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Ebook Edition

ULRICH SCHNEIDER

Armes

Deutschland

Neue Perspektiven für
einen anderen Wohlstand

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INHALT

VORWORT

KAPITEL EINS

Was ist Armut eigentlich? Von den Widerständen, darauf eine Antwort zu finden

KAPITEL ZWEI

»Weniger Arme in Deutschland?« Was uns die Statistik verrät und wo sie blufft

KAPITEL DREI

Unser Sozialstaat an den Grenzen: Warum Armut hier keinen Platz hat

KAPITEL VIER

Der verlorene Kampf um die Vollbeschäftigung

KAPITEL FÜNF

Ganz ohne Theorie geht’s nicht: Über den Staat

KAPITEL SECHS

Die letzte Schlacht: Schröder und Hartz IV

KAPITEL SIEBEN

Warum Hartz IV Armut ist

KAPITEL ACHT

Das war’s dann: Das Scheitern von Hartz IV

KAPITEL NEUN

Deutschland am Scheideweg

KAPITEL ZEHN

Was jetzt zu tun ist

ANMERKUNGEN

LITERATUR

VORWORT

Eigentlich dürfte es gar nicht so schwierig sein, Armut zu bekämpfen. Das Problem ist bekannt. Es ist nicht plötzlich über uns hereingebrochen, sondern hat sich über Jahrzehnte aufgebaut. Es hat mittlerweile Dimensionen angenommen, die ein Wegschauen unmöglich machen. Es wird sehr ernst genommen, da es die Fundamente unserer Gesellschaft untergräbt. Und schließlich gehört Deutschland nach wie vor zu den reichsten Ländern der Erde. Wenn schon Deutschland seine Armut nicht bekämpfen kann, welches Land dann? Und doch ergeht es der Armut wie dem Klimawandel : Alle sind sich einig, dass etwas geschehen muss – und produzieren am Ende doch nur heiße Luft.

Warum dies so ist, warum es der Politik bisher nicht gelingen wollte, Armut zu verhindern, darum geht es in diesem Buch. Warum führt das Wissen über ein Problem noch längst nicht zu politischem Handeln? Welche Stolpersteine liegen auf dem langen Weg von der Erkenntnis zur Lösung ? Warum bleiben so viele soziale Probleme auf der Strecke und kommen nur so wenige tatsächlich am Ende dieses Weges an ?

Mit diesem Buch möchte ich darüber aufklären, was es mit der Armut in Deutschland tatsächlich auf sich hat. Es geht dabei nicht nur um die Frage, was es bedeutet, von Hartz IV leben zu müssen, sondern auch um einen Blick hinter die Kulissen von Armutspolitik und Armutsforschung, wo über Definitionen gerungen wird und darüber, ob Arme Segelflugzeuge haben dürfen oder nicht; wo hin und wieder getrickst wird, wenn die Armut zu teuer zu werden droht ; und wo auch schon mal ganz plötzlich einige Millionen Arme mehr oder weniger gezählt werden.

Das Fazit : Es kann in Deutschland nicht so weitergehen wie bisher: anhaltende Langzeitarbeitslosigkeit und Armutslöhne auf der einen Seite und soziale Sicherungssysteme, die diesen hilflos gegenüberstehen, auf der anderen. Einerseits eine Armut, die seit Jahren auf dem Vormarsch ist, andererseits ein Sozialstaat, der sich bereits ebenso lang auf dem Rückzug befindet.

Und es wird auch nicht so weitergehen. Der Staat wird über kurz oder lang gar nicht darum herumkommen, sich der Probleme anzunehmen und den Menschen echte Lösungen statt Placebos anzubieten. Immer größere Teile der Wählerschaft wenden sich ab von einer Politik, die in erster Linie überkommene Strukturen verwaltet und offensichtlich unfähig ist, wirklich neue Wege zu gehen, wenn es um die soziale Stabilität dieser Gesellschaft geht.

Der Staat wird gar nicht darum herumkommen, sowohl den Armen als auch diesem Sozialstaat wieder Perspektiven zu geben. Und er wird sich dabei nach links bewegen.

KAPITEL EINS

Was ist Armut eigentlich?

Von den Widerständen, darauf eine Antwort zu finden

Armut ist ein vielschichtiger Begriff, fast schon schillernd. Von der biblischen » Armut im Geiste « bis hin zur vielfach diagnostizierten »Talentarmut« in Casting-Shows und Kunstkritiken: Es geht in ganz unterschiedlicher Weise irgendwie immer um Knappheit. »Arm« heißt »zu wenig«; und zwar so, dass es definitiv nicht reicht – weder für die Casting-Show noch für das Leben. Armut lässt niemals kalt. Es gibt keine Diskussion über Armut, die nicht sofort emotional wird. Denn wo Armut konstatiert wird, steht immer auch eine ausgesprochene oder versteckte Anklage im Raum, wird es unangenehm, schwingt die stumme Aufforderung mit zu teilen und abzugeben.

Dies dürfte es sein, was die Diskussion um Armut so schwierig, so merkwürdig verklemmt oder gelegentlich auch aggressiv macht. Jede Auseinandersetzung um Armut ist immer auch – verdeckt oder offen – eine Auseinandersetzung um Verantwortlichkeiten und sogar um Schuld. So ist es überhaupt nicht erstaunlich, dass sich eigentlich fast nur mit den Armen selbst relativ offen über Armut reden lässt. Die sonstigen Reaktionen bei diesem Thema sehen dagegen häufig so aus :

» Die sind doch selber schuld. «

» Die wollen ja gar nicht arbeiten. «

» Die können nicht mit Geld umgehen. «

» Geld hilft da gar nicht ; wird eh’ alles versoffen.«

Solche Reaktionen entspringen denn auch weniger irgendwelchen fundierten Einsichten, als vielmehr einem sehr einfachen und recht subtilen Abwehrreflex.

» Ich hab’ damit nichts zu tun. «

» Ich kann nichts dafür. «

» Teilen ist sinnlos. «

» Lasst mich in Ruhe damit ! «

Das sind die eigentlichen Botschaften, die vermittelt werden sollen. Es ist die Angst, dass da jemand ans eigene Portemonnaie will, die die Diskussion um Armut im Privaten wie in der Öffentlichkeit so überaus schwierig macht. Fast aussichtslos ist es in der Politik, wo » Armut « geradezu ein Kampfbegriffist. Denn Politiker wissen: Wer in diesem Lande über Armut spricht, stellt auch der Politik selbst ein Armutszeugnis aus. Eine sachliche Diskussion ist damit so gut wie ausgeschlossen. Armut zu konstatieren bedeutet, sozialpolitische Defizite und schließlich einen politischen Handlungsbedarf festzustellen. Und dieser kommt meist alles andere als gelegen, wie jüngst erst die heftige Diskussion über das »Regelsatzurteil« des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2010 zeigte. Die Richter entschieden, dass Hartz IV nicht verfassungskonform sei. Die Leistungshöhe sei neu zu berechnen. Insbesondere bei Kindern seien nicht alle Bedarfe richtig berücksichtigt. »Wussten wir es doch schon lange, dass die Regelsätze zu gering sind«, riefen die einen. »Anstrengungslosen Wohlstand« und » spätrömische Dekadenz « sah hingegen FDP-Chef Guido Westerwelle, um eine sachliche Diskussion bereits im Keim zu ersticken.1 Zu eingefahren sind die Verteilungspositionen in diesem Land, zu stark die wirtschaftsliberalistische Lobby, für die Armutsbekämpfung, die erst einmal Geld kostet, per se wirtschaftsfeindlich ist (mehr dazu im Abschnitt Allzweckwaffe Neoliberalismus : Die Leitbilder des Rückzugs, S. 116 ).

