagte Jennifer. »Das glaube ich einfach nicht!«

Sie lief in den Gemüseladen hinein, kehrte aber sofort wieder um. »Ben hatte recht«, stellte sie mit ängstlichem Zittern in der Stimme fest. »Wir sind in einer leeren Stadt!«

Betroffen sahen die Freunde sich an.

|19|»Wir müssen hier raus!«, rief Kolja in die Runde. »Und zwar schnell!«

»Ach. Und wie, du Schlaumeier?«, fragte Miriam.

Kolja dachte nach. Als sie das erste Mal in die Stadt der Kinder geraten waren, war er in einem Labyrinth verschwunden, während Ben mithilfe eines Computerprogramms die anderen Kinder zurück in die reale Welt versetzt hatte.

Beim zweiten Mal hatten sie die Schule, das Museum und die Bibliothek im Spiel aktivieren müssen, um an das Programm heranzukommen, das Ben dann in bewährter Weise hatte programmieren können.

Doch das würde dieses Mal nicht funktionieren, denn alle Gebäude standen leer.

»Das Labyrinth!«, schlug Kolja vor. »Vielleicht führt durch das Labyrinth ein Weg zurück!«

»Wenn es einen gibt, haben wir ihn damals schon nicht gefunden!«, warf Ben ein. »Warum sollten wir das jetzt schaffen?«

»Weil wir jetzt keine andere Chance haben!«, antwortete Kolja.

Seine Antwort überzeugte.

»Wir haben keine Chance, also nutzen wir sie!«, rief Miriam heroisch aus.

Da niemandem etwas Besseres einfiel, stimmten die anderen zu.

|20|Sie kannten zwei Eingänge ins Labyrinth: einen durch eine Bodenklappe im Lehrerzimmer. Der andere durch eine Pyramide in der Nähe des Zoos.

»Zuerst zur Klappe!«, entschied Frank und rannte auch schon los. »Die ist näher!«

Doch kaum hatte er das Einkaufszentrum verlassen, blieb er stehen. Ein seltsames Gefühl beschlich ihn – als ob er beobachtet würde; als ob ihm hinter jeder Hausecke jemand auflauerte. Jeder Schritt fiel ihm schwer. Wie in der Stille das leise Ticken einer Uhr plötzlich wie ein Schlagzeug dröhnt, kam ihm in der leeren Stadt jede kleine Bewegung wie eine Bedrohung vor. Er nahm wahr, wie die Blätter der Bäume im Luftzug raschelten. Ein über die Straße rollendes Papierknöllchen erregte seine Aufmerksamkeit ebenso wie ein gelbes Blütenblatt, das eine Rose ins Beet abwarf.

Auch Jennifer wähnte in jedem Hauseingang, hinter jeder Sitzbank, hinter jedem Laternenpfahl jemanden, der sie beobachten oder verfolgen könnte. Das Gefühl machte ihr Angst. Andererseits hoffte sie geradezu, sie würden jemandem begegnen. Dann wären sie endlich nicht mehr allein in dieser Stadt . . .

»Da!«, schrie Miriam.

Jennifer zuckte zusammen.

|21|»Ein Schatten!«, behauptete Miriam.

Jennifer hatte nichts gesehen. Auch Frank nicht. Doch Miriam war sich ganz sicher. »Dort in der Seitenstraße!«

»Hey?«, rief Kolja. Keine Antwort.

Frank lief auf die Ecke zu.

In dem Moment kam tatsächlich jemand zum Vorschein. Frank erstarrte.

»Kathrin!«, stieß er erleichtert aus.

»Hier seid ihr!«, schrie Kathrin. Ihr Gesicht war verweint. »Weshalb seid ihr bloß alle abgehauen?«

»Wir sind nicht abgehauen«, stellte Frank klar.

»Im Musikraum war niemand!«, erzählte Kathrin. »Aber irgendjemand muss ihn leer geräumt haben, dachte ich. Dann hab ich die Blaubert gesucht, aber nirgends gefunden. Und als ich in den Klassenraum zurückkam, war da auch niemand mehr. Dann bin ich nach Hause gelaufen. Aber es gab kein Zuhause mehr. Alles leer!«

Kathrin begann von Neuem zu weinen.

Jennifer legte ihren Arm um sie.

»Sogar mein Hund und meine Meerschweinchen sind verschwunden!«, schluchzte Kathrin.

»Und sonst hast du auch niemanden gesehen?«, fragte Ben. »In der ganzen Stadt nicht?«

Kathrin schüttelte den Kopf. »Niemanden! Auf dem ganzen Weg nicht! Wo sind die alle?«

|22|Kathrin vergrub das Gesicht in ihren Händen und heulte Rotz und Wasser.

Auch Jennifer standen Tränen in den Augen. Und nicht nur ihr.

Kolja zog laut den Rotz hoch und spuckte aus. Achmed tat so, als wäre ihm etwas ins Auge geflogen.

Thomas dagegen ließ ungeniert einige Tränen über die Wangen kullern.

»Wir haben auch alles abgesucht«, erzählte Frank. »Und niemanden gefunden!«

Dann berichtete er Kathrin, was sie sich überlegt hatten und dass sie versuchen wollten, durchs Labyrinth einen Ausweg zu finden. »Ich komme mit!«, entschied Kathrin. »Ich bin so unheimlich froh, dass ihr da seid!«

|23|Das Labyrinth

Jennifer war ganz und gar nicht wohl bei dem Gedanken an das Labyrinth. Schon einmal hatten sie dort vergeblich einen Ausgang gesucht. Sie fragte sich, welche Überraschung diesmal auf sie wartete. Denn es war offenkundig, dass das Computerspiel ›Die Stadt der Kinder‹ ein weiteres Mal umprogrammiert worden war.

