Völlig unvorbereitet macht Ben eines Morgens eine schockierende Entdeckung: Sämtliche Erwachsene sind verschwunden! Ben und seine Freunde aber sind zusammen mit den anderen Kindern zurück in der virtuellen Welt des Computerspiels Level 4. Doch statt Chaos herrscht diesmal rege Betriebsamkeit: Die Kinder werden vom Programmierer offensichtlich manipuliert und als Spielfiguren eingesetzt. Und plötzlich verhalten sich auch Miriam und Kolja äußerst merkwürdig…

Die spannende Fortsetzung des Bestsellers ›Level 4 – Die Stadt der Kinder‹

Andreas Schlüter

Level 4.2

Zurück in der Stadt
der Kinder

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Seltsamer Fund

Ben öffnete ein Auge. Hoffentlich hatte er noch ein wenig Zeit. Ein Stündchen hätte er gern noch geschlafen oder zwei, so müde fühlte er sich. Noch hatte der Wecker nicht geklingelt; er wusste nicht, wodurch er aufgewacht war. Er schaute auf die Uhr, drehte sich um und wollte weiterschlafen. Es war erst 7 Uhr 53.

7 Uhr 53?

Ben fuhr hoch. Die Anzeige sprang auf 7 Uhr 54. Verdammt! Wieso hatte das Mistding nicht geklingelt? Vor einer Dreiviertelstunde hätte er aufstehen müssen! Spätestens! Sie schrieben eine Mathearbeit! Und zwar in genau sechs Minuten!

Ben schoss aus dem Bett, sprang in seine Hose, zerrte sich das Sweatshirt über den Kopf, suchte humpelnd nach seinen Socken. Das war nicht so einfach zwischen all den Schaltern, Kabeln, Schrauben, Werkzeugen, CD-ROMs und Platinen, die verstreut auf dem Boden lagen. Wie meistens fand er auch diesmal nicht die passenden Socken in dem Chaos und nahm zwei verschiedene. Versehentlich kickte er einen Joghurtbecher um, dessen Inhalt längst Schimmel angesetzt hatte. Schnappte sich das halb volle Glas Cola vom Schreibtisch, stürzte sie in sich hinein und spuckte sie postwendend in die verdorrte Palme, die Jennifer ihm ein halbes Jahr zuvor geschenkt hatte. Die Cola war schal.

Mit dem Arm fegte er einen Stapel Computerzeitschriften vom Schreibtisch. Darunter kamen seine Schulmappen zum Vorschein; einige davon stopfte er in seinen Rucksack und stand im nächsten Moment im Flur.

»Mama?«, rief er. Wieso hatte sie ihn nicht geweckt? Wo steckte sie? Ein zweites Mal rief er nach ihr, hörte dann die Dusche im Bad laufen. Seine Mutter hatte offenbar ebenfalls verschlafen. Eigentlich müsste sie um acht Uhr das Haus verlassen, aber sie duschte noch.

»Ich hab verpennt!«, rief er durch die geschlossene Badtür. »Ich muss los. Wir schreiben ’ne Mathearbeit. Bis heute Abend!«

Er wartete kurz. Es kam keine Antwort, doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Die Zeit war zu knapp. »Also tschüss!«, brüllte er, lief hinaus, schwang sich aufs Rad und raste so schnell er konnte in die Schule.

Als er sie völlig außer Atem erreichte, zeigte seine Armbanduhr, dass es zehn nach acht war. Mitteleuropäische Zeit. Die Uhr informierte außerdem darüber, dass es in Tokio 16 Uhr 10, in New York 2 Uhr 10, in Moskau 9 Uhr 10 war, doch darauf achtete Ben in diesem Augenblick nicht. Überhaupt hatte er an diesem Morgen auf nichts geachtet. Nicht auf seine zerzausten Haare, nicht auf seine Hose, die noch offen stand, nicht auf den Verkehr auf dem Schulweg. Nur darauf, so schnell wie möglich zur Mathearbeit zu erscheinen.