Armut ist ein zutiefst interessengebundener Begriff. Eingebettet in parteitaktisches oder machtpolitisches Kalkül, eignet er sich trefflich, um Regierungen in Erklärungsnöte zu bringen und ihr Versagen nachzuweisen. Mit ihrem Kampfruf, Hartz IV sei » staatlich verordnete Armut«, hatte es die PDS in ganz kurzer Zeit geschafft, Schröder und seiner SPD erhebliche Probleme zu bereiten, mit dem bekannten Ausgang. Die Definition von Armut, die öffentliche Erörterung der Frage, wann wir überhaupt von Armut sprechen können, ist niemals frei von materiellen und sogar parteitaktischen Machtinteressen. Eine jede Regierung hat daher ein fast system-natürliches Interesse daran, Armut am besten vollständig und restlos zu leugnen. Wo dies nicht gelingt, muss der Armutsbegriffwenigstens so definiert werden, dass sich die Betroffenenzahlen und damit der politische Schaden in engen Grenzen halten.

Vom Leugnen und Wegdefinieren

Die Definition von und die Diskussion um Armut ist damit alles andere als eine trockene akademische Veranstaltung, die in Hörsälen und Seminarräumen ausgetragen wird. Das Ringen um den Armutsbegriffwar und ist zu jeder Zeit hochpolitisch, von Taktik geprägt und meist von finanz- und machtpolitischen Interessen geleitet. Es sind letztlich nicht die Wissenschaftler, die Armut definieren. Es sind vielmehr die Politiker, die sich des Begriffs bedienen, wenn es denn passt. Das politische Leugnen und Wegdefinieren von Armut hat in der Bundesrepublik geradezu eine parlamentarische Tradition, wie einige Beispiele zeigen.

1986. Über zwei Millionen Menschen sind in Deutschland bereits arbeitslos – 600 000 von ihnen schon längerfristig –, rund zwei Millionen Menschen müssen während dieses Jahres den Gang zum Sozialamt antreten. Das Gespenst der Armut geht um, mitten im reichen Deutschland. Fachleute beginnen, eindringlich zu warnen, dass diese Armut immer weiter in die Mitte der Gesellschaft hineinkrieche.2 In der Bevölkerung wächst eine diffuse Angst vor dem Absturz. Vor diesem Hintergrund wollen es die Grünen im Bundestag erstmals ganz genau wissen: Wie groß denn nun die Armut in Deutschland sei, was die Bundesregierung unter Armut verstehe, wie es mit der Sozialhilfe aussehe und welche Prognosen die Regierung habe ? Die Antwort der schwarz-gelben Regierung ist bemerkenswert und typisch zugleich. Die Bundesregierung bestreite ja gar nicht, »dass es heute – wie zu früheren Zeiten – in der Bundesrepublik Deutschland arme und benachteiligte Menschen gibt.« Doch: »Die Bundesregierung ist ebenso wie frühere Bundesregierungen der Auffassung, dass mit den Leistungen der Sozialhilfe der soziokulturelle Mindestbedarf sichergestellt wird.«3 Die Gewährung von Sozialhilfe, so die einfache regierungsamtliche Logik, schließt Armut per Gesetz aus. Akte zu, Problem erledigt. Und um weiteren kritischen Nachfragen gleich vorzubeugen, etwa zu den vielen Menschen, die diese Hilfe gar nicht beantragten, fügt sie hinzu : » Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Dunkelziffer in der Tendenz seit langem rückläufig ist.«4 Wie auch immer sie zu dieser Erkenntnis gekommen sein mag …

Ob die Sozialhilfe wirklich vor Armut schützen kann, was eigentlich Armut in Deutschland bedeutet und wie eine Sozialhilfe beschaffen sein müsste, die tatsächlich in der Lage ist, Armut zu verhindern – das alles wird mit Kalkül ausgeklammert. Die Kernfrage, um die es eigentlich geht, nämlich die Frage nach der Definition von Armut in einem reichen Land wie Deutschland, wird ganz bewusst zerredet : » Der Begriffder Armut entzieht sich wegen seiner Vielschichtigkeit einer allgemeingültigen Definition. Er kann unter einer Fülle von Gesichtspunkten beschrieben, aber wohl kaum umfassend exakt definiert werden.«5 Das heißt übersetzt: Es geht um knallharte politische und parteitaktische Interessen.

Noch wesentlich ungeschminkter wiederholt sich der Vorgang vier Jahre später in einer Fragestunde des Deutschen Bundestages. Der Paritätische Wohlfahrtsverband hatte wenige Monate zuvor unter dem Titel » … wessen wir uns schämen müssen in einem reichen Land …« seinen ersten Armutsbericht für die Bundesrepublik Deutschland vorgelegt und vor einem deutlichen Anstieg der Armut gewarnt.6 Die SPD nimmt als Opposition diesen Ball sofort auf, und glaubt, die Bundesregierung mit dieser Studie in die Enge treiben zu können. Wann nach Ansicht der Bundesregierung Armut beginne und wie viele Menschen ihrer Ansicht nach in Deutschland in Armut lebten, wollen die Abgeordneten der SPD-Fraktion daher von der Bundesregierung wissen. Die Antwort des zuständigen Staatssekretärs Werner Chory (CDU ) dürfte an Dreistigkeit kaum zu überbieten sein, war jedoch strategisch klug und kann geradezu als Lehrstück des regierungsamtlichen Umgangs mit der Armutsfrage in Deutschland gelten : » Was die Frage betrifft, ab wann Armut beginnt, muss ich darauf hinweisen, dass dieses Problem meines Erachtens nicht lösbar ist, da es keinen allgemeingültigen Armutsbegriffgibt.«7 Und zur Zahl befragt: »Ich habe Ihnen schon gesagt, eine solche Zahl würde eine Definition von Armut voraussetzen. Es gibt, nach Meinung der Bundesregierung, […] keinen allgemeingültigen Begriffder Armut […]. Wenn es aber keinen allgemeingültigen Begriffder Armut gibt, dann gibt es auch keine Möglichkeit, hier absolute Zahlen zu nennen. «8 Und was ist mit der von der Opposition und den Fachleuten geforderten Armutsberichterstattung? »Sie ist schon deshalb […] wenig zweckmäßig, weil der Begriff › Armut ‹ nicht allgemeingültig definiert werden kann.«9 Ein geradezu kunstvoll zu nennender, perfekter Zirkelschluss, den die Regierung hier ablieferte und der die Opposition völlig ins Leere laufen ließ.

