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Über das Buch:

 

Kommissar Staves zweiter Fall

 

Hamburg 1947: Es ist das Jahr der Extreme. Nach dem bitterkalten Hungerwinter stöhnt die zerbombte Stadt schon im Frühling unter quälender Hitze. Und Oberinspektor Frank Stave wird mit einem neuen Fall konfrontiert. In den Ruinen einer Werft wird die Leiche eines Jungen gefunden. Zusammen mit Lieutenant MacDonald und Doktor Czrisini macht sich Stave auf die Suche nach dem Mörder, und die Ermittlungen führen sie in die Welt der »Wolfskinder« – jener elternlosen Kinder, die aus den besetzten Ostgebieten geflohen sind und sich nun zu Banden vereint als Kohlenklauer, Prostituierte und Schmuggler durchschlagen.

Doch nicht nur beruflich sieht Frank Stave sich vor Rätsel gestellt: Mitten in den Untersuchungen steht plötzlich sein Sohn vor der Tür, der aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt ist. Ein schmerzhafter Weg der Annäherung liegt vor ihnen, während Stave zugleich um den Erhalt der Beziehung zu seiner Geliebten Anna kämpft.

Als zwei weitere Leichen entdeckt werden, gerät Stave zunehmend unter Druck. In einer dramatischen Nacht im Hafen soll sich schließlich entscheiden, ob Stave den Täter zu fassen bekommt …

Über den Autor:

Cay Rademacher

© Francoise Rademacher

 

Cay Rademacher, geboren 1965, ist freier Journalist und Autor. Bei DuMont erschienen seine weiteren Kriminalromane aus dem Hamburg der Nachkriegszeit: ›Der Schieber‹ (2012) und ›Der Fälscher‹ (2013). Seine Provence-Krimiserie umfasst: ›Mörderischer Mistral‹ (2014), ›Tödliche Camargue‹ (2015), ›Brennender Midi‹ (2016), ›Gefährliche Côte Bleue‹ (2017), ›Dunkles Arles‹ (2018), ›Verhängnisvolles Calès‹ (2019) und ›Verlorenes Vernègues‹ (2020). Außerdem erschien 2019 der Kriminalroman ›Ein letzter Sommer in Méjean‹. Cay Rademacher lebt mit seiner Familie in der Nähe von Salon-de-Provence in Frankreich.

 

Mehr über das Leben im Midi erfahren Sie im Blog des Autors: Briefe aus der Provence

Cay Rademacher

DER SCHIEBER

Kriminalroman

 

 

 

 

 

Für Frank Rademacher,
in memoriam Gisela Rademacher

Der Junge auf der Bombe

Freitag, 30. Mai 1947

Das Blut des toten Jungen überzieht wie ein Schleier die englische 500-Pfund-Bombe. Licht flutet durch den zerstörten Dachstuhl einer Lagerhalle auf die Leiche – und auf den Blindgänger, eine angerostete, menschengroße Bombe, ein monströser Fisch, der sich in den Betonboden gegraben hat. Der Rest der Halle ist in Dunkelheit getaucht. Der Junge und die Bombe werden von der Sonne angestrahlt wie von einem Bühnenscheinwerfer, denkt Oberinspektor Frank Stave von der Hamburger Kriminalpolizei.

Er leitet eine kleine Gruppe der Mordkommission und müsste nun eigentlich ermitteln, sollte sich den Toten und den Fundort ansehen, Zeugen befragen, Spuren erkennen. Denn der zwölf, höchstens vierzehn Jahre alte Junge hat ohne Frage einen gewaltsamen Tod erlitten. Stattdessen kauert er neben einigen anderen Beamten hinter den verbogenen Stahlgestellen eines zerstörten Krans und blickt durch ein Mauerloch in die Halle. Einzig ein Mann ist im Gebäude, umkreist mit behutsamen Bewegungen die Bombe und den mageren Toten. Einen kurzen Blick nur wirft er auf den Jungen, dann kniet er sich endlich vor den Blindgänger und setzt vorsichtig eine große, schwarze Ledertasche ab, die er bislang in seiner Rechten getragen hat.

Ein Feuerwerker, der den Blindgänger entschärfen soll. Solange der Zünder noch aktiv ist, wäre es für die Kripobeamten viel zu gefährlich, sich dem Toten zu nähern.

Hoffentlich zerstört der mir keine Spuren, denkt Stave.

Ein Telefonanruf zu Dienstbeginn hat den Oberinspektor alarmiert. Er hat sich einige Schupos genommen und ist von der Kripo-Zentrale am Karl-Muck-Platz aufgebrochen – Jungen, noch grün hinter den Ohren, eingestellt von den englischen Besatzungsoffizieren. Stave erkennt Hauptpolizist Heinrich Ruge wieder, der ihn schon bei früheren Einsätzen begleitet hat.

»Der Tote wird uns nicht davonlaufen«, hatte der ihm zugerufen, etwas zu forsch.

Stave hatte geschwiegen und nur mitleidig auf den Schupo geblickt, dem der Schweiß unter dem Tschako hervortrat und ihm die Schläfen herabrann. »Dunstkiepe« schmähen die blau uniformierten Polizisten ihre hohe, unbequeme Haube schon zu normalen Zeiten.

Aber nun ist es 30 Grad heiß.

Stave erinnert sich schaudernd an den vergangenen Winter: ein gnadenloses halbes Jahr, in dem das Thermometer meist zwischen minus 10 und minus 20 Grad anzeigte – und manchmal noch darunter. Und nun ein Frühling, so heiß wie seit Menschengedenken keiner mehr. Es ist, als wollte nach den Menschen nun das Wetter verrücktspielen.

Immerhin ist der Krieg vorbei, macht sich der Oberinspektor Mut. Neben ihm hocken Ruge und fünf weitere Schupos hinter der Deckung des zerstörten Krans. Die Sonne steht schräg über ihnen, kein schützender Schatten in der Umgebung. Er riecht ihre Ausdünstungen. Ob es nur die Hitze ist? Oder ob ihnen auch die Angst das Wasser aus der Haut treibt?

Neben den Uniformierten kauert ein kleiner, dürrer, rothaariger Mann, dessen sommersprossiges Gesicht bereits unter einem Sonnenbrand glüht: Ansgar Kienle, Polizeifotograf und, mangels anderer Spezialisten, zugleich einziger Spurensicherer der Krimsches von Hamburg.

Noch verbrannter leuchtet das kahle Haupt von Dr. Alfred Czrisini. Stave hat den Pathologen angerufen. Der hat sich, da er gerade Besuch von einem englischen Fachkollegen hatte, kurzerhand dessen Jeep ausgeborgt und war zum Fundort der Leiche geeilt, wo er wieder einmal vor den Kripobeamten eingetroffen war. Unter seinem Sonnenbrand wirkt er blass. Mit fahrigen Händen steckt er sich eine Woodbine zwischen die Lippen.