Zehn Minuten Verspätung war noch okay. Er beherrschte Mathematik gut genug, um diese kleine Verspätung aufzuholen und alle Aufgaben zu schaffen. Blitzartig schloss er sein Rad an, rannte über den Schulhof und wunderte sich, wie voll der war, obwohl doch der Unterricht längst begonnen hatte. Die Tür seines Klassenraumes stand noch offen. Alle waren da – außer dem Mathelehrer.

»Wie siehst du denn aus?«, grölte Miriam los, als sie Ben entdeckte. »Hast du ‘nen Betonmischer geknutscht?«

Ben fuhr sich durchs Haar.

Jennifer kam lächelnd auf ihn zu, umarmte ihn, schmatzte ihm einen Kuss auf den Mund. Ben zog den Kopf beiseite, wie er es meistens tat, wenn Jennifer ihn küsste. Okay, sie waren zusammen, aber deshalb musste man ja nicht ständig in aller Öffentlichkeit knutschen, fand er.

Jennifer hielt ihn fest, als er sich entwinden wollte. »Warte!«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Er spürte, wie Jennifer ihm dezent den Hosenschlitz schloss. »Kommt besser an, glaub’s mir«, hauchte sie ihm zu und ließ ihn ziehen.

Ben warf den Rucksack auf seinen Platz. »Wo ist Möller?«, fragte er in die Runde.

»Ich hoffe, er ist irgendwo in einen Gully gefallen!«, antwortete Frank. »Ich versiebe die Arbeit garantiert. Es sei denn, sie fällt aus!« Er sah auf die Uhr. »Immerhin schon fast eine Viertelstunde Verspätung. Da kann der die Arbeit doch nicht mehr schreiben lassen!«

»Das macht er trotzdem!«, war Kolja sich sicher. »Das ist so ‘n Arsch!«

»Ich schau mal!«, erklärte sich Miriam bereit, ging hinaus auf den Flur – und prallte gegen Thomas, der gerade um die Ecke kam.

»Guten Morgen!«, rief er fröhlich. Er schien überhaupt nicht zu wissen, dass er zu spät war, oder es machte ihm nichts aus. »Dreimal dürft ihr raten …«, begann er.

»… was du gefunden hast!«, beendeten die anderen den Satz im Chor.

Thomas war ein notorischer Zuspätkommer. Er war berühmt für seine Langsamkeit – und für seine Sammelleidenschaft. Aus Angst, irgendetwas zu übersehen, das auf der Straße lag und das »umsonst war und man sich nur zu nehmen« brauchte, wie er immer sagte, bewegte er sich stets nur mit gesenktem Kopf und im Schneckentempo.

Doch diesmal brauchten die anderen nicht lange auf Thomas’ sensationelle Enthüllung zu warten. Er hatte die Arme voll gepackt und breitete die Fundstücke auf dem Tisch aus: drei Regenschirme, fünf Handys, drei elektronische Organizer, vier Schachteln Zigaretten, drei Feuerzeuge, mehrere Bücher und sogar zwei Geldbörsen und eine Taschenuhr.

»Ey, der hat nichts gefunden, der hat ‘nen Bruch gemacht!«, wieherte Achmed, der gerade vom Klo kam.

»Das habe ich alles gefunden!«, versicherte Thomas.

Kolja schraubte sich den Zeigefinger gegen die Stirn. »Wo willst du denn das alles gefunden haben?« Er öffnete eine der Geldbörsen und fand siebzig Euro darin.

»Auf der Straße!«, beharrte Thomas. »Das alles hier lag auf dem Weg. Ganz bestimmt. Manches an der Bushaltestelle und …«

»Und das gehörte keinem?« Auch Jennifer kamen Thomas’ Fundstücke höchst merkwürdig vor. »Da hat niemand was gesagt?«

Thomas zuckte mit den Schultern. »War ja keiner da!«

Böse Entdeckung

Kolja griff sich das zweite Portemonnaie, in dem sich noch mehr Geld befand. Er pfiff laut durch die Zähne. »Einhundertfünfunddreißig Euro!«, posaunte er heraus.