Es ist ein verhängnisvoller Kreislauf : Das grundsätzliche Leugnen der Armut macht es scheinbar legitim, sich weder um eine Definition des Phänomens zu bemühen noch etwas genauer hinzuschauen. Wo Armut grundsätzlich bestritten wird, scheint es auch nicht notwendig, sich Wissen über die konkreten Lebenssituationen von Menschen anzueignen. Doch gerade dieses fehlende Wissen über Quantitäten und Art der Belastungen am Rande unserer Gesellschaft macht es wiederum möglich, Armut selbst im Deutschen Bundestag zu leugnen.

Eine Armutsdefinition zuzulassen käme einem Dammbruch gleich, das war der Koalition klar. Die Definition ist die Voraussetzung einer jeglichen Verständigung, und wer sich auf eine gemeinsame Definition einlässt, setzt sich bereits mit dem Phänomen auseinander und macht das Gegenüber sprachfähig. Und so ist auch bei der Armut die Definition der Schlüssel zum politischen Umgang mit ihr. Eine Regierung, die kein Interesse daran hat, sich ein Heer von Armen zuschreiben zu lassen, ist schlau, wenn sie sich gar nicht erst auf eine gemeinsame Sprache einlässt – die mit Abstand eleganteste und wirkungsvollste Form des politischen Wegtauchens.

Über Jahre und Jahrzehnte wurde in Deutschland nach diesem eigentlich banalen, aber sehr wirkungsvollen Muster Armut aus dem politischen Geschäft herausgehalten – und zwar parteiübergreifend. Das Klein-Definieren der Armut gehörte zum Repertoire einer jeden Regierung. Als der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister Heiner Geissler (CDU ) 1975 in einer vielbeachteten Veröffentlichung die »neue soziale Frage«10 aufwarf – womit er Armut meinte –, war es die sozial-liberale Koalition, die heftig protestierte.

Und auch Rot-Grün beherrschte nach 1998 das Spiel, soziale Probleme am besten erst einmal wegzudefinieren. Zwar legte die Koalition unter Gerhard Schröder 2001 einen seit über einem Jahrzehnt von der Fachwelt geforderten Armutsbericht vor – immerhin hatte man mit derlei Versprechen drei Jahre zuvor eine Bundestagswahl gewonnen –, doch stellte sie in schlechtester Manier gleich in der Einleitung dieses Berichts klar: »Trotz der langen Forschungstradition zu Fragen der Unterversorgung und sozialen Ausgrenzung bestehen noch vielfältige Erkenntnisdefizite, die auch der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung nicht aufarbeiten kann. Der Begriffder › Armut ‹ entzieht sich wegen seiner Vielschichtigkeit einer allgemein gültigen Definition. [ … ] Die Aufgabe, Armut messbar zu machen, scheint im streng wissenschaftlichen Sinn nicht lösbar. In Anbetracht der definitorischen Unschärfen der Armutsbegriffe wird auf eine endgültige Festlegung verzichtet. «11

Die Enttäuschung über derartig schwammiges Geschreibsel war groß. Niemand verlangte von der neuen Regierung, die doch alles so anders, so viel besser, so viel sozialer und so viel gerechter machen wollte, das definitorische Ei des Kolumbus. Erwartet wurde jedoch zu Recht eine Antwort auf die Frage, welche Armutsdefinition die Bundesregierung ihrer praktischen Politik zugrunde legen wolle. Erwartet wurde eine wissenschaftlich gestützte, aber letztlich pragmatische Entscheidung, keine wissenschaftliche ( Neu- )Definition. Selbstverständlich hätte die Bundesregierung eine solche Entscheidung treffen können, wenn sie es denn nur gewollt hätte. Man darf davon ausgehen, dass die Armen in diesem Lande wissenschaftliche Unschärfen verziehen hätten, wenn ihnen denn nur geholfen würde. Doch Verbindlichkeit erhöht den Handlungsdruck. Nebulöses, quasi-wissenschaftliches Herumdrucksen dagegen ist durchaus attraktiv, wenn man es als Regierung mit entschlossener Armutsbekämpfung vielleicht gar nicht so hat.

Dass es auch ganz anders gehen kann, wenn nur Interesse und Handlungswille da sind, zeigt nicht zuletzt der regelmäßige Sachverständigenbericht zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, der Bericht der sogenannten »Wirtschaftsweisen«. Deren Berechnungen fußen auf derart voraussetzungsvollen Annahmen und liegen erfahrungsgemäß so regelmäßig und so deutlich daneben, dass die Regierung all diese Berichte gleich nach Übergabe in die Tonne schmeißen müsste, wäre sie auf dem Feld der Wirtschaftspolitik wissenschaftlich auch nur annähernd so skrupulös wie in der Armutsfrage. Dass es anders ist, hängt mit Interessen und Prioritäten zusammen. Wo man willens ist zu handeln, hält man sich auch an wissenschaftlichen Strohhalmen fest. Wo jedoch allzu großer Handlungsdruck gar nicht erst entstehen soll, frönt man besser der »Vielschichtigkeit des Begriffs« und erstarrt in Ehrfurcht und Tatenlosigkeit vor der Wissenschaftlichkeit.

Und um auch gleich klar zu machen, dass es – Definition hin oder her – in Deutschland ohnehin keine Armut geben könne, versäumt auch SPD-Arbeitsminister Walter Riester nicht, 2001 in seinem Armutsbericht das hohe Loblied auf die Sozialhilfe zu singen: »Sozialhilfe ist Hilfe zur Selbsthilfe. Sie sichert als letztes Auffangnetz, das vor Armut und sozialer Ausgrenzung schützt, das soziokulturelle Existenzminimum.«12 Und: »Häufig wird in der öffentlichen Diskussion Sozialhilfebezug fälschlicherweise mit Armut gleichgesetzt. Insbesondere bei steigenden Empfängerzahlen wird von einer zunehmenden Armut gesprochen. Diese Einschätzung ist besonders dann irreführend, wenn durch eine Anhebung der Leistungen der Kreis der Anspruchsberechtigten erweitert wird. «13

Mit anderen Worten: Die Bundesregierung sieht sich zwar wegen des unzureichenden Forschungsstandes außer Stande zu sagen, was Armut sein soll, weiß aber ganz genau, dass es sie nicht gibt. Kein Wort in diesem immerhin 450-seitigen Armutsbericht darüber, dass die Sozialhilfe seit über zehn Jahren den steigenden Lebenshaltungskosten hoffnungslos hinterherlief, da die Politik sich weigerte, sie entsprechend anzuheben. Kein Wort davon, dass die Sozialhilfe damit längst nicht mehr vor Einkommensarmut schützen konnte.14