»Meinen Sie, dass es eine gute Idee ist, zu rauchen, wenn neben uns eine 500-Pfund-Bombe entschärft wird?«, zischt Stave dem Pathologen zu. Er weiß allerdings, dass nichts und niemand – und schon gar keine Bombe – Dr. Czrisini je von seinen Zigaretten abhalten könnte. Der Arzt lächelt bloß und schüttelt den Kopf. Der Qualm seiner Zigarette ist eine winzige bläuliche Fahne in einem Ruinenfeld. Stave hat sich und seine Männer mit einer Barkasse auf die andere Elbseite nach Steinwerder übersetzen lassen. Blohm & Voss liegt auf dem hammerförmigen Kopf einer Halbinsel am Südufer der Elbe: Zwei riesige Docks parallel zum Fluss, ein weiteres, das quer davor wie ein gigantisches Schwert ins Land hineinsticht. Rechts hinter den beiden großen Docks noch ein Becken. Auf dem Gelände langgestreckte Backsteinhallen, Kräne, aufgereiht wie strammstehende Soldaten, das Schienengewirr der qualmenden Schmalspurbahnen, die Kessel, Geschützrohre und Stahlschotts zu den Docks schleppten. Früher zumindest.

In den Docks von Blohm & Voss wuchs erst wenige Jahre zuvor das Schlachtschiff »Bismarck« heran. Von hier glitt fast die Hälfte aller deutschen U-Boote zum ersten Mal ins Wasser – fünfzehn beinahe fertiggestellte Rümpfe kann er immer noch erkennen. Sechzig, siebzig Meter lange Röhren aus grauem Stahl, schlanke Türme, die geschlossenen Klappen der Torpedorohre im Bug, Steuerruder, die golden glänzenden Schrauben am Heck – manche Boote so neu, als könnten sie sofort auf Feindfahrt gehen, andere schon halb versunken im Becken, wie gestrandete Wale. Bei zwei oder drei Wracks wirkt es so, als seien sie noch auf der Werft von einem Giganten zu Tode geprügelt worden. Immer und immer wieder haben Engländer und Amerikaner Blohm & Voss bombardiert.

Stave blickt auf Schuttberge, Hunderte Meter in allen Richtungen, halb umgerissene Ziegelmauern, abgeknickte Schornsteine, auf die 200, 300 Meter langen Docks, deren Wände aufgesprengt sind, auf einstmals in fürchterlicher Hitze zerschmolzenes Metall, Brombeeren und Sauerampfer, die nun aus aufgeplatztem Kopfsteinpflaster wuchern, die Spundwände am Ufer, deren rissiger Beton von Mänteln aus Grünspan überzogen ist, die Elbe, die jenseits des letzten Docks grau und schnell dahinströmt. Und dahinter auf Ruinen und noch mehr Ruinen und noch mehr, und nur der Turm des Michels ragt aus dem Hitzedunst wie ein riesiges Grabmonument.

Bis vor wenigen Jahren wehte das Klopfen der Niethämmer über die Elbe und war noch als eine Art Rauschen in den Räumen der Kripo-Zentrale zu hören. So gleichmäßig und selbstverständlich wie das Gurgeln eines Wasserfalls: Irgendwann nahm man den Lärm gar nicht mehr wahr.

Nun ist es beinahe still. Keine Schiffe in den Docks, kein Funkenregen von Schweißgeräten oder Eisensägen. Nur am anderen Ende ein Kran auf Schienen, der ruckelnd und kreischend einen zusammengepressten Stahlträger aus den Trümmern eines Gebäudes zieht und auf eine Schute hinunterschwenkt, die in der Elbe dümpelt. Schrott, der irgendwo eingeschmolzen wird.

Ein Feuerwehrmann kriecht bis zu den kauernden Polizisten heran, ein Kollege des Spezialisten in der Halle.

»Wie lange wird er brauchen?«, fragt Stave. Ihm fällt auf, dass er seine Stimme gesenkt hat, als könnte schon ein energisches Wort den Blindgänger hochgehen lassen.

Auch der Feuerwehrmann spricht gedämpft. »Schwer zu sagen. Kommt auf den Zünder an und auf dessen Zustand. Von den Bomben selbst haben wir schon Hunderte gesehen. Die meisten haben einen normalen Zünder, also einen, der den Sprengsatz explodieren lassen sollte, sobald die Bombe eingeschlagen ist. Manchmal klemmen diese Dinger – weil sie beim ersten Aufprall auf ein Dach schon beschädigt wurden oder weil sie von Anfang an falsch eingeschraubt worden sind. Das kriegen wir relativ schnell hin. Einige von diesen Biestern haben aber Langzeitzünder, die eigentlich erst nach Stunden oder Tagen auslösen sollten.«

Stave nickt. Er erinnert sich daran, wie lange nach den schrecklichen Bombennächten plötzlich irgendwo mit gewaltigem Krachen Bomben im Trümmermeer hochgingen. Amerikaner und Engländer hatten manche absichtlich so eingestellt, um die Aufräumarbeiten zu erschweren – einer der Gründe dafür, warum Gauleiter Karl Kaufmann befohlen hatte, Häftlinge aus dem KZ Neuengamme zum Aufräumen in die Ruinen zu schicken. Zwei- oder dreimal war er dabeigewesen, um Sträflinge zu bewachen.

»Solche Zünder«, fährt der Feuerwehrmann fort, »funktionieren oft nicht. Von außen sehen sie zwar unbeschädigt aus. Aber die kleinste Unachtsamkeit, schon eine winzige Erschütterung, und so ein Blindgänger fliegt uns um die Ohren.«

»Reicht dafür schon die Erschütterung durch menschliche Schritte aus?«, fragt der Oberinspektor.

Der Feuerwehrmann lächelt. »Manchmal ja, in diesem Fall wohl nicht. Das hat mein Kollege schon erfolgreich getestet.«

»Berufsrisiko«, murmelt Stave.

»Wir erhalten Schwerarbeiterzulage auf unsere Lebensmittelkarten.«

»Ein gerechter Ausgleich.« Der Kripobeamte blickt sich um und sieht, etwa fünfzig Meter entfernt, eine Gruppe missmutig blickender Arbeiter, die zu ihnen hinüberstarren. Dann wendet er sich wieder an die Gestalt, die neben ihm kauert.

»Wie lange wird Ihr Kollege bei der Bombe hocken?«

Der Feuerwehrmann deutet auf den Dachstuhl, der an der Seite eingeschlagen ist, direkt dort, wo er auf einer Wand liegt. »Da ist die Bombe hindurchgekracht«, erklärt er. »Wir nennen das ›Mauerschlag‹: Die Bombe trifft die Mauer, gerät ins Trudeln und schlägt schließlich in so einem schrägen Winkel auf, dass der Zünder nicht richtig losgeht. Komplizierte Sache. Eine Stunde wird mein Kollege dafür noch brauchen, mindestens.«

»Bleiben Sie hier«, befiehlt Stave daraufhin den Schupos, die wenig begeistert nicken. »Doktor Czrisini, kommen Sie bitte mit. Und Sie auch, Kienle, kann ja nicht schaden. Nutzen wir die Zeit und stellen den Arbeitern schon ein paar Fragen. Die sehen so aus, als könnten sie es kaum noch erwarten, uns zu helfen.«

»Die sehen aus, als wäre es in ihrer Nähe gefährlicher als neben diesem Blindgänger«, erwidert der Pathologe, doch zwingt er ächzend seinen korpulenten Körper in die Höhe und folgt den beiden Kripobeamten.

Fünf Männer blicken Stave und seine Begleiter feindselig an: dunkle Joppen, darunter kragenlose blau-weiß-gestreifte Hemden, Cordhosen, Schirmmützen, Hände wie Baggerschaufeln. Der Oberinspektor stellt sich vor, zückt seinen gelben Polizeiausweis, reicht englische Zigaretten herum: John Players, auf der Packung prangt ein Matrose in einem Rettungsring.

Überraschung, Zögern, dann greifen die Fünf zu, mit Lauten, die man bei gutem Willen als Dankesworte interpretieren könnte. Stave, der nie raucht, hat seit einiger Zeit stets Zigaretten übrig. Früher hat er sie am Bahnhof eingetauscht, wenn er heimkehrende Kriegsgefangene nach seinem verschollenen Sohn befragt hat. Seit er weiß, dass Karl im sowjetischen Lager Workuta sitzt, muss er das nicht mehr tun. Die Zigaretten helfen nun dabei, Verhöre geschmeidiger zu machen.

Czrisini steckt sich ebenfalls eine neue Woodbine zwischen die Lippen. Für ein paar Augenblicke schweigen alle Männer, dünne blaue Rauchfahnen kräuseln sich zwischen geborstenen Ziegelwänden. Der beruhigende süßliche Duft von Orienttabak zwischen dem Geruch nach Ziegeln und altem Schmieröl. Die Luft flirrt in der Hitze, aus der Elbe steigt Gestank nach Müll und toten Fischen hoch. Stave hätte gerne ein Glas Wasser getrunken.

»Wer von Ihnen hat den Jungen gefunden?«, fragt der Kripobeamte schließlich.

Der älteste Arbeiter aus der Runde – der Oberinspektor schätzt ihn schon auf sechzig oder mehr Jahre – hustet und tritt schweigend einen Schritt vor.

»Ihr Name?«

»Wilhelm Speck.«

Der Arbeiter ist dünn und hart wie eine Räucherwurst. Möchte nicht wissen, wie oft der sich schon Witze über seinen Namen anhören musste, sagt sich Stave.

»Sie haben bei uns angerufen?«

»Nein, das war unser Prokurist.« Speck deutet auf ein würfelförmiges Gebäude aus braunrotem Backstein, ein paar Hundert Meter entfernt. Die Verwaltung, vermutet der Kripobeamte.

»Wir haben die Bombe«, der Arbeiter zögert, fährt dann fort, »und den toten Jungen gefunden. Kurz nach Schichtbeginn. Wir sind ins Büro gelaufen.«

»Seit wann arbeiten Sie bei Blohm & Voss?«

Speck blickt ihn überrascht an. »Schon immer.« Er denkt kurz nach. »Seit 44 Jahren. Wenn man die letzten beiden Jahre denn ›Arbeit‹ nennen will.«

Seine Kollegen murmeln zustimmend. Auch das klingt irgendwie bedrohlich.

»Sie sehen nicht aus, als hätten Sie hier Urlaub gemacht.«

»Ich gehöre zur Schietgang!«, ruft der Alte stolz.

Der Oberinspektor blickt ihn verwundert an.

»Ketelklopper«, erläutert Speck und, als er merkt, dass ihn der Polizist noch immer nicht versteht, wieder auf Hochdeutsch: »Kesselklopfer. Wir gehen in die Kessel der Schiffe, die zur Überholung in den Docks liegen, und klopfen den Schmutz weg.«

»Klingt nach harter Arbeit – härter als die, die Sie jetzt zu tun haben.«

»Arbeit«, entfährt es Speck, »das ist Schiffe bauen oder überholen! Schweißen, Nieten, Hämmern. Am Anfang hat man ein leeres Dock und am Ende schwimmt ein Kahn in der Elbe. Das ist Arbeit!«

»Und jetzt?« Der Oberinspektor weiß, worauf Speck anspielt, aber er will, dass er es ihm erzählt. Das wird einem Mann, der sonst wohl eher wenig redet, vielleicht die Zunge für die nächsten Fragen lösen.

»Jetzt«, fährt der Arbeiter erregt fort, »demontieren wir die Werft. Die Engländer zwingen uns, unsere eigenen Arbeitsplätze kaputt zu machen! Zumindest das, was sie mit ihren Bomben nicht schon alles zerschlagen haben.«

Tatsächlich wird die Riesenwerft zerlegt. Offiziell, weil noch brauchbare Maschinen und Ausrüstungsgegenstände als Reparationen an andere Länder geliefert werden sollen – als Ersatz für das, was die Deutschen dort im Zweiten Weltkrieg zerstört haben. In Hamburg ist es aber ein offenes Geheimnis, dass das eigentliche Ziel der Briten ist, eine der besten Werften der Welt für immer stillzulegen – einen Konkurrenten auszuschalten, der nicht nur Schlachtschiffe und U-Boote gebaut hat, sondern in friedlicheren Zeiten auch Hunderte Ozeanliner und Frachter. Bauaufträge, die man oft genug den Werften in Liverpool oder Belfast weggeschnappt hatte.

Speck deutet auf einen Haufen Maschinen, die etwa dreißig Meter weiter neben einer Halle in der Sonne rosten. »Drehbänke, Fräsen, Bohrer, Schweißgeräte, Niethämmer«, erklärt er. »Die mussten wir vor einem Dreivierteljahr abbauen und dort lagern. Sie sollten angeblich als Lieferung an die Sowjetunion gehen. Damals sind extra englische Militärpolizisten angerückt, um uns zu überwachen. Und nun liegen sie immer noch hier und verrotten. Genosse Stalin hat überhaupt kein Interesse an unseren Werkzeugen. Die Engländer haben uns bloß gezwungen, sie ins Freie zu schaffen, damit sie dort verkommen.«

Wohl ein Kommunist, vermutet Stave. Mindestens jeder fünfte Werftarbeiter stimmt seit 1945, als die Briten in Hamburg wieder Wahlen erlaubten, für die KPD. Kann man beinahe verstehen, denkt er. Laut aber sagt er: »Obwohl Sie seit zwei Jahren Ihre Werft auseinandernehmen, ist Ihnen der Blindgänger in der Halle nie aufgefallen?«

Speck schüttelt den Kopf. »Da hatten wir bis 1945 U-Boot-Teile gelagert. Seither war da niemand mehr drin, die stand leer. Wir waren heute Morgen eher zufällig dort.« Er zögert, blickt seine Kameraden an, sieht sich dann um, als könnte er belauscht werden, senkt die Stimme. »Die Maschinen da hinten«, flüstert er, »die können wir doch nicht ewig da liegen lassen. Wir wollten sie hier«, er ringt um das richtige Wort, »sicherstellen. Bis die Engländer sie dann abholen«, setzt er hastig hinzu.

»Selbstverständlich«, erwidert Stave mokant. Die wollen ihre Maschinen verstecken, um irgendwann wieder Blohm & Voss aufbauen zu können. Was geht ihn das an? »Und da haben Sie den Blindgänger mit dem Toten darauf entdeckt?«

»Das war nicht zu übersehen«, antwortet Speck. Seine rissigen Hände zittern nun leicht. »Wir haben uns ganz schön erschrocken.«

»Waren Sie näher dran? Haben Sie etwas angefasst?«

Alle Arbeiter schütteln die Köpfe. »Einen Blindgänger? Ich bin doch nicht lebensmüde«, erklärt Speck. »Wir stolpern hier andauernd über Bomben, die noch nicht hochgegangen sind. Hier könnten alle Feuerwerker Zelte aufschlagen, so oft sind die hier.«

»Sie waren also nur an der Tür?«, fragt der Oberinspektor und deutet auf den Eingang, der an der Schmalseite der Lagerhalle offen steht – noch weiter von dem Toten entfernt als das Mauerloch, hinter dem er bis eben noch gekauert hat.

Speck nickt. »Ein, zwei Schritte rein vielleicht noch, dann haben wir Fersengeld gegeben.«

»Kennen Sie den Jungen?«

Wieder Kopfschütteln.

»Könnte das ein Lehrjunge sein? Ein Laufbursche?«

»Nein. Wir dürfen keine Jungs mehr ausbilden, wozu auch? Und Laufburschen brauchen wir hier nicht.«

Speck zögert, bis er einen ermunternden Blick von Stave auffängt. Noch eine Zigarette wechselt von Hand zu Hand. »Hier stromern oft Jungens herum«, fährt er fort. »Wir verscheuchen sie, wenn wir sie erwischen. Waisen, Flüchtlinge, DPs. Bengels ohne Heim und Eltern, die ihnen mal die Ohren lang ziehen. Klauen wie die Raben. Sie werden das ja kennen bei der Polizei.«

Der Oberinspektor seufzt. Tausend oder mehr Kinder verstecken sich in Hamburgs Ruinen. Zehn-, Zwölf-, Vierzehnjährige, die den Bombenhagel oder die Flüchtlingstrecks als Einzige ihrer Familien überlebt haben. Die Kohlen aus den Frachtzügen stehlen, Lebensmittelmarken verschwinden lassen, auf dem Schwarzmarkt für die Schieber Schmiere stehen oder sich am Hauptbahnhof für ein paar Zigaretten und ein Nachtlager verkaufen. Manche sind so verroht, dass sie auch Morde begehen.

»Wenn der Feuerwerker mit seiner Arbeit fertig ist, wird der Beamte hier«, er deutet auf Kienle, »Fotos des Toten machen. Er wird sie später auf der Werft herumreichen. Bitten Sie alle Ihre Kollegen, sich die Bilder anzuschauen. Vielleicht hat einer von Ihnen den Jungen schon einmal gesehen, ihn einmal bei irgendetwas erwischt oder ihn verscheucht. Ich möchte wissen, wer der Junge ist. Wo er wohnt – oder wo er sich versteckt, wenn er kein Heim hat. Und was er hier zu suchen hatte, in einer leeren Lagerhalle mit einer englischen 500-Pfund-Bombe mittendrin.«

Nachdem Stave die Arbeiter mit einem Kopfnicken weggeschickt hat, schleicht er sich mit seinen Begleitern zurück zur Deckung am Kran, wo die schweißnassen Schupos regungslos sitzen und kaum zu atmen wagen.

»Warum liegt der Tote wohl auf der Bombe?«, fragt er Czrisini.

Der Pathologe hustet – was alle Polizisten erschrocken zusammenfahren lässt – und zuckt dann mit den Achseln. »Ich werde mir den Jungen gleich näher ansehen, vorausgesetzt, der Kollege von der Feuerwehr erledigt seine Arbeit ordentlich.«

»Sieht so aus, als wolle uns der Mörder die Ermittlungen erschweren«, sinniert Stave, »indem er sein Opfer auf eine scharfe Bombe legt.«

»Oder als wolle er uns ein Zeichen geben«, erwidert Kienle.

Als ihn der Oberinspektor überrascht anblickt, lächelt der Fotograf verlegen. »Ein toter Junge auf einer englischen Bombe – vielleicht will uns der Täter damit irgendetwas sagen? Eine Botschaft vielleicht? Oder eine Art Handschrift?«

»Wenn das eine Handschrift ist, dann soll er beim nächsten Mal gefälligst auf einer Schreibmaschine tippen«, sagt der Oberinspektor.

Der Feuerwerker gibt seinem Kollegen, der bei den Polizisten in Deckung liegt, einige Handzeichen, dann holt er einen länglichen Gegenstand aus seiner Tasche, der aussieht wie ein auf Unterarmgröße zusammengeschrumpfter Dampfhammer. Vorsichtig setzt er ihn am hinteren Ende des Blindgängers an, zwischen den Stabilisierungsflügeln.

»Was macht er da?«, fragt Stave. Unwillkürlich flüstert er wieder.

»Das ist ein Langzeitzünder, der steckt hinten an der Bombe«, erwidert der Feuerwehrmann. »Scheißdinger. Davon haben die Engländer mehr als 100.000 herabregnen lassen, aber jedes siebte ist ein Blindgänger. Die werden noch meine Enkel in Atem halten – falls ich beim Entschärfen lange genug aufpasse, um Enkel zu haben.«

Er deutet auf das seltsame Werkzeug seines Kollegen. »Eine Raketenklemme, das einzige Teil, mit dem Sie einem Langzeitzünder beikommen können. Bei einem normalen Zünder schlägt eine Nadel auf einen Treibsatz und das Ding geht hoch. Bei Langzeitzündern wird diese Nadel von Stahlfedern gespannt wie in einem Flitzebogen. Doch zwischen ihr und dem Treibsatz steckt ein Plättchen aus Zelluloid. Schlägt die Bombe auf, wird zunächst aus einer Glasampulle Aceton freigesetzt. Die Chemikalie zersetzt das Zelluloid langsam. Irgendwann ist dieses Plättchen aufgelöst, die Nadel kommt frei – und Peng!

Das Tückische bei diesen Dingern ist, dass Sie nicht hineinsehen können. Vielleicht ist das Aceton nie freigesetzt worden, das Zelluloid hält die Nadel noch immer am Platz. Vielleicht ist das Plättchen aber schon längst weg, und die Nadel könnte jederzeit vorschnellen, klemmt aber irgendwo. Dann reicht tatsächlich ein Husten, und sie schlägt zu. Außerdem sind die Zünder noch so eingestellt, dass Sie sie nicht einfach aus der Bombe herausdrehen können. Versuchen Sie das, geht sie ebenfalls hoch.«

»Wer denkt sich bloß so etwas aus?«, murmelt Stave.

»Dieselben Tüftler, die danach die Raketenklemme erfinden. Das ist eine Art Schraubenschlüssel, mit dem Sie den Zünder herausdrehen können. Allerdings viel schneller, als je ein Mensch dazu in der Lage wäre. Und vor allem schneller, als ein Zünder reagieren kann. Im Innern der Klemme wird mein Kollege gleich einen kleinen Sprengsatz zünden. Damit wird der Zünder schlagartig herausgedreht. Die Fliehkräfte in dem rotierenden Zünder sind dabei so groß, dass alle mechanischen Komponenten für einen Augenblick zusammengepresst werden. Die Nadel schnellt deshalb erst mit einer winzigen Verzögerung vor – zu spät, um die Bombe noch explodieren zu lassen. Denn in diesem Augenblick ist der Zünder schon draußen. Meistens jedenfalls.«

Der Oberinspektor wirft ihm einen zweifelnden Blick zu. »Hört sich an wie Russisches Roulette.«

Der Feuerwehrmann hebt die Achseln. »Kann sein, dass der Zünder beim Einschrauben schon verkantet worden ist. Dann würde ihn selbst eine Raketenklemme nicht schnell genug freibekommen. Kann auch sein, dass der Treibsatz einer Raketenklemme nicht richtig zündet und das Ding zu langsam ist. Keiner weiß das. Die Feuerwerker, denen so etwas passiert, können hinterher ja nicht mehr darüber berichten. Das ist die einzige Arbeit, bei der Sie nicht von den Fehlern oder vom Pech Ihrer Kollegen lernen können.«

Der Mann in der Halle hat inzwischen die Raketenklemme behutsam über das spitz zulaufende Heck der Bombe gestülpt. Er atmet tief durch. Dann macht er eine kurze Bewegung, die der Kripo-Mann kaum erkennen kann. Ein kleiner, scharfer Knall, wie ein Pistolenschuss. Unwillkürlich hält Stave den Atem an, drückt den Kopf zum Boden, presst sich die Hände schützend auf die Ohren.