»Wo ist eigentlich Thomas?«, fragte Miriam.

Thomas fehlte häufiger. Weil er so langsam war, trottete er der Gruppe meistens hinterher. Er war ein leidenschaftlicher Sammler aller möglichen Dinge. Aus Angst, irgendetwas zu übersehen, das »auf der Straße lag und das man sich nur zu nehmen brauchte«, wie er immer sagte, hatte er sich ein Schneckentempo angewöhnt. Auf diese Weise übersah er nichts. Aber in dieser Stadt gab es nichts zu finden. Die Stadt war leer.

»Thomas findet selbst in einer leeren Stadt etwas«, war Achmed sich sicher. Aber dass von Thomas überhaupt nichts zu sehen war, beunruhigte auch ihn. »Soll ich noch mal zurücklaufen und nach ihm schauen?«, bot er sich an.

Doch da erschien Thomas schon an der Straßenecke. In seiner rechten Hand hielt er etwas, |24|womit er seinen Freunden aufgeregt zuwinkte. »Schaut mal, was ich gefunden habe!«, rief er.

Achmed lachte laut. »Sag ich doch! Der Typ ist so was von krass, ey!«

»Was hält er denn da in der Hand?«, fragte sich Ben. Er sah zwar etwas in Thomas' Hand, konnte aber nicht erkennen, um was es sich handelte.

»Hier!«, hechelte Thomas und präsentierte sein Fundstück. Kolja nahm es ihm ab. »Eine Mütze!«, stieß er hervor.

»Das ist keine Mütze, sondern eine Motorradsturmhaube«, berichtigte Thomas.

»Na und?« Kolja fand daran nichts Besonderes. »Außer, dass sie eine komische Farbe hat! Giftgrün! Wie ein Laubfrosch. Wer trägt denn solche Motorradmützen?«

»Genau das ist die entscheidende Frage!«, warf Thomas ein.

Kolja wusste nicht, was Thomas meinte. Woher sollte er wissen, wer hier seine Motorradhaube verschlampt hatte? Worauf wollte Thomas hinaus?

Thomas hielt ihm weiter die Haube vor die Nase. »Die Stadt ist leer«, betonte er. »Komplett leer. In den Kaufhäusern gibt es keine Waren. Die Wohnungen sind leer gefegt und auch die Straßen sind leer. Es gibt weder Autos noch Motorräder, nicht einmal Fahrräder. Die Stadt ist LEER!«

|25|Kolja dachte nach. Die Stadt war leer. Das wusste er. Aber so leer, dass nicht einmal eine Mütze herumliegen konnte? So weit hatte er noch nicht darüber nachgedacht. Doch jetzt, da Thomas davon sprach, fiel es ihm auch auf: Thomas hatte recht. Die Stadt war tatsächlich vollständig leer. Wenn man das so dahinsagte, machte man sich keine Vorstellungen davon, was das wirklich hieß: Eine Stadt ist leer. Nicht einmal so eine blöde Haube konnte da herumliegen.

Doch Kolja war nicht der Typ für komplizierte Überlegungen. »Vielleicht ein Fehler im Programm oder so. Keine Ahnung«, lautete sein Kommentar.

»Oder jemand hat sie verloren!«, meinte Thomas. »Allerdings niemand von uns!«

Er zeigte die Haube herum, damit jeder sie sich noch mal genau ansehen konnte. »Oder hat jemand von euch eine solche Haube getragen?«

Er wusste die Antwort bereits. Niemand von seinen Klassenkameraden besaß eine solche Motorradfahrerhaube.

Jetzt war auch bei den anderen der Groschen gefallen.

»Es muss also doch noch jemand in der Stadt sein!«, rief Miriam.

Thomas nickte.

|26|»Wollen wir suchen?«, fragte Miriam in die Runde.

Ben fand es besser, zunächst wie geplant nach einem Ausgang zu suchen. Wer immer außer ihnen hier durch die leere Stadt irrte, würde den Ausgang dann ebenfalls nutzen können. Ob zu fünft, zu zehnt oder zu hundert, eine leere Stadt blieb eine leere Stadt: unheimlich und unbewohnbar. Sie mussten so schnell wie möglich sehen, dass sie von hier fortkamen.

Aber ob sich der Zugang zum Labyrinth auch in dieser neuen Version des Spiels noch immer im Lehrerzimmer befand? Tatsächlich! Sie fanden die Klappe in der Mitte des Zimmers.

Kolja bot sich an voranzugehen.

Langsam öffnete er die Klappe im Boden und sah tief hinunter in eine schwarze Röhre.

»Gruselig!«, fand Jennifer, als sie über Koljas Schulter hinabblickte.

Kolja musste schlucken.

Achmed, der sich sonst so gern mit Kolja kabbelte, sah die Angst in den Augen seines Freundes und Widersachers. »Ich komme mit!«, bot er sich an.

Kolja warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Okay!«

Kolja legte sich flach auf den Bauch und langte mit der Hand in die schwarze Öffnung hinein, um |27|nach einer Leiter zu tasten. Tatsächlich erfasste er einzelne eiserne Stufen, die in die Wand eingelassen waren.

»Wie in einem Gullyschacht«, wunderte er sich.

»Wollt ihr wirklich da runter?«, fragte Kathrin. Sie wagte es kaum, auch nur einen Blick in den Schacht zu werfen.