Erst mit zunehmender Ausdifferenzierung der Armutsforschung trat die Bundesregierung im zweiten Armutsbericht 2005 wieder einer verbindlichen Armutsdefinition näher. Das konnte sie bedenkenlos : Mittlerweile hatten sich die Wissenschaftler derart filigranen und ausdifferenzierten Definitionskünsten hingegeben, dass sie ihnen ganz zweifellos zu wissenschaftlichen Ehren reichten, politisch aber nicht mehr ernsthaft gefährlich werden konnten. Da Geld allein bekanntermaßen nicht glücklich macht, rückten neben dem Einkommen nunmehr weitere Lebensumstände in den Fokus der Forscher. Es wurde nach Mängeln beim Wohnen gefragt, bei der Gesundheit, den Bildungsabschlüssen und der Versorgung mit Arbeit.15 Später kam sogar ein » Mangel an Teilhabe von Bürgern an der Gesellschaft« hinzu, »soziale Ausgrenzung « und schließlich ein » Mangel an Verwirklichungschancen «.16 Nach Kumulationen wurde geforscht und nach den Zusammenhängen von Ursache und Wirkung. Der nunmehr in aller wissenschaftlichen Schönheit multidimensionale Armutsbegriff verschwamm und zerfaserte deutlich. Sind wir nicht alle irgendwie arm? Welche Armut ist eigentlich die schlimmste? Geldnot? Einsamkeit? Wohnungsnot? Wie soll noch festgestellt werden, wer überhaupt arm ist, wenn gar nicht mehr genau abzugrenzen ist, wo Armut anfängt und wo sie aufhört. Der Armutsbegriff ähnelte immer mehr dem sprichwörtlichen Pudding, den man an die Wand nageln will. So konnte sich die Bundesregierung endlich an die Spitze der Bewegung beziehungsweise der Forschung stellen, ohne befürchten zu müssen, dass es allzu konkret wird. Immerhin konnte man sich im zweiten Armutsbericht 2005 dabei auch noch auf einen echten Nobelpreisträger der Harvard University berufen: »Der 2. Armuts- und Reichtumsbegriff begreift Armut und Reichtum als Pole einer Bandbreite von Teilhabe- und Verwirklichungschancen, wie sie Nobelpreisträger Amartya Sen mit dem Capability-Ansatz konzeptionell entwickelt hat [ … ]. Hierin spiegelt sich die Vielschichtigkeit von Armut und Reichtum wider, die sich einerseits in der Verteilung materieller und immaterieller Ressourcen, andererseits aber auch in individuellen und kollektiven Lebenslagen manifestiert. Im Rahmen einer differenzierten Armuts- und Reichtumsberichterstattung wird nicht nur nach den verfügbaren Ressourcen gefragt, sondern vor allem danach, was die Menschen damit und daraus machen können. «17 Gefahrlos nähern konnte man sich dieser Definition, weil damit von Bericht zu Bericht eines immer klarer wurde: »Deshalb ist auch die Aufgabe, Armut ›messbar‹ zu machen, im streng wissenschaftlichen Sinne nicht lösbar. «18 Na also.

Von sozial-liberaler über christlich-liberaler bis rot-grüner Koalition : Die Tricks, mit denen man einer verbindlichen Armutsdiskussion ausweichen zu können glaubte, blieben die gleichen: gleich dreist, gleich offenkundig und gleich beschämend.

Vom Tricksen und Kleinrechnen

Zurück in die achtziger Jahre. Gar nicht geheuer muss es den regierungsamtlichen Ignoranten aus genannten Gründen vorgekommen sein, als – erst relativ unbeachtet von der Öffentlichkeit, dann jedoch mit immer größerer Aufmerksamkeit bedacht – ausgerechnet die Europäische Gemeinschaft einen Armutsbegriff zu etablieren begann, der es außerordentlich schwierig machte, Armut mit Verweis auf die Sozialhilfe oder andere Gesetze zu leugnen. Seit Mitte der siebziger Jahre schon kümmerte sich die Europäische Union um Armutsprobleme in der Gemeinschaft. Im ersten Armutsbekämpfungsprogramm zwischen 1975 und 1980 ging es in erster Linie um Definitionsfragen und Vergleiche zwischen den Ländern. Als die Europäische Kommission 1983 dazu ihren Abschlussbericht an den Europäischen Rat vorlegte, definierte sie als »arm« Personen, »die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale Mittel ) verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.«19 Als einkommensarm – so die Übereinkunft auf europäischer Ebene – gelte, wer über weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verfügt.20

Diese Definition der EU und ihre Konzentration auf die relative Einkommensarmut kamen einem Meilenstein in der Armutsdiskussion gleich. Trotz aller Versuche, Armut später mit Hilfe der Wissenschaft weich zu definieren und als nicht wirklich greifbar und messbar zu verkaufen, konnte man sich dieser quasi-amtlichen Definition von Einkommensarmut auf Dauer nicht entziehen. Die nicht unwesentliche Frage, warum ausgerechnet bei der Hälfte des Durchschnittseinkommens die Armutsgrenze liegen sollte, wurde merkwürdigerweise überhaupt nicht gestellt und wäre auch kaum befriedigend zu beantworten gewesen. Es war halt die EU, und weil es die EU war, war es – dem Zeitgeist folgend – fortschrittlich und im Sinne der europäischen Vereinigung. Wer wollte sich schon mit kritischen Nachfragen dem Vorwurf des Euroskeptizismus aussetzen ? So setzte sich diese Marke als EU-Konvention ebenso durch wie die europäischen Verordnungen zur Länge von Schnullerketten, zum Salzgehalt im Brot oder zur Erstellung einer Pizza Margaritha. Mit der Armutsdefinition schuf die EU einen politischen Fakt, eine feste und quasi unumstößliche Größe. Die EU-Definition erlaubte es endlich, mit ganz konkreten Zahlen aufzuwarten. Genau das also, was die Armutslobby sich ersehnte und was die Regierungen fürchteten. Wer über Definitionen verfügte und über allgemein akzeptierte, empirische Fakten zur Armut in der Bundesrepublik, der saß an dem entscheidenden Hebel, um das Thema in die Öffentlichkeit zu rücken, um Meinung zu machen, um politischen Handlungsdruck zu erzeugen, dem nicht mehr einfach mit dem Verweis auf fehlende Definitionen und auf die Sozialhilfe ausgewichen werden konnte. Dies dürfte allen Akteuren klar gewesen sein, den Politikern möglicherweise noch mehr als den Wissenschaftlern selbst.

Armut war nun » europaamtlich « relativ. Arm zu sein hieß nun, im Vergleich zur Allgemeinheit über so wenig Einkommen zu verfügen, dass man nicht mehr mithalten konnte, dass man abgehängt war und ausgegrenzt. Es sollte zwar noch Jahre dauern, bis Armut in Deutschland tatsächlich nicht mehr geleugnet wurde, und noch länger, bis die EU-Definition sogar in einem offiziellen Armutsbericht ihren Niederschlag finden sollte. Doch war der Weg mit dieser EU-Initiative unaufhaltsam vorgegeben. Kaum ein Politiker, kaum ein Ministerialbeamter, der sich diesem definitorischen Zangengriffvon wissenschaftlicher und EU-Autorität auf Dauer zu entziehen vermochte. Heute, nach Jahren und Jahrzehnten, gehört diese Armutsschwelle fast schon zum Allgemeinbildungsgut in Medien und Politik. Umso bemerkenswerter und aufschlussreicher ist daher, welches Possenspiel die Bundesregierung mit der Präsentation ihres letzten Armuts- und Reichtumsberichtes im Frühjahr 2008 bot. Ein neues Kapitel der Relativierung von Armut wurde aufgeschlagen …

» Fast jeder Fünfte in Deutschland lebt in Armut. « So titelte die Berliner Zeitung am 22. April 2008. Aus »einer der zentralen Studien für den dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung « zitierte die Zeitung und brachte in der Tat erschreckende Zahlen : von 11,8 Prozent auf 18,3 Prozent sei die Armutsquote zwischen 2000 und 2006 gestiegen – ein Sprung von immerhin 63 Prozent. Rund 14,9 Millionen Menschen hätten damit weniger als 60 Prozent des »mittleren Einkommens zur Verfügung«, verfügten also über weniger als 870 Euro im Monat. Geradezu dramatisch die Zahlen, die für Kinder und Jugendliche vermeldet wurden: So betrage die Armutsquote bei den 16 bis 24-Jährigen sogar 28,3 Prozent, und 19,2 Prozent sei für Familien berechnet worden.

Seit Monaten schon hatten die Fachöffentlichkeit und die Medien auf den lange angekündigten und längst überfälligen dritten Armutsbericht der Bundesregierung gewartet. Die über die Berliner Zeitung durchgesickerten Zahlen ließen erahnen, warum sich das zuständige Arbeitsministerium diesmal besonders schwer tat mit seinem ungeliebten Kind. Auf keinen Fall wollte der damalige sozialdemokratische Arbeitsminister Olaf Scholz diese Zahlen so stehen lassen. Er beschloss, in die Offensive zu gehen. Zur Überraschung aller und vor allem seiner eigenen Kabinettskollegen kündigte er in der Bild am Sonntag vom 17. Mai 2008 und somit eine Woche vor den Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein aus heiterem Himmel nicht nur die Präsentation des lang erwarteten Berichts bereits für den nächsten Tag an, sondern streute zugleich schon mal einige, nun aber wesentlich freundlichere Zahlen: Nicht mehr 18,3 Prozent, wie in der Berliner Zeitung knapp vier Wochen zuvor nachzulesen war, waren nun arm, sondern nur noch 13 Prozent. Auch lag die Einkommensarmutsgrenze, dem Arbeitsminister zufolge, nicht mehr bei 870 Euro, sondern nur noch bei 781 Euro im Monat. Ministerielle Entwarnung gab es auch bei der Armut unter Jugendlichen : Sie läge seit Jahren konstant bei 15 Prozent. Und auch Familien stellten laut Scholz kein Problem dar, wenn sie nur arbeiteten. Sichtlich bemüht, trotz des Informationslecks in seinem Hause die Interpretationshoheit über seine Zahlen zurückzuerringen, war für ihn das Fazit klar:

» Aber vielleicht die wichtigste Botschaft des Berichts : Der Sozialstaat wirkt ! «21 Super !

Wer nun blauäugig glaubte, damit sei regierungsamtlich alles klargestellt, sah sich nur eine Woche später eines Besseren belehrt. CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen, dem Vernehmen nach ziemlich verstimmt darüber, dass der Arbeitsminister seinen Bericht ohne Abstimmung mit ihrem Hause und noch vor Freigabe durch das Kabinett veröffentlicht hatte, legte am

26. Mai mit einer eigenen Studie nach: Nicht 15 Prozent, wie ihr sozialdemokratischer Kollege aus dem Arbeitsministerium verlauten ließ, sondern 17,3 Prozent betrüge die Armutsquote bei Kindern und Jugendlichen in Wirklichkeit. 23,9 Prozent betrage die Quote für die 15 bis18-Jährigen. Alleinerziehende und kinderreiche Familien zeigten ein besonders hohes Armutsrisiko.

Die Öffentlichkeit durfte einigermaßen verwirrt sein. Die Aufklärung über den Zahlensalat geriet dann endgültig zum kommunikativen Desaster. Gleich mehrere namhafte Wissenschaftler meldeten sich zu Wort, versuchten sich in Volksbildung und gaben den Blick frei auf die tiefen Niederungen statistischer Vielfalt. Die vom Arbeitsminister propagierten, relativ niedrigen Armutsquoten basierten demnach auf einer anderen Datenquelle als die in der Berliner Zeitung zitierten. Die von Scholz verwendete EU-Statistik gäbe nicht die volle Armut wieder. Der Grund: Die Daten würden von den Haushalten nur schriftlich und nur auf deutsch erhoben. Wer nur schlecht oder gar nicht deutsch spricht, werde daher kaum erfasst.

»Unausgewogen« lautete denn auch das vernichtende Urteil des bekannten Frankfurter Armutsforschers Professor Richard Hauser. »Die Ergebnisse sind grob verzerrt«, so Hauser. »In der Wirklichkeit steht Deutschland schlechter da.«22 Von »statistischen Taschenspieltricks« sprach sogar sein Kollege Professor Christoph Butterwegge von der Universität Köln.23 » Verwunderlich« fand den Vorgang auch das renommierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW ).24

Es sei doch nur um die europäische Vergleichbarkeit gegangen, versuchte dagegen das Ministerium mit zur Schau getragener Blauäugigkeit abzuwiegeln.

Doch der Scherbenhaufen war unübersehbar, die Faktenlage scheinbar eindeutig : Das Ministerium hatte wider besseres Wissen in den Medien mit Daten operiert, die die Lage deutlich beschönigten. Es tat dies, obwohl nach Einschätzung der Wissenschaftler aussagefähigere Daten durchaus zur Verfügung standen und sogar in den Anlagen zu dem Bericht ausgewiesen waren. Aus einer Armutsquote von über 18 Prozent wurde so versucht, 13 Prozent zu machen. Aus einer Jugendlichenarmutsquote von 28 Prozent sollten so gerade einmal 15 Prozent werden. Aus einem Armutsbericht sollte so ein Jubelbericht gemacht werden – gemäß dem von Arbeitsminister Olaf Scholz ausgegeben Motto: »Der Sozialstaat wirkt. «

Ein misslungener Versuch mit Folgen. Denn der Schaden war immens und nachhaltig. Der dritte Armutsbericht war durch die Pressearbeit der Ministerien Makulatur, bevor er überhaupt offiziell verabschiedet worden war. Das Vertrauen in die Armutsberichterstattung der Bundesregierung war dauerhaft dahin. Dass Armut in Deutschland immer nur relativ zu verstehen ist, das war dem geneigten Publikum mittlerweile ja schon geläufig. Wie relativ jedoch auch die Armutsstatistik selbst ist, das hingegen war eine neue Erkenntnis. Der flüchtige Einblick in den Variantenreichtum statistischer Datenerhebung dürfte dem Ansehen der ganzen Disziplin ganz erheblich geschadet haben. Den Statistikern selbst kann dabei gar kein Vorwurf gemacht werden. Sie liefern die Daten, sind nicht mehr Herr über ihre Zahlen und dürfen dann staunen oder sich ärgern darüber, wie mit ihrer Wissenschaftlichkeit umgegangen wird. Wer zahlt, bestimmt die Musik – ob im Gasthaus oder in der Politik.

Spät, nämlich Ende 2009 – die große Koalition war gerade abgewählt, der Arbeitsminister gerade aus seinem Amt entlassen –, erfuhr er in gewisser Weise doch noch so etwas Ähnliches wie Rehabilitation. Das DIW nahm einige methodische Verbesserungen ihrer Datensätze vor, und zwar rückwirkend bis zum Jahr 1992.

Wo Angaben zum Einkommen von den Befragten verweigert wurden – was insbesondere bei sehr hohen und sehr niedrigen Einkommen immer wieder vorkommt –, wurden die Leerstellen mit aufwendigen Schätzungen nun aufgefüllt. Ergebnis: Die 18,3 Prozent sind Makulatur, die Armutsquote für 2006 wird jetzt gerade mal mit 13,8 Prozent beziffert. Fast ein Viertel der Armen, rund 3,5 Millionen Menschen, sind sozusagen methodisch einfach verpufft.26 Wer jedoch dachte, das DIW würde nun erst einmal in Sack und Asche gehen und schamhaft still halten, bis sich keiner mehr an die gut 18 Prozent erinnert, hatte sich getäuscht. Erneut zog es die Forscher vor die Presse: »Das Armutsrisiko steigt «, war nun ihre Aufsehen erregende Botschaft. 11,5 Millionen Menschen seien betroffen.27 Sozusagen im Kleingedruckten des Berichts, den die Pressestelle des DIW da vermarktete, konnte der an Methodenfragen interessierte Leser erfahren, dass die » Imputierung « fehlender Werte » gegebenenfalls zu leichten Veränderungen gegenüber früheren Auswertungen führen kann«. Aber die Unterschiede bezögen sich nur auf » Detailergebnisse «.28 3,5 Millionen Arme mehr oder weniger sind also für das DIW nur » leichte Veränderungen «. Man kann es mutig nennen, wenn man will.

Das öffentliche Renommee empirischer Armutsforschung dürfte sich bereits nach dem Possenspiel um die Veröffentlichung des dritten Armutsberichtes irgendwo zwischen dem von Konjunkturprognosen und Wettervorhersagen wiedergefunden haben. Wenn statt 18 Prozent auch 13 Prozent berechnet werden können, warum dann nicht auch 23 oder acht Prozent, wird sich der Laie fragen – und zwar völlig zu Recht !

Auch wenn in Deutschland die Armutsproblematik heute nicht mehr grundsätzlich negiert werden kann, sind die Vorgänge um die Veröffentlichung des dritten Armutsberichtes für die breite Öffentlichkeit Anlass zu sehr grundsätzlicher Verunsicherung. Schließlich bekam man vor Augen geführt, dass die Statistik auch bei vorgegebener Definition noch genügend Möglichkeiten bietet, wissenschaftlich abgesichert, aber deutlich interessengeleitet Armut zumindest politisch freundlich zu rechnen oder aber, je nach Interessenlage, möglichst unfreundlich. Dazu muss nur an ein paar Stellschrauben gedreht werden.

Stellschraube Schwellenwert

Bis 2005 war es üblich, die Armutsschwelle bei 50 Prozent des Durchschnittseinkommens anzusetzen, während eine 60-Prozent-Schwelle lediglich einen armutsnahen Bereich im Sinne von »armutsgefährdet« und eine 40-Prozent-Schwelle eine » strenge Armut « markierte.29 Auch der erste regierungsoffizielle Armutsbericht von 2001 rechnete noch mit diesen Schwellenwerten.

Bereits im zweiten Armutsbericht aus dem Jahre 2005 sucht man die 50-Prozent-Schwelle jedoch vergeblich.30 Verwiesen wurde auf eine neuerliche Übereinkunft auf EU-Ebene und die Praxis des Europäischen Amtes für Statistik (Eurostat), wonach nur noch die Quote für die Armutsgefährdung und für die strenge Armut, nicht mehr jedoch für die Armut ausgewiesen wurde. Mit erstaunlicher Kaltschnäuzigkeit wurde also ein Armutsbericht vorgelegt, der nichts Geringeres unterließ, als die Armut zu berechnen. Trotz zahlreicher Proteste von Fachleuten weigerte sich die Bundesregierung, die Quoten für die 50-Prozent-Marke – also die eigentlichen Armutsquoten, die auch die Grundlage für den langfristigen Vergleich der Armutsentwicklung bilden – zu veröffentlichen. Nicht nur den Fachleuten war klar, dass das überhaupt kein Aufwand gewesen wäre. Es wurde sogar gemutmaßt, dass die Zahlen bereits in der Schublade irgendeines Ministerialbeamten unter Verschluss herumlägen.

Doch das politische Kalkül war offensichtlich ein anderes: Wo keine Armutsgrenze mehr ausgewiesen wird, können auch keine Armutsquoten zitiert werden. Und wenn man sich dabei auch noch auf eine neue EU-Konvention berufen kann, ist dies umso besser. Hinter vorgehaltener Hand wurde gar kein besonderer Hehl aus dieser Trickserei gemacht, freute sich ein zuständiger Ministerialbeamter sogar halböffentlich über dieses Manöver.

Umso größer wird der Ärger gewesen sein, als diese bauernschlaue Kommunikationsstrategie völlig »nach hinten losging«. Nur die wenigsten Medien berichteten sachlich und sprachlich korrekt von einer »Armutsrisikoquote«, einer »Armutsrisikoschwelle« oder den »Menschen, die in Gefahr stehen, in Armut abzurutschen«. Von » elf Millionen Armen in Deutschland« war stattdessen in den Zeitungen zu lesen. Da half auch alle definitorische Aufklärung der Bundesregierung nichts mehr. Medien lieben nun einmal klare, einfache Aussagen, und wo es etwas komplizierter wird, da werden die Aussagen gelegentlich einfach gemacht. Aus einer »Schwelle der Armutsnähe« wurde kurzerhand eine » Armutsschwelle « und aus » Armutsgefährdeten « wurden » Arme «. Die deutsche Öffentlichkeit hatte eine neue Armutsschwelle und nebenbei deutlich höhere Armutszahlen. Dumm gelaufen.

Stellschraube Mittelwert

Ein wichtiges und durchaus folgenreiches Detail stellt auch die Wahl des Mittelwertes zur Berechnung des durchschnittlichen Einkommens als Maßstab für die Armutsberechnungen dar. Bevorzugt werden hierzu wahlweise das arithmetische Mittel (allgemein bekannt als »Durchschnitt«) oder der weniger populäre Median (auch bekannt als »Zentralwert«) herangezogen. Während bei der Errechnung des Durchschnitts alle Haushaltseinkommen addiert und durch die Anzahl der Haushalte geteilt werden, werden beim Median alle Haushalte nach ihrem Einkommen der Reihe nach geordnet, wobei das Einkommen des Haushaltes in der Mitte der Reihe den Mittelwert ergibt. Demnach wäre der Median der Reihe »30, 70, 90, 250, 500 « die 90 als der zentrale Wert in der Mitte.

Der Median wird vor allem dann gewählt, wenn man in der Reihe einzelne extreme »Ausreißer« hat, die ansonsten den Durchschnitt nach oben oder unten verzerren würden. In unserem Falle bedeutet das: Wie reich genau die Superreichen in der Reihe sind, spielt dann keine Rolle mehr für die Ermittlung des Durchschnittseinkommens, denn das Einkommen des Haushaltes in der Mitte der Rangreihe ändert sich ja nicht dadurch, dass einige Reiche noch reicher werden. Würden wir im obigen Zahlenbeispiel die 500 durch 1000 oder 2000 austauschen, bliebe der Zentralwert dennoch die 90.

Die Kehrseite: Auch wenn es nicht nur einzelne, sondern viele Ausreißer nach oben gibt, findet dies keinen Niederschlag in der Ermittlung des Durchschnittseinkommens und schließlich der Armutsquote. Und da unsere Reichen in Deutschland offensichtlich nicht nur ein bisschen, sondern sehr reich sind (siehe den Abschnitt Noch nie so viel Reichtum auf Seite 41), ist das über den Median errechnete Durchschnittseinkommen in aller Regel niedriger als das über das arithmetische Mittel errechnete. Die Armutsquote ist folgerichtig ebenfalls geringer. Errechnete der erste Armutsbericht von 2001 bei Zugrundelegung des arithmetischen Mittels eine Armutsquote von 10,2 Prozent, waren es bei Anwendung des Medians nur noch 6,2 Prozent31 – immerhin 40 Prozent weniger Arme lediglich durch die Wahl eines anderen Mittelwertes. Das wusste man zu nutzen : Die weiteren Armutsberichte der Bundesregierung unterschlugen entsprechend fast erwartungsgemäß die Berechnungen mit dem unbequemen arithmetischen Mittel und arbeiteten nur noch mit den politisch wesentlich angenehmeren Medianwerten.

Stellschraube Gewichtungsfaktoren

Schließlich ist die genaue Berechnung des Haushaltseinkommens von nicht unerheblicher Bedeutung für die Armutsquote. Man braucht nicht Statistik studiert zu haben, um zu erkennen, dass es keinen Sinn macht, das Einkommen eines Singles mit dem einer alleinerziehenden Mutter mit drei kleinen Kindern zu vergleichen und bei gleichem Einkommen zu behaupten, sie hätten beide dasselbe zum Leben. Zu berücksichtigen ist vielmehr, wie viele Personen in dem Haushalt von dem jeweiligen Einkommen leben müssen und was sie für ein Alter haben. Umgekehrt muss aber auch in Rechnung gestellt werden, dass man mit mehreren Personen im Haushalt preiswerter wirtschaften kann; dass man sogenannte Synergieeffekte hat.

Um dies alles zu berücksichtigen, wird das Haushaltseinkommen nicht einfach durch die Anzahl der Personen im Haushalt geteilt, sondern es wird zuvor jeder Person gemäß ihres Alters eine sogenannte Äquivalenzziffer zugeordnet. So erhält die erste erwachsene Person im Haushalt die Ziffer 1, weitere Haushaltsmitglieder ab 15 Jahren die 0,5 und alle jüngeren die 0,3. Das Pro-Kopf-Haushaltseinkommen eines Ehepaares mit zwei Kindern im Alter von zehn und zwölf Jahren wird also nicht einfach durch 4 geteilt, sondern durch 2,1 (1 + 0,5 + 0,3 + 0,3 ). Man tut so, als ständen diesem Haushalt bei einem Einkommen von beispielsweise 2000 Euro nicht 500 Euro pro Kopf zu, sondern 952 Euro. Statistisch gesehen hat damit dieser vierköpfige Haushalt mit 2000 Euro genauso viel Geld zum Leben wie der Singlehaushalt mit 952 Euro.

Man spricht bei diesen Gewichtungskennziffern allgemein von der OECD-Skala, die von der » Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung « zum Zwecke internationaler Einkommensvergleichsrechnungen relativ willkürlich festgelegt wird. So erhielt bis 1998 noch jeder weitere Erwachsene im Haushalt den Gewichtungsfaktor 0,7 und jedes weitere Mitglied bis 15 Jahren die 0,5. Solcherlei Setzungen haben durchaus Konsequenzen, wie eine kleine Beispielrechnung zeigt: Hat unser Ehepaar mit seinen zehn- und zwölfjährigen Kindern nach neuer OECD-Skala besagtes Haushalts-Pro-Kopf-Einkommen von 952 Euro, waren es nach alter OECD-Skala gerade einmal 2000 : 2,7 (1 + 0,7 + 0,5 + 0,5 ) = 741 Euro. Nach der neuen Skala hat sich das Einkommen unserer Beispielfamilie in der Statistik damit deutlich verbessert – mehr Geld hat sie dadurch trotzdem nicht.

Stellschraube Vergleichsgröße

Hätten Sie gedacht, dass es in Deutschland deutlich mehr Armut gibt als in Tschechien, der Slowakei, Slowenien oder sogar Bulgarien ? Wohl kaum. Scheint aber so zu sein, folgt man der Studie »Wie sozial ist Europa?«, die im Mai 2009 unter großer Medienaufmerksamkeit von »Berlinpolis« vorgestellt wurde, einem Verein, der sich selbst gern und relativ unbescheiden als »Denkfabrik « vorstellt.32 Der Kniffbei dieser Studie : Berechnet wird die bekannte 60-Prozent-Schwelle, als Arm gezählt werden also diejenigen, die weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens haben. Nur : Zur Grundlage wird immer nur das Durchschnittseinkommen des jeweiligen Landes gemacht und nicht ein Mittelwert für alle EU-Länder. Jedes Land bekommt seinen eigenen Durchschnitts- und Schwellenwert, an dem sich Armut bemisst. So hat Bulgarien mit 14 Prozent in der Tat weniger Armut als Deutschland, für das 15 Prozent angegeben sind.33 Dass in Bulgarien nach Angaben von Eurostat 34 Prozent der Bevölkerung jedoch nicht einmal in der Lage sind, ihre Wohnung zu heizen, und 30 Prozent sich nicht einmal jeden zweiten Tag eine vollständige Mahlzeit mit Fleisch oder Fisch leisten können, das geht bei solch völlig sinnloser, nichtssagender und sogar irreführender statistischer Zahlenhuberei natürlich völlig unter.34

Auch in Deutschland gibt es gelegentlich Streit um die richtige Bezugsgröße. Die Gründe sind selbstverständlich weniger fachlicher als vielmehr politischer Natur. Im Mai 2009 legte der Paritätische Wohlfahrtsverband einen ersten Armutsatlas für Regionen in Deutschland vor.35 Die Armutsquoten der einzelnen Bundesländer wurden in ein Ranking gestellt. Wenig überraschend: Am wenigsten Armut zeigten Baden-Württemberg und Bayern mit Quoten von zehn und elf Prozent. Am höchsten war die Armutsquote in Mecklenburg-Vorpommern mit 24 Prozent und in Sachsen-Anhalt mit 22 Prozent. Von den westdeutschen Ländern schnitten am schlechtesten das Saarland mit einer Quote von 17 Prozent und Bremen mit 19 Prozent ab ( siehe die Grafik auf Seite 46 ).

Laut protestierten die Verlierer des Rankings : Die Bemessungszahlen zwischen den Ländern seien doch überhaupt nicht vergleichbar, klagte Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer. Immerhin seien die Durchschnittseinkommen in seinem Land deutlich niedriger als im Bundesdurchschnitt.36 » Unseriös «, wetterte auch der damalige saarländische Sozialminister Gerhard Vigener: Die ganze Studie sei »unverantwortliche Effekthascherei «. Immerhin befand sich das Saarland mitten im Landtagswahlkampf. Und wer wollte sich schon wenige Monate vor den Landtagswahlen sozialpolitisches Versagen ans Revers heften lassen? In Wirklichkeit, ließ der Minister auch sogleich verlauten, betrüge die Armut im Saarland gerade einmal 14 Prozent. Nicht auf Platz neun liege das Saarland damit im Ländervergleich, sondern auf einem guten vierten Platz.

Wie das ? Der Paritätische hatte zur Bezugsgröße der Armutsbemessung das bundesweite Durchschnittseinkommen herangezogen. Für eine allein lebende Person waren dies 1273 Euro. Wer in den einzelnen Ländern weniger als 60 Prozent davon hatte, 764 Euro also, wurde als armutsgefährdet gezählt. Die hohe Armutsquote im Saarland signalisiert, dass dort das Durchschnittseinkommen bereits spürbar niedriger sein muss als im Bundesdurchschnitt. Und in der Tat lag es nur bei 1200 Euro. Die schlaue saarländische Landesregierung machte nun aus der Not eine Tugend. Statt des Bundesdurchschnitts nahm sie das niedrigere regionale Durchschnittseinkommen selbst zur Berechnung der Armutsschwelle – und die rutschte dadurch auch erwartungsgemäß von 743 Euro für Gesamtdeutschland auf nur noch 720 Euro speziell für das Saarland.

Welchen Sinn solche kleinräumigen Berechnungen machen sollen, in einem Land, das sich die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im ganzen Bundesgebiet als Staatsaufgabe in die Verfassung geschrieben hat, sei dahingestellt. Auf jeden Fall lässt sich die Armut vor der eigenen Haustüre auf diese Weise ausgezeichnet kleinrechnen – mit skurrilen Ergebnissen: Bekommt jedes Bundesland seine eigene regionale Armutsschwelle, fällt beispielsweise in Thüringen die Armutsquote schlagartig von 19 auf 13 Prozent. Thüringen steigt im Ranking der Länder mit der geringsten Armut kometenhaft von Platz zwölf auf Platz eins! Dicht gefolgt vom Freistaat Sachsen, der vom 13. auf den zweiten Platz rückt.37 Selbst ein Bezirk wie das Berliner Neukölln, wo jeder Vierte von Hartz IV lebt, würde bei einer solchen isolierten und regionalisierten Berechnungsweise kaum noch Armut aufweisen.

Relativ eindeutig oder eindeutig relativ?

Die Stärken und Schwächen des Konzeptes relativer Armut liegen auf der Hand : Die Akzeptanz der Tatsache, dass Armut immer nur als eine relative Größe verstanden werden kann und dass wir bereits davon sprechen müssen, bevor jemand hungert oder wohnungslos ist, muss als sozialpolitischer Durchbruch gewertet werden. Der relative Armutsbegriffhat dazu verholfen, die Einengung der Armutsproblematik auf ihre extremen Erscheinungsformen und auf existenzielle Not aufzubrechen und die versteckte Armut inmitten unserer Gesellschaft als soziale Tatsache zu benennen, zu problematisieren und zu politisieren. Das Konzept relativer Einkommensarmut kann mithelfen, ein möglichst differenziertes Bild über gesellschaftliche Ungleichheiten zu zeichnen. Es kann, wenn damit längere Zeiträume verglichen werden, als Warninstrument dienen, das anschlägt, wenn diese Gesellschaft zu sehr auseinanderdriftet.

Nur : Was Armut ist und wie viele Arme es denn nun in Deutschland gibt, das vermag uns dieses Konzept im strengen Sinne auch nicht zu sagen. Was gemessen wird, ist nun einmal » lediglich « das Maß an Einkommensungleichheit in unserer Gesellschaft. Und dies auch nur zu einem bestimmten Stichtag : Es wird kein Unterschied gemacht, ob jemand schon seit Jahren in Armut lebt oder nur für eine kurze Zeit. Der Arbeitslose Mitte 50, der seit Jahren händeringend nach Arbeit sucht, der mittlerweile in Hartz IV gerutscht ist, seine Ersparnisse weitgehend aufgebraucht hat und verzweifelt und resigniert ist, wird genauso gezählt wie der Student in der Wohngemeinschaft, der sich schon darauf freut, in einigen Jahren die Praxis, die Kanzlei oder die Apotheke seiner Eltern zu übernehmen.

Auch ist dieses Konzept, wie wir gesehen haben, über seine Vielzahl empirisch-statistischer Stellschrauben politisch leicht zu manipulieren. Der häufig Winston Churchill zugeschriebene Spruch » Traue keiner Statistik, die Du nicht selbst gefälscht hast « ist ohnehin nur etwas für Laien. Der Profiist in der Lage, so gut wie jedes gewünschte Ergebnis auch ohne Fälschung zu errechnen. Mittels unterschiedlicher und allesamt wissenschaftlich fundierter Herangehensweisen könnten fast beliebig viele Armutsquoten unterschiedlicher Höhe berechnet werden. Allein der erste Armutsbericht der Bundesregierung weist für Westdeutschland 16 ( ! ) verschiedene Armutsquoten aus, die in den Extremen je nach Berechnungsweise zwischen 5,3 und 20 Prozent variieren.38