Nichts.

Ganz langsam atmet der Oberinspektor aus. Er spürt, dass er zittert. Schweiß rinnt in seine Augen.

»Gut«, sagt der Feuerwerker, der bei ihnen ist. Er steht bereits und streckt seine Beine. Dann winkt er durch das Mauerloch ins Innere. »Der Zünder ist draußen. Jetzt ist die Bombe nur noch ein großes Stahlrohr mit ein paar Chemikalien darin. Nicht direkt ungefährlich.« Er deutet auf Czrisini. »Auf die Zigarette müssen Sie drinnen leider verzichten. Wäre doch schade, wenn jetzt noch ein Funke durch das offene Zündergewinde bis ins Bombeninnere fallen würde.«

Der Pathologe sieht unglücklich drein und unter seinem Sonnenbrand noch etwas blasser als zuvor, raucht aber in drei tiefen Zügen die Woodbine bis auf seine Fingerkuppen hinunter und drückt sie dann sorgfältig aus.

Stave klopft sich den Staub ab. »Sehen wir uns die Leiche an.«

Der Oberinspektor massiert sein linkes Bein, tut so, als sei es vom langen Kauern eingeschlafen. Dann denken sich die Kollegen nichts dabei, wenn er bis zur Bombe hinkt – er schämt sich dieser Verletzung aus dem Feuersturm von 1943, ohne dass er dafür die Gründe benennen könnte.

Er schüttelt dem Feuerwerker die Hand, der sich als Walter Mai vorstellt. Ein hagerer Mann mit Brille, spärlichem Haarwuchs und undefinierbarem Alter. Könnte Mitte dreißig sein oder Anfang sechzig.

»Sie haben nicht einmal feuchte Hände«, entfährt es Stave.

»Mir macht diese Hitze nichts aus«, versichert Mai treuherzig. Ein dünnes Lächeln. »Ich liebe diese Arbeit. Ein toter Junge lenkt einen allerdings schon ab, und das habe ich gar nicht gern.« Dann wird Mai ernst und tippt zum Abschied mit zwei Fingern an seinen Mützenschirm. »Wäre Ihnen verbunden, wenn Sie mir bei Gelegenheit sagen, wer dieser Bengel war – und wer ihn so zugerichtet hat.«

»Sie hören von mir. Wird allerdings länger dauern, als eine Bombe zu entschärfen.«

»Ist ja auch komplizierter«, antwortet der Feuerwerker ohne jede Spur von Ironie in der Stimme. Dann nickt er seinem Kollegen zu und verschwindet mit ihm aus dem Gebäude.

Die Beamten betreten die Lagerhalle, gehen nur wenige Schritte, lassen Kienle allein bis zur Leiche voranschreiten. Der macht seine Bilder, bei jedem Blitz aus der Fotolampe zuckt Stave nervös zusammen. Dann bestreicht Kienle einige Stellen mit Puder, auf der Suche nach Fingerabdrücken. Missmutig schüttelt er den Kopf. Kein Erfolg. Zuletzt schießt er noch Fotos vom staubigen Betonboden ringsum. Dann winkt er die Kollegen heran.

Kienle deutet auf den gräulichen Staub, der wie ein Teppich den Boden rund um den Blindgänger bedeckt. »Hier war wirklich lange niemand mehr. Das sind die Schritte des Feuerwerkers«, er deutet auf die Spuren, welche kreisförmig um die Bombe verlaufen.

»Das hätte ich auch ohne Nachhilfe erkannt«, brummt Stave.

Kienle lächelt nachsichtig. »Von dort sind der Junge und sein Mörder hergekommen«, er weist auf Trittspuren, die von der Bombe bis zu einer rückseitigen, kleinen Tür führen, die der Kripo-Mann zuvor nicht einmal bemerkt hat – vielleicht einem alten Notausgang. »Zwei Arten Fußabdrücke.«

»Nur ein Mörder«, überlegt Stave laut. »Die kleineren Abdrücke sind deutlich zu erkennen. Wir werden das überprüfen, aber ich bin mir sicher, dass sie von dem Jungen stammen.« Er deutet auf dessen Leinenschuhe, ein altes, doch gut erhaltenes Paar kleiner Herrenschuhe, wie sie vor zehn Jahren modern gewesen sind.

»Die anderen Abdrücke sind leider ziemlich verwischt. Von der Tür bis zur Bombe ist kaum etwas zu erkennen. Und hier hat der Feuerwerker viel zertrampelt. Seine Tasche hat er auch noch auf die Abdrücke gestellt.«

»Er hatte andere Sorgen.«

»Wird jedenfalls schwer sein, die Spuren genauer zu analysieren.«

»Aber sie sind größer.«

Kienle nickt. »Ein Mann, würde ich sagen. Wirkt nicht so, als kämen die Spuren von zwei oder gar noch mehr Personen. An den Wänden der Halle finden sich zahlreiche Fußspuren im Staub. Kann sein, dass der Junge oder sein Mörder dort herumgelaufen sind. Vielleicht waren es auch die Arbeiter, die das Opfer entdeckt haben. Oder jemand ganz anderer. Wird auf jeden Fall kaum möglich sein, Genaueres zu identifizieren.«

Stave betrachtet den Boden. »Sieht so aus, als sei der Junge um die Bombe herumgegangen. Auf allen Seiten sehe ich Abdrücke. Sein Mörder aber ist in gerader Linie von der Tür bis zum Blindgänger gegangen.«

»Kaltblütig«, murmelt Schupo Ruge.

»Das haben Kindermörder so an sich«, erwidert Stave, eine Spur Schärfe in der Stimme.

»Aber unser Unbekannter ist in dieser Hinsicht trotzdem ein besonderes Exemplar«, ergänzt der Pathologe. »Der ist noch abgebrühter als die übliche Mordbande.«

Stave betrachtet den Toten und zwingt sich, nicht darüber nachzudenken, dass er noch ein Kind vor sich hat. Vierzehn Jahre, schätzt er. Dünn, aber nicht unterernährt, sehnig, die Haut tief gebräunt, aber an den Armen von Krätze entstellt. Verfilztes, längeres braunes Haar, braune Augen. Die alten Stoffschuhe, eine kurze Hose – wohl ein dunkelgrün eingefärbtes Teil einer HJ-Uniform, im Bund ein selbst gemachter Gürtel aus einem Hanfseil. Ein kragenloses Hemd, viel zu weit, wie es die Werftarbeiter tragen, schmutzig, am Rücken eingerissen.

Der Junge liegt mit dem Rücken auf dem Blindgänger, als wäre er eine Lehne. Sein Kopf ist nach hinten gekippt, die offenen Augen starren zu dem Loch hoch, das die Bombe ins Dach schlug. Gesäß auf dem Betonboden, Beine von sich gestreckt, Arme abgewinkelt: Die Linke liegt auf den Stabilisierungsflügeln der Bombe, die Rechte ruht in seinem Schoß.

Der Oberinspektor beugt sich dichter über das Mordopfer. »Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand sind gelb«, murmelt er. Er holt seinen Block hervor und macht sich eine erste Notiz.

»Tabakspuren. Ziemlich jung für einen starken Raucher«, ergänzt Czrisini. »Selbst ich habe später damit angefangen.«

Jetzt erst betrachtet Stave die Wunde: Ein großer, braunrot eingetrockneter Fleck beschmutzt Brust und Bauch des Jungen, eine Blutkruste bedeckt die Bombe, dunkle Flächen haben sich auf dem Boden ausgebreitet.

»Eine Stichwunde vermutlich«, sagt der Pathologe. »Genau werde ich das selbstverständlich erst wissen, wenn ich dem Jungen das Hemd ausgezogen habe. Aber sehen Sie.« Er deutet auf das besudelte Kleidungsstück. »Blasenartige Einschlüsse in der Blutfläche. Das sind ausgetretene Sekrete. Starkes Indiz dafür, dass Magen oder Speiseröhre verletzt worden sind.«

»Große Mengen Blut überall. Der Fundort ist auch der Tatort«, sagt Stave.

Czrisini nickt zustimmend. »Das meine ich: besonders kaltblütig. Der Mörder sticht sein Opfer auf einer scharfen Bombe nieder. Ein Wunder, dass der Junge im Todeskampf nicht gegen den Zünder gekommen ist.«

»Keine voreiligen Schlüsse«, mahnt der Oberinspektor. »Vielleicht war unser Mörder ganz im Gegenteil so panisch, dass ihm selbst dieses Risiko gleichgültig war. Oder er hat ursprünglich gar nicht vorgehabt, den Jungen niederzustechen. Vielleicht trifft er ihn am Blindgänger, es kommt zum Streit, im Affekt zieht er das Messer, ohne überhaupt nachzudenken.«

Czrisini deutet auf die Hände des Toten. »Unverletzt, keine Kampfspuren. Der Junge sieht aus, als sei er ein Herumstreuner. Kräftig ist er auch. Der hätte sich gewehrt, wenn er geahnt hätte, dass jemand gleich auf ihn einstechen wird. Spricht gegen einen Streit.«

»Noch etwas?«

»Der Mörder ist höchstwahrscheinlich Linkshänder.« Der Pathologe deutet auf die fächerförmigen Blutstreifen auf der Bombe. »Man sieht noch den Verlauf der Blutstropfen. Wenn wir davon ausgehen, dass der Mörder vor seinem Opfer stand, dann kam sein Stoß mit einem Messer oder einem anderen scharfen Gegenstand von links.«

Stave streift sich dünne, schwarze Handschuhe über. Dann befühlt er vorsichtig die Hosentaschen des Toten, tastet auch das Hemd ab. Kein Geld, keine Papiere, was ihn nicht überrascht. Ein Schraubenzieher mit Holzgriff und scharf gefeilter Spitze, versteckt in der rechten Hosentasche.

Stave pfeift anerkennend, als er den Gegenstand betrachtet. »Eine Waffe.«

»Wohl kaum die Tatwaffe. Aber das werden wir schnell herausgefunden haben«, sagt Czrisini und hustet. Er sieht so aus, als brauchte er dringend eine Zigarette. Seine Hände zittern, er blickt sich ungeduldig um.

»Gleich gehört er Ihnen, Herr Doktor. Wir werden den Jungen abtransportieren. Ich lasse bei Staatsanwalt Ehrlich die Leichenöffnung beantragen.« Stave beugt sich ein letztes Mal herunter und zieht eine Packung Lucky Strike aus dem Hosenbund. Ein kleines Vermögen in diesen Zeiten. Der Pathologe blickt sehnsüchtig darauf.

»Die bekommen Sie nicht zwischen die Lippen«, versetzt der Oberinspektor. »Ist vielleicht ein Beweisstück.«

»Das hat ihm garantiert kein Lehrer geschenkt, weil er seine Hausaufgaben so ordentlich gemacht hat«, sagt Czrisini leise.

»Waffe, Zigaretten. Möchte wissen, was so ein Bursche in einer Lagerhalle von Blohm & Voss gesucht hat«, sagt Stave.

»Die leer ist bis auf eine scharfe Bombe.«

»Die jetzt leer ist. Vielleicht war etwas darin, das nun fehlt. Ist doch ein ideales Versteck: eine verwüstete Werft im Hafen. Der ist Sperrgebiet der Engländer, in das nur Arbeiter mit Passierschein hereinkommen, legal zumindest. In dieser Werft steht eine scheinbar leere Halle, für die sich niemand interessiert. Und in dieser Halle steckt ein Blindgänger, gut sichtbar, sodass jeder, der doch zufällig hier vorbeikommt, Reißaus nimmt. Wenn ich etwas zu verbergen hätte, wäre das kein schlechter Ort.«

»Vorausgesetzt, man ist lebensmüde genug, um sich in die Nähe eines Blindgängers zu wagen.« Der Pathologe schüttelt den Kopf und weist auf den Boden. »Im Staub sind Fußabdrücke zu erkennen – aber nichts, das auf eine Kiste oder sonst irgendetwas hindeutet, das hier gestanden haben könnte.«

Stave deutet auf die Wände. »Da ragen überall Nägel und Haken heraus, an die man etwas dranhängen könnte. Davor ist der Boden von Fußspuren übersät. Das könnte passen.«

»Und warum ist der Junge dann bis zur Mitte des Raumes gegangen? Weit weg von jeder Wand.« Czrisini hustet wieder. »Ich brauche jetzt eine Woodbine. Gehen wir ins Freie, dann verrate ich Ihnen, was ich vermute.«

Stave folgt dem Pathologen. Draußen flirrt die Luft, die Ziegel der Barackenwand glühen, als hätten sie im Ofen gelegen. Stave fühlt einen pelzigen Belag auf der Zunge und Heiserkeit im Hals. Die Schupos sehen bemitleidenswert aus.

»Kienle, schauen Sie sich in der Umgebung um«, ordnet der Oberinspektor an. Dann postiert er Ruge und die anderen jungen Beamten rund um die Baracke, wo ein wenig Wind von der Elbe heraufweht. »Bald kommt der Leichenwagen«, ermuntert er sie. »Dann geht es heim.« Von den Arbeitern ist niemand zu sehen.

Der Pathologe hat derweil einige tiefe Züge genommen und entspannt sich.

»Also, wer ist der Mörder?«, fragt Stave ihn, nur halb im Scherz.

»Ein Arbeiter«, antwortet Czrisini bestimmt. »Meiner Ansicht nach ist der Täter ein starker Mann, das zeigen die Spuren an seinem Opfer. Er kennt sich auf dem Gelände aus – immerhin gelangte er durch eine Tür in die Baracke, die so versteckt lag, dass selbst wir sie nicht sofort bemerkt haben. Niemand hat ihn oder seine Tat bemerkt, also kann er sich unauffällig auf der Werft bewegen. Die einzigen Männer, die Blohm & Voss betreten dürfen, sind Arbeiter. Sie kennen sich aus. Sie sind stark.«

»Die waren schon immer als raue Gesellen berüchtigt«, sagt Stave nach einigem Nachdenken. »Selbst in der Hochbahn, mit der sie morgens hierherfahren, liefern sie sich immer wieder Prügeleien. Aber Mord an einem Halbwüchsigen? Warum sollte jemand so etwas tun?«

»Vielleicht hängt es mit der Demontage zusammen? Die Arbeiter kochen vor Wut. Sie täuschen die englischen Militärpolizisten. Der Alte gerade hat es Ihnen ins Gesicht gesagt: Sie verstecken Maschinen, die eigentlich verschrottet werden sollen. Wer weiß, was die hier noch machen? Vielleicht hat der Junge bei einer dieser verbotenen Aktionen gestört – und da hat ihn jemand zum Schweigen gebracht.«

»Und warum wirft der Mörder den Toten nicht einfach in die Elbe? Wir hätten wahrscheinlich nie die Leiche gefunden. Und wenn doch, dann hätte niemand eine Spur bis zu Blohm & Voss zurückverfolgen können. Das Opfer liegt aber hier wie auf einem Präsentierteller.« Der Kripobeamte denkt an Kienles Bemerkung vom Zeichen, das der Mörder setzen will.

Czrisini zerkrümelt den winzigen Zigarettenstummel zwischen seinen nikotinverfärbten Fingerkuppen. »Das Rätsel müssen Sie lösen. Ich bringe meinem britischen Kollegen nun den Jeep zurück und werde mich auf die Leiche stürzen, sobald sie in der Rechtsmedizin ist. Bei dieser Hitze sollte man rasch arbeiten, bevor der Tote unschön wird.«

Stave denkt an die verfilzten Haare des Opfers, die Krätze an den Armen, die zerlumpte Kleidung. »Schön war der Bengel schon lange nicht mehr«, erwidert er und reicht dem Pathologen zum Abschied die Hand.

Der Oberinspektor wartet noch, bis der Leichenwagen über das holprige Kopfsteinpflaster rollt. Die Totengräber erreichen die Baracke zur gleichen Zeit wie ein Lastwagen der Feuerwehr, der die Bombe abtransportieren soll.

Gut, dass die Benzinrationen erhöht worden sind, denkt Stave. Vor einem halben Jahr noch hätte man den Toten und den Blindgänger auf Handkarren wegtransportieren müssen. Er gibt letzte Anweisungen und verabschiedet sich.

Am Becken von Blohm & Voss ragt zwischen den Wracks zweier U-Boote ein hölzerner Anleger ins schmutzige Wasser, an dem eine Barkasse vertäut ist: ein flaches Motorboot, vorne ein kleines Steuerhaus, auf dem offenen Deck dahinter ein paar Reihen hölzerner Bänke. Morgens und abends tanzen Dutzende Barkassen über die Wellen, pendeln zwischen den Haltestellen der Hochbahn und den Werften auf der anderen Flussseite, beladen mit müden, streitlustigen Arbeitern. Nun ist es Mittag, die meisten Motorboote dümpeln an den Elbufern.

Nur eine Barkasse steht unter Dampf, kleine, schwarze Rußwolken wehen aus dem stumpfen Schornstein. Auf dem offenen Deck sitzen vier Männer in abgetragenen Anzügen, lederne Aktentaschen in den Händen. Einer hat sich ein weißes, schweißverfärbtes Taschentuch mit vier Knoten auf das Haupt gesetzt, um sich vor der stechenden Sonne zu schützen, ein anderer hat einen großen, braunen Briefumschlag, den er abwechselnd als Fächer benutzt und über den kahlen Kopf ausbreitet. Die anderen sitzen stoisch oder schon zu müde, um sich noch gegen die Hitze zu wehren, auf den harten Bänken.

Stave und seine Männer grüßen stumm mit Kopfnicken, ignorieren die neugierigen Blicke der Angestellten, lassen sich auf das Holz fallen. Kurz darauf klopft die alte Dampfmaschine unter Deck lauter, das eiserne Schanzkleid der Barkasse zittert, Wasser am Rumpf gurgelt, und langsam legt das betagte Boot ab.

Der Oberinspektor starrt zurück auf die Werft, die hinter ihnen kleiner wird. An der Flanke des größten Schwimmdocks leuchtet in großen weißen, wenn auch verwaschenen Buchstaben »Blohm & Voss«. Er atmet in tiefen Zügen ein. Kommt der Wind aus Nordwest, trägt er den Duft von Salz und Seetang von der Nordsee bis nach Hamburg. Der Oberinspektor blickt kurz zum Schornstein: Rußwolken puffen heraus und zerfließen langsam in der Luft – ein Lüftchen nur, aus Südost. Es stinkt faulig nach Fisch und bitter nach der Kohle aus dem Kessel der Barkasse. Auch ein Fortschritt. Im letzten Winter hatte niemand mehr Kohle, weil die Züge aus dem Ruhrgebiet entweder irgendwo festgefroren oder leergeplündert waren. Stave denkt an die Kälte zurück und schüttelt den Kopf – ich werde mich nie wieder über Kohlequalm beklagen, sagt er sich.

Je weiter das Boot Richtung Strommitte stampft, desto heftiger tanzen steile Wellen von allen Seiten heran. Mal steigt der Bug hoch, mal rollt die Barkasse zur Seite, mal hebt sich das Heck, manchmal, glaubt der Oberinspektor, passiert das alles zugleich. Obwohl der Hafen nur noch ein Schatten früherer Betriebsamkeit ist, pflügen doch schon wieder so viele Schiffe durch die Elbe und die Becken, dass ihre Bug- und Heckwellen das Wasser aufquirlen.

Mehr als drei Viertel des Hafens sind zerbombt worden. Stave kann keinen einzigen Schuppen erkennen, der noch unzerstört wäre. An manchen Kais sind alle Kräne abgeknickt. Vor den zerbröselten Ufermauern liegen noch immer Wracks im Strom: verrostete, von Möwendreck weiß gesprenkelte Geisterschiffe, von denen noch Schornsteine, Aufbauten, manchmal auch Bug oder Heck aus dem Wasser ragen. Mehr als 500 gesunkene Schiffe versperrten nach Kriegsende den Hafen.

Andererseits: An einem Kai liegt die »Leland Stamford«, das Sternenbanner weht am Heck. Ein schmuckloser Liberty-Frachter, aus dessen Bauch Schauerleute auf dem Rücken Säcke schleppen, da kein Kran zu gebrauchen ist. Vielleicht Zucker, vielleicht Getreide – egal, irgendwas, das uns satt macht, denkt Stave. Aus anderen Frachtern wird Kohle auf Ewer umgeladen, auf flache Kähne, die mit ihrer grauschwarzen Last im Gewirr kleinerer Kanäle verschwinden oder stromauf ins Binnenland.

Zwischen Ewern, Barkassen und Frachtern tanzen Schlepper. Stromab schnauft die »Jan Molsen« heran, ein dickleibiger, uralter Ausflugsdampfer. Dreimal die Woche stampft er bis Cuxhaven und zurück, oft drängen sich tausend Menschen auf seinen weiß gestrichenen Decks – nicht Touristen, sondern Hamsterfahrer, die gegen Zigaretten und Schmuck Kartoffeln oder Äpfel von den Bauern Holsteins eintauschen. Man sagt, die »Jan Molsen« werde von der Polizei weniger häufig kontrolliert als die Züge, die nach Norden abgehen. An ihrem Heck knattert im Fahrtwind eine blau-weiß-rot gestreifte Fahne mit dreieckigem Ausschnitt, die Signalflagge für den Buchstaben »C«. Die Alliierten haben den Deutschen verboten, das alte Hakenkreuzbanner zu führen, andere Nationalfarben dürfen sie auch nicht flaggen. Sie müssen das grotesk gestreifte »C« zeigen, eine Schandflagge, die von anderen Schiffen nicht gegrüßt wird. »C« wie »Capitulation«, denkt der Oberinspektor und zuckt die Achseln. Geschieht uns recht so.

Seine Barkasse passiert ein großes, altertümlich wirkendes Schiff mit zwei hohen Schornsteinen und einem geraden Steven. Das Sowjetbanner leuchtet rot im schmutzig-grauen Einerlei des Hafens, obwohl es schlaff am Fahnenstock hängt.

Czrisini tritt neben ihn und deutet auf den kyrillisch geschriebenen Namen am Heck. »Das war bis 1945 noch die ›Oceana‹, ein KdF-Dampfer. Einer meiner Freunde ist mal damit gefahren, muss 1935 oder 1936 gewesen sein.«

»Und Sie?«

»Ich war nicht völkisch genug gesonnen für Kraft-durch-Freude.«

»Vielleicht dürfen Sie jetzt mitfahren, vorausgesetzt, Sie treten in die KPD ein. Scheint nun ein sowjetischer Frachter zu sein.«

»Ja, am Heck steht ›Sibirien‹. Der neue Name ist nicht ganz so poetisch wie der alte.«

»Sibirien«, murmelt Stave.

Sein Sohn Karl ist dort, seit zwei Jahren schon. Wie er wohl aussieht? Zuletzt war er ein kräftiger, zorniger Junge gewesen, der patriotisch und hitlergläubig noch im Frühjahr 1945 in den bereits verlorenen Krieg gezogen war – und seinen Vater, der nicht einmal Mitglied der NSDAP gewesen war, als Feigling beschimpft hatte. Lange hatte er danach nichts von ihm gehört. Verschollen. Dann, endlich, ein Brief vom Roten Kreuz und schließlich sogar ein paar Zeilen in der Schülerhandschrift von Karl. Nun wieder nichts, seit Wochen schon. Ob es im hohen Norden auch so heiß ist? Oder ob da noch immer Schnee liegt? Wann Karl wohl heimkommt?

Heim. Seine Gedanken wandern zu Anna. Seiner Geliebten. Wie seltsam das klingt und irgendwie unwürdig für einen Kripobeamten. Seit zwei Monaten sind sie ein Paar, die zwei glücklichsten Monate seit einigen Jahren für Stave.

Anna von Veckinhausen ist aus ihrer elenden Nissenhütte, die sie seit 1945 bewohnt hat, ausgezogen, hat vor drei Wochen die Genehmigung für eine Kellerwohnung in Altona erhalten, Röperstraße 6: ein feuchtes Loch, ein Fenster knapp unterhalb der Zimmerdecke, nasse Ziegelwände, von denen weißgraue Ölfarbe abblättert, der Gestank nach Lysol – aber immer noch besser als die Wellblechbaracke. Und privater. Manchmal verbringt sie die Nacht bei ihm in seiner Wohnung in Wandsbek. Öfter aber ist er bei ihr, im Keller von Altona sind die Nachbarn nicht so neugierig.

Undenkbar, dass sie zu ihm ziehen könnte, ohne Trauschein. Und ob sie je heiraten werden? Stave ist Witwer, doch Anna? Bis heute weiß er nicht, ob sie unverheiratet ist oder verwitwet oder geschieden – oder ob da noch ein Ehemann in ihrer Vergangenheit herumspukt wie ein Gespenst. Sie waren vorsichtig und sprachen bislang nur in Andeutungen über die Jahre vor 1945.

Stave verdrängt diese Sorge, starrt hinaus auf den Fluss, genießt den kühlenden Fahrtwind, gibt sich zärtlichen Gedanken an seine Geliebte hin. Schön, sich auf den Abend freuen zu können und nicht mehr die einsamen Stunden nach dem Dienst zu fürchten.

Sein Blick fällt zufällig auf Kienle. Der Polizeifotograf steht ein paar Schritte neben ihm an der Reling der Barkasse, mit einer sehr seltsamen Gesichtsfarbe: dem Rot des Sonnenbrandes über dem Grün der Seekrankheit.

»Wenn die Zeiten jemals wieder besser werden, lasse ich mich nach Bayern versetzen«, stöhnt Kienle, als er bemerkt, dass der Oberinspektor ihn besorgt anblickt.

»Und da kotzen Sie dann den Bodensee voll«, erwidert Stave heiter. Er deutet hinaus. »Wir stehen im Luv«, erklärt er, »der Windseite. Was hier außenbords geht, das trägt der Wind sofort zurück, wenn Sie verstehen, was ich meine. Besser, Sie suchen sich schon einmal ein ruhiges Plätzchen in Lee.«

Kienle lächelt tapfer. »Sind ja nur noch ein paar Meter bis zu den Landungsbrücken«, flüstert er, wankt aber trotzdem zur anderen Seite der Barkasse.

Stave blickt ihm nachsichtig hinterher. Kienle ist einer der wenigen netteren Kollegen. Schon in der Nazizeit war Stave ein Außenseiter. Nicht direkt verdächtig, die braunen Machthaber hatten ihn nicht entlassen, wie die wenigen Sozialdemokraten bei der Hamburger Polizei, aber doch auf einen unbedeutenden Posten abgeschoben. Betrugssachen. Dann die Karriere als Unbelasteter nach 1945. Viele Krimsches waren von den Engländern gefeuert worden, manche, die in der Gestapo gewesen waren, müssen sogar bis zum heutigen Tag mit Gerichtsverfahren rechnen. Andere Beamte hatten sich vor den misstrauischen Augen der Sieger mit knapper Not getarnt und waren übernommen worden, mussten aber zusehen, wie der ehemalige Verlierer Stave nun im Rang mit ihnen gleichzog.

Kripochef »Cuddel« Breuer – als Sozialdemokrat und ehemaliger KZler noch viel mehr ein Außenseiter im Amt als Stave – hat ihm nun den Fall des toten Jungen übertragen. Eine hässliche Sache. Stave fragt sich, ob er es mit einem Verrückten zu tun hat, der Jungenleichen auf Bomben ablegt. Der Druck, das Verbrechen aufzuklären, wird ihn nicht schlafen lassen. Oder hängt das Verbrechen mit der erzwungenen Demontage von Blohm & Voss zusammen? Dann ist Stave in ein politisches Wespennest gestürzt – so verhasst, wie diese Aktion in Hamburg ist. So oder so, denkt der Oberinspektor, gibt es bei dem Fall wenig zu gewinnen. Aber viel zu verlieren.