»Wieso ihr?«, fragte Jennifer. »Wir!«

Kathrin riss die Augen auf.

»Oder möchtest du lieber in einer leeren Stadt bleiben?«, setzte Miriam nach.

Das wollte Kathrin auf gar keinen Fall.

»Thomas, hast du eine Taschenlampe dabei?«, fragte Kolja.

Thomas schüttelte den Kopf. Was hätte er beim Anstreichen auch mit einer Taschenlampe anfangen sollen?

»Hätte doch sein können«, sagte Kolja. »Trägst doch sonst auch allen möglichen Schrott mit dir herum!«

»Pöh!«, machte Thomas, griff in seine Hosentasche und entdeckte etwas, woran er nicht gedacht hatte. Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht.

»Mein Hausschlüssel!«, rief er und zog ihn hervor. Eine kleine LED-Lampe baumelte daran.

Kolja lachte. »Sag ich doch!«

|28|»Der Typ ist irre, ey!«, wiederholte Achmed.

Kolja knipste die Lampe an. Sie leuchtete mit einem schwachen blauen Licht.

»Was ist das denn für eine miese Funzel!«, beschwerte sich Kolja.

Thomas verstand die Aufregung nicht. »Was denn? Hab ich gefunden. Angeblich leuchten solche Lampen 100.000 Stunden. Die können niemals schon um sein!«

»100.000 Stunden?«, wiederholte Ben und begann sofort nachzurechnen. »Das wären . . . Moment . . .«

»Ist doch schnurz!«, ging Jennifer dazwischen.

»Nein, warte mal!«, beharrte Ben. »Das wären . . . grob geschätzt . . . mehr als 11 Jahre ununterbrochenes Brennen. Das glaubt doch kein Mensch!«

»Wieso nicht? Hab ich in einem Werbeprospekt gelesen!«, verteidigte sich Thomas.

»Super! Und weil du diesen Mist glaubst, leuchte ich jetzt mit so einer dunkelblauen Funzel in die Tiefe!«, ärgerte sich Kolja. Aber da es die einzige Lampe war, die sie zur Verfügung hatten, nahm er sie. »Also dann!«

Er ließ sich mit den Füßen voran in den Schacht hinunter.

Vorsichtig stieg Kolja Stufe für Stufe hinab. Nach jedem Schritt vergewisserte er sich, ob |29|Achmed ihm auch wirklich folgte. Um nichts in der Welt hätte er allein in die Tiefe hinabsteigen mögen.

Kolja hielt kurz inne.

Achmed bekam das im Dunkeln nicht mit, stieg weiter abwärts und trat Kolja versehentlich auf die Hand.

Kolja schrie auf.

Achmed entschuldigte sich. »Wieso gehst du denn nicht weiter, ey?«

»Mach ich ja schon!«, antwortete Kolja.

»Haste Schiss?«, hakte Achmed nach.

»Quatsch!«, wehrte Kolja ab.

»Ich schon!«, räumte Achmed ein. »Krass dunkel hier! Ich würd am liebsten wieder raufgehen. Hier unten sieht man sowieso nichts!«

Achmed sprach Kolja aus der Seele. Aber er hätte das niemals zugegeben.

Achmed hingegen redete sich die Angst von der Seele.

»Oh Mann!«, stöhnte er. »Was machen wir hier? Das ist doch krass daneben. Immer tiefer in die Dunkelheit. Wer weiß, was für Monster dort unten auf uns warten?«

»Monster?«, fragte Kolja zu ihm hinauf. »Wie kommst du denn auf Monster, du Spinner?« Für eine Sekunde vergaß Kolja seine Angst und lachte kurz auf.

|30|»Weil wir in einem Computerspiel sind!«, sagte Achmed. »Hat Ben doch behauptet. Und wieso soll es in einem Computerspiel keine Monster geben? Ich kenne viele Spiele mit Monstern. Zum Beispiel . . .«

»In diesem Spiel hat es noch nie Monster gegeben!«, stellte Kolja klar.

Aber in diesem Spiel hatte es bisher auch noch nie diesen Schacht gegeben, dachte er. Und es hatte bisher auch keine leere Stadt gegeben. Und es hatte . . .

»Moment mal!«

Achmed stoppte. »Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Riechst du das?«, fragte Kolja.

»Ja!«, bestätigte Achmed angewidert. »Bäh, es stinkt. Hast du einen ziehen lassen?«

»Nein!«, gab Kolja entrüstet zurück. »Der Gestank kommt von unten!«

Er überlegte, ob es bisher in dem Spiel Gerüche gegeben hatte. Er hatte nie darauf geachtet, deshalb konnte er sich nicht erinnern. Doch jetzt hörte er auch etwas.

»Sei mal leise!«, befahl er Achmed.

»Ich sag doch gar nichts, ey!«, beschwerte sich Achmed.

»Hörst du das?«

»Nee!«, sagte Achmed. »Das Wasser plätschert |31|so laut. Da versteht man gar nichts. Was ist denn?«

»Mann!«, stöhnte Kolja. »Das meine ich doch! Das Wasser! Der Gestank!«

Achmed verstand nicht.

»Wir sind in der Kanalisation gelandet!«, behauptete Kolja.

»Scheiße!«, fand Achmed. »Nichts wie hoch, ey. Ich hab keine Lust, durch eine Kloake zu waten!«

»Ganz meine Meinung!«, stimmte Kolja zu. »Dort unten gibt es bestimmt keinen Ausgang in die reale Welt!«

Achmed begann, die Leiter wieder hinaufzuklettern.

Kolja wollte ihm folgen. Doch da packte ihn etwas am Fußgelenk.

Kolja schrie auf.

Achmed zuckte zusammen. »Was ist?«

»Jemand zieht an meinen Fuß!«, rief Kolja entsetzt. Es gelang ihm nicht, seinen Fuß aus der Umklammerung loszureißen. Er begann, wie wild mit dem Fuß zu zappeln. Doch der Druck an seinem Gelenk nahm zu. Jemand versuchte, ihn von der Leiter zu zerren. Kolja klammerte sich an die Sprosse.

»Es zieht an mir!«, schrie er. »Jemand zieht mich runter!«

|32|»Was? Wer?«, fragte Achmed erschrocken.

»Hilf mir!«, flehte Kolja ihn an. »Ich kann mich nicht mehr lange halten!«

Achmed beugte sich hinunter und versuchte, mit einer Hand ein Handgelenk Koljas zu packen, um ihm etwas Halt zu geben. Eine schwierige Übung – schließlich musste er sich ja selbst irgendwie an der Leiter halten.

Kolja spürte, wie eine weitere Hand seinen Fuß packte. Und noch eine und noch eine. Vier Hände rissen nun an seinem Bein.

»Lasst mich los!«, kreischte Kolja.

Achmed ächzte vor Anstrengung. Bis nach oben, wo Ben und die anderen gespannt warteten, waren die Schreie zu hören.

»Da ist etwas passiert!«, rief Frank. Sofort wollte er in den Schacht steigen, um den beiden Freunden zu Hilfe zu eilen. Doch Ben hielt ihn zurück. »Warte einen Moment«, bat er. »Erst mal hören, was dort los ist und wie wir ihnen am besten helfen können!«

Frank hielt inne, Ben beugte seinen Oberkörper in den Schacht hinein und rief hinunter: »Kolja! Achmed! Hört ihr mich?«

Kolja hatte keine Zeit zu antworten. Er versuchte sich loszureißen, trat mit aller Kraft nach unten. Es half nichts.

In dem dunklen Schacht konnte er nur schemenhaft |33|erkennen, wer ihn dort traktierte: zwei Gestalten, die seltsam gekleidet zu sein schienen. Kolja meinte Overalls zu erkennen, grün, so glaubte er. Außerdem trugen sie kapuzenartige Mützen. Genau so eine hatte Thomas auf der Straße gefunden!, schoss es ihm durch den Kopf.

Achmed rief hinauf: »Jemand versucht, Kolja in die Tiefe zu reißen!«

»Im Labyrinth ist jemand?«, wunderte sich Jennifer.

»Hier ist kein Labyrinth!«, schrie Achmed. »Hier ist nur der Kanal!«

»Wo ist das Labyrinth geblieben?«, fragte Ben.

»Ist doch jetzt egal!«, ging Miriam dazwischen. »Kolja und Achmed sind in Gefahr. Wir müssen ihnen helfen!«

Das sah Frank ganz genauso. Nur Ben hegte noch immer Bedenken. Wie sollten sie helfen? Der Schacht war viel zu eng, um mit mehreren Leuten nebeneinander auf einer Stufe stehen zu können. Würden sie der Reihe nach hinunter zu den beiden klettern, würde niemand von ihnen an Kolja heranreichen können. Stattdessen würden sie nur den Weg hinauf versperren. Sollte es Kolja gelingen, sich freizukämpfen, könnte er am Ende nicht schnell genug fliehen.

»HILFE!«, schrie Kolja. Noch lauter als zuvor. »Ich kann mich nicht mehr halten!«

|34|»Mist!«, fluchte Miriam. »Wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie die beiden dort unten verschleppt werden!«

»Ein Seil!«, rief Frank. »Vielleicht können wir sie mit einem Seil heraufziehen? Thomas, hast du ein Seil?«

Thomas stöhnte. »Mann, woher soll ich denn jetzt ein Seil nehmen?«

Achmed kämpfte um seinen Freund Kolja, so gut es ging.

Mit dem einen Fuß war Kolja bereits abgerutscht. Er wehrte sich noch, doch seine Kraft reichte nicht aus. Lange würde er sich so nicht mehr halten können, das spürte er deutlich.

Frank hatte jetzt genug. Er wusste noch nicht, wie er Kolja helfen sollte. Er wusste nur, von hier oben ging es nicht. Entschlossen stieg er in den Schacht hinein. »Ich komme zu euch!«, rief er hinunter.

Achmed umklammerte immer noch Koljas Handgelenk, doch auch seine Kräfte ließen rapide nach. Er würde Kolja nicht halten können. Da – ein Ruck – und Kolja rutschte mit einem Schrei in die Tiefe.

»Sie haben ihn hinuntergezogen!«, rief Achmed Frank zu.

Noch immer starrte Achmed hinab, konnte in der Dunkelheit aber nichts erkennen.

|35|»Wer?«, fragte Frank aufgeregt. »Wer hat ihn hinuntergerissen?«

»Keine Ahnung!«, antwortete Achmed.

Frank verlor keine Sekunde. Er zwängte sich an Achmed vorbei.

»Wo willst du hin?«, fragte Achmed.

»Hinterher natürlich!«, rief Frank. »Los, komm!«

|36|Die Frogs

Je weiter Frank und Achmed in die Dunkelheit hinabstiegen, desto heller wurde es. Am Ende der Leiter erleuchtete ein mattes, dunkelgelbes Licht das feuchte Gewölbe. Frank erkannte einen Weg und ein trübes, stinkendes Rinnsal in einem Kanal. Sie waren tatsächlich in der Kanalisation der Stadt angekommen.

Jetzt hörten sie schon die Stimmen von Ben, Jennifer, Miriam, Thomas und Kathrin. Frank zweifelte, ob es eine gute Idee war, dass sie ihm alle folgten. Er durfte keine Zeit verlieren. Schon jetzt konnte er nur ahnen, wohin die fremden Gestalten mit Kolja verschwunden waren. Zu sehen war von ihnen nämlich nichts mehr. Wenn er noch länger auf die anderen wartete, würde er sie nie mehr einholen.

»Wo bleibst du denn, Thomas?«, hörte er Miriam rufen.

Wie Frank es sich gedacht hatte. Thomas hielt wieder alle auf.

»Warte du hier auf die anderen«, schlug er Achmed vor. »Ich suche Kolja allein!«

Achmed wollte ihn zurückhalten. Doch Frank lief einfach los.

|37|Am liebsten wäre Achmed sofort mit ihm gegangen. Aber einer musste bleiben, um die anderen in Empfang zu nehmen und ihnen die Richtung zu zeigen, in die Frank nun entschwunden war.

»Mist!«, ärgerte er sich.

»Was ist Mist?« Miriam war als Erste bei ihm.

Es folgte Jennifer. »Was ist mit Kolja?«, fragte sie.

Achmed erklärte es ihr, während Ben landete. Ihm folgte Kathrin.

»Hier stinkt's!«, stellte sie fest.

»Blitzmerker!«, kommentierte Ben. »Wir sind in der Kanalisation!«

»Ich weiß«, antwortete Kathrin. »Aber warum? Ich frage mich, weshalb die Leute, die Kolja entführt haben, sich hier verkriechen. Wer begibt sich denn freiwillig in diese stinkende Kloake?«

Das war allerdings eine sehr gute Frage, fand Jennifer.

Der Grund lag auf der Hand, glaubte Miriam. Die Kanalisation war ein hervorragendes Versteck.

Kathrin antwortete mit einem kritischen Blick, und Jennifer verstand, was Kathrin meinte: Die Stadt über ihnen war komplett leer. Wovor also versteckten diese Leute sich? Wo niemand war, da brauchte man sich auch vor niemandem zu verstecken, oder?

|38|Ben atmete tief durch, als er den aufregenden Gedanken begriff. Es galt der Umkehrschluss: Wo sich jemand versteckte, da musste es auch einen geben, von dem man nicht gefunden werden wollte!

Mit anderen Worten: Die Stadt war durchaus nicht so leer, wie sie angenommen hatten!

»Da bin ich!« Thomas war endlich angekommen.

»Wird auch Zeit! Lahme Ente, ey!«, giftete Achmed ihn an. »Keine Spur mehr von Frank, weil wir wieder mal auf dich warten mussten!«

»Schneller ging's nicht!«, entschuldigte sich Thomas.

Ben wollte jetzt nicht noch mehr Zeit verlieren. Mutig ging er voran und rief laut nach seinem Freund.

Er blieb kurz stehen, horchte, aber von Frank kam keine Antwort. Er lief schneller, hatte Angst, neben Kolja auch noch Frank zu verlieren, patschte über den nassen Weg. Er musste sich vorsehen. Ein falscher Tritt und er würde in dem stinkenden Kanal landen.

Erneut rief er nach Frank. Ein lautes Aufstöhnen kam als Antwort.

»Frank?«, rief Ben besorgt in die Dunkelheit hinein.

Doch alles blieb still.

|39|»Mit Frank ist etwas passiert!«, rief Ben den Freunden zu.

Er beschleunigte sein Tempo. Er spürte förmlich, wie sehr sein Freund ihn jetzt brauchte. Noch einmal rief Ben nach ihm.

Dann wusste er, weshalb Frank nicht antwortete.

Sein Freund lag rücklings seltsam verdreht auf dem Weg. Seine Beine baumelten halb im stinkenden Kanal.

»Frank!«, rief Ben entsetzt, kniete sich neben ihn, legte sein Ohr erst an Franks Brust, dann an seine Nase, um zu spüren, ob Frank noch atmete.

»Er lebt!«

Nun waren auch die anderen angekommen. Jennifer kniete sich ebenfalls nieder, hob Franks Kopf sanft auf ihre Knie und strich ihm über die Stirn.

Miriam blickte auf ihn herab und entschied: »Ohnmächtig!« Entschlossen verabreichte sie Frank ein kurze, trockene Ohrfeige.

»Ey!«, beschwerte sich Ben. »Hast du 'ne Meise?«

Zur Antwort zeigte Miriam nur auf Franks Gesicht. Seine Augen zwinkerten. Er erwachte. »Klappt doch!«, verteidigte sie ihre rüde Methode.

Ben war sicher, dass Frank auch ohne Miriams Handgreiflichkeit wieder zu Bewusstsein gekommen |40|wäre. Aber zum Streiten war nicht die Zeit. Frank hob den Kopf leicht an. Jennifer stützte ihn dabei. Er stöhnte, hielt sich die Stirn, zwinkerte wieder, schüttelte den Kopf, stöhnte ein weiteres Mal auf. »Wo bin ich?«

Dann erzählte er stockend, was geschehen war. Er war den Kanal entlanggelaufen, ohne dass er in der Dunkelheit etwas hätte erkennen können. Plötzlich aber hatte er geglaubt, etwas gesehen zu haben. Etwas hatte aufgeblitzt, eine Taschenlampe vielleicht. Gerade als er sich überlegt hatte, dem Licht nachzugehen, war jemand von hinten an ihn herangesprungen und hatte ihm etwas über den Schädel geschlagen.

»Siehst du!«, raunzte Ben Miriam an. »Vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung – und du drischst noch auf ihn ein!«

»Ich habe überhaupt nicht auf ihn eingedroschen. Ich habe ihn geweckt!«, verteidigte sich Miriam.

»Ist dir schlecht?«, fragte Jennifer. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass eine Gehirnerschütterung Übelkeit hervorrief.

Frank zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht. Richtig wohl war ihm nicht, aber ob ihm regelrecht schlecht war, konnte er nicht sagen.

»Du musst doch wissen, ob dir schlecht ist!«, fand Jennifer.

|41|»Mir ist schlecht!«, warf Thomas ein.

»Dich hat aber keiner gefragt!«, wies Jennifer ihn zurecht.

»Mir ist aber wirklich schlecht«, beharrte Thomas.

»Was soll bei dir denn erschüttern, ey?«, fragte Achmed. »Ohne Hirn auch keine Gehirnerschütterung!«

Thomas überhörte diesen Einwurf. »Diese üble Luft hier unten, und außerdem habe ich Hunger!«

Damit sprach Thomas den anderen allerdings aus der Seele. Selbst Frank knurrte der Magen. Nur: Wo sollten sie etwas zu essen hernehmen? Hier unten gab es sicher nichts.

Außerdem mussten sie Kolja suchen.

»Ob der überhaupt noch hier unten ist?«, fragte Kathrin in die Runde.

Alle sahen sie verblüfft an. Wie sollte Kolja hinauf in die Stadt gekommen sein?

»Ganz offenbar gibt es Bewohner in dieser Stadt«, erklärte Kathrin. »Irgendwelche Leute, die uns nicht mögen, Kolja entführt und Frank überfallen haben, die seltsame Mützen tragen und offenbar Taschenlampen bei sich haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die hier unten leben!« Sie zeigte mit einer ausladenden Handbewegung in die unwirtliche Umgebung. »Und wenn die oben |42|in der Stadt wohnen, dann kennen sie auch mindestens einen Platz, wo es etwas zu essen gibt!«

»Bingo, da hat Kathrin recht!«, stimmte Jennifer ihr zu.

»Also gehen wir wieder hinauf?«, fragte Frank mehr sich selbst als die anderen.

Es fiel ihnen nicht leicht, die Suche nach Kolja einfach abzubrechen. Aber vielleicht stimmte Kathrins Vermutung – und Kolja befand sich schon längst wieder oben in der Stadt? Möglicherweise kannten die Angreifer andere Wege, die hinauf in die Stadt führten. Und sie mussten wissen, wo es Lebensmittel gab. So wie es aussah, konnten sie oben in der Stadt mehr ausrichten. Schweren Herzens kehrte sie um und kletterten wieder hinauf in die leere Stadt.

|43|Hunger

»Lasst uns zurück ins Stadtzentrum gehen!«, schlug Frank vor. »Wenn es irgendetwas Essbares zu finden gibt, dann bestimmt nur dort!«

Ben glaubte nicht daran. Aber er hatte einfach keine bessere Idee. So zogen sie los. Ben musste sich konzentrieren, um den richtigen Weg zu finden. Die Stadt wirkte vollkommen fremd ohne Autos, ohne Menschen, ohne Inventar. Wie eine Stadt, die . . .

Ben blieb stehen. »Mann, das ist es!« Dass er nicht eher draufgekommen war! »Ich weiß, wo wir sind!«

Miriam machte mit einer Hand eine Scheibenwischerbewegung. »Was ist denn mit dem los? Natürlich wissen wir, wo wir sind.«

Doch Ben winkte ab. Er meinte nicht den Weg zur Stadtmitte. Er meinte die Stadt der Kinder als Computerspiel. »Wir sind in der Matrix!«, rief er.

Miriam stöhnte. »Jetzt ist es so weit! Endgültig! Ben schnappt über!«

Auch Jennifer betrachtete ihren Freund mit gerunzelter Stirn. »Matrix« – so hieß einer von Bens Lieblingsfilmen. So viel wusste sie. Als Ben sie |44|damals mit in den Film geschleppt hatte, hatte sie vorher im Lexikon nachgeschaut, was das Wort Matrix bedeutete. Sie war dabei auf einen Roman1 gestoßen, in dem die Matrix als ein globales Informationsnetz bezeichnet wurde, das die Existenz des Cyberspace ermöglichte. Ganz so wie in dem Kinofilm.

»Begreift doch!«, rief Ben. »Eine Matrix, das ist . . .« Er wusste, was er meinte, aber er wusste nicht, wie er es ausdrücken sollte. »Das ist . . . eine Art Raster!«

»Klar!«, quatschte Miriam dazwischen. »Und du bist ausgerastet!«

Ben seufzte. »Eine Matrix ist eine Struktur, innerhalb derer man etwas anordnet! Die Matrix ist die Rohstruktur eines Computerprogramms. Wir sind im Rohbau der Stadt!«

»Rohbau?« Thomas sah sich um. Die Häuser waren alle fertig, eben nur leer.

»Zwei Mal sind wir in die Stadt der Kinder hineingeraten«, sagte Ben. »Wir wissen, dass wir irgendwie in das Computerprogramm ›Die Stadt der Kinder‹ geraten waren. Alles funktionierte nach den Regeln des Spiels.«

Die anderen nickten. Sie erinnerten sich nur zu gut.

|45|»Und jetzt sind wir in der Vorstufe des Programms gelandet«, glaubte Ben. »Im Rohbau des Programms. Die Stadt steht, aber sie wurde noch nicht mit Leben gefüllt.«

»Und was bedeutet das für uns?« Jennifer kam nicht mehr ganz mit.

»Das Programm muss vervollständigt werden«, vermutete Ben.

»Okay!«, sagte Miriam. »Dann mach mal, damit wir was zu futtern kriegen!«

»Ha!«, rief Ben. »Woher soll ich denn wissen, wie das geht?«

Miriams Miene verdüsterte sich. Wozu sollte das theoretische Gerede gut sein, wenn sie keinen praktischen Nutzen daraus ziehen konnten?

Auch Frank wollte nicht länger warten. Sein Hunger quälte ihn, und er drängte darauf, den Weg zur Innenstadt fortzusetzen. Über Bens Theorie konnten sie schließlich immer noch nachdenken. Wichtig war, erst einmal etwas Essbares zu finden.

Jennifer dachte den ganzen Weg über das nach, was Ben gesagt hatte. »Die Stadt mit Leben erfüllen. Das Programm muss erst entstehen.« Was mochte das bedeuten?

Es war bedrückend, durch die leere Stadt zu gehen. Jennifer sah hinüber zum Eiscafé, in dem sie sich unzählige Male mit ihren Freunden getroffen |46|hatte. Außer dem Schild über dem Verkaufsfenster war von der Einrichtung nichts übrig. Die Eissorten und die Preise standen noch an der Scheibe. Aber die Kühltruhen waren ebenso verschwunden wie der Verkaufstresen, die Möbel und die Kasse.

Daneben ein ähnliches Bild. ›Pizzeria Adria‹ stand immer noch an der Hauswand. Doch die gesamte Inneneinrichtung war verschwunden.

Ben hatte recht, dachte Jennifer. Die Stadt besaß noch eine gewisse Grundstruktur. Es war zu erkennen, was in die Gebäude hineingehörte. Sollten sie alle diese Läden wieder mit Leben füllen? War es das, was das Programm von ihnen erwartete?

»Wo steckt denn Thomas schon wieder?«, fragte Frank.

»Der ist nur hundert Meter hinter uns!«, behauptete Achmed.

Doch Frank konnte ihn nirgendwo entdecken.

»Oh nein! Wohin ist denn der jetzt schon wieder abgehauen?«, begann Achmed loszujammern. Doch da bemerkte er einen Fuß, der aus einer Mülltonne herausschaute.

Verdutzt zeigte Achmed auf seine Entdeckung, und schon kam ein zweiter Fuß zum Vorschein.

»Gehören die Thomas?«, fragte Miriam.

|47|»Wem sonst?«, fragte Achmed zurück. »Aber was macht der im Müll?«

»Thomas!«, brüllte Frank hinüber zur Mülltonne.

Die Beine, die aus der Mülltonne hervorlugten, begannen zu zappeln.

Miriam begriff: »Der schafft es nicht wieder raus!«

»Jetzt langt's, ey!«, schimpfte Achmed, rannte auf die Mülltonne zu, nahm Maß und trat, ohne vorher abzubremsen, mit voller Wucht gegen die Tonne. Die Tonne stürzte mit lautem Geschepper um, Thomas schrie auf, kullerte aus der Tonne heraus und ging sofort auf Achmed los.

»Was soll das, du Hirni? Weißt du, wie das dort drinnen dröhnt?« Er hielt sich die Hände an die Ohren.

Achmed schnauzte sofort zurück: »Bist du krass, Mann? Was wühlst du denn im Müll, ey? Wir warten alle auf dich, Mann!«

Thomas hielt ihm einen angebissenen Apfel entgegen. »Ich suche was Essbares!«

Achmed zeigte Thomas einen Vogel. »Im Müll? Bist du krank, ey?«

»Noch nicht. Aber die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er krank wird, wenn er Müll frisst!«, ergänzte Ben. Er und die anderen hatten die beiden Streithähne erreicht.

|48|»Was soll ich denn sonst essen?«, fragte Thomas in die Runde. »Es ist doch nichts anderes da!«

Die Kinder sahen sich betreten an. Es stimmte, was Thomas sagte. Die Stadt war leer. Nirgends hatten sie etwas Essbares gefunden. Ein Ausgang war nicht in Sicht. Sie hatten keine Idee, wie sie – vorausgesetzt, Bens Theorie stimmte – die Stadt zum Leben erwecken, sie neu aufbauen sollten. Es blieb nichts, außer in den Mülltonnen nach Lebensmittelresten zu suchen.

»Wir sollten froh sein, den Müll zu haben! Hier, die Tonnen sind voll!«, rief Thomas triumphierend.

»Bäh!«, machte Kathrin.

Miriam schnitt eine Grimasse. Ben und Achmed verzogen ebenfalls die Gesichter.

Nur Jennifer stimmte Thomas zu. »Er hat recht: Wir sollten froh sein!«

Ben verstand seine Freundin nicht. Was war in Jennifer gefahren, dass sie sich jetzt schon über vergammelten Müll zum Abendessen freute?

Jennifer erklärte es ihm und den anderen: »Weil es unlogisch ist!«

Ben zog die Augenbrauen hoch.

»Nichts ist mehr in der Stadt«, erinnerte sie die anderen: »Keine Lebensmittel, keine Möbel, keine Autos, nichts.«

|49|Frank nickte ungeduldig. Ja, das wussten sie. Worauf wollte Jennifer hinaus?

»Woher also kommt der Müll?«, fragte Jennifer in die Runde und löste allgemeine Verblüffung aus.

Dort, wo es nichts gab, wo nichts verbraucht wurde, konnte natürlich auch kein Müll entstehen. Doch die Mülltonnen waren voll!

Ben verstand langsam, worauf Jennifer hinauswollte. Der Müll war offenbar Teil des Programms. Der Müll bot den Grundstock, aus dem die Stadt aufgebaut werden sollte.

»Es wäre nicht die erste Stadt, die aus Schutt und Asche entsteht«, meinte Jennifer.

»Ich hab ja schon gehört, dass man aus Müll Energie gewinnen kann«, sagte Ben. »Aber davon essen und eine Stadt aufbauen?«

»Solange wir keine bessere Idee haben, bleibt uns nichts anderes übrig«, bestimmte Jennifer.

»Ich hab 'ne bessere Idee!«, meldete sich Frank zu Wort. »Was ist mit unseren Lunch-Paketen, die wir in die Schule mitgebracht haben? Vielleicht sind die wenigstens noch da!«

»Super!«, rief Jennifer. »Wir durchsuchen den Müll und sammeln alles, was vielleicht noch essbar ist. Thomas und Frank, ihr geht los zur Schule und sucht außerdem auf dem Weg dorthin |50|irgendetwas, worin man vielleicht kochen könnte.«

»Kochen?«, fragte Ben.

»Natürlich«, antwortete Jennifer. »Roh können wir Lebensmittel aus dem Müll nun wirklich nicht essen. Wir müssen alles abkochen. Also los, wir haben viel zu tun, bevor es dunkel wird. Wir haben schließlich auch keinen Strom.«

»Eben«, bestätigte Miriam. »Womit willst du denn kochen? Es gibt nicht nur keinen Strom, es gibt auch keine Herde, kein Gas, nichts.«

»Wir müssen etwas finden, womit man Feuer machen kann. Wir kochen auf offenem Feuer und schlafen in der Schule.«

Ben gefiel, wie Jennifer wieder einmal das Heft in die Hand genommen hatte. Genau das war es, was er an ihr mochte. Sie konnte eine Situation schnell erkennen und handelte entschlossen. Sofort stieg er darauf ein.

»Die Fensterläden!«, rief er und zeigte zur Pizzeria. Die Verkaufsfenster des Eiscafés und der Pizzeria konnten mit wunderschönen Fensterläden verschlossen werden. »Die sind aus Holz. Also können wir sie verbrennen!«

Jennifer strahlte. »Super Idee!«

»Sofern wir etwas finden, womit wir ein Feuer entfachen können«, gab Kathrin zu bedenken.

|51|Alle Augen richteten sich auf Thomas, und er wusste, was von ihm erwartet wurde. Mit einem Griff zog er ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. »Hat so seine Macken. Hab ich mal gefunden. Müsste aber funktionieren!«

Er betätigte das kleine Rädchen. Eine kleine Flamme leuchtete auf. Niemals zuvor hatte Thomas für einen so simplen Vorgang so viel Beifall erhalten!

|52|Geheimes Level

»Shit!« Der Mann starrte auf die Monitore und schlug mit der Hand auf den Tisch.

Der Raum war abgedunkelt, damit er auf den Bildschirmen auch die Feinheiten erkannte. Es gab einen Fehler im Programm, aber er konnte ihn nicht finden. Es war unmöglich, das gesamte Programm zu durchsuchen. Dazu war es zu umfangreich, zu verschachtelt, zu kompliziert. Viele Jahre hatte er daran schon gearbeitet, es immer wieder erweitert, verbessert und verändert. Zuerst war es eine Spielerei gewesen, ein Kräftemessen mit der Technik. Er hatte wissen wollen, ob das, was ihm in seinen Visionen vorschwebte, möglich war. Dann war sein Spiel auf den Markt gekommen. Ein Riesenerfolg! Doch in einer Ausführung des Spiels, in einer Beta-Version, war ein Fehler aufgetaucht. Dieser Fehler »entführte« Spieler in die Welt des Computerspiels. Sie wurden selbst zu Spielfiguren. Es hatte lange gedauert, bis er erkannte, welche Möglichkeiten sich ihm damit eröffneten. Es war gigantisch. Fieberhaft hatte er gearbeitet, Monate über Monate, tage- und nächtelang, bis er bereit war für seine ersten Probanden. Es hatte hervorragend funktioniert. Bis vor |53|Kurzem. Da war plötzlich eine ganze Gruppe von Figuren aus seinem Blickfeld verschwunden und er konnte sie nicht wiederfinden.

Und jetzt war es schon wieder passiert. Eben noch hatte er die Neuen auf dem Schirm gehabt und plötzlich waren sie fort gewesen. Wie vom Erdboden verschluckt, ohne dass er hätte nachvollziehen könnte, an welcher Stelle genau das Programm versagte. Kurze Zeit später waren die Neuen zwar wieder aufgetaucht. Aber einer fehlte. Wo, verdammt, war der abgeblieben?

Er musste den Fehler finden. Sonst konnte er das Programm unmöglich verkaufen. Es war bereits die zehnte Testreihe. So ging es nicht weiter.

Offenbar hatte sich eine neue, von ihm nicht kontrollierbare Ebene, ein geheimes Level entwickelt. Ein Level, das er finden und beseitigen musste. Unbedingt.