Vor 30 000 Jahren im Otterbachtal:

Geld im Schlaf verdienen – wer will das nicht? Miriam jedenfalls ist ganz wild darauf, als sie eine Anzeige mit dieser Überschrift liest, denn in ihrem Sparschwein ist Ebbe. Also überredet sie ihre Freunde Ben, Jennifer, Frank und Thomas mitzumachen und sich einem Labor für einen Versuch zur Verfügung zu stellen: Es geht um Gehirnscanning – ein Verfahren, bei dem ihre Gehirne kopiert werden sollen. Völlig ungefährlich, wird ihnen versichert. Doch als sie aufwachen, stecken sie in künstlichen Körpern. Und noch schlimmer – 50 Jahre in der Zukunft! Eine abenteuerliche Flucht vor skrupellosen Wissenschaftlern und wild gewordenen Wachmännern beginnt …

Andreas Schlüter

2049

Ein Computerkrimi
aus der Level 4-Serie

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Ein unglaubliches Angebot

Miriam schüttelte die Barbie-Puppe, als handelte es sich um einen Milch-Shake. Das Ergebnis blieb das gleiche. Sie war leer.

»Das gibt es doch nicht!«, brabbelte Miriam, während sie die Puppe noch mal kräftig schüttelte.

Erst hatte sie es ja für ein gutes Zeichen gehalten, dass kein Klimpern zu hören war, und gehofft, die Barbie-Puppe enthielte statt Münzen einige Scheine. Doch auch davon keine Spur. Verzweifelt betrachtete Miriam ihre Spardose.

Schon lange hegte Miriam den Wunsch, Kriminalkommissarin der Mordkommission zu werden. Um sich schon mal auf die Widrigkeiten dieses schwierigen Berufes einzustellen, war sie eines Tages auf die Idee gekommen, an der Obduktion einer Leiche teilzunehmen. Da es für ein Kind natürlich unmöglich ist, so etwas mitzuverfolgen – und das Fernsehen damals noch keine Obduktionen im Nachtprogramm übertrug – hatte die Barbie-Puppe dran glauben müssen. Miriam hatte ihr Taschenmesser geschärft, das in Plastik gegossene Vorbild so mancher Fernseh-Moderatorin vom Hals bis zum Bauchnabel aufgeschnitten und festgestellt, dass die Puppe innen hohl war.

Barbie war fortan weder zum Spielen noch zum Verkauf auf dem Flohmarkt zu gebrauchen. Und so war Miriam schließlich auf die Idee gekommen, das Spielzeug einem neuen Zweck zuzuführen. Aufgebahrt auf einer alten Keksdose, zugedeckt mit einem Leichentuch, welches in Wirklichkeit ein weißes Taschentuch war, diente das Kunststoff-Super-Modell mit seinem aufgeschnittenen Bauch seitdem als makabre Spardose.

So sehr Miriam jetzt aber das Innere ihrer obduzierten Plastik-Leiche betrachtete, sie war einfach leer. Miriam konnte es drehen und wenden, wie sie wollte: Sie war pleite! Und das am 13. des Monats! Bis zur Auszahlung des nächsten Taschengeldes standen noch zwei Besuche der nahe gelegenen Kirchendisco bevor, ebenso wie Omas Geburtstag und täglich rechnete Miriam mit dem Erscheinen der neuen CD ihrer Lieblingsgruppe. Von den täglichen Kleinausgaben ganz zu schweigen. Alles in allem fehlten ihr mindestens 60 Mark Genau 20 Mark mehr, als sie im folgenden Monat an Taschengeld bekommen würde, womit die totale Pleite schon für die nächsten eineinhalb Monate programmiert war.

Es war Miriam schleierhaft, wie man mit so wenig Geld auskommen sollte.

Jennifer, ihre beste Freundin, bekam genauso viel Taschengeld, aber die hatte am Ende des Monats immer etwas übrig. Schon oft hatte Miriam sie gefragt, wie sie das bloß anstellte, aber Jennifer hatte daraufhin jedes Mal nur mit den Schultern gezuckt und geantwortet: »Ich weiß es auch nicht. Ich kaufe mir halt nicht so viel wie du!«

Das war vielleicht ein toller Hinweis! Und so etwas von der besten Freundin! Da hätte sie ebenso gut ihren Vater fragen können!

Aber alles Nörgeln und Grübeln half nichts. Miriam musste etwas unternehmen. Aber was? Sie legte ihre Barbie-Spardosen-Puppe zurück auf den Operationstisch und deckte sie ordnungsgemäß mit dem Leichentaschentuch zu.

»Tja, Mädchen!«, murmelte sie. »Leider bist du schon ausgequetscht bis auf den letzten Blutstropfen!«

Das hätte sich dieses Schicki-Micki-Modell sicher auch nie träumen lassen, dachte Miriam noch, als sie über ihren eigenen Gedanken stolperte. Blutstropfen? Gab es nicht so etwas wie Blutspenden? Dafür bekam man doch Geld, glaubte Miriam mal gehört zu haben. Und gar nicht mal so wenig. Irgendwie summte ihr etwas von 50 oder 60 Mark durch den Kopf. Und selbst wenn es nur 30 Mark wären: besser als nichts. Für so ein bisschen Blut.

Ob Kinder das überhaupt durften? Wieso nicht? Schließlich brauchten die Krankenhäuser doch bestimmt auch Kinderblut; nicht nur die Nikotin und Alkohol verseuchte Brühe der Erwachsenen! Das wäre ja noch schöner!

Miriam fragte sich, wo sie sich erkundigen konnte, und erinnerte sich, dass sie schon mal Anzeigen in der Zeitung gesehen hatte, die um Blutspender warben.

Sie hatte diesen Gedanken noch nicht mal richtig zu Ende gedacht, da war sie schon ins Wohnzimmer ihrer Eltern geflitzt, hatte sich auf den Altpapierkorb gestürzt und die Zeitungen der letzten vier Tage herausgekramt.

Aufgeregt blätterte sie die Anzeigenseiten durch. Himmel, was es da alles gab! Eine ganze Rubrik Gesundheitsdienste, unter denen aber ausschließlich Massagen von Masseurinnen angeboten wurden, die ausnahmslos auch ihr Alter angegeben hatten, wobei keine älter als fünfundzwanzig war. Miriam ahnte, dass man diese Massagen nicht auf Krankenschein bekam. Unter den Rubriken Stellenangebote, die ohnehin nur aus zwei Anzeigen bestand, und Wohnungen brauchte sie gar nicht erst zu schauen, ebenso wenig unter Autos, Motorräder, Reisen und Ferienhäuser. Aber dort vielleicht: Verschiedenes!

Miriam fuhr mit dem Zeigefinger die einzelnen Inserate entlang:

Fußreflexzonenmassage. Das muss doch furchtbar kitzeln, dachte Miriam sich.

Tantra-Kurse, was auch immer das sein mochte.

Warzenbesprechung stellte Miriam sich langweilig vor. Was gab es mit einer Warze schon zu besprechen?

Nichtraucher in 24 Stunden. Na ja. Raucher wurde man meist schneller.

Horoskop per Telefon. Mit einer 0190 Nummer! Miriam lachte. Die sagten einem vermutlich eine hohe Telefonrechnung voraus – und würden Recht behalten.

Kurz: So ziemlich jeder Blutsauger der Stadt inserierte zwar in diesem Kleinanzeigen-Dschungel, bloß für Blutspender gab es keinen Hinweis!

Gerade wollte Miriam die Zeitung enttäuscht beiseite legen, als sie doch noch ein Inserat entdeckte, das interessant klang.

Wollen Sie Ihr Geld im Schlaf verdienen?

Die müssen mich kennen!, dachte Miriam. Denn genau das wollte sie! Die folgenden Zeilen las sie zweimal und konnte es immer noch nicht glauben:

Sie schlafen eine halbe Stunde

und verdienen 500,- DM.

Interesse?

Nähere Informationen bei

Forschungslabor Microbrain

Miriam glaubte, sie träumte, dachte aber nicht daran, die Gunst der Stunde zu verschlafen. Sie hechtete ans Telefon, um Jennifer anzurufen. Denn natürlich würde sie zu einer so aufregenden Angelegenheit niemals allein gehen. Jennifer musste mit! Da gab es gar keine Diskussion.

Jennifer versuchte auch gar nicht erst Miriam zu widersprechen, sondern stand fünfzehn Minuten später bei ihr vor der Tür, um sich alles direkt anzuhören und die Anzeige selbst zu lesen. Und da Jennifer in letzter Zeit kaum mehr einen Schritt machte ohne ihren Ben zu informieren, war der gleich mitgekommen. Trotz der Freundschaft zu Jennifer aber war Ben nur sehr selten dazu zu bewegen, mal etwas ohne Frank zu unternehmen. Und so saßen schließlich alle vier in Miriams Zimmer und machten sich über die Zeitungsanzeige her.

Jennifer vermutete sofort einen Arzneimittelfabrikanten hinter der Anzeige, der den Schlaf der Freiwilligen nutzte, um ihnen irgendwelche unausgegorenen Medikamente zu verpassen.

»Die können doch nicht machen, was sie wollen!«, widersprach Ben. »Tests mit Menschen sind strengen Kontrollen unterworfen.«

Das beruhigte Jennifer allerdings wenig. Sie beharrte darauf, dass niemand sein Geld verschenkte, schon gar nicht an schlafende Menschen. »Irgendwas machen die da ja mit einem!«, war sie sich sicher.

»Wir werden es nie erfahren, wenn wir es nicht ausprobieren«, lautete Miriams pragmatische Lebensregel. »Und für die Befriedigung unserer Neugier bekommen wir sogar noch 500 Mark! Wir wären doch bekloppt, wenn wir das nicht machen würden!«

Jennifer blieb skeptisch. Es gab Leute, die saßen für gerade mal 1.500 Mark den ganzen Monat an einer Supermarktkasse. Warum taten die das, wenn es auf der anderen Seite so leicht war, sein Geld zu verdienen?

Miriam stöhnte laut auf »Du bist ein Angsthase!«, bescheinigte sie Jennifer.

Doch mit solchen Sprüchen ließ Jennifer sich schon dreimal nicht überreden.

»Also gut!«, schlug Miriam zur Einigung vor. »Ich brauche die Kohle, will dort aber nicht alleine hingehen. Ich verdiene mir mein Geld im Schlaf und du kommst nur mit und passt auf mich auf, in Ordnung?«

Darauf konnte Jennifer sich einlassen und die altbekannte Kette nahm ihren Lauf: Wo Jennifer hinging, folgte auch Ben. Ben machte keinen Schritt ohne Frank. So zogen alle vier zu der angegebenen Adresse.

Kaum hatten sie die Straße betreten, da sah Frank schon von weitem etwas Regungsloses am Weg stehen.

Frank schaute genauer hin und erkannte, dass dieses regungslose Etwas sich sehr wohl bewegte, allerdings unendlich langsam, kaum wahrnehmbar. Doch Frank hatte Übung darin, bei diesem Etwas die scheinbar nicht vorhandene Bewegung eines Menschen zu erkennen: »Da vorn geht Thomas!«

Die vier näherten sich ihrem Schulfreund. Thomas hatte sie noch nicht entdeckt, da sein Kopf, wie meist, nach unten gesenkt war, um auf diese Weise besser Dinge auf der Straße zu finden. Thomas nämlich sammelte alles, was man finden konnte. Sein Motto lautete: »Die Hauptsache ist, dass es umsonst ist und man es nur zu nehmen braucht.«

»Hi Thomas!«, rief Miriam und wollte Thomas gerade auf die Schulter klopfen.

Doch kurz vorher hob Thomas abwehrend die rechte Hand. »Moment!«, antwortete er ohne aufzusehen, hockte sich hin, putzte mit der Hand Sand vom Asphalt, verharrte in der Bewegung, starrte auf den Fußweg, pulte nun mit dem Zeigefinger in dem schmalen Schlitz, der den Bordstein vom Rasen trennte, und rief schließlich: »Wusste ich es doch!«

Mit einer etwa fünf Zentimeter kleinen Zinnfigur in der Hand erhob Thomas sich wieder. Sie stellte einen kleinen Krieger dar, vielleicht aus einem Fantasy-Brettspiel oder etwas Ähnlichem.

Miriam schüttelte lachend den Kopf. »Das gibt es nicht. Der findet sogar noch Sachen, die schon vergraben sind!«

Thomas strahlte sie an und steckte die Figur in seine Hosentasche, in der schon etliche weitere gesammelte Stücke darauf warteten, in der Garage seiner Eltern abgelagert zu werden.

»Willst du nicht 500 Mark im Schlaf finden?«, fragte Miriam scherzhaft.

Thomas sprang prompt darauf an.

So hatte Miriam es gar nicht gemeint, nun aber blieb ihr nichts anderes übrig als Thomas einzuweihen und ihm zu verraten, wohin sie gerade gingen.

Thomas hatte zu der ganzen Angelegenheit nur eine einzige Frage. Die lautete: »Darf ich mit?«

Es war kaum zu glauben, wie viele Menschen sich fünfhundert Mark verdienen wollten. Die Kinder brauchten gar nicht an der Bürotür zu klingeln. Die Tür stand nämlich offen. Die Menschenmasse drängelte sich bis hinaus ins Treppenhaus.

»Das war’s dann wohl!«, kommentierte Jennifer und wollte gerade umdrehen und den Rückweg antreten. Nie und nimmer dachte sie daran, sich hier anzustellen! Doch für Miriam kam ein Rückzug überhaupt nicht infrage.

»Die verdienen hier alle dick die Kohle und ich schleich mich mit leeren Händen nach Hause?«, flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr. »Ich denke nicht daran!«

Jennifer seufzte tief und versuchte Miriam noch einmal von ihrem unsinnigen Vorhaben abzubringen.

Miriam aber hörte gar nicht zu. »Lass mich nur machen!«, sagte sie und rief dann laut durch die Menge. »T’schuldigung, darf ich mal? Papi, bist du dort vorne? Oh, Mann, ich habe meinen Papa aus den Augen verloren!«

Obwohl Miriam schon dreizehn war und sich in der Regel wie fünfzehn zurechtmachte, empfingen sie sofort ein paar besorgte Gesichter. Einige Erwachsene rückten auch gleich beiseite, wodurch sie natürlich andere noch mehr an die Wand quetschten, die sich lauthals beschwerten und zurückdrängelten, was wiederum denjenigen, die dadurch ans Treppengeländer gepresst wurden, überhaupt nicht behagte. In wenigen Sekunden glich das Treppen- einem Tollhaus. Die Erwachsenen pöbelten sich an, schubsten sich gehässig die Treppen hoch und wieder hinunter, rechts an die Wand oder gegenüber ans Geländer. Schmerzensschreie waren zu hören, Flüche und Androhungen von körperlicher Gewalt. In dem ganzen Durcheinander entstanden hier und da natürlich auch immer wieder Lücken.

Genau darin sah Miriam ihre Chance.

»Mir nach!«, rief sie siegesgewiss, wartete die Reaktion ihrer Freunde gar nicht erst ab, sondern knuffte und zwängte sich durch die jeweils für kurze Zeit entstehenden Gänge im Erwachsenen-Wirrwarr.

Jennifer zuckte mit den Schultern. Es blieben nur zwei Möglichkeiten: entweder Miriam völlig aus den Augen zu verlieren oder sofort hinterherzuschlüpfen. Jennifer entschied sich für die zweite Variante. Und so folgten selbstverständlich auch Ben, Frank und Thomas durch den wabernden Tunnel des murrenden Erwachsenen-Berges, der den Eingang zu dem Forschungsbüro verstopfte.

»Da wären wir!« Zufrieden stemmte Miriam ihre Hände in die Hüften und sah die leichenblasse Frau hinterm Tresen freundlich an, die sichtlich von dem Andrang der vielen Menschen überrascht und von ihrer Aufgabe, die Anmeldung zu organisieren, restlos überfordert war.

Auf den ersten Blick war Miriam schon klar, dass die Frau jetzt alles gebrauchen konnte, bloß keine Fragen. Also, dachte Miriam, bekommt die arme Sekretärin keine Fragen, sondern Antworten. »Hi!«, begrüßte Miriam sie herzlich. »Da sind wir! Pünktlich wie am Telefon versprochen. Ich nehme an, Herr Doktor erwartet uns schon!«

Die Frau hinter dem Tresen sah von ihren Papieren auf, die sich auf dem kleinen Schreibtisch stapelten. Sie war verwirrt, wusste nichts von einer telefonischen Verabredung. Schließlich hatte in der Zeitungsanzeige wohlweislich auch keine Telefonnummer gestanden. Das wäre ja noch schöner, wenn zu all dem Chaos jetzt auch noch das Telefon unablässig bimmeln würde.

Doch Miriam ließ der Frau keine Zeit zum Nachdenken. Natürlich hatte sie sich nicht telefonisch angemeldet. Wie auch? Aber das brauchte ja die Sekretärin wiederum nicht zu wissen.

»Da lang?«, fragte Miriam selbstbewusst, als würde sie hier täglich ein und aus gehen und sich schon bestens auskennen. Der Weg stimmte natürlich. Denn die anderen drei Wände waren besetzt mit Ausgang, Toilettentüren und Garderobe. Es konnte nur dort entlang gehen, wohin Miriam gezeigt hatte. Folgerichtig nickte die Frau unwillkürlich.

»Danke sehr!«, rief Miriam der völlig verdutzten Frau zu und machte sich auf den Weg.

Ihre Freunde hatten von der ganzen Aktion nichts begriffen, außer eines: Sie mussten jetzt hinterher.

Als einer aus dem Erwachsenen-Knäuel heraus zu fragen wagte, weshalb die Kinder vorgelassen wurden, erhielt er von der Sekretärin die barsche Antwort: »Die sind telefonisch angemeldet! Sie aber nicht!«

Seltsames Erwachen

Miriam stand auf der Tanzfläche in der Kirchendisco und sah sich lächelnd um. Im Kreis um sie herum blickten sie zehn oder fünfzehn Jungs erwartungsvoll an. Einer hübscher als der andere. Jeder von ihnen kannte nur einen Wunsch, dass Miriam ihn zum Tanzen auffordern würde. Miriam konnte sich nicht entscheiden, empfand diese außerordentlich große Wahl aber keineswegs als Qual. Genüsslich schritt sie den Reigen ihrer Verehrer ab und musterte jeden einzelnen sorgfältig. Manche wollten ihr imponieren, indem sie mit dem Schlüssel ihrer Mokicks wedelten und ihr zuflüsterten, dass sie Miriam den ganzen Abend die Getränke zahlen würden. Miriam lachte ihnen ins Gesicht, schwenkte vor ihren Nasen mit fünf Hundertmarkscheinen und zog weiter zum nächsten Verehrer. Nein, mit Geld war sie wirklich nicht zu ködern! Im Hintergrund hockte ihre Großmutter in einem Schaukelstuhl und freute sich über ein Geburtstagsgeschenk. Komisch, dachte Miriam. Ihre Oma war noch nie in der Disco gewesen. Und dann gleich mit dem Schaukelstuhl. Auf der anderen Seite des Raumes stand Miriams Lieblingsband in kompletter Formation. Sie hielten ihre neuste CD in der Hand und waren gerade damit beschäftigt, persönliche Autogramme für Miriam darauf zu schreiben.

Ein leises, monotones Piepen riss Miriam aus der Discoszene. Sie öffnete die Augen und sah plötzlich auf eine Wand. Wo war sie?

Langsam setzte ihre Erinnerung wieder ein: Geld verdienen im Schlaf. Sie befand sich in dem Forschungslabor. Dann war das Disco-Erlebnis also nur ein Traum gewesen. Schade. Aber was war wirklich geschehen?

Sie hatten tatsächlich einen Doktor angetroffen. Er war erst sehr verblüfft gewesen, Kinder unter den Kandidaten für sein Experiment zu finden, hatte sich dann geweigert die Kinder anzunehmen. Ohne Genehmigung der Eltern durfte er es ohnehin nicht, hatte er erzählt, aber dann hatte Miriam so lange gebettelt, bis er klein beigab. Und zwar auf eine Art, dass Miriam schon glaubte, er führte das Experiment mit ihnen gar nicht wirklich durch, sondern tat nur so. Ihr sollte es recht sein. Hauptsache, das Labor würde zahlen. Der Doktor versicherte noch mal, dass alles völlig ungefährlich wäre; sie brauchten auch gar nichts zu schlucken, bekamen nichts gespritzt. Das Einzige, was der Doktor zu tun gedachte, war, eine Art Lampe – wie er sich ausgedrückt hatte – über die Köpfe der Kinder zu bewegen. Brain-scanning nannte er das Verfahren.

Miriam hatte kein Wort verstanden. Aber dieses eigenartige Fremdwort, das sich vielmehr nach Technik als nach Medizin anhörte, hatte natürlich sofort Bens Interesse geweckt. Der Doktor müsste mittlerweile eigentlich aussehen wie ein Schweizer Käse; so viele Löcher hatte Ben ihm in den Bauch gefragt.

Zuerst hatte der Doktor klargestellt, dass er zwar Doktor, aber keinesfalls Arzt sei, sondern ein Doktor der Physik. Und als solcher habe er gemeinsam mit einigen anderen Doktoren und Professoren das Brainscanning nicht gerade erfunden, es aber so weit entwickelt, dass es funktionierte.

Brain-scanning, so hatte der Doktor erklärt, war am ehesten zu vergleichen mit der Kopie einer Datei auf dem Computer – was Bens Augen sofort einen feierlichen Glanz verliehen hatte. Bei einem Computer war es kein Problem, eine beliebige Datei zu kopieren und sie einem anderen Computer wieder einzuspeisen. So etwas funktionierte über alle möglichen Datenträger und Übertragungsmöglichkeiten: Diskette, Telefonleitung, per Handy, Satellit oder auch über eine Infrarot-Verbindung. Und was mit einer Datei ginge, das wäre selbstverständlich auch für eine ganze Festplatte möglich, hatte der Doktor betont, worauf Ben ihn gelangweilt, beinahe schon mitleidig angesehen hatte. Solche ollen Kamellen kannte doch mittlerweile jedes Kleinkind.

Schon einen Satz später allerdings hatte sich Bens Mund vor Staunen ebenso aufgeklappt wie der aller Kinder, als der Doktor gesagt hatte: »Und was mittlerweile jeder Mensch mit einer Festplatte machen kann, das machen wir mit Gehirnen!«

»Womit?«, hatte Jennifer entsetzt aufgeschrien.

Der Doktor hatte sie milde angelächelt und betont, dass es überhaupt keinen Grund zur Sorge gäbe.

Sie wären zwar in der Lage den kompletten Inhalt eines Gehirns zu scannen und könnten diesen auch speichern, aber es gab noch keinen Datenträger, auf den man diesen archivierten Inhalt eines Gehirns hätte kopieren können, so dass er auch funktionierte.

»Es ist also alles nur Grundlagenforschung«, beruhigte der Doktor. »Nur fürs Archiv und für Messungen. Wir wenden den Inhalt nicht an!«

Trotzdem!

Jennifer war nicht bereit irgendjemandem den Inhalt ihres Gehirns zur Verfügung zu stellen! Das war ja die reinste Horror-Vision!

Miriam aber – noch immer die fünfhundert Mark im Blick – hatte sich sofort Jennifers linkes Ohr geschnappt um dort hineinzuflüstern: »Das glaubst du doch selbst nicht! Den Inhalt eines Gehirns scannen! So ein Quatsch! Das ist doch ein Spinner!«

»Meinst du?«, hatte Jennifer unsicher nachgefragt.

Miriam war sich tausendprozentig sicher. »Was meinst du, weshalb der versichert, dass sie den Inhalt nicht anwenden? Weil es gar nicht geht! Der will sich bloß wichtig machen mit seiner angeblichen Forschung. Vermutlich heiß auf den Nobelpreis oder so. Komm, wir lassen ihm seinen Spaß und kassieren die Knete!«

Jennifer hatte Miriam geglaubt. Vermutlich auch, weil sie es glauben wollte. Den Inhalt eines Gehirns zu kopieren, diese Vorstellung war einfach zu furchtbar, als dass dieses Vorhaben sich verwirklichen lassen durfte.

So hatten dann schließlich alle mitgemacht, waren in einen Raum geführt worden, in dem nur eine Liege neben einem mannshohen Apparat stand, der aussah wie eine aufgemotzte HiFi-Anlage. Da es nur einen einzigen Apparat gab, mussten sie nacheinander gescannt werden. Miriam hatte sich als Erste auf die Liege gelegt. Dann musste sie eingeschlafen sein. Und jetzt war sie endlich aufgewacht. Frank sollte als Zweiter dran sein. Vermutlich wartete er nun schon ungeduldig. Wie lange das Scannen wohl gedauert hatte? Ob es wirklich nur eine halbe Stunde war, wie der Doktor versprochen hatte?

Miriam hob den Kopf, sah sich um.

Eigenartig, dachte sie. Sie musste so lange geschlafen haben, dass sie in einen anderen Raum geschoben worden war. Denn der Apparat war verschwunden, der Doktor war weg, aber neben ihr lagen auf vier weiteren Liegen der Reihe nach Jennifer, Ben, Frank und Thomas.

Sofort fiel Miriam auf, dass sich etwas Gravierendes geändert hatte: Sie trugen keine Kleidung mehr! Zumindest nicht ihre Kleidung. Jeder von ihnen war während ihres Schlafes in einen weißen Bademantel gesteckt worden.

Weshalb?

Wo waren ihre Klamotten?

Miriam wollte aufstehen, hielt aber in der Bewegung inne, denn sie hatte ein außerordentlich befremdliches Körpergefühl. Sie hätte es nicht beschreiben können, aber irgendwie fühlte sich alles an ihr ganz anders an als sonst.

War das Scannen ihres Gehirns doch nicht so harmlos gewesen, wie der Doktor behauptet hatte?

Er war doch tatsächlich – wie er versprochen hatte – nur mit einer skurrilen Leuchtdiode, die fast so aussah wie die Dinger, mit denen man Hundertmarkscheine auf ihre Echtheit prüft, über ihren Schädel gefahren. Allerdings so langsam, dass es selbst Thomas wie eine Ewigkeit vorgekommen sein musste. An das Ende dieses Scannens konnte sie sich jedenfalls nicht erinnern. Weshalb war sie überhaupt eingeschlafen? Sie hatte weder eine Spritze noch Tabletten bekommen.

Miriam sah sich weiter um, doch in dem Raum gab es nichts. Er war vollkommen leer – bis auf die fünf Liegen, auf denen sie lagen.

»Pst!«, rief Miriam zu Jennifer hinüber. »Bist du wach?«

»Ja!«, antwortete Jennifer. »Was ist los? Ich habe das Gefühl, dass ich meinen Körper nicht bewegen kann.«

»Geht mir auch so!«, hörte Miriam Bens Stimme.

»Was haben die mit uns gemacht?«, fragte Frank. Auch er war wie gelähmt.

»Und du, Thomas?«, fragte Miriam.

»Was?«, kam als Antwort zurück.

Typisch Thomas, dachte Miriam. Der hinkte mal wieder hinterher und hatte noch überhaupt kein Körpergefühl wahrgenommen.

Miriam hatte offenbar als Einzige keine Schwierigkeiten mit ihrem Körper. Sie erhob sich langsam, stand von der Liege auf, sah an sich herunter und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen, obwohl auch sie dieses eigenartige Gefühl nicht loswurde. Irgendetwas war mit ihrem Körper geschehen. Aber was? Es sah alles aus wie immer. Sie drehte sich mit dem Rücken zu ihren Freunden, öffnete dann behutsam den Bademantel und sah an ihrem nackten Körper herunter. Ihr fiel nichts auf. Alles normal.

Miriam schloss den Mantel wieder, drehte sich herum, aber nirgends lag ihre Kleidung. Sie hatte keine Lust, in so einem blöden Bademantel herumzulaufen, als wäre sie todkrank. Wo waren ihre Klamotten? Weshalb hatte man ihnen nicht einmal die Unterwäsche gelassen? Wieso waren sie vor dem Schlaf nicht darüber unterrichtet worden, dass sie ausgezogen wurden? Was haben die mit ihnen angestellt, während sie geschlafen haben?

Je mehr Miriam über die Geschichte nachdachte, desto mulmiger wurde ihr zumute.

»Jetzt geht’s plötzlich!«, rief Jennifer.

Miriam sah, wie Jennifer ihren Kopf hob und ebenso skeptisch und verunsichert ihren Körper betrachtete, wie sie selbst es kurz zuvor getan hatte.

Auch Ben und Frank erhoben sich nun langsam und vorsichtig. Sie mussten alle dasselbe Unbehagen empfinden, ging es Miriam durch den Kopf, denn nicht einmal Frank, der Supersportler sprang auf wie ein Wildpferd, sondern krabbelte eher von der Liege wie jemand nach einer schwierigen Hüftoperation. Als hätte er Angst, mit einer Bewegung etwas kaputtzumachen.

»Was ist mit dir?«, fragte Miriam zu ihm hinüber.

»Ich weiß nicht!«, antwortete Frank. »Alles fühlt sich so taub an.«

Genau dieses Gefühl hatte Miriam auch gehabt. Ihr Körper war taub und schien erst allmählich zum Leben zu erwachen.

»So ähnlich muss sich Dornröschen nach ihrem hundertjährigen Schlaf gefühlt haben«, meinte Jennifer, als sie ihren ersten Schritt gehen wollte.

»Ben, was haben die mit uns gemacht?«, fragte Frank seinen besten Freund, der doch immer alles über Technik wusste.

Doch diesmal konnte Ben ihm auch nicht weiterhelfen und schüttelte bedauernd den Kopf.

Um zu überprüfen, wie lange sie geschlafen hatten, sah Ben auf seine Armbanduhr. Er blickte allerdings lediglich auf sein nacktes Handgelenk. Die Uhr fehlte. Er vermutete, dass sie bei seiner Kleidung lag, irgendwo in diesem Labor, gut aufbewahrt in einem Spind.

»Seltsam!«, murmelte Frank plötzlich vor sich hin und schüttelte den Kopf. »Seht mal mein rechtes Bein!« Er stand auf, drehte sich zu den anderen und streckte sein Bein vor.

Niemand konnte daran etwas Bemerkenswertes entdecken.

»Eben!«, bestätigte Frank. »Genau das ist es ja. Bis heute Nachmittag hatte mein Bein noch etwas Besonderes: nämlich eine dicke rote Schramme quer überm Knie. Ich bin doch vorgestern beim Fußballspiel so mies gefoult worden!«

Miriam bückte sich, besah sich Franks Bein genauer, aber von einer Schramme keine Spur. Im Gegenteil: Frank besaß ein makellos sauberes, feines Bein. Man hätte es ausstellen können, so fehlerlos war es.

Jennifer verzog ihr Gesicht zu einer finsteren Miene. »Wenn ihr mich fragt«, begann sie ihre böse Vermutung auszusprechen, »dann war dieser Gehirnscanning-Quatsch nur ein Vorwand, um uns zu betäuben und andere Experimente an uns auszuprobieren!«

Entsetzt sahen die anderen Jennifer an.

»So etwas geht nicht so einfach!«, wandte Ben ein.

»So?«, fragte Jennifer hämisch. »Und wo ist Franks Schramme? Die haben irgendein Wundmittel an ihm ausprobiert!«

»Vielleicht waren unsere Körper deshalb zunächst wie taub!«, stieg Miriam auf Jennifers Theorie ein. »Wahrscheinlich haben die uns irgendwelche Medikamente gespritzt!«

»Hör bloß auf!«, rief Frank entsetzt. »Ich habe am Wochenende Vorausscheidungen zur Leichtathletik-Meisterschaft. Wehe, die haben mir etwas verpasst, was auf der Doping-Liste steht!«

»Du hast vielleicht Probleme!«, Jennifer schüttelte den Kopf. »Die Frage ist vielmehr, was die überhaupt mit uns angestellt haben!«

»Am besten wir fragen!«

Alle drehten sich zur letzten Liege, die hinten an der Wand stand. Ohne dass es jemand bemerkt hätte, war Thomas aufgestanden.

»Bestimmt kommt gleich jemand, jetzt da wir aufgewacht sind!«, war Thomas sich sicher. »Eine Krankenschwester oder so. Die können wir doch fragen!«

Als verfügte Thomas über hellseherische Fähigkeiten, öffnete sich gerade jetzt die Tür und eine zierliche Frau betrat den Raum, die eindeutig asiatischer Herkunft war. Nicht einmal der typische weiße Kittel konnte etwas von ihrer Schönheit rauben. Ihr hinreißendes Lächeln ließ strahlend weiße Zähne aufblitzen. Mit tiefbraunen Augen sah sie die Kinder freundlich an.

»Guten Tag!«, hauchte sie.

Ben war hingerissen von ihrer Erscheinung, was ihm einen argwöhnischen Blick von Jennifer einbrachte.

Miriam war mit einem Schlag klar, dass die Jungs bei dem Anblick einer solchen Fee kein Wort hervorbringen würden. Dafür war das männliche Geschlecht zu schlicht gestrickt.

Also ergriff sie sofort die Initiative.

»Guten Tag, Schwester!«, begrüßte sie die makellose Frau. »Was haben Sie mit uns gemacht?«

Die Frau sah Miriam an, als hätte sie in diesem Moment von einem Millionengewinn im Lotto erfahren. Mit verklärtem Blick, der unweigerlich das Gefühl von warmer Sonne und sauberen Stränden aufkommen ließ, antwortete die Frau mit einer Stimme, die die Ohren zärtlich zu streicheln schien:

»Liebe Miriam. Ich bin keine Schwester, sondern Physikerin. Genauer: die Leiterin dieses Labors. Mein Name ist Professorin Doktorin Pi.«

»Pi?«, kiekste Miriam laut auf.

Die Leiterin des Labors überhörte diesen Laut. Unbeirrt fuhr sie fort: »Aber du darfst mich gerne bei meinem Vornamen nennen: Frieda!«

»Frieda?«, wiederholte Miriam.

Für den hundertsten Teil einer Sekunde schien sich ein Ausdruck der Besorgnis in Frieda Pis Porzellan-Gesicht verirrt zu haben, die sich zu fragen schien, weshalb das Mädchen vor ihr alles wiederholte, bevor sie lediglich antwortete: »Ganz recht!«

Miriam hatte Mühe, ihr Anliegen nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich fiel ihr wieder ein: »Ich will Sie nicht beim Vornamen nennen. Ich will wissen, was Sie mit uns gemacht haben!«

»Aber das weißt du doch!«, schmeichelte Frieda Pis Stimme sich in Miriams Gehörgänge ein. »Ich möchte euch jetzt bitten mich in euren Aufenthaltsraum zu begleiten. Ihr werdet dort alles Nähere erfahren, meine Lieben!«