»Ich weiß!«, sagte Thomas. Natürlich hatte er sich die Zeit genommen und längst nachgesehen.

»Krass, ey!«, rief Achmed. »Damit kann man ja richtig Party machen, ey!«

Jennifer riss Kolja die Geldbörse aus der Hand. »Nix da! Das Geld wird zurückgegeben. Das Portemonnaie enthält vielleicht einen Ausweis mit Namen und Adresse.«

Achmed zog eine Schnute, aber er schwieg. Jennifer hatte recht, fand er, aber schade war es trotzdem.

Die Unterrichtsstunde lief bereits seit fünfundzwanzig Minuten, aber von Mathelehrer Möller fehlte nach wie vor jede Spur.

Kathrin hatte draußen nach ihm gesehen und kam verwirrt wieder herein. »Kein Lehrer ist da!«, rief sie in die Klasse. »Nicht einer! Alle Schüler hocken in ihren Klassenräumen oder stehen auf dem Schulhof. Aber weit und breit kein Lehrer zu sehen. Auch im Lehrerzimmer ist niemand. Im Büro auch nicht!«

»Krass, ey!«, freute sich Achmed. »Die Lehrer haben sich in Luft aufgelöst! Vielleicht geht ‘ne fette Krankheit um, die alle Lehrer augenblicklich pulverisiert und …«

»Halt mal kurz das Maul, Achmed!«, befahl Kolja.

Achmed wollte gerade etwas erwidern, hielt dann aber inne. Die Mienen seiner Mitschüler schienen ihm plötzlich auffällig ernst. »Was habt ihr denn, ey?«, fragte er.

Er schaute über die Schulter nach hinten, ob er irgendetwas übersehen hatte. Doch da war nichts. »Ey?«, setzte er nach.

»Das hatten wir schon mal!«, antwortete ihm Miriam.

»Was?«, fragte Achmed. »So eine fette Lehrerkrankheit?«

Miriam schüttelte den Kopf. »Schlimmer!«, sagte sie. »Alle waren weg!« Sie machte eine Pause, sah in die Gesichter ihrer Freunde, die an dieselbe Geschichte dachten.

»Du hast doch nicht etwa das Spiel gespielt?«, fragte Jennifer Ben mit ihrem kritischsten Blick. Sie wusste, Ben würde sich jetzt keine Lüge erlauben. Nicht einmal eine Notlüge. »Bist du verrückt?«, entrüstete sich Ben. »Ich besitze es gar nicht mehr. Das Spiel hat Thomas damals mit in seine Garage genommen. Stimmt’s, Thomas?«

Thomas nickte.

»Bist du sicher, dass es noch in der Garage ist?«, fragte Jennifer nach.

Thomas zuckte mit den Schultern.

Alle wussten, wovon Jennifer sprach. Bis auf Achmed. Er war erst später in die Stadt gezogen.

»Wovon sprecht ihr?«, fragte er.

Niemand antwortete ihm. Sie sahen sich alle nur ernst an.

»Das glaube ich nicht!«, flüsterte Jennifer. »Bitte lass es nicht geschehen sein!«

»Nein, nein!«, wiegelte Ben sofort ab. Er hielt es für unmöglich, dass sich jemand in Thomas’ Garage zu schaffen gemacht haben sollte, um das alte Spiel herauszusuchen. Dann aber fiel ihm sein Weg in die Schule ein. Hatte er denn wirklich keinen einzigen Erwachsenen gesehen, kein fahrendes Auto? Er konnte sich nicht erinnern.

»Am besten, wir schauen nach!«, schlug Miriam vor.

Kaum hatte sie es ausgesprochen, waren alle schon hinausgerannt.

»Was ist denn?«, rief Achmed und lief seinen Freunden hinterher. »Ich verstehe überhaupt nix mehr, ey!«

Miriam kam auf die Idee, zunächst mal auf dem Schulhof nach den Schülern der Oberstufe zu sehen. Sollte wirklich das alte Spiel wieder aktiviert worden sein, dürfte auch von denen keiner mehr da sein.

Sie behielt recht. Die Pavillons der höheren Klassen waren leer, weit und breit war kein einziger Schüler zu sehen.

Bedrückt sahen die Kinder in die leeren Räume, die den Eindruck machten, als hätte jemand von einer Sekunde auf die andere alle auf einen anderen Planeten gebeamt. Aber sie wussten, dass etwas ganz anderes passiert war: Alle Kinder, also auch sie selbst, waren mitsamt ihrer Stadt Teil eines Computerspiels geworden, in dem es keine Erwachsenen gab, genauer gesagt, niemanden, der älter war als fünfzehn.1

»Moment, ey!«, stotterte Achmed, nachdem Jennifer ihm erklärt hatte, was sie gerade erlebten. »Das kann doch nicht sein, ey. Wie soll denn das funktionieren, ey?«

Ben zuckte mit den Schultern. »Wir haben nie herausbekommen, wie es funktioniert, sondern leider nur erfahren müssen, dass es funktioniert!«

Achmed fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, drehte sich mehrmals um sich selbst und brabbelte vor sich hin: »Ihr meint, alle, die älter sind als fünfzehn, sind verschwunden? Wir sind in unserer Stadt allein? So etwas Krasses, ey! Das kann doch gar nicht sein!«

Jennifer fragte, wieso Ben und Thomas auf ihrem Weg zur Schule nicht bemerkt hatten, dass es keine Erwachsenen mehr in der Stadt gab.

Ben antwortete mit der Gegenfrage, wieso die Mädchen es nicht selbst bemerkt hatten.

»Als ich in die Schule gekommen bin, waren alle noch da!«, schwor Miriam. »Meine Mutter hat mir noch mein Schulbrot in die Hand gedrückt. Die Meckertante aus dem Nebenhaus hat wie immer ihren Lockenwicklerkopf aus dem Küchenfenster gestreckt und herumgemosert und ich habe sogar die Krützdoof heute Morgen noch mit dem Auto in die Schule fahren sehen!«

Jennifer nickte. Auch sie hatte ihre Lehrerin, Frau Krützfeld-Loderdorf, vor Schulbeginn noch über den Hof gehen sehen.

Ben erinnerte sich, dass seine Mutter aus der Dusche heraus nicht geantwortet hatte. Vermutlich war sie zu diesem Zeitpunkt schon verschwunden gewesen. Er schlug sich die Hand vor die Stirn: »Scheiße, dann läuft bei mir zu Hause noch das Wasser!«

»Immerhin etwas!«, kommentierte Thomas mit einem Seitenblick auf Kolja. Er erinnerte sich noch gut, wie Kolja damals in der Stadt der Kinder das Wasserwerk besetzt und gefordert hatte, Chef der Stadt zu werden. Ben hatte ihn überlistet und Kolja in einem Labyrinth verschwinden lassen. So waren sie wieder an Wasser herangekommen. Mittlerweile gehörte Kolja aber zu ihrem festen Freundeskreis.

»An der Bushaltestelle, an der ich vorbeigekommen bin, hat kein Erwachsener gestanden!«, fiel Thomas ein. Kurz zuvor am Zebrastreifen aber waren noch Autos gefahren. Also mussten die Erwachsenen so gegen zehn vor acht verschwunden sein. »Um zehn vor acht kam ich an der HaltsteIle vorbei. Da habe ich die Taschenuhr gefunden.«

Miriam stutzte. Die Bushaltestelle war keine fünfhundert Meter von der Schule entfernt. Thomas war erst um Viertel nach acht in die Schule gekommen. Das bedeutete, er hatte für diese knapp fünfhundert Meter fünfundzwanzig Minuten gebraucht!

»Ich habe ja auch viel gefunden!«, verteidigte sich Thomas. Jetzt wusste er allerdings auch, weshalb er so viel gefunden hatte. Es waren Dinge, die die Erwachsenen in dem Moment, als die Kinder von einer Welt in die andere katapultiert worden waren, gerade irgendwo liegen gelassen oder nur lose in der Hand gehalten hatten.

»Also was jetzt?«, fragte Frank in die Runde. Er verspürte nicht die geringste Lust, das ganze Abenteuer in der »Stadt der Kinder« noch einmal durchkämpfen zu müssen. Hundert Mal lieber hätte er die blöde Mathearbeit geschrieben.

»Wir müssen so schnell wie möglich in die reale Welt zurückkehren. So viel ist klar«, stellte Ben fest. Nur, wie sollten sie das anstellen?

Jennifer schlug vor: »Erinnert euch an damals. Wir sollten uns zunächst einmal Proviant sichern!«

Die anderen stimmten ihr sofort zu.

»Also ab ins Einkaufszentrum!«, rief Miriam.

Polizei!

Ben ahnte schon beim ersten Schritt ins Einkaufszentrum, dass hier etwas Eigenartiges vorging …

Alles wirkte wie immer. Allein das war schon ungewöhnlich.

Frank blieb stehen. Auch er spürte etwas Unheimliches.

»Seid ihr sicher, dass es keine Erwachsenen mehr gibt?«, fragte Achmed.

»Hast du unterwegs welche gesehen?«, fragte Jennifer zurück.

Das hatte Achmed ebenso wenig wie die anderen. Trotzdem schien alles genauso zu funktionieren wie sonst. Und dennoch: Irgendetwas war anders …

Das war auch Jennifer und Miriam aufgefallen. Obwohl sie nicht hätten sagen können, was das Besondere ausmachte. Was war hier passiert?

Achmed riss sie aus ihren Gedanken. »Krass, ey. Dann gibt es ja auch keine Verkäufer mehr. Geil, los, dann können wir doch …«

Kolja packte Achmed hart am Arm und sah ihn ernst an. »Mach jetzt keinen falschen Fehler!«

»Was denn, ey?«, beschwerte sich Achmed. »Ich meinte doch nur …«

»Wir haben das alles schon mal erlebt!«, erinnerte ihn Miriam. »Was wir jetzt wirklich nicht brauchen können, ist genau das Chaos, das du gerade anrichten willst! Glaub uns einfach und bleib ganz cool, okay?«

»Ja, ey! Schon gut!«, maulte Achmed.

»Wir sind hier, um Lebensmittel zu sichern!«, erinnerte Ben die anderen. »Kein Chaos, keine Schlachten, keine Modeschauen, einfach nur Lebensmittel sichern!«

»Okay, okay!«, versprach Achmed und hob versöhnlich die Hände.

Thomas bog nach rechts ab zum Gemüseladen, sah sich die Auslage an und schnappte sich einen Apfel.

»Finger weg!«, schrie ihn jemand an.

Thomas erstarrte mit offenem Mund.

»Erst zahlen, dann essen!«, fauchte die Stimme. Eine Hand entriss Thomas den Apfel und legte ihn zurück in die Auslage.

Thomas benötigte ohnehin immer etwas länger als andere Menschen, ehe er eine Reaktion zeigte. Jetzt aber schienen Minuten zu vergehen, ehe er begriff, was er soeben erlebt hatte.

Verdutzt zeigte er mit dem Finger auf die Person, die ihm den Apfel geraubt hatte, und stotterte: »Das … das … war doch ein Kind!«

Miriam hatte die Szene beobachtet und war ebenso fassungslos. Sie ging einen Schritt auf Thomas zu, da erschien der kleine Knirps mit der grünen Schürze schon wieder vor dem Eingang des Gemüseladens, stützte die Hände in die Hüften und bellte: »Die Äpfel kosten ein Euro das Stück. Untersteht euch, einen zu stehlen!«

»Ein Euro für einen Apfel?«, empörte sich Frank und vergaß ganz, dass er es nicht mit einem Verkäufer, sondern mit einem Kind zu tun hatte. »Ist der aus purem Gold?«

»Andere Zeiten, andere Preise!«, antwortete ihm der Knirps keck.

Thomas sah Hilfe suchend Miriam an, die sich allerdings auch erst einmal einen Moment besinnen musste, ehe sie blaffte: »Dir haben sie wohl ins Gehirn gehustet. An wen sollen wir denn zahlen? Ist dir schon aufgefallen, dass es keine Verkäufer mehr gibt, du Zwergenhirn?« Sie griff nach einem Apfel.

»Finger weg!«, schrie der Knirps. »Oder ich rufe die Polizei!«

Kolja packte den Kleinen sofort am Kragen und schüttelte ihn durch.

Miriam nahm sich einen Apfel. »Was denn für eine Polizei? Es sind keine Erwachsenen mehr da, du Gurkenkopf. Begreif das endlich. Und die Lebensmittel sind für uns alle da!« Demonstrativ biss Miriam in den Apfel.

»Jetzt langt’s!«, piepste der Knirps. Er fischte sich ein Handy aus der Schürzentasche, drückte eine Taste und keine zwei Minuten später standen drei weitere Kinder am Gemüsestand. Von Kopf bis Fuß in Polizistenuniformen gekleidet.

»Gibt es hier ein Problem?«, fragte das größte der drei Kinder. Er war noch ein Stückchen größer und breiter als Kolja.

Achmed und Kolja sahen sich an. Frank hob die Augenbrauen und stellte sich auf Ärger ein. Miriam rieb sich die Augen, weil sie glaubte, sie träumte, und Thomas rief sofort: »Die haben eine Wache geplündert! Wieso bin ich nicht auf die Idee gekommen? An Uniformen kommt man sonst nie heran!«

Der große Polizist wandte sich an Miriam: »Sie haben einen Apfel genommen und wollen ihn nicht bezahlen?«

Miriam hörte auf zu kauen. Ihr Mund stand offen. Sie war sprachlos, was bei ihr höchst selten vorkam.

»Voll krass, ey!«, Achmed spuckte dem Polizistenkind vor die Füße. »Ich glaub, ich bin im falschen Film.«

Ben merkte auf. Falscher Film? Während sich der Streit zwischen seinen Freunden und den kleinen Polizisten hochschaukelte, stahl er sich einige Schritte zurück und sah sich um. Drüben beim Fischladen stand ein Kind in weißer Schürze und diskutierte mit zwei Mädchen, welche Fische die frischesten wären. Schließlich wickelte er ihnen einen Fisch ein und kassierte ab. Ein Junge und ein Mädchen schlenderten Arm in Arm an den Schaufenstern vorbei, blieben vor dem Juwelier stehen und betrachteten sich die Eheringe. Vor dem Sportgeschäft meckerte ein größerer Junge mit zwei kleineren, weil diese vor dem Laden mit einem Basketball spielten. Ein Mädchen verkaufte am Eisstand und zwei weitere sortierten die T-Shirts auf dem Auslagetisch vor der Boutique. Und dort hinten zog sich sogar ein Junge Geld aus dem Geldautomaten.

Ben kratzte sich am Kopf. Was geschah hier?

Währenddessen ging der Streit mit dem Gemüseknirps und den Polizisten weiter.

»Wollen Sie den Apfel nun zahlen oder nicht?«, raunzte der Polizist Miriam an. »Sonst müssen wir Sie mitnehmen!«

Miriam schnappte nach Luft.

»Ich mache dich gleich platt, du Kasper!«, ging Kolja auf den Polizisten los.

Doch plötzlich zog der eine Pistole, richtete sie auf Kolja und schrie: »Alles stehen bleiben. Oder ich schieße!«

Erschrocken blieb Kolja stehen. Er hatte nun keinen Zweifel mehr, es mit einer Handvoll Psychopathen zu tun zu haben.

»Nehmt sie fest!«, befahl der Polizist mit der Pistole den beiden kleineren Polizisten, die sofort zur Tat schritten und Miriam Handschellen anlegten.

»So ist es recht!«, freute sich der Gemüseknirps.

»Zahl den Apfel!«, rief Ben Miriam zu.

Miriam wandte sich zu ihm um. »Ich denke überhaupt nicht dran. Die haben doch einen kompletten Dachschaden hier!«

Der Meinung waren auch die anderen. Sie wagten aber nicht einzuschreiten, weil der eine Durchgeknallte noch immer eine Pistole in der Hand hielt. Miriam wusste, bei der kleinsten Unaufmerksamkeit des Polizisten würden ihre Freunde über die drei Uniformierten herfallen und ihnen eine Tracht Prügel verabreichen, die sich gewaschen hatte.

»Bezahl den Apfel trotzdem!«, drängte Ben. Er konnte seinen Freunden in diesem Moment nicht erklären, was ihm durch den Kopf ging. Wichtig war, zunächst einmal wohlbehalten aus dieser Situation herauszukommen.

»Zu spät!«, raunzte der Polizist mit der Waffe und befahl seinen Begleitern: »Abführen!«

Die beiden Hilfspolizisten gaben Miriam einen Stoß, damit sie sich in Bewegung setzte. Doch Miriam dachte überhaupt nicht daran. Sie trat einem der Bewacher kräftig gegens Schienbein. »Fass mich nicht an, du Ätzbeutel!«

Das war die Chance, auf die die anderen gewartet hatten. Der Polizist mit der Waffe ließ sich einen Moment von Miriam ablenken. Diese kurze Unaufmerksamkeit genügte Frank. Mit einem blitzschnellen, gezielten Karatetritt schlug er dem Jungen die Waffe aus der Hand. Mit einem zweiten Schlag verpasste er ihm eine blutende Nase. Sofort stürzte Kolja sich auf den zweiten Polizisten und Achmed nahm sich den vor, den Miriam gerade getreten hatte.

»Alarm!«, schrie der Gemüseknirps.

»Macht mich los!«, forderte Miriam, die noch immer in Handschellen war.

Mit Kennerblick sah Thomas sofort, wo sich die Schlüssel befanden: am Gürtel des Polizisten. Er rief es Kolja zu, der seinem Gegner den Schlüssel entriss und ihn Jennifer zuwarf. Kaum hatte Jennifer die Handschellen gelöst, sah Ben schon das nächste Unheil auf sie zukommen. Eine ganze Horde uniformierter Kinder stürmte auf den Gemüseladen zu. Es waren nicht weniger als fünfzehn oder zwanzig Kinder, schätzte Ben.

»Wir müssen hier weg!«, schrie er.

Kolja und Achmed verpassten ihren Gegnern jeweils noch einen gezielten Schlag, Frank jedoch hatte schwer zu kämpfen, denn sein Gegner prügelte mit einem Schlagstock um sich. Frank duckte sich schließlich weg und nahm nun ebenfalls die Beine in die Hand.

Ben, Frank, Jennifer, Miriam, Kolja und Achmed rannten zum Ausgang des Einkaufszentrums, wo Ben plötzlich stehen blieb. »Verdammt, wo ist Thomas?«

»O Mann!«, fluchte Kolja. »Immer muss man auf diese lahme Ente warten!« Er machte kehrt, um Thomas entgegenzugehen, doch schon nach wenigen Schritten blieb er stehen. Nicht Thomas, sondern der Polizistentrupp kam angelaufen.

»Scheiße!«, stieß Kolja aus. »Jetzt aber nichts wie weg!«

»Wohin?«, fragte Miriam in die Runde.

»Mir nach!«, rief Ben, rannte um die nächste Ecke und wäre beinahe über Thomas gestolpert.

»Wo bleibt ihr denn?«, fragte Thomas.

»Mann, wo kommst du denn her?«, schrie Kolja.

»Das Zoogeschäft hat einen Hinterausgang, siehst du?« Thomas zeigte zu dem Laden, der vorn und hinten eine Glasfront hatte und von beiden Seiten begehbar war.

Jetzt sprang die vordere Glastür des Ladens auf und ein Trupp Polizisten stürmte durch das Geschäft.

Kolja entdeckte einen Mülleimer aus Draht. Eilig drehte er ihn um und verkeilte den drahtigen Fuß so im Türgriff, dass sich die Klinke nicht mehr drücken ließ. Der erste Polizist hatte die Tür erreicht, rüttelte daran, aber Koljas Blockade hielt. Er streckte seinem Verfolger den gestreckten Mittelfinger entgegen und folgte seinen Freunden, die schon vorangelaufen waren.

Unterwelt

Vor dem Einkaufszentrum fanden Ben und seine Freunde ein wenig Zeit zum Verschnaufen. Noch immer konnten sie nicht recht glauben, was sie gerade erlebt hatten. Die Stadt war offenbar komplett von Kindern übernommen worden, die die Aufgaben der Erwachsenen ausführten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Das Eigenartige war, wie perfekt die Kinder die Plätze der Erwachsenen eingenommen hatten, obwohl die Erwachsenen doch erst seit wenigen Stunden verschwunden waren. Es war unmöglich, in so kurzer Zeit eine ganze Stadt neu zu organisieren und die Aufgaben entsprechend zu verteilen, schon gar nicht, ohne dass nicht irgendwo Streit und Chaos entstand. Ben erinnerte sich, wie schwer es damals gewesen war, nur eine Handvoll Kinder zusammenzubekommen, die bereit gewesen waren vernünftig zu handeln, statt gleich das gesamte Einkaufszentrum zu plündern.

Ben erklärte Achmed, der damals nicht dabei gewesen war, dass die Aufgabe im Computerspiel Die Stadt der Kinder darin bestanden hatte, die Stadt und das tägliche Leben ohne Erwachsene zu organisieren. »Vielleicht«, so vermutete Ben nun, »hat jetzt jemand das Spiel wieder gespielt. Der Spieler hatte die Kinder bereits organisiert! Und nun sind wir in diese fertig aufgebaute Organisation hineingeplatzt!«

Jennifer fragte sich allerdings, weshalb sie später als die anderen Kinder hierhergekommen waren, worauf Miriam von einer zweiten seltsamen Beobachtung berichtete: »Kanntet ihr irgendeines der Kinder in dem Einkaufszentrum?«

Ihre Freunde schüttelten die Köpfe. Niemandem war eines der Kinder bekannt, die als Verkäufer, Polizisten oder Lagerarbeiter agierten.

»Das ist doch seltsam!«, fand Miriam. »Von unserer gesamten Schule war offenbar niemand dabei!«

»Und die Schule selbst funktionierte nicht«, fiel Frank auf. »Wir haben das doch selbst gesehen: Alle Schüler standen ratlos auf dem Schulhof, die Lehrer fehlten, aber sonst passierte nichts!«

»Stimmt!«, pflichtete Jennifer ihm bei. »Wenn das dort so abgelaufen wäre wie hier im Einkaufszentrum, hätten einige Kinder als Lehrer auftreten müssen!«

»Krass, ey!«, fiel Achmed dazu ein. »Kinder als Lehrer, ey. So weit kommt das noch!«

»Wer immer das Spiel gespielt hat, fand es offenbar nicht besonders wichtig, die Schule zu organisieren«, lautete Bens Erklärung.

»Dann kann es kein ganz schlechter Mensch sein!«, fand Miriam. Sie erntete allerdings sofort Widerspruch von Jennifer.

»Was soll daran toll sein, Kinder verblöden zu lassen?«, fragte sie. »Ich wette, der Blödmann, der das spielt, hat sich auch nicht um Museen, Galerien und Bibliotheken gekümmert!«

»Museen, Bibliotheken?«, fragte Achmed. Museen und Bibliotheken wären das Letzte gewesen, worum er sich als Spieler gekümmert hätte.

»Hattet ihr damals euer Hauptquartier nicht in der Schule?«, fragte Kolja in die Runde.

Thomas nickte ihm heftig zu. Denn das war damals seine Idee gewesen.

»Na also!«, sagte Kolja »Und da die Schule diesmal anscheinend nicht im Spiel vorkommt, können wir uns doch dort erst mal in Ruhe versammeln!«

Sein Vorschlag stieß auf Zustimmung. Sofort machten die Kinder sich auf den Weg. Kaum hatten sie das Einkaufszentrum hinter sich gelassen, als sie schon von Weitem eine Sirene hörten.

»Die Bullen!«, war Kolja sofort